COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel. Über Stimmungen. Man vergegenwärtige sich, wie ich am Abende des erste[n] Ostertages in einen Schlafrock eingehüllt zu Hause sitze; draußen regnet es fein; niemand ist sonst im Zimmer. Ich starre lang auf das vor mir liegende weiß[e] Papier, die Feder in der Hand, ärgerlich über die wirre Menge von Stoffen, Ereignissen und Gedanken, die alle niedergeschriebe[n] zu werden verlangen; und manche verlangen es sehr stürmisch, da sie noch jung und gärend wie Most sind; dagegen sträubt sich aber mancher alte, ausgereifte, geklärte Gedanke, wie ein alter Herr, der mit zweideutigem Blick die Bestrebungen der jungen Welt mißt. Sagen wir es offen, unsre Gemüthsverfassung ist durch den Streit jener alten und jungen Welt bestimmt, und wir nennen die jedesmalige Lage des Streites Stimmung oder auch, etwas verächtlich, Laune.1 Als guter Diplomat erhebe ich mich etwas über die zwistigen Parteien und schildere den Zustand des Staates mit der Unbefangenheit ein[e]s Mannes, der Tag für Tag aus Versehn allen Parteisitzungen beiwohnt und denselben Grundsatz praktisch anwendet, den er auf der Tribüne verspottet und auszischt. Gestehn wir es, ich schreibe über Stimmungen, indem ich eben jetzt gestimmt bin; und es ist ein Glück, daß ich gerade zum Beschreibe[n] der Stimmungen gestimmt bin. Ich habe an diesem Tage viel die Consolations von Liszt gespielt,2 und ich fühle, wie die Töne in mich eingedrungen sind und in mir vergeistigt widerklingen. Und ich habe kürzlich eine schmerzliche Erfahrung gemacht und eine[n] Abschied oder eine[n] Nichtabschied erlebt, und nun merke ich, wie dies Gefühl und jene Töne sich mit einander verschmolzen habe[n] und glaube, daß die Musik mir nicht gefalle[n] habe[n] würde, wenn ich nicht diese Erfahrung gemacht. Das Gleichartige also sucht die Seele an sich zu ziehen, und die vorhandn[e] Masse von Empfindungen drückt die neue[n] Ereignisse, die das Herz treffe[n] aus wie eine Citrone, doch imme[r] so, daß nur ein Theil des Neue[n] sich mit dem Alten vereinigt, daß aber doch ein Rest bleibt der noch nichts Verwandtes in der Seel[e]nwohnung findet und deshalb allein sich hier einlogiert, recht oft zur Unlust der alte[n] Bewohner, mit dene[n] er darum oft in Streit geräth. Aber siehe! da kommt ein Freund, da öffnet sich ein Buch, dort geht ein Mädchen, horch! da klingt Musik!— Schon ströme[n] wieder von allen Seite[n] neue Gäste in das alle[n] offenstehende Haus und der eben allein Stehende findet viele und edle Verwandte. Aber es ist wundersam; nicht die Gäste kom[me]n weil sie wollen, oder nicht die Gäste kommen, wie sie sind; sondern es komme[n] die welche müssen und nur eben die, welche müssen. Alles, was die Seele nicht reflektiere[n] kann, trifft sie nicht; da es aber in der Macht des Willens steht, die Seele reflektiere[n] zu lassen oder nicht, trifft die Seele nur das, was sie will. Und das scheint viele[n] widersinnig; den[n] sie erinnern sich wie sie sich gegen gewisse Empfindunge[n] sträuben. Aber was bestimmt schließlich den Willen? Oder wie oft schläft der Wille und nur die Triebe und Neigungen wachen! Eine der stärkste[n] Neigungen der Seele aber ist eine gewisse Neubegierde, ein Hang nach dem Ungewohnte[n], und aus diesem erklärt sich, warum wir oft uns in unangenehm[e] Stimmunge[n] versetze[n] lassen. Aber nicht nur durch den Wille[n] nimmt die Seele an; die Seele ist aus demselbe[n] Stoff aus dem die Ereignisse gemacht sind oder aus ähnliche[m] und so kommt es, daß ein Ereignis, das keine verwandte Saite trifft, doch mit der Last der [Stimmung] schwer auf der Seele liegt und allmählich ein solches Uebergewicht erlange[n] kann, daß es den ande[r]n Inhalt der Seele zusammendrückt und einengt. Stimmungen komm[en] also entweder aus innern Kämpfen oder aus einem äußern Druck auf die innere Welt. Hier ein Bürgerkrieg zweier Heerlager, dort ein[e] Bedrückung des Volkes von Seite[n] eines Standes, einer klein[en] Minorität. Ist mirs doch oft, wenn ich meine