Unpublished Works | Euphorion. Cap. I. 1862© The Nietzsche Channel

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Euphorion. Cap. I.1

Juli 1862.

...... Meine Seele durchwogt eine Fluth von weichen, beruhigenden Harmonien — ich weiß nicht was mich so wehmütig stimmt, ich möchte weinen und dann sterben. Es ist nichts merhr! Ich bin sehr matt, meine Hand zittert ....

Das Frühroth spielt in bunten Farben am Himmel, ein sehr abgebrauchtes Feuerwerk, das mich langweilt. Meine Augen funkeln ganz anders, ich fürchte daß sie Löcher in den Himmel brennen. Ich fühle es, daß ich mich völlig entpuppt2 habe ich kenne mich durch und durch und mochte nur den Kopf meines Doppelgängers finden, um sein Gehirn zu secieren oder meinen eignen Kinderkopf mit goldnen Locken ... ach .. vor zwanzig Jahren .. Kind ... Kind ... so fremd klingt mir das Wort. Bin auch ich Kind gewesen, zugedrechselt3 worden durch den alten abgeleierten Weltmechanismus? Und schleppe jetzt — eine Klapper an der Tretmühle4 — recht behaglich langsam das Seil, das man Fatum nennt, bis ich verfault5 bin, der Schinder mich verscharrt, und nur einige Aasfliegen mir noch ein Wenig Unsterblichkeit zusichern?

Ich fühle beinahe bei diesem Gedanken eine Disposition zum Lachen — indessen geniert mich eine andere Idee — vielleicht entsprießen nämlich meinen Knochen auch Blümlein, vielleicht ein "herzig Veilchen" oder gar — wenn nämlich der Schinder auf meinem Grabe seine Nothdurft verrichtet — ein Vergißmeinnicht. Dann kommen Verliebte .... Widerwärtig! Widerwärtig! Das ist Fäulniß! Indeß ich hier in solchen Zukunftsgedanken schwelge — denn es deucht mir angenehmer in feuchter Erde zu verwesen als unter blauem Himmel zu vegetieren, als fetter Wurm zu krabbeln süßer als Mensch — ein wandelndes Fragezeichen — zu sein — beunruhigt mich immer daß Menschen auf der Straße dahinwandeln, bunte, geputzte, zierliche, lustige Menschen! Was sind sie? Uebertünchte Gräber sind sie, wie weiland irgend ein Mauschel6 gesagt hat.

In meiner Stube ist es todtenstill — meine Feder kratzt nur auf dem Papier — denn ich liebe es schreibend zu denken, da die Maschine noch nicht erfunden ist unsre Gedanken auf irgend einem Stoffe, unausgesprochen, ungeschrieben, abzuprägen. Vor mir ein Tintenfaß, um mein schwarzes Herz drin zu ersäufen, eine Scheere um mich an das Halsabschneiden zu gewöhnen, Manuscripte, um mich zu wischen und ein Nachttopf.

Mir gegenüber wohnt eine Nonne, die ich mitunter besuche um mich an ihrer Sittsamkeit zu erfreuen. Sie ist mir sehr genau bekannt, von Kopf bus zur Zehe, genauer als ich mir selber. Früher war sie Nonne, dünn und schmächtig — ich war Arzt und machte daß sie bald dick wurde. Mit ihr wohnt ihr Bruder zusammen in zeitlicher Ehe, der war mir z fett und blühend, den habe ich mager gemacht — wie eine Leiche. Er wird in diesen Tagen sterben — was mir angenehm — denn ich werde ihn secieren. Zuvor aber will ich meine Lebensgeschichte niederschreiben, denn abgesehn davon daß sie interessant ist, ist sie auch lehrreich, junge Menschen bald alt zu machen .. darin bin ich nämlich Meister. Wer sie lesen soll? Meine Doppelgänger, deren noch viel in diesem Jammerthal wandeln."

Hier lehnte sich Euphorion ein wenig zurück und stöhnte, denn er litt an der Rückenmarksdarre7 ......


Fußnoten s. English Translation.

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