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Nietzsche Channel. Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften.
1856-1861.
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Naumburg den 26/12 1856 |
Endlich ist mein Entschluß gefaßt, ein
Tagebuch zu schreiben, in welchem man alles, was
freudig oder auch traurig das Herz bewegt, dem
Gedächtniß überliefert, um sich nach Jahren
noch an Leben und Treiben dieser Zeit und
besonders meiner zu erinnern. Möge
dieser Entschluß nicht wankend gemacht werden,
obgleich bedeutende Hinderniße in den Weg
treten. Doch jetzt will ich |
anfangen: |
Wir leben jetzt inmitten von
Weihnachtsfreuden. Wir warteten auf sie, sahen
sie erfüllt, genossen jene und jetzt drohen sie
uns nun schon wieder zu verlassen. Denn es ist
schon der zweite Feiertag. Jedoch ein
beglückendes Gefühl strahlt hell fast von dem
einen Weihnachtsabend, bis der andre schon mit
mächtigen Schritten seiner Bestimmung
entgegeneilt. Doch ich will mit dem Anfange
meiner Ferien auch den Anfang der
Weihnachtsfreuden schildern. Wir gingen aus der
Schule; die ganze Zeit der Ferien lag vor uns und
mit diesen das schönste aller Feste. Schon seit
einiger Zeit war uns der Zutritt an einige Orte
nicht gestattet. Ein Nebelflor hüllte alles
geheimnißvoll ein, damit dann desto mächtiger
die Freudenstrahlen der Christfestsonne
hindurchbrächcn. Weihnachtsgänge wurden
besorgt; das Gespräch wurde fast allein auf
dieses geleitet; ich zitterte fast vor Freude,
wenn das Herz jubelnd daran gedachte und ich
eilte fort, um meinen Freund Gustav Krug zu
besuchen. Wir machten unsern Empfindungen Raum,
indem wir bedachten, was der morgende Tag für
schöne Geschenke mit sich bringen werde. So
verging der Tag in Erwartung der Dinge. |
Der Tag erschien! |
Schon leuchtete das Tageslicht in mein
Schlafgemach, als ich erwachte. Was alles
durchströmte meine Brust! Es war ja der Tag, an
dessen Ende einst zu Bethlehem der Welt das
größte Heil widerfuhr; es ist ja der Tag an
welchem meine Mama mich jährlich mit reichen
Gaben überschüttet. Der Tag verfloß mit
Schneckenlangsamkeit; Pakete mußten von der Post
geholt werden, geheimnißvoll wurden wir aus der
Stube in den Garten vertrieben. Was mag während
dieser Zeit dort vorgegangen sein? Dann ging ich
in die Klavierstunden, in welche ich wöchentlich
am Mittwoch einmal gehe. Ich hatte erst eine
Sonata facile von Beethoven
gespielt, und mußte jetzt Variation[en] spielen.
Nun fing es schon an zu dämmern. Die Mama sagte
zu mir und meiner Schwester Elisabeht: Die
Vorbereitungen sind fast zu Ende. Wie freuten wir
uns da. Nun kam die Tante; wir begrüßten sie
mit einem Gejauchze oder vielmehr Gebrüll, daß
das Haus davon bebte. Das Mädchen meiner Tante
folgte ihr, und war noch zu Vorbereitungen
dienlich. Zuletzt vor der Bescheerung kamen die
Frau Pastor Haarseim mit ihrem Sohn. Da wer
beschreibt unsern Jubel öffnet die Mama die
Thür! Hell strahlt uns der Christbaum entgegen
und unter ihm die Fülle der Gaben! Ich sprang
nicht, nein ich stürzte hinein und gelangte
merkwürdigerweise grade an meinen Platz. Da
erblickte ich ein sehr schönes Buch (obgleich
zwei dalagen, denn ich sollte mir auswählen),
nämlich die Sagenwelt der Alten mit vielen
prächtigen Bildern ausgestattet. Auch einen
Schlittschuh fand ich, aber nur einen? Wie würde
ich ausgelacht werden, wenn ich versuchen wollte einen
Schlittschuh an zwei Beine zu schnallen. Das
wäre doch merkwürdig. Doch sieh einmal, was
liegt denn da noch daneben so ganz ungesehen? Bin
ich denn so klein, so gering, daß du mich kaum
ansiehst? sprach da plötzlich ein dicker
Folioband, welcher zwölf vierhändige Sinfonien
von Haydn enthielt. Ein freudiger Schrecken
durchzuckte mich wie der Blitz die Wolken; also
wirklich der ungeheure Wunsch war erfüllt; der
größte! |
Nebenan erblickte ich auch den zweiten
Schlittschuh, und wie ich mir diesen näher
besehe, da sah ich plötzlich noch ein paar
Hosen. Nun betrachtete ich meinen Weihnachtstisch
im ganzen und fragte nach denen, welche es mir
geschenkt hatten. Doch wer mag der sein, welcher
mir die vielen Noten geschenkt hat? Ich erhielt
aber keine andre Auskunft als daß es ein
Unbekannter sei, welcher mich bloß dem Namen
nach kenne. Dann wurde Tee und Stolle getrunken
und gegessen, und nachdem uns die Gäste
verlassen hatten und uns Müdigkeit ankam, legten
wir uns zur Ruhe. |
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Do[n]nerstag 25/12 1856 |
Heute "erster Feiertag." S' ist
doch mit der schönste Tag im Jahre. Wenn man am
heil'gen Abend sich der Geschenke wohl am meisten
freut, so genießt man sie an den heutigen Tag am
meisten. Auch kamen den Vormittag meine Freunde
Gustav und Wilhelm um meine Geschenke anzusehn.
Denn Nachmittag ging ich
zu Gustav und that bei ihm
desgleich[en]. Wir waren zur Bescheerung bei
Pinders eingeladen und gaben uns deßhalb um 6
Uhr dorthin. Von seiner Grosmam[a] bekam er 6
Bände Reisebeschreibungen, das Triospiel, von
seinen Grospapa die sämmtlichen Regenten
Preusens und viele Schreibebücher. Aber von
seinen Papa eine wunderschöne Steinsammlung,
welche meistentheils selbstgesammelte Steine
erhält. |
F. W. N. 1857. |
Der
Leusch und das Wethauthal.
[Juli 1857.]
Ich hatte mit Wilhelm Pinder verabredet, eine Partie
nach dem Leusch zu machen und wir bestimmten dazu den
nächsten Sonntag. (Das war der 19. Juli) Den Morgen um 7
Uhr giengen wir vom Jakobsthor aus fort. Das Wetter war
für uns sehr günstig, denn es war bei weitem kühler
als die vorigen Tage. Auch wählten wir statt der
staubigen Chaussee lieber den Feldweg, welcher an den
sogenannten Hussitenschanzen vorüberführt. Sodann kamen
wir an den Gipsbrüchen vorbei, wo wir etwas ausruhten.
Hier sahen wir den Leusch vor uns auf einer Erhöhung
liegen, und unser erstes Ziel war erreicht. Wir traten in
den Wald ein; alles war hier noch so frisch und der Thau
schimmerte auf allen Zweigen, die Vögel sangen und das
Geläute der Glocken, welche in die Kirchen riefen,
tönte wunderbar um das Ohr, bald schwach, bald stark.
Auch die Aussicht von dort ist nicht minder schön, denn
der Leusch ist über Naumburg schon ziemlich erhaben. Ein
vollständiger Kreis von Bergen zog sich am Horizonte um
uns, in seiner Mitte Naumburg umfassend, dessen
Thurmspitzen in Strahlen erglühten. Von hier giengen wir
weiter, um in das Wethauthal zu gelangen, um dann den Weg
über den Bürgergarten nach Hause zu nehmen. Bald
erblickten wir einen dunklen Streifen von Bergen, der
sich immer mehr vergrößerte, und endlich hatten wir das
Wethauthal vor uns. Die es umgebenden Berge sind mit Wald
bedeckt, und hinter ihnen erhebt sich noch eine blaue
Bergkette. Wir giengen in das Thal hinab, an einen Teich.
Die
Schönburg.
[Juli 1857.]