eigne[n] Gedanke[n] und Gefühle belausche und stumm auf mich achte, als ob ich das Summe[n] und Brausen der wilden Partei[e]n hörte, als ob ein Rausche[n] durch die Luft ginge, wie wenn ein Gedanke oder ein Adler zur Sonne fliegt. Kampf ist der Seele fortwährende Nahrung, und sie weiß sich aus ihm noch genug Süßes und Schönes herauszunehmen. Sie vernichtet und gebie[r]t dabei neues, sie kämpft heftig und zieht den Gegner doch sanft auf ihre Seite zu inniger Vereinigung. Und das Wunderbarste ist, daß sie nie auf das Äußre achtet, Name, Personen, Gegenden, schöne Worte, Schriftzüge, alles ist ihr von untergeordnetem Werthe, abe[r] sie schätzt das, was in der Hülle ruht. Das was jetzt vielleicht dein ganzes Glü[c]k oder dein ganzes Herzeleid ist, wird vielleicht in Kurzem nur noch das Gewand eines noch tiefern Gefühls sein und wird darum in sich verschwinden, wenn das Höhere kommt. Und so vertiefe[n] sich imme[r] mehr unsre Stimmungen, keine einzige gleicht einer andern genau, sondern jede ist unergründlich jung und die Geburt des Augenblicks. Ich denke jetzt an manches, was ich liebte; Name[n] und Persone[n] wechselte[n] und ich will nicht behaupte[n], daß wirklich ihre Naturen imme[r] tiefer und schöner geworden wären; wohl aber ist es wahr, daß jede dieser ähnliche[n] Stimmunge[n] für mich ein[en] Fortschritt bedeutet, und daß es dem Geist unerträglich ist, dieselbe[n] Stufen, die er durchschritt, noch einmal zu durchschreiten; immer mehr in Tiefe und Höhe will er sich breiten. Seid mir gegrüßt, liebe Stimmungen, wundersame Wechsel einer stürmische[n] Seele, mannichfach wie die Natur ist, aber großartiger als die Natur ist, da ihr ewig euch steigert, ewig aufstrebt; die Pflanze aber duftet noch jetzt wie sie am Tage der Schöpfung duftete. Ich liebe nicht mehr, wie ich vor Woche[n] liebte; ich bin in diesem Augenblick nicht mehr so gestimmt, wie ich es beim Beginn des Schreib[e]ns war. Ich versucht es erst in Tönen: siehe, es ging nicht; weiter stürmte das Herz; und der Ton blieb todt. Ich versucht es dann in Versen; nein, nicht Reime fassen's, nicht ruhige, gemessne Rythmen. Fort Papier: ein neues her, und nun kritzle schnell Feder, nun rasch, Tinte! Weicher Sommerabend; dämmernd und blaßstreifig. Kinderstimm[en] auf den Gassen; in der Fern[e] Lärm und Musik; es ist Messe; die Leute tanzen, bunte Latern[en] brenne[n], die wilden Thiere brumme[n], hier knallt ein Schuß, dort Paukengerassel, gleichmäßig, durchdringend. Es ist etwas dunkel in der Stube; ich zünd' ein Licht an; doch blickt des Tages Auge neugierig durch die halbverhangen[en] Fenster. O es möchte weiter sehn, mitte[n] hinein in dies Herz, das heißer als das Licht, dämmernder als der Abend, bewegter als die Stim[m]en aus der Ferne, tief innerlich zittert und schwingt, wie eine große Glocke, die bei einem Gewitter geläutet wird. Und ich erflehe ein Gewitter; zieht nicht das Glocke[n]läute[n] die Blitze an? Nun so nahe Gewitter, läute[re], reinige, blase Regendüfte in meine matte Natur, sei willkommen, endlich willkomme[n]! Sieh! Da zuckst du, erster Blitz, mitte[n] hinein in das Herz, und daraus steigt's wie ein langer, fahler Nebel aufwä[r]ts. Kennst du ihn, den düstern, tückischen? Schon blickt mein Auge heller, und meine Hand strecke ich nach ihm aus, um ihm zu fluche[n]. Und der Donner murrt; und eine Stimme erscholl: "Sei gereinigt." Dumpfe Schwüle; mein Herz schwillt. Nichts regt sich. Da ein leiser Hauch, am Boden zittert das Gras—sei mir willkommen, Regen, lindernder, erlösender! Hier ists oede, leer, todt; pflanze du von neuem. Sieh: Ein zweiter Schlag! Grell und zweischneidig mitte[n] ins Herz! Und eine Stimme scholl: "Hoffe." Und ein weicher Duft zieht aus dem Boden, ein Wind flattert heran, und ihm folgt der Sturm, heulend und seine Beute haschend. Abgeknickte Blüten jagt er vor sich her. Der Rege[n] schwimmt lustig dem Sturm nach. Mitte[n] durchs Herz. Sturm und Regen! Blitz und Donner! Mitte[n] hindurch! Und eine Stimm[e] scholl: "Werde neu!" Fußnoten s. English Translation. |