Unpublished Works | Fatum und Geschichte 1862© The Nietzsche Channel

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Fatum und Geschichte.
April 1862.

Gedanken.

Osterferien 1862.

FWNietzsche.

Wenn wir mit freiem, unbefangenem Blick die christliche Lehre und Kirchengeschichte anschauen könnten, so würden wir manche den allgemeinen Ideen widerstrebende Ansichten ausspre[c]hen müssen. Aber so, von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile, durch die Eindrücke unsrer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unsers Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast als Vergehn betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können.

Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens.

Denn wie vermöchte man die Autorität zweier Jahrtausende, die Bürgschaft der geistreichsten Männer aller Zeiten durch die Resultate jugendlichen Grübelns vernichten, wie vermöchte man sich mit Pfantasien und unreifen Ideen über alle jene in die Weltgeschichte tief eingreifenden Wehen und Segnungen einer Religionsentwicklung hinwegsetzen?

Es ist vollends eine Vermessenheit, philosophische Probleme lösen zu wollen, über die ein Meinungskampf seit meheren Jahrtausenden geführt ist: Ansichten umzustürzen, die den Menschen nach dem Glauben der geistreichsten Männer erst zum wahren Menschen erheben: Naturwissenschaft mit Philosophie zu einigen, ohne auch nur die Hauptergebnisse beider zu kennen: endlich aus Naturwissenschaft und Geschichte ein System des Reellen aufzustellen, während die Einheit der Weltgeschichte und die principiellsten Grundlagen sich dem Geiste noch nicht offenbart haben.

Sich in das Meer des Zweifels hinauszuwagen, ohne Kompaß und Führer ist Thorheit und Verderben für unentwickelte Köpfe; die Meisten werden von Stürmen verschlagen, nur sehr wenige entdecken neue Länder.

Aus der Mitte des unermeßlichen Ideenozeans sehnt man sich dann oft nach dem festen Lande zurück: wie oft überschlich mich nicht bei fruchtlosen Spekulationen die Sehnsucht zur Geschichte und Naturwissenschaft!

Geschichte und Naturwissenschaft, die wundervollen Vermächtnisse unsrer ganzen Vergangenheit, die Verkünderinnen unsrer Zukunft, sie allein sind die sichern Grundlagen, auf denen wir den Thurm unsrer Spekulation bauen können.

Wie oft erschien mir nicht unsre ganze bisherige Philosophie als ein babylonischer Thurmbau;1 in den Himmel hineinzuragen, ist das Ziel aller großen Bestrebungen; das Himmelreich auf Erde heißt fast dasselbe.

Eine unendliche Gedankenverwirrung im Volke ist das trostlose Resultat; es stehen noch große Umwälzungen bevor, wenn die Menge erst begriffen hat, daß das ganze Christenthum sich auf Annahmen gründet; die Existenz Gottes, Unsterblichkeit Bibelautorität, Inspiration und anderes werden immer Probleme bleiben. Ich habe alles zu leugnen versucht: o, niederreißen ist leicht, aber aufbauen! Und selbst niederreißen scheint leichter, als es ist; wir sind durch die Eindrücke unsrer Kindheit, die Einflüsse unsrer Eltern, unsrer Erziehung so in unserm Innersten bestimmt, daß jene tief eingewurzelten Vorurtheile sich nicht so leicht durch Vernunftgründe oder bloßen Willen herausreißen lassen. Die Macht der Gewohnheit, das Bedürfniß nach Höherem, der Bruch mit allem Bestehenden, Auflösung aller Formen der Gesellschaft, der Zweifel, ob nicht zweitausend Jahre schon die Menschheit durch ein Trugbild irre geleitet, das Gefühl der eignen Vermessenheit und Tollkühnheit: das alles kämpft einen unentschiedenen Kampf, bis endlich schmerzliche Erfahrungen, traurige Ereignisse unser Herz wieder zu dem alten Kinderglauben zurückführen. Den Eindruck aber zu beobachten, den solche Zweifel auf das Gemüth machen, das muß einem Jedem ein Beitrag zu seiner eignen Kulturgeschichte sein. Es ist nicht anders denkbar, als daß auch etwas haften bleibt, ein Ergebniß aller jener Spekulation, was nicht immer ein Wissen, sondern auch ein Glaube sein kann, ja was selbst ein moralisches Gefühl bisweilen anregt oder niederdrückt.