Diese Burg, welche Ludwig der Springer erbaut hat,
liegt an dem Strande der Saale und unweit Gosecks. Kommt
man durch das Dorf gleichen Namens, so zeigt sie sich in
ihrer ganzen Größe und Stärke. Der sich hoch erhebende
Thurm mit seiner gerundeten Spitze, die Basteien, welche
schroff an den Felsen abfallen, erinnern sehr an die Zeit
des Mittelalters, und wirklich bot wohl keine Gegend
einen bessern Ort zu einer Raubburg dar, als diese; denn
die eine Seite umfließt die Saale, die andre ist durch
steile Abhänge geschützt. Wir gingen den Weg zur Burg
hinauf, der noch an den Seiten von Mauerresten begrenzt
ist, und traten in den Burghof ein, dessen Hälfte jetzt
zu einem Garten umgewandelt ist. Noch ein sehr tiefer
Brunnen befindet sich darin, über welchen ein Häuschen
gebaut ist. Dieser Garten ist von dem Burghof durch eine
Mauer getrennt und steht durch eine Pforte mit ihm in
Verbindung. Sieht man durch die Fensternischen, so hat
man eine wunderschöne Gegend vor sich: Eine weite Wiese
dehnt sich vor uns aus und die Saale durchzieht sie
gleich einem Silberreif, durch Berge, die von Weinbergen
begrenzt sind. Im Hintergrunde liegt Naumburg, in einen
grauen Schleier gehüllt, seitwärts Goseck, ein bei der
Entstehung der Burg sehr wichtiger Ort. Noch ein
altes Burgverlies befindet sich da, auf dessen Rücken
die Bewohner der Burg kleine Gartenanlagen angelegt
haben. Darauf wollten wir noch den Schloßthurm
besteigen. Durch den sehr engen Eingang, an welchem man
die Dicke der Mauern erkennen kann, gelangt man in das
finstere Innre. Vier sehr breitsprossige Leitern führen
auf ebensoviel Böden und auf dem ersten von ihnen ist
noch ein alter Kamin. Oben angelangt gerät man durch ein
Panorama, welches sich bis nach Weißenfels erstreckt, in
Erstaunen. Wir hatten hier das erhabne Vergnügen, die
Sonne untergehen zu sehen. Langsam tauchte die Sonne
unter; ihre letzten Strahlen vergoldeten die Thürme von
Naumburg und Goseck. Jetzt wurde es stiller in der Natur.
Graue Nebel stiegen von dem Flusse auf, der Vögel Klang
verstummte, der Landmann kehrte heim in seine väterliche
Hütte und sucht nach des Tages Mühen Ruh, denn die
Sonne hat Abschied genommen und der Nacht ihre Stelle
eingeräumt. Aber auch wir verließen die schöne Burg,
nahmen Abschied von ihren Zinnen und räumten dem Mond
unsre Stelle, dessen Glanz auf das Gebäude schimmerte.
Mein
Leben.
[Oktober 1858.]
Meine frühste Jugendzeit floß still und ungetrübt
dahin und umsäuselte mich sanft gleich einem süßen
Traum. Der Friede und Ruhe, die über einem Pfarrhause
schwebt, drückte ihre teifen, unauslöschbaren Spuren in
mein Gemüth ein, wie man denn überhaupt findet, daß
die ersten Eindrücke, welche die Seele empfängt,
unvergänglich sind. Da aber verdüsterte sich plötzlich
der Himmel; mein geliebtet Vater erkrankte schwer und
anhaltend. So trat auf einmal Angst und Spannung an die
Stelle des heitern, goldenen Friedens, des ruhigen
Familienglücks. Endlich nach langer Zeit geschah das
Schreckliche: Mein Vater starb! Noch jetzt berührt mich
der Gedanke daran innig tief und schmerzlich; damals
erkannte ich die ungeheure Wichtigkeit dieses Ereignißes
noch nicht so, wie jetzt. Wenn ein Baum seiner
Krone beraubt wird, so sieht er oed und traurig aus.
Schlaff hängen die Zweige zur Erde nieder; die Vöglein
verlassen die dürren Aeste und alles rege Leben ist
verschwunden. Und stand es nicht ebenso mit unsrer
Familie? Alle Freude war vorüber; Schmerz und Trauer
waren an ihrer Stelle. Nach einem halben Jahr
verließen wir das friedliche Dorf; ich war nun ohne
Vater, ohne Heimat. Naumburg bot uns zwar eine neue
Wohnstätte dar; viel Liebe und Segen bescheerte uns Gott
auch hier; aber immer wird mein Sinnen nach dem theuren
Vaterhaus hingezogen und auf Flügeln der Wehmuth eile
ich oft dahin, wo mein erstes Glück einst still
erblühte.
In Naumburg begann ich nun einen neuen
Lebensabschnitt. Hier gewann ich meine lieben Freunde P.
und K., die mir Naumburg für immer lieb und theuer
machten. Obschon auch an diesem Ort manche
Unglücksfälle unsre Familie trafen, so war doch in
Allen Gottes segnende Hand zu erkennen. Nachdem ich
einige Zeit auf einem Institut vorbereitet worden war,
wurde ich in das Domgymnasium aufgenommen. Treue Lehrer
waren hier beständig bemüht, unser Wissen zu mehren und
zu fördern. Aber auch das Verhältniß der Schüler
gegen- und die rege Theilnahme für einander, machten mir
diese Anstalt sehr werth und theuer. Ich befand mich hier
recht wohl und wäre sicher bis zur Universität hier
geblieben, wenn es nicht Gottes weiser Rath anders
beschlossen hätte. Denn plötzlich wurde uns eine
Freistelle von Pforta angetragen. Nun, der Vater im
Himmel wird mich auch hier an seiner Hand führen und
leiten.
["Porta
coeli ..."]
[Februar 1859.]
Porta coeli locus appelatus est, quem nunc habito. In
regione, jucunda et montibus circumdata sita et variis
rebus insignis, amata est primis annis a me. Sed tempora
mutantur; quae cupiebam, vera facta sunt et in hac
regione, quam aspectu tantum cognovi, per sexennium
moror.
Pforta, d. 6. 2. 59
In
Jena.
[Juli-August 1859.]
Ich hatte meine Ferien unglücklicherweise mit zwei
Übeln begonnen, die mich am Ausgehen verhinderten. Als
ich nun einigermaßen wiederhergestellt war, dachte ich
ernstlich darüber nach auf welche Weise ich meine Ferien
am besten benutzen könnte. Verreisen wollte ich auf
jeden Fall, aber wohin, war die bedenkliche Frage; denn
ich wünschte Verwandte, die mir womöglich noch
unbekannt waren, zu besuchen. Endlich fiel mir ein, daß
ich meinen Onkel, den Herrn Oberbürgermeister kaum
einmal vor vielen Jahren gesehen und noch gar nicht
näher kennengelernt habe. Schnell war der Plan gefaßt
und schon am andern Tag saß ich auf der Eisenbahn und
wurde bei meiner Ankunft in Apolda sogleich durch einen
Omnibus nach Jena transportiert. Die Sonne brannte auf
den lederbeschlagenen Sitzen, als ob wir auf einem Rost
säßen. Endlich wand sich der Weg zwischen zwei
Bergreihen, von denen die eine in reichlichem Getreide
prangte, die andere aber kahl und oede ein trauriges Bild
der Verödung darbot. Endlich sahen wir in der Ferne die
Thürme der Stadt und über ihnen zwei Berggipfel
hervorragen. Endlich hielt der Wagen vor der Wohnung des
Onkels, und die Tante bewillkommnete mich sehr herzlich,
da der Onkel gerade Geschäfte hatte. Noch denselben
Abend machte ich einige Bekanntschaft mit der Umgebung
der Stadt, den Promenaden und Anlagen. Den folgenden Tag
besuchten wir zusammen das Dörfchen Lichtenhain,
berühmt durch sein gutes Bier. Da dieser Ort ein sehr
besuchter Aufenthalt der Jenenser Studenten ist, so sind
alle Bewohner auf Gäste vorbereitet. Aehnlich ist es
auch bei Ziegenhain, einem Dörfchen, welches besonders
des Fuchsthurms wegen so bekannt ist. Über diesen
Überrest einer alten Burg gehen verschiedene Volkssagen;
die bekannteste ist folgende:...
