Unpublished Works | Kann der Neidische je wahrhaft glücklich sein? 1863© The Nietzsche Channel

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Kann der Neidische je wahrhaft glücklich sein?
September 1863.

Wie macht man sich ein Bild von dem Leben und dem Charakter eines Menschen, den wir etwas kennen gelernt haben? Im Allgememeinen ähnlich, wie man sich ein Bild von einer Gegend macht, die wir einst gesehn. Man muß sich das physiognomisch Eigenthümliche wieder vergegenwärtigen: Gebirgsart, Pflanzen und Thierwelt, Bläue des Himmels, alles dies in seiner Gesammtheit bestimmt den Eindruck. Gerade aber das, was zuerst in das Auge fällt, die Gebirgsmassen, die Felsformen und Steinarten, geben für sich einer Gegend nicht den physiogn[omischen] Charakter: in verschiedenen Erdstrichen treten nach gleichen Gesetzen, wie gruppenweise sich anziehend und abstoßend, gleiche Gebirgsarten, dieselbe[n] Gebilde der unorganische[n] Natur hervor. Anders die der organische[n]. Insbesondere liegen in der Pflanzenwelt die feinsten Merkmale für vergleichende Naturbeobachtungen.

Ähnliches ergiebt sich, wenn wir ein Menschenleben überschauen und richtig würdigen wollen. Nicht die zufälligen Ereignisse, die Gaben des Glückes, die wechselvollen äußeren Geschicke, die aus den sich kreuzenden äußeren Umständen entspringen, dürfen uns hierbei leiten, wenn sie gleich wie Berggipfel zuerst in die Augen springen. Gerade jene kleinen Erlebnisse und innere[n] Vorgänge, über die man hinwegsehn zu müssen glaubt, zeigen in ihrer Gesammtheit den individuellen Charakter am deutlichsten, sie wachsen organisch aus der Natur des Menschen hervor, während jene nur unorganisch mit ihm verbunden erscheinen.

Es ist also ein Fehler an eigener innerer Erkenntniß,1 sich in die äußeren Verhältnisse anderer hineinzuwünschen, in dem Glauben, in diesem neuen Boden glücklicher zu wachsen; ist aber mit diesem Wunsche auch ein Scheelsehen auf das Glück anderer verknüpft, das jene aus ihrer Stellung drängen möchte und mit arglistiger Sophistik Gründe dazu sucht: so ist dies Nied, ein Fehler der erkennenden2 und der sittlichen Natur.3

Der erkennenden.4 Es ist ein Zeichen einer kräftigen Natur, in den Dingen eine unauflösliche Kette von Ursachen und Wirkungen zu erkennen,5 und nicht blos zu glauben, daß gesäetes Korn keinen Weizen zum Ertrag giebt, sondern dieselben Gesetze auch auf Menschenleben und Völkergeschichte auszudehnen. Der Neidische aber, wie überhaupt jeder eigennützige und kurzichtige Mensch, sieht die Bergesspitzen aus den Wolken hervorragen und glaubt, daß sie vereinzelt in der Luft schweben, während der tiefer Blickende in ihnen einen verborgenen Zusammenhang ahnt und sie alle sich als höchste Punkte einer Gebirgskette vorstellt. Für den Neidischen erscheinen Glück und Ehre unter der äußerlichen Hülle von Reichthümern und Pracht, von Beifallsrufen der Menge und Lobhudeleien der Zeitungen. Sie vermögen nicht durch diese zufälligen Umstände, die häufig nur scheinbar selten wahrhaft Glückliche und Berühmte begleiten, auf den inneren Kern hindurchzublicken. Und was ist dieser innere Kern? Was ist Glück? Was ist Ehre? Wie alle Schönheit organisch sein muß, wie äußere Verschönerung nur Mißgestalt ist, so muß auch Glück und Ehre aus demselben Stamme hervorwachsen, den sie nachher zieren; es gehört die Kraft des ganzen jegendlich frischen Baumes dazu, um diese Blüthen zu reifen, und sie fallen sogleich wieder ab, wenn die Saftfülle, die sie erzeugte, versiegt. Nehmen wir selbst an, daß das Geschick einem Neidischen das schenkte, was er mit gierigen Augen ersehnte: wie ein unorganischer Anwuchs würde es an ihm haften, seine Kräfte aussaugen, seinen Willen zerrütten und ihm von neuern glänzende Trugbilder vorspiegeln, nach denen sich seine lechzende Seele wender; das, eas er von den Häuptern anderer wegwünscht, fällt auf sein eigenes mit einer Last, die ihn zerdrückt; "denn die gleich wägende Gereschtigkeit setzt uns den Becher an die eignen Lippen, den wir vergiftet."6