Wie die Sitte als ein Ergebniß einer Zeit, eines Volkes, einer Geistesrichtung2 dasteht, so ist die Moral das Resultat einer allgemeinen Menschheitsentwicklung. Sie ist die Summe aller Wahrheiten für unsre Welt; möglich, daß sie in der unendlichen Welt nicht mehr bedeutet, als das Ergebniß einer Geistesrichtung in der unsrigen: möglich, daß aus den Wahrheitsresultaten der einzelnen Welten sich wieder eine Universalwahrheit entwickelt!

Wissen wir doch kaum, ob die Menschheit selbst nicht nur eine Stufe, eine Periode im Allgemeinen, im Werdenden ist, ob sie nicht eine willkürliche Erscheinung Gottes. Ist nicht vielleicht der Mensch nur die Entwicklung des Steines durch das Medium Pflanze, Thier? Wäre hier schon seine Vollendung erreicht und läge hierin nicht auch Geschichte? Hat dies ewige Werden nie ein Ende? Was sind die Triebfedern dieses großen Uhrwerks? Sie sind verborgen, aber sie sind dieselben in der großen Uhr, die wir Geschichte nennen. Das Zifferblatt sind die Ereignisse. Von Stunde zu Stunde rückt der Zeiger weiter, um nach Zwölfen seinen Gang von Neuem anzufangen; eine neue Weltperiode bricht an.

Und könnte man als jene Triebfedern nicht die immanente Humanität nehmen? (Dann wären beide Ansichten vermittelt.) Oder lenken höhre Rücksichten und Pläne das Ganze?3 Ist der Mensch nur Mittel oder ist er Zweck?

Für uns Zweck, für uns ist Veränderung da, für uns giebt es Epochen und Perioden. Wie könnten auch wir höhre Pläne sehen. Wir sehen nur, wie aus derselben Quelle, aus der Humanität sich unter den äußern Eindrücken Ideen bilden; wie diese Leben und Gestalt gewinnen; Gemeingut aller, Gewissen, Pflichtgefühl werden; wie der ewige Produktionstrieb sie als Stoff zu neuen verarbeitet, wie sie das Leben gestalten, die Geschichte regieren; wie sie im Kampf von einander annehmen und wie aus dieser Mischung neue Gestaltungen hervorgehn. Ein Kämpfen und Wogen verschiedenster Strömungen mit Ebbe und Fluth, alle dem ewigen Ozeane zu.

Alles bewegt sich in ungeheuren immer weiter werdenden Kreisen um einander; der Mensch ist einer der innersten Kreise.4 Will er die Schwingungen der äußern ermessen, so muß er von sich und den nächst weitern Kreise[n] auf noch umfassendere abstrahieren. Diese nächst weitern sind Völker-, Gesellschaft- und Menschheitsgeschichte. Das gemeinsame Centrum aller Schwingungen, den unendlich kleinen Kreis zu suchen, ist Aufgabe der Naturwissenschaft; jetzt erkennen wir, da der Mensch zugleich in sich und für sich jenes Centrum sucht, welche einzige Bedeutsamkeit Geschichte und Naturwissenschaft für uns haben müssen.

Indem der Mensch aber in den Kreisen der Weltgeschichte mit fortgerissen wird, entsteht jener Kampf des Einzelwillens mit dem Gesammtwillen; hier liegt jenes unendlich wichtige Problem angedeutet, die Frage um Berechtigung des Individuums zum Volk, des Volkes zur Menschheit, der Menschheit zur Welt; hier auch das Grundverhältniß von Fatum und Geschichte.

Die höchste Auffassung von Universalgeschichte ist für den Menschen unmöglich; der große Historiker aber wird ebenso wie der große Philosoph Prophet; denn beide abstrahieren von inneren Kreisen auf äußere. Dem Fatum aber ist seine Stellung noch nicht gesichert; werfen wir noch einen Blick auf das Menschenleben, um seine Berechtigung im Einzelnen und damit im Gesammten zu erkennen.