Einer der schönsten Punkte Jenas ist die Kunitzburg,
welche wir nicht unterließen zu besuchen. Wir gingen
erst eine lange Zeit an dem Ufer der Saale hin und kamen
endlich nach dem Dorf Kunitz. Hier ließen wir uns den
Weg sagen, und man wies uns auf den etwas näheren aber
bei weitem beschwerlicheren. Es kostete eine ungeheure
Mühe, besonders da wir plötzlich den Fußsteig verloren
und ohne Weg und Steg hinaufklettern mußten. Oben
angelangt konnten wir das schöne Schauspiel des
Sonnenuntergangs genießen.
Jena selbst hat mehrere Reize. Ich will hier nur eine
vorzügliche Badeanstalt erwähnen, die ich auch häufig
benutzte. Dann sind an allen Häusern, wo berühmte
Männer (und deren sind viele) gewohnt haben, Täfelchen
mit den Namen der Betreffenden angeschlagen. Es machte
mir besonderes Vergnügen die größten Häupter unserer
Nation, wie Luther, Goethe, Schiller, Klopstock,
Winkelmann und viele andere aufzusuchen.
Pforta.
v. Nietzsche. [August-Oktober] 1859.
Den 6ten August [1859].
Wider das
Heimweh. (nach Prof. Buddensieg)
1. Wenn wir etwas Tüchtiges
lernen wollen, können wir nicht immer zu Hause bleiben.
2. Das wollen die lieben Eltern nicht; wir fügen uns
deßhalb in den Willen der Eltern.
3. Unsre Lieben sind in Gottes Hand; wir sind immer von
ihren Gedanken begleitet.
4. Wenn wir tüchtig arbeiten, so vergehen traurige
Gedanken.
5. Hilft das alles nicht, so bete zu Gott dem Herrn.
Als heute abend Prof. Steinhardt unserer
Abiturienten gedachte, erwähnte er auch die drohende
Kriegsgefahr, die bald alle aus unserm Kreise vor der
gesetzlichen Zeit und aus ihrer Cariere gerissen hätte.
Sie hatten sich aber bloß in Naumburg stellen müssen
und deßhalb 6 Tage ihrer Ferien eingebüßt.
Als ich in Jena war, erfuhr ich die
telegraphische Depesche vom Schluß des Friedens zu erst.
Es war dennoch keine rechte Friedensfreude; man
fürchtet, der Löwe zieht sich zurück, um Kraft zu
neuem Anlaufe zu fassen.
Wir haben heute wieder frei gebadet. Das Wasser
war ungewöhnlich flach; man konnte weit und breit über
die Saale gehen. Es war auch ungemein warm.
Die Schwimmprobe habe ich noch nicht gemacht;
ich fürchte mich immer vor Blamage.
Mein Onkel Edmund ist nach Corensen versetzt,
einem Dorf im Unterharz bei Vipra und Mansfeld. Ich freue
mich sehr darauf, ihn einmal besuchen zu können. Aber
leider wird meine Mama in sechs Wochen auch dahin gehen
und dem Onkel die Wirtschaft einrichten und erst
Weihnachten zurückkommen. Ich werde dann nicht mehr
Almrich zum Sonntagsbesuch wählen dürfen.
Allerdings wird Mad. Laubscher öfters nach Almrich
kommen. Es ist dies eine geborne Schweizerin, gibt in
Naumburg Privatstunden und hat Pensionärinnen. Ihr Mann
ist ein Franzose, von ganz vorzüglichem Charakter, aber
in sich geschlossen, so daß man ihn fast für
unaufmerksam in Gesellschaften halten könnte, wenn er
nicht mitunter durch treffende, sogar geistreiche Fragen
das Gegenteil lehrte.
Den 7ten August
Heute ist der erste Sonntag, den ich wiederum
in Pforta verlebe. Aber merkwürdig; die wahre
Sonntagsweihe fehlt mir.
Ich gehe heute nach Almrich, wo die Mama mit
Lisbeth sein wird. Es ist dies eigentlich nur Aufenthalt
der Primaner; aber wenn Eltern dahin kommen, können sie
es den Söhnen nicht verwehren. Die andern pflegen nach
Kösen zu gehn: gewöhnlich zu Haemerling in die
Konditorei. Indessen gibt es doch auch viele, die in dem
Walde ihre Sonntagserquickung finden.
Mein Obergesell Krämer kommt gewöhnlich mit
nach Almrich und besucht die Mama. Es ist ein sehr
liebenswürdiger Charakter, der mich von allen Primanern
am meisten anspricht. Ich habe mich vor dem Weggang in
die Hundstage in sein Stammbuch geschrieben und von ihm
auf immer Abschied genommen, aber nun ist er doch wieder
da.
Mein Geburtstag ist nun in wenigen Monaten; ich
bin noch nicht einig, was ich mir wünschen werde.
Entweder Gaudys, Kleists Werke oder Tristram Shandy von
Sterne. Krämer konnte nicht mit nach Almrich kommen; ich
ging deshalb allein hin. Ich fand dort die liebe Mama mit
Lisbeth, Onkel Oskar, Herrn v. Busch und später kamen
noch mehrere Naumburger Primaner hinzu. Als ich ein
falsches Gerücht über die Zahl der Abiturienten von
Naumburg, mit denen es unsicher stehe, angab, äußerte
einer: Die Pförtner haben auch nichts anderes, worüber
sie sprechen können; und in ähnlicher Weise stichelten
sie fortwährend auf Pforta. Ich habe zu allem
geschwiegen; auch Schweigen ist eine Antwort und sie
sollen doch sehen, daß ich in Pforta schweigen gelernt
habe.
Ich weiß gar nicht, wie es in den paar Tagen
der Michaelisferien mit mir werden wird. Mama ist nicht
zu Hause und ich werde wahrscheinlich zu Hause schlafen
und bei den Tanten essen.
Die Hitze war heute nicht so bedeutend wie
gewöhnlich.
Den 8ten August
Heute gibt es mehrere Repetitionen; deshalb ist
es ein schlimmer Tag. Erstens eine Geschichtsrepetition
vom peloponnesischen Krieg bis Alexander. Zweitens eine
griechische Grammatikrepetition und drittens eine
Geographierepetition über alle Teile der Erde außer
Europa und Australien. Glück zu!
Die Geschichtsrepetition ging glücklich
vorüber oder kam vielmehr gar nicht her; denn es wurde
über Alexanders Zug diktiert. Wenn es doch auch so
mit den übrigen ginge!
Um zwei Uhr. Es ist uns auch so ergangen.
Welche Freude! Es ist nämlich eine sehr lobenswerte
Einrichtung in Pforta, daß, wenn die Hitze über 24 Grad
steigt, die Nachmittagslektionen ausfallen und der ganze
Coetus baden geht, was man in der Alumnensprache
Kommunschwemme nennt. Solch ein Fall ist heute. Es ist
drückend heiß; man kann es im Schulgarten nicht
aushalten. Wir haben von zwei bis vier Repetierstunde und
um fünf gehen wir baden. Welche Wonne, sich heute in den
Fluten abzukühlen!
Es ist wohl im Augenblick angenehmer, wenn man
Ostern rezipiert wird, aber bei weitem erfolgreicher ist
es doch zu Michael. Wenn uns auch nicht die
Frühlingsnatur entgegenlacht, wenn man sogar lange nicht
soviel Freiheiten wie im Sommer besitzt, so kann man doch
wieder im Winter mehr arbeiten und späterhin, wenn jene
Zeit in Pforta wiederkommt, wo alles prangt und blüht,
erschließen sich uns viele Annehmlichkeiten. Wenn ich
allein der vielen Vorrechte der Alten vor den Novizen im
Sommer gedenke beim Kegelschieben und in der Klasse,
wünschte ich schon zu Michael aufgenommen zu werden.
Ich habe beschlossen, mir Tristram Shandys
Leben und Meinungen selbst zu kaufen und Don Quixote mir
zum Geburtstag zu wünschen. Ich hoffe in sechs Wochen
das nötige Geld, die zwanzig Silbergroschen zu besitzen.