Der Neid ist sodann eine Fehler der sittlichen Natur.7 Es ist eine Krankheit, die die Seele gleichmäßig durchfrißt; nicht wie es manche Schwächen giebt, die das gute Herz im Ganzen unangetastet lassen und nur äußere Schäden zu sein scheinen, Folgen krankhafter Körperanlagen oder geistiger Verstimmungen; Neid ist mit Liebe nicht vereinbar, und ohne Liebe giebt es keinen guten Charakter. Nied ist vielmehr in vieler Bezichung ein Gegensatz der Liebe, mehr noch als der Haß. Der Neid arbeitet mit Aerger und Verdrießlichkeit, die Liebe mit heiterer Ruhe; die Früchte neidischer Anstrengungen werden immer etwas Scheeläugiges8 und Verdrießliches an sich tragen; und das Auge des Neides, das alles verzerrt und schief erkennt, findet auch in seinen eignen Erfolgen überall die Zei[c]hen dieser innern Unzufriedenheit wieder. Es giebt eine Krankheit, in der Kinder eine heftige Gier nach Steinen haben, um sich zu sättigen; so verlangt auch der Neide[r] ohne Ende nach Dingen, die ihm Sättigung zu bringen scheinen, die im Grunde aber seine innere Gluth nur noch heißer entfachen. Selbst auf den Körper wirkt diese Zerrüttung der Seele züruck; und die Alten haben in Schilderungen den Neid dargenstellt, als Mannweib, das mit hohlem, scheelen Blick, mit giftigem Lächeln im Auge, einherschreitet, träg und langsam, ganz Magerkeit, ganz Blässe: ohne Schlaf und Ruhe, immer seufzend aus tiefster Brust, feind menschlichen Zusammenkünften, begleitet von natterhaften Hunden, (sic!) die das Weib verzehrt als alimenta suorum vitiorum, wie Ovidius es bezeichnet.9 Besonders fein ist in seiner Darstellung der Zug, daß die Invidia10 die Augen abwendet, wenn sie angeblickt wird.

Und giebt es ein Glück, das ein Mensch in sich tragen könnte, das wie eine innerliche Sonne alle Falten seines Herzens erleuchtete und alles Kalte erwärmte, alles Traurige aufheiterte, und das doch noch neben sich eine[n] eingewurzelten Haß gegen alles Menschliche dulden könnte, eine neidische Feindschaft gegen alles Große und Erhabene, eine Bitterkeit gegen alle andre Glücksenligkeit und Ehre? Kann aus derselben Wurzel die sich der Sonne erschließende Rose und die traurige Freundin der Nacht, die Nachtviole hervorwachsen? Das Glück, das offne, lachende Glück, unter dessen Licht die Augen fremde[r] Leute sich verklären, und düstere Mienen freundlich werden, ist unvereinbar mit dem Neid, dessen gespenstische Blicke, dessen scheuen Gang alles Menschliche flieht.

Es ist ein alter Volksglauben, daß eine neidische alte Frau auf die Anhöhe vor ihrem Dorfe getreten sei und durch die Gewalt ihres bösen Blickes ein Gewitter über dasselbe heraufbeschworen habe; in demselb[en] seie[n] Haus und Hof, Mensch und Vieh ein Raub der Flammen geworden; das verbrecherische Weib aber sei in der Rauchwolke, die sich über dem Dorfe gelagert, zur Hölle gefahren.

Das Volk spricht in dieser Sage auf seine Weise das Urtheil über den verderblichen Sinn des Neidischen; indem es auf der andern Seite die furchtbare Macht, die seinem bösen Willen inne wohnt, andeutet. Gerade in dieser Sage zeigt sich der tiefeingewurzelte Haß des Volkes gegen den Neid; in seinen Sagen und Märchen wird er nicht mit Scherz und Spott, wie manche andre Untugend, sondern mit tiefer Verachtung und sittlichem Unwillen behandelt. —


Fußnoten s. English Translation.

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