Was bestimmt unser Lebensglück? Haben wir es den Ereignissen zu danken, von deren Wirbel wir fortgerissen werden? Oder ist nicht vielmehr unser Temperament gleichsam der Farbenton aller Ereignisse? Tritt uns nicht alles im Spiegel unsrer eignen Persönlichkeit entgegen? Und geben nicht die Ereignisse gleichsam nur die Tonart unsres Geschickes an, während die Stärke und Schwäche, mit der es uns trifft, lediglich von unsern Temperament abhängt? Frage geistreiche Mediziner, sagt Emerson, wie viel Temperament nicht entscheidet und was es überhaupt nicht entscheidet?5

Unser Temperament aber ist nichts als unser Gemüth, auf dem sich die Eindrücke unsrer Verhältnisse und Ereignisse ausgeprägt haben. Was ist es, was die Seele so vieler Menschen mit Macht zu dem Gewöhnlichen niederzieht und einen höhern Ideenaufflug so erschwert? Ein fatalistischer Schädel- und Rückgratsbau, der Stand und die Natur ihrer Eltern, das Alltägliche ihrer Verhältnisse, das Gemeine ihrer Umgebung, selbst das Eintönige ihrer Heimat. Wir sind beeinflußt worden, ohne die Kraft zu einer Gegenwirkung in uns zu tragen, ohne selbst zu erkennen, daß wir beeinflußt sind. Es ist ein schmerzliches Gefühl, seine Selbständigkeit in einem unbewußten Annehmen von äußern Eindrücken aufgegeben, Fähigkeiten der Seele durch die Macht der Gewohnheit erdrückt und wider Willen die Keime zu Verirrungen in die Seele gegraben zu haben.

In höherm Maßstabe finden wir dies alles in der Völkergeschichte wieder. Viele Völker, von denselben Ereignissen getroffen, sind doch auf die verschiedenste Art beeinflußt worden.

Es ist deshalb Beschränktheit, der ganzen Menschheit irgend eine spezielle Form des Staates oder der Gesellschaft gleichsam mit Stereotypen aufdrucken zu wollen; alle socialen und communistischen Ideen leiden an diesem Irrtum. Denn der Mensch ist nie derselbe wieder;6 sobald es aber möglich wäre, durch einen starken Willen die ganze Weltvergangenheit umzustürzen, sofort träten wir in die Reihe unabhängiger Götter, und Weltgeschichte hieße dann für uns nicht[s] als ein träumerisches Selbstentrücktsein; der Vorhang fällt, und der Mensch findet sich wieder, wie ein Kind mit Welten spielend,7 wie ein Kind, das beim Morgenglühn aufwacht und sich lachend die furchtbaren Träume von der Stirne streicht.

Der freie Wille erscheint als das Fessellose, Willkürliche; er ist das unendlich Freie, Schweifende, der Geist. Das Fatum aber ist eine Notwendigkeit, wenn wir nicht glauben sollen, daß die Weltgeschichte ein Traumesirren, die unsäglichen Wehen der Menschheit Einbildungen, wir selbst Spielbälle unsrer Phantasien sind. Fatum ist die unendliche Kraft des Widerstandes gegen den freien Willen; freier Wille ohne Fatum ist ebenso wenig denkbar, wie Geist ohne Reelles Gutes ohne Bößes. Denn erst der Gegensatz macht die Eigenschaft.

Das Fatum predigt immer wieder den Grundsatz: “Die Ereignisse sind es, die die Ereignisse bestimmen.” Wäre dies der einzig wahre Grundsatz, so ist der Mensch ein Spielball dunkel wirkender Kräfte, unverantwortlich für seine Fehler, überhaupt frei von moralischen Unterschieden, ein notwendiges Glied in einer Kette. Glücklich, wenn er seine Lage nicht durchschaut, wenn er nicht convulsivisch in den Fesseln zuckt, die ihn umstricken, wenn er nicht mit wahnsinniger Lust die Welt und ihren Mechanismus zu verwirren trachtet!

Vielleicht ist in ähnlicher Weise, wie der Geist nur die unendlich kleinste Substanz, das Gute nur die subtilste Entwicklung des Bößen aus sich heraus sein kann, der freie Wille nichts als die höchste Potenz des Fatums. Weltgeschichte ist dann Geschichte der Materie, wenn man die Bedeutung dieses Wortes unendlich weit nimmt. Denn es muß noch höhere Principien geben, vor denen alle Unterschiede in eine große Einheitlichkeit zusammenfließen, vor denen alles Entwicklung, Stufenfolge ist, alles einem ungeheuren Ozeane zuströmt, wo sich alle Entwicklungshebel der Welt wiederfinden, vereinigt, verschmolzen, all-eins. —


Fußnoten s. English Translation.

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