Den 9ten August
Ich will jetzt versuchen, ein Bild von dem ganz
gewöhnlichen Leben in Pforta zu geben, da ich sonst
wenig oder gar nichts zu erzählen habe. Also
früh um vier Uhr wird der Schlafsaal
aufgeschlossen und von da an steht es einem jeden frei
aufzustehen. Aber um fünf Uhr müssen alle andern, mit
der gewöhnlichen Schulglocke wird geläutet, die
Schlafsaalinspektoren rufen dröhnend: "Steht auf,
steht auf, macht daß ihr herauskommt!" und
bestrafen auch wohl die, welche sich nicht so leicht aus
den Federn herausfinden können. Dann ziehen sich alle so
schnell und so leicht wie möglich an und eilen dann in
die Waschstube, um noch einen Platz zu bekommen, bevor es
zu voll wird. Zehn Minuten nach der kurzen Zeit des
Aufstehens und Anziehens geht es wieder heraus in die
Stuben, wo sich jeder ordentlich ankleidet. Fünf Minuten
vor halb wird zum ersten Male zum Gebet geläutet und zum
zweiten Male muß man in den Betsaal. Hier halten, bevor
der Lehrer kommt, die Inspektoren auf Ruhe, verbieten das
Sprechen und animieren die Primaner, die gewöhnlich viel
später kommen, sich zu setzen. Dann erscheint der Lehrer
mit dem ihn begleitenden Famulus, und die Inspektoren
geben an, ob ihre Bänke vollzählig sind. Dann ertönt
die Orgel, und nach kurzem Vorspiel erklingt ein
Morgenlied. Dann liest der Lehrer einen Abschnitt aus dem
Neuen Testament, mitunter auch noch ein geistliches Lied,
spricht das Vaterunser und der Schlußvers beschließt
die Versammlung. Dann gehen alle auf ihre Stuben, wo
Kannen mit warmer Milch und Semmeln harren. Punkt sechs
ertönt die Glocke zur Klasse. Jeder nimmt seine Bücher
und geht dahin und bleibt bis sieben Uhr. Dann folgt eine
Arbeitsstunde oder Repetierstunde, wie man sie nennt.
Dann sind Lektionen bis zehn, darauf wieder eine
Repetierstunde und endlich Klasse bis zwölf. Beim
Schlusse jeder Lektion und Arbeitsstunde wird geläutet.
Punkt zwölf trägt man schnell seine Bücher auf die
Stube und eilt dann mit Serviette in den Kreuzgang.
Den 10ten August
Ich muß noch einiges über den gestrigen Tag
nachtragen und deshalb kann ich in meiner Beschreibung
nicht fortfahren.
Es wurde wieder ungeheuer warm und dennoch keine
Kommunschwemme. Auch nicht einmal baden wurde gegangen.
In den Nachmittagslektionen war es ungemein schwül.
Endlich um halb sechs hatte sich der ganze Himmel mit
Wolken überzogen. Bald rollte dumpfer Donner dahin, bald
leuchteten grelle Blitze, bald strömte eine Regenflut
zur matten Erde nieder. Dies Gewitter zog sich, obwohl
ziemlich schwach, noch lange Zeit hin. Auch nach Tische,
in der Schulgartenfreizeit, regnete es, so daß alle im
Schulhause bleiben mußten. Aber so ungemütlich wie den
Abend war es mir nach den Hundstagen noch nicht. Ich
sehnte mich nach Naumburg, nach meinen Freunden, mit
denen ich mich in solchen Stunden angenehm unterhalten
konnte, und hier hatte ich niemand! Das ganze Schulhaus
kam mir so öde, so traurig vor, und das Düster, das
sich überall verbreitete, ließ nur nur glückliche
Bilder aus den Ferien vor den Augen erscheinen! O
Weihnachten, o Weihnachten, wie weit, wie weit!!
Es ist heute morgen bedeutend kühler als alle Tage
vorher. Der Himmel sieht regnerisch aus; mir ist wieder
nicht sehr gemütlich; ich freue mich auf den Sonntag,
aber die Woche vergeht so ungemein langsam. Es ist wahr;
trübes Wetter weckt trübe Gedanken; düsterer Himmel
macht die Seele düster, und weint der Himmel, so
vergießt auch mein Auge Tränen. Ach, in meiner Seele
erwacht das bittere Gefühl des Herbstes. Ich kann mich
noch eines Tages aus vorigem Jahre erinnern, wie ich noch
in Naumburg war. Ich ging da allein vor dem Marientor
spazieren; der Wind strich über die kahlen
Stoppelfelder, die Blätter fielen gelb zu Boden und mich
durchdrang es so schmerzlich: der blühende Lenz, der
glühende Sommer, sie sind dahin! Auf immer dahin! Bald
wird der weiße Schnee die sterbende Natur begraben!
Das Laub fällt von den
Bäumen,
Der wilden Winde Raub;
Das Leben mit seinen Träumen
Vergeht zu Asch und Staub!
Den 11ten August
Auch heute hat die Sonne noch nicht die Nebel-
und Wolkenhüllen durchbrochen; es ist heute Studientag
oder nach dem alten Gebrauche, eine Stunde länger
schlafen zu können. Ausschlafetag. Da sind nun von
morgens um sieben Uhr Repetierstunden bis zwölf, von
zwei bis fünf wiederum und von fünf bis sieben
schulgartenfrei. Solche Tage eignen sich vorzüglich zu
längeren Privatarbeiten. Die Lesestunden fallen
übrigens immer aus.
Es ist eigentümlich, wie rege die Phantasie im
Traume ist; ich, der ich immer des Nachts Bänder von
Gummi um die Füße trage, träumte, daß zwei Schlangen
sich um meine Beine schlängelten, sofort greife ich der
einen an den Kopf, wache auf und fühle, daß ich ein
Strumpfband in der Hand habe.
Ich habe gestern ein kleines Gedicht gemacht,
indem ich durch Gedanken an die Heimat daran dachte, wie
es wohl einem sein möge, der keine Heimat habe. Es
folgt hier:
Ohne
Heimat!
Flüchtge Rosse tragen
Mich ohn Furcht und Zagen
Durch die weite Fern.
Und wer mich sieht, der kennt mich
Und wer mich kennt, der nennt mich:
Den heimatslosen Herrn.
Heidideldi!
Verlaß mich nie!
Mein Glück, du heller Stern! |
|
Niemand darf es wagen,
Mich danach zu fragen,
Wo mein Heimat sei:
Ich bin wohl nie gebunden
An Raum und flüchtge Stunden,
Bin wie der Aar so frei!
Heidideldi!
Verlaß mich nie!
Mein Glück, du holder Mai! |
|
Daß ich einst soll sterben,
Küssen muß den herben
Tod, das glaub ich kaum:
Zum Grabe soll ich sinken
Und nimmermehr dann trinken
Des Lebens duftgen Schaum?
Heidideldi!
Verlaß mich nie!
Mein Glück, du bunter Traum! |
Den 12ten August
Endlich habe ich nun die Schwimmprobe gemacht;
da Sonnabend Schwimmfahrt ist, so wünschte ich gar zu
sehr, sie noch zu machen. Auf dem Rückweg mußte ich
noch bedeutend kämpfen, aber es ging doch noch.
Ich will übrigens heute die Fortsetzung von
dem Leben in Pforta liefern. In dem Kreuzgang
stellt man sich tischweise auf, so daß zwölf je zu
zweien hintereinander stehen und die Inspektoren gebieten
Ruhe. Sobald der Lehrer im Zönakel ist, marschiert der
15. Tisch zuerst hinein und dann die übrigen. Alle
Fehlenden werden angegeben. Dann spricht einer der
Inspektoren folgendes Gebet:
Herr Gott, himmlischer Vater, segne uns und diese
deine Gaben, die wir jetzt von deiner milden Güte zu uns
nehmen durch Jesum Christum, unsern Herrn. Amen.
Hier fällt der ganze Coetus mit dem alten
lateinischen Gesänge ein:
Gloria tibi trinitas,
Aequalis una deitas
Et ante omne saeculum
Et nunc et in perpetuum!
Dann setzen sich alle und die Mahlzeit beginnt. Der
Speisezettel für die Woche ist folgendermaßen:
Montag. Suppe, Rindfleisch
und Gemüse, Obst
Dienstag. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Butter
Mittwoch. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Obst
Donnerstag. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Nierenbraten
und Salat
Freitag. Suppe, Schweinebraten, Gemüse und Butter oder
Klöße, Schweinebraten und Obst oder Linsen und
Bratwurst und Butter
Sonnabend. Suppe, Rindfleisch, Gemüse, Obst
Jeder bekommt bei jeder Mahlzeit ein Zwölftel Brot. Die
Mahlzeit wird mit folgendem Gebet geschlossen:
Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine
Güte währet ewiglich; der allem Fleische Speise gibt
und dem Vieh sein Futter gibt und den jungen Raben, die
ihn darum anrufen. Er hat nicht Lust an der Stärke des
Rosses, noch Gefallen an jemandes Beinen; der Herr hat
Gefallen an denen, die ihn fürchten und auf seine Güte
warten. Wir danken dir Herr Gott, himmlischer Vater durch
Jesum Christum unsern Herrn für alle deine Wohltat, der
du lebest und regierest in Ewigkeit. Amen. Ein
Liedervers folgt dann.
Den 13ten August
Nun ist der zweite Sonnabend da; schon mehr als
eine ganze Woche habe ich wieder hier verlebt aber
die Zeit kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Die Woche des
Prof. Steinhardt ist vorüber; es ist eine der
angenehmsten Zeiten vorübergegangen, besonders für die
Primaner.
Unsre Abiturienten arbeiten sehr viel, da sie
in nächster Woche zu schreiben anfangen. Ich wünsche
ihnen recht viel Glück zu diesem wichtigen Unternehmen.
Ich habe auch in dieser Woche die Schwimmprobe
gemacht und bin kleiner Schwimmer geworden. Gott behüte
mich, daß mir bei der heutigen Schwimmfahrt nichts
zustößt.
Heute Mittag erhob sich ein heftiges Gewitter
mit gewaltigen Regengüssen, wodurch die Schwimmfahrt
vereitelt ist.
In der vorletzten Stunde, wo wir bei Herrn Doktor
Becker Lektion hatten, wurde zum Schluß derselben heftig
gelärmt und getrampelt. Der Herr Doktor war wütend
darüber und forderte die Übeltäter auf, sich bis zehn
Uhr zu melden. Da aber niemand kam, hat er einzelne aus
der Klasse zu sich bestellt und sie darüber ausgefragt.
Er hat aber fast gar nichts erfahren. Wir haben aber auf
heute Nachmittag um sechs Uhr eine Versammlung
sämtlicher Alten angesetzt. Ich will hier
auseinandersetzen, daß hierbei drei Fälle moglich sind,
daß nämlich, erstens, die ganze Klasse die Strafe auf
sich nimmt, wenn alles über die Urheber des Lärmes
verborgen geblieben ist. Da letzteres aber a) nicht ist,
zweitens durch jenen Streich die ganze Klasse in
schlechten Ruf kommt, so geht dies nicht. Zweitens
würden die Übeltäter von den andern angezeigt, so
wäre dies a) für jeden Schüler sehr unangenehm und
entehrend, b) großen Irrungen und Streitigkeiten
unterworfen. So bliebe also nur der dritte Fall möglich,
daß sich nämlich die Unruhestifter selbst anzeigen,
wodurch a) die Allgemeinehre der Klasse gerettet wird, b)
die Strafe der Lehrer milder und die Verzeihung leichter
sein wird, da die Sache dann als kindisch und
unbedachtsam ausgelegt wird und nur einigen zur Schuld
geschoben, sonst aber, wenn die ganze Klasse die Strafe
auf sich nimmt, als ein Zeichen von heftigem
Oppositionsgeist in der Klasse!!
Den 14ten August
Die Verhandlung wurde bei der Kegelbahn
geführt. Es hatten sich ziemlich viele versammelt und
das Resultat war, daß neune sich entweder freiwillig
meldeten oder durch Zeugen überstimmt wurden. Nach dem
Abendessen wurde die Synode fortgesetzt, so daß am Ende
fünfzehn sich bei dem Doktor Becker gemeldet haben. Ich
fürchte, daß aber alles dies zu spät geschah, da von
jenem schon der Rektor und Professor Buchbinder über die
Sache befragt sind. Daß alle Beteiligten vor die Synode
kommen, ist natürlich.
Es ist nun heute schon der zweite Sonntag, daß
ich wieder in Pforta bin. Ich werde heute nachmittag mit
Braunens nach Almrich gehn.
Der Sonntag im Sommer wird folgendermaßen
verlebt: Früh um sechs Uhr wird aufgestanden und
dreiviertel sieben ist Gebet. Darauf schulgartenfrei bis
acht. Dann aber ist Repetierstunde, welche das Läuten
zur Kirche endigt. Dann stellt man sich in den Kreuzgang
und zieht in die Kirche, wo der Hebdomodar die Inspektion
hat. Darauf ist bis zwölf wieder schulgartenfrei und
ebenso nach der Mahlzeit, die aus Suppe, Frikassee,
Braten und Salat besteht, bis zur Betstunde, die halb
zwei ihren Anfang nimmt. Bis drei muß man wieder
arbeiten, bis vier kann man in den Schulgarten gehen,
aber gleich nach der Vesper beginnt der ersehnte
Spaziergang bis sechs Uhr. Die Zeit bis sieben Uhr füllt
eine Arbeitsstunde aus. Dann schließt der Tag wie
gewöhnlich mit Essen, Schulgartenfreizeit und Gebet.
Ich habe in der letzten Zeit mehrerlei gelesen;
so hat mich zweierlei von Ludwig Rellstab ganz
hingerissen durch die furchtbare Spannung und prachtvolle
Schilderung. Das letztere "Am Orinoco", das die
Gefahren in den Urwäldern Amerikas schilderte, war
geradezu abspannend. Auch die Werke von Gaudy ziehen mich
sehr an, besonders der wahrhaft südliche Glut atmende
Römerzug. Diese farbigen Gemälde, geistvollen
Bemerkungen schlingen sich wie Efeu um die Säulen und
morschen Hallen der Melancholie. Von seinen Gcdichten
ziehen mich die Kaiserlieder besonders an, die, obwohl
sie einen Gegenstand des Hasses verewigen und zu den
Sternen erheben, ich dennoch zu einen der besten
Verherrlichungsgedichte verstorbener Helden rechne. Man
bewundert besonders den Schwung und die Glut in den
Gesängen der Trauerweiden.
Den 15ten August
Ich traf die Mama, den Onkel und Lisbeth in
Almrich. Es war recht hübsch. Die Mama wird leider schon
in vier Wochen fortgehn. Ich habe deshalb schon meine
Geburtstagswünsche nach Naumburg geschickt. Sie sind
folgendermaßen: Don Quixote, Poesiebuch, Platens
Biographie, Kuchen, Nüsse, Weintrauben. Der Milde und
Wohltätigkeit werden natürlich keine Schranken gesetzt.
In betreff unserer Klassenangelegenheit hielt
heute morgen Doktor Becker Ansprachen und Aufforderungen,
sich zu melden. Er schien sehr betrübt zu sein. Der,
welcher vor der Klasse die andern dazu angetrieben hat,
ist nun offenbar: er hat sich freiwillig gemeldet. Die
ganze Sache kommt Sonnabend vor die Synode und kann
ernstliche Folgen haben.
Wenn man das Schulleben näher betrachtet, so ist es
eine beständige fortlaufende Handlung, die, trotz daß
alle Ereigniße immer wiederkehren, immer viel Interesse
hat. Besonders sind die mannigfachen Episoden wichtig.
Man sagt gewöhnlich: Schuljahre sind schwere Jahre, ja
es sind auch Jahre, die sehr folgenschwer für das ganze
Leben sind, es sind auch Jahre, die der Jugend schwer
fallen, weil sich der frische Geist in enge Schranken
schließen muß, aber es sind auch gerade für solche,
denen die Jahre so schwer fallen, oft rechte leere Jahre.
Deshalb kommt es nun sehr auf eine gute Benutzung
derselben an; die Hauptregel ist, daß man sich in allen
Wissenschaften, Künsten, Fähigkeiten gleichmäßig
ausbildet und zwar so, daß Körper und Geist Hand in
Hand gehen. Man muß sich sehr vor Einseitigkeit des
Studiums hüten. Man muß alle Schriftsteller aus
mehreren Ursachen lesen; nicht nur der Grammatik und
Syntax, des Stils halber, nein, auch des geschichtlichen
Inhalts, der geistigen Anschauung wegen; ja man sollte
auch die Lektüre griechischer und lateinischer Dichter
mit deutschen Klassikern zugleich studieren und ihre
Anschauungsweise miteinander vergleichen. So soll auch
Geschichte nur mit Geographie vereint getrieben werden,
Mathematik mit Physik und Musik; dann steigen herrliche
Früchte aus dem Baume der Wahrheit, von einem Geiste
beseelt, von einer Sonne beleuchtet, hervor.
Den 16ten August
Unsre Abiturienten fangen heute zu schreiben
an; sie sind sehr in Spannung. Ich denke gern und nicht
gern an diese Augenblicke, indem man sich durch diese
letzte Mühe und Gefahr gleichsam von den Banden der
Schule loskauft.
Wir waren gestern wieder baden gegangen; zum
erstenmal hatte ich die Bademütze auf, die Auszeichnung
der Schwimmer. Ob ich die Schwimmfahrt aushalten werde,
glaub ich kaum. Nun, Glück zu!
Wenn ich abends auf den Schlafsaal komme,
scheint gewöhnlich der Mond auf mein Bett. Es ist dies
ein ganz eigentümliches Gefühl und mir wird merkwürdig
zumute. Es ist ausgemacht, daß der Mond mit dem Geist
des Menschen korrespondiert; die Nerven werden durch eine
Mondnacht mehr aufgeregt als durch die wärmsten Strahlen
der Sonne. Wer kennt nicht jenes liebliche Gedicht von
Heine: Die Lotosblume?
Es war heute dreiviertel fünf ehe wir aufstanden.
Morgenröte küßte die fernen Berge und spielte in den
Blättern der Eichen. Mir ist, wenn ich in die
purpurerglühende Morgensonne blicke, stets so
unermeßlich wohl; denn die flammende Tageskönigin
übergibt dem jungen Tag die Herrschaft. Aber wenn es
Abend wird, trauert meine Seele. Schau ich in das
Rosengewölk, schau ich auf die leis bewegten Rosen,
höre ich die Nachtigallen, die aus Liliengirlanden bange
Seufzer schallen lassen, so rufe ich schmerzlich sic
transit gloria mundi!
Ich betrachte immer im Geiste das unermeßliche
All; wie wunderschön und erhaben ist die Erde und wie
groß ist sie, da sie doch kein Mensch in allen ihren
Teilen kennenlernen kann, aber wie wird mir, wenn ich
erst die unzählbaren Sterne, wenn ich die Sonne sehe,
und wer bürgt mir dafür, daß dieses ungeheure
Himmelsgewölbe mit allen den Gestirnen nur ein kleiner
Teil des Weltalls ist und wo endigt dieses? Und wir
erbärmlichen Menschen, wir wollen den Schöpfer
desselben verstehen, da wir seine Werke kaum ahnen
können!
Ich bekomme mein Tristram Shandy wahrscheinlich
erst in der nächsten Woche. Ich habe es Lisbeth
aufgetragen, mir es so bald als möglich zu besorgen: Ich
bin außerordentlich begierig es kennenzulernen.
Den 17ten August
Vorbei, vorbei! Herz, willst du
zerspringen? O Gott, was hast du mir ein solches
Herz gegeben, daß ich mit der Natur zugleich jubele und
mich freue. Ich kann es nicht ertragen; schon sendet die
Sonne nicht mehr warme Strahlen; die Felder sind öde und
leer und hungrige Vögel sammeln für den Winter. Für
den Winter! So nah begrenzt sich Freude und Leid,
aber der Übergang ist zermalmend. Vorbei, vorbei! Vögel
ziehen am blauen Himmel weiter in ein fernes Land und ich
folge ihnen traurig mit dem schmerzergriffnen Herz. Welt,
bist du nicht endlich müde, kannst nicht Bleibendes
ersinnen; was nur keimet, blüht und pranget, muß
vergehen, muß von hinnen. Aus dem holden Maienweben
brichst du Rosen rot umflossen; nimm nun auch mein junges
Leben, das sich eben erst erschlossen. Ach; mit was für
festen Banden hast du mich an dich gebunden. O Natur; mit
bittrem Leide hast du mir mein Herz umwunden. Letzte
Rose! Weinend seh ich dich erblühen und vergehn, mit dir
leb ich und vergeh ich, mit dir werd' ich einst erstehn!
Denn nicht ewig kann versinken dieses Lebens holder
Traum; einstmals werd ich wieder trinken Lenzes Atem,
Lenzes Schaum!
Heute ist endlich die lang erwartete
Schwimmfahrt. Ich bin sehr auf den Ausgang gespannt.
Wir haben jetzt in der Geschichte den Zug
Alexanders des Großen. Dieser Heros zieht mich
außerordentlich an; man könnte Teile aus seinem Leben
zu vortrefflichen Tragödien benutzen. Ich will nur die
Verschwörung des Philotas erwähnen. Dieser junge Mann
ist einer der wenigen, die Alexander ihre Herzensmeinung
sagen, offen und wahr mit Festigkeit des Charakters. Die
Soldaten fürchten ihn, weil er streng ist und nicht
leidet, daß jene asiatische Üppigkeit, die der König
selbst angebahnt hat, überhand nimmt. Sein Stolz
erträgt nicht, daß Perser gleichen Rang mit den
Makedoniern haben, er gerät mit Alexander, dem Sohn des
Jupiter, dem Herrscher on Asien, dem täglich Altäre
lodern, kriechende Schmeichler unverdienten Weihrauch
zollen, in Wortwechsel. Alexander wird ihm feindlich;
jener aber, durch die Ermordung des Klitus angereizt,
gerät in heftigen Zorn, läßt unvorsichtige Worte
fallen und sein Leben ist verwirkt. Um den beunruhigenden
Gedanken zu entgehen, sendet Alexander Meuchelmörder
nach Ekbatana, um Parmenio zu ermorden. Babylon, Babylon,
du bringst Rache! Er muß auch sterben!
Den 18ten August
Die Schwimmfahrt fand gestern wirklich statt.
Es war ganz famos, wie wir in Reihen abgeteilt unter
lustiger Musik aus dem Tore marschierten. Wir hatten alle
rote Schwimmützen auf, was einen sehr hübschen Anblick
gewährte. Wir kleinen Schwimmer waren aber sehr
überrascht, als die Schwimmfahrt eine weite Strecke noch
die Saale hinunter ihren Anfang hatte, worüber wir alle
etwas kleinmütig wurden; als wir aber die großen
Schwimmer aus der Ferne kommen sahen, und die Musik
hörten, vergaßen wir unsre Angst und sprangen in den
Fluß; es wurde nun in derselben Ordnung geschwommen, wie
wir ausmarschiert waren. Überhaupt ging alles recht gut;
ich half mir, so gut ich konnte; obgleich ich nirgends
Grund hatte. Auch das Auf-dem-Rücken-Schwimmen benutzte
ich öfters. Als wir endlich anlangten, empfingen wir
unsre Kleidungsstücke, die in einem Kahne hinterdrein
gefahren waren, kleideten uns schnell und marschierten in
gleicher Ordnung nach Pforta. Es war wirklich
wunderhübsch.
Es ist heute ungemein düster, hat auch schon
viel geregnet. Als wir dreiviertel auf fünf aufstanden,
konnte man noch nicht sehen. Unsre Abiturienten schreiben
heute Deutsch, ich wünsche ihnen viel Glück dazu.
Fortsetzung des Tageslaufs in Pforta. Gleich nach
Tische trägt man Brot und Serviette des Tischoberen in
die Stube desselben und eilt in den Schulgarten. Vor halb
zwei darf keiner in der Stube erscheinen, was die
Wocheninspektoren streng bestrafen. Zuerst sieht nun nun
nach, ob wohl eine Kiste oder ein Brief da ist, die der
Pfonenbote täglich bringt oder man holt sich Obst für
sein Taschengeld bei einer Obstfrau. Dann schiebt man im
Schulgarten Kegel oder geht spazieren. Im Sommer wird
auch viel Ball geschlagen. Dreiviertel zwei läutet es
zur Klasse und in fünf Minuten muß man darin sein. Die
Lektionen dauern nun bis zehn Minuten vor vier. Dann ist
gleich Vesper, wo man Butter und Semmel oder Pflaumenmus,
Fett, Obst und dgl. erhält. Darauf hält der Obere eine
Lesestunde, wo griechische, lateinische oder
mathematische Docimastica geschrieben werden. Um fünf
ist eine kleine Pause, worauf dann Repetierstunden bis
sieben folgen. Dann ist Abendessen, das im ganzen dem
Mittag gleicht.
Montag. Freitag. Suppe,
Butterbrot, Käse.
Dienstag. Sonnabend. Suppe, Kartoffeln, Butter.
Mittwoch. Suppe, Wurst, Kartoffelmus oder saure Gurken.
Donnerstag. Suppe, Eierkuchen, Pflaumensauce, Butterbrot.
Sonntag. Suppe, Reismus, Butterbrot Heringe,
Salat, Butterbrot Eier, Salat, Butterbrot oder
anderes.
Den 19ten August
Dann können wir wieder in den Schulgarten bis
½9 gehen. Darauf ist Abendgebet und um 9 wird zu Bett
gegangen. Alle Obergesellen, denen doch durch die
Lesestunde eine Stunde verloren geht, bleiben noch bis
zehn Uhr auf. So ist der gewöhnliche Tageslauf in
Pforta.
Gestern kam der Herr Rektor Peter in die Klasse
und hielt uns eine große Strafrede der Trampelei wegen.
Er sagte unter andern: "Habt ihr denn ganz
vergessen, wer ihr seid und wie großen Dank ihr der
Anstalt und ihren Lehrern schuldig seid? Ihr solltet uns
durch Gehorsam und Folgsamkeit erfreuen und ihr kränkt
uns durch ein solches Betragen? Das ist aber ein sehr
schlechtes Zeichen für die Klasse; die Schuld fällt
nicht allein auf die unmittelbar Beteiligten, sondern
überhaupt aut den bösen Geist der Klasse." Dann
ließ er noch sehr bedenkliche Worte über sehr strenge
Strafen und dergleichen fallen.
Ich war gestern abend bei Prof. Corssen mit
sechs anderen. Es war wieder wie gewöhnlich sehr lustig
und interessant. Es ist mir stets ein großes Vergnügen
dahin zu gehen.
Ich warte nun seit Dienstag täglich auf meine
Kiste nebst Brief, aber immer vergebens! Was mag nur die
Mama davon abhalten?
Heute ist wieder Ausschlafetag oder Studientag
und es ist immer sehr angenehm, daß ich etwas
Ordentliches zu tun habe. Wir müssen nämlich eine
deutsche Arbeit heute abend abgeben. Ich bin hier in
Pforta etwas im Deutschen zurückgekommen. In Naumburg
hatten wir schon Abhandlungen und Charakterschilderungen
und hier müssen wir Geschichten zu Sprichwörtern
ersinnen u. a.
Unsre Abiturienten haben morgen noch das
mathematische Docimasticon zu schaffen; dann sind sie
ganz fertig und erwarten das mündliche Examen. Ich
hoffe, daß alle durchkommen werden.
Obwohl mir das holde Bild der Ferien fast aus
den Augen entschwunden ist, so ist mir doch diese Woche
recht schnell vergangen. Nächsten Montag ist
wahrscheinlich Bergtag; die Mama habe ich schon dazu
eingeladen.
Was lebet muß vergehen:
Die Rose muß verwehen,
Willst du sie einstmals sehen
In Wonne auferstehen! |
Den 20ten August
Endlich ist der für unsre Klasse so
verhängnißvolle Sonnabend herangekommen; ich bin auf
den Erfolg sehr gespannt.
Ich hatte gestern abend plötzlich eine so
ungewöhnliche Reiselust und zwar in eigentümlicher
Weise, ohne Geld. Mir kommt es nämlich so vor, als wenn
man bei Befriedigung aller Bedürfniße lange nicht so
interessant lebe, als wenn man nur seinem guten Glück
vertraut und nicht für den andern Tag sorgt. Daß man
natürlich für unvorhergesehene Fälle etwas bei sich
versteckt hat, ist natürlich. Ich möchte eigentlich
sehr gern die Michaelistage zu so einer Partie benutzen.
Ich dächte, es müßte sehr viel Amüsement gewähren.
So in den Tag hinein zu wandern, Unterkommen bei den
ersten, besten finden, ein paar Abenteuer erleben, ist
doch ganz famos.
Heute morgen habe ich schon einen Brief an die
Mama geschrieben und sie zum Bergtag eingeladen. Sie will
Madame Laubscher und Pensionärinnen mitbringen. Ich habe
noch gar nicht an Wilhelm geschrieben und er nicht an
mich; er wird doch nicht auf mich böse sein.
Wir sind gestern wieder baden gewesen, die
Saale war kühl und etwas gestiegen. Ich habe den
Schwe[rt]sprung mehrere Male versucht; auch so ziemlich
gelernt.
In Gaudys wandernden Schneidergesellen ist doch
ein köstlicher Humor. Wie fein ist Italien in allen
seinen Schwächen, wie vorzüglich das materielle
Berliner Kind charakterisiert!
Herr Prof. Buddensieg sagte uns heute einiges
über die hebräische Poesie. Sie besteht in dem
Parallelismus der Gedankenglieder und bedient sich
mitunter sogar des Reimes. Er führte uns als Muster
desselben den achten Psalm auf.
Ich schreibe jetzt fast gar keine Gedichte mehr und
die wenigen sind gewöhnlich etwas gewöhnlich. So habe
ich in Pforta erstens das Mailied gemacht, dann die
Maisonne, im Wald, der Schwan, Heimkehr I, II, In der
Ferne, und endlich Ohne Heimat. Allerdings für die lange
Zeit sehr wenig. Ich will aber vielleicht wieder einmal
einführen, täglich eins zu schreiben, die dann auch in
diesem Buche ihren Platz finden werden. Wann wird
aber die poetische Ader so ergiebig sein? Das ist ein
sehr unangenehmer Gedanke.
Den 21ten August
Ich habe gestern einen Brief bekommen, daß ich
sonntags nicht nach Almrich kommen sollte; ich werde
deshalb Herrn Rat Teichmann in Kösen besuchen. Es sind
alte liebe Leute, die ich schon von Naumburg aus
kannte.
Unsere Klassenmissetäter sind im ganzen mild
bestraft, der Rädelsführer ist heruntergesetzt und mit
Karena bestraft, seine dritte Strafe teilt er mit allen;
sie haben nämlich eine Stunde von ihrem Spaziergang
verloren.
Gestern abend sind zwei Quartaner auf ihrer
Bank von einem Inspektor beim Rauchen gefaßt und auf der
Inspektionsstube angezeigt. Es ist einer darunter, der
schon neulich beteiligt war. Ein andrer hat ein Zeichen
gegeben und auch dieser ist gefaßt. Es ist der Anführer
jener Trampelei!
Ich bin seit gestern nun wirklich im Chor,
worüber ich mich sehr freue. Ich singe nun mit in der
Kirche, kann die Sängerfahrt mitmachen und genieße nun
alle Vor- und Nachteile eines Choristen.
Unsere Abiturienten sind mit dem schriftlichen
Examen zu Ende. Ich hoffe, sie werden alle gut
durchkommen.
Ich habe heute im Don Quixote gelesen und er
zieht mich sehr an; dennoch trage ich Bedenken ihn mir zu
wünschen.
Es ist sehr zweifelhaftes Wetter, was mir
besonders des Bergtags halber sehr unangenehm ist. Nun,
Hoffnung läßt nicht zuschanden werden!
Ich bin nicht nach Kösen gegangen, sondern
etwas in den Wald. Wir holten uns erst etwas Obst und
erzählten uns dann gegenseitig ganz angenehm; ich bin
übrigens auf die Idee gekommen, die Michaelistage zu
einer Partie zu verwenden. Zwar folgendermaßen: Ich
bestelle Wilhelm den ersten Tag früh nach Pforta und
gehe mit ihm dann auf die Katze, genießen hier einen
Kunitzburger Eierkuchen, und machen uns dann wieder auf
den Weg über die Rudelsburg und Saaleck und kehren dann
den Nachmittag wieder zurück. Es ist wirklich ein sehr
hübscher Gedanke; ich werde ihn Wilhelm mitteilen. Ich
habe so nach den Ferien noch gar nicht an ihn
geschrieben.
Den 22ten August
Nun, Hoffnung ließ auch nicht zuschanden werden. Wir
haben einen sehr hübschen Bergtag verlebt, den ich auch
näher beschreiben will. Als ich den Morgen aufstand,
schaute ich sogleich nach dem Himmel. Das sah nun
allerdings ziemlich gefährlich aus. Denn viele dicke
Wolken umhüllten den Horizont. Darauf war gewöhnlicher
Studientag bis zwölf Uhr. Als aber da der Himmel heller
wurde, kleidete sich ein jeder an und man versammelte
sich um zwei Uhr auf dem Fürstenplatz und zwar
stubenweise. Nach abgehaltener Visitation ging dann der
Zug, Musici und Sänger voran, vor die rechte Front des
Schulhauses. Hier wird unter Begleitung der Instrumente
das Berglied gesungen und dann marschiert alles mit der
Schulfahne voran den Berg hinauf. Auf dem weiten Plateau
angekommen, wird Halt gemacht. Hier hat nun Konditor
Furcht seinen Platz aufgeschlagen und findet einen
ungeheuren Absatz. Besonders der Schaumkuchen
verschwindet im Nu. Wir lagerten uns dicht an den Wald
und unterhielten uns ziemlich über das Amüsement der
Untern am Bergtag. Da meldete mir endlich einer, daß die
Mama mit Lisbeth da sei. Das war nun wunderhübsch. Erst
tranken wir zusammen Kaffee mit Kuchen und unterhielten
uns dann. Später kamen auch noch Madame Laubscher mit
Pensionärinnen. Da unterdessen der Tanz begonnen hatte,
tanzten letztere ziemlich viel mit. Es waren überhaupt
ziemlich viel Damen da, während sie fast sämtliche
Bergtage ein tüchtiger Regen abgehalten hatte. Dann trat
der Chor zusammen und sang sehr hübsche Lieder wie das
Abendlied, dann "Hoch Deutschland hoch" und
"Ade du liebes Waldesgrün". Darauf wurde
wieder bis halb 7 getanzt. Da war endlich das Ende der
Lust da und wir marschierten, nachdem ich herzlich
Abschied genommen und gedankt hatte, klassenweise wieder
hinunter in das Schulgebäude. Bis in den Primanergarten
dauerte der Festmarsch und dann ging alles auseinander.
Die Mittleren hatten den Abend noch auf dem Tanzsaal
Ball. So endete der schönste Bergtag seit mehreren
Jahren.
Den 23ten August
Heute ist man von dem gestrigen Tage noch etwas
abgemattet; denn solche Freude und Lust nimmt immer etwas
mit. Aber die schöne Erinnerung bleibt doch.
Ich muß noch einen Zug des Bergtags erwähnen.
Wenn nämlich auf dem Rückweg Pforta gerade unter uns
liegt, stellen sich die Klassen untereinander auf und der
Präfekt bringt erst dem König ein Lebehoch, dann dem
Prinz von Preußen, dann den zukünftigen Abiturienten,
darauf der Alma mater mit Lehrern und endlich dem
gesamten Coetus. Vier, fünf, 6 Lebehochs ertönten
letzterem da rief endlich Prof. Buchbinder
lachend: Nun wie lange wollt ihr denn leben?
Madame Laubscher war so freundlich, mir
anzubieten, während der Abwesenheit der Mama öfters
nach Almrich zu kommen. Ich werde das gewiß mehrere Male
benutzen.
Ich bin jetzt in einer merkwürdigen Verlegenheit. Ich
habe nämlich hier in Pforta zwei Brüder, die mit mir
etwas verwandt sind. Der ältere ist bei dem ganzen
Coetus gewissermaßen in Verachtung, wird von allen
geneckt und verlacht. Er dringt aber darauf, mich zu ihm
bringen zu lassen, da ich nächstes Semester noch keinen
Obergesellen habe. Sein Bruder hingegen ist ein ganz
angenehmer Mensch, lustig und guter Dinge, äußerte
aber, da ich ihm das von seinem Bruder erzählte: ich
könne mich auch zu ihm bringen lassen; ich hätte da
freilich zu entscheiden, wer mir von ihnen am besten
gefalle. Nun bin ich in neuer Verlegenheit; denn ich
beleidige auf jeden Fall einen von beiden. Dann ist nun
auf jeden Fall das beste, ich lasse mich zu keinem von
beiden bringen.
Der Herbst erinnert mich immer an meine
zukünftige Stellung in der Welt; denn die Jugend soll
dann noch Früchte tragen. Aber es ist mir ein
schrecklicher Gedanke, dann nur zu genießen, was
einstige Mühe heimgebracht. Meine Seele muß im ewigen
Frühling stehen, denn wenn erst die rosige Blütenzeit
vorüber ist, dann ist auch mein Leben vorüber. Wie
schwer wird es mir, den irdischen Frühling zu missen,
aber um wieviel bittrer ist jenes!
Den 24ten August
Ich habe gestern wieder einmal die Räuber
gelesen; es wird mir dabei jedesmal ganz eigentümlich
zumute. Die Charaktere sind mir fast übermenschlich, man
glaubt einen Titanenkampf gegen Religion und Tugend zu
sehen, bei dem aber doch die himmlische Allgewalt einen
endlos tragischen Sieg erringt. Furchtbar ist zuletzt die
Verzweiflung des unendlichen Sünders, die durch die
Worte des Paters grausenerregend vermehrt wird. Mir ist
nichts Neues aufgefallen, als daß Schiller an einer
Stelle auf ein Jugendgedicht von sich selbst hinweist.
Dritter
Akt, zweite Szene
Schwarz: "Wie herrlich die Sonne dort
untergeht!"
Moor: "So stirbt ein Held:
Anbetungswürdig!"
"Da ich noch Bube war, war's mein
Lieblingsgedanke, wie sie zu leben, zu sterben wie
sie!"
Man vergleiche hiermit das Gedicht:
"Die Sonne hat vollendet gleich dem Helden"
usw.
Man sieht auch hierin, daß in dem Karl Moor Schiller
viele seiner Ideen, seiner Entwürfe verwebt hat.
Wir konnten gleich nach Tische vorgehen und
versammelten uns an der Saline in der Davisonshalle. So
ungefähr um drei kamen wir in die Buchenhalle. Es ist
dies ein wunderschöner Platz im Walde, nach Art eines
Amphitheaters mit Bänken versehen. Der Chor und die
andre Musik nahmen den höchsten Platz ein. Unten war ein
Altar und eine Kanzel errichtet und mit Blumen sehr
feierlich verziert. Zuerst wurde "Ach bleib mit
deiner Gnade" gesungen, dann las Prof. Buddensieg
die Liturgie; wir aber sangen noch einige Motetten;
darauf bestieg Diakonus Link aus Ekartberga [die Kanzel]
und hielt eine sehr schöne geistvolle Predigt. Dann
schloß die Feierlichkeit mit mehreren Gesangstücken.
Es war ungemein belebt, fast alle Badegäste waren da.
Um ½ 5 Uhr waren wir wieder in Pforta und gingen dann
gleich baden. Die Saale war wunderschön erwärmt und wir
blieben auch ziemlich lange darin. Ich habe wieder
öfters den Schwertsprung versucht. Wenn ich doch
übrigens bald wieder einen Brief von der Mama bekäme!
Ich weiß gar nicht, wie es ihnen bekommen ist! Nun
morgen, Donnerstag!
Den 25ten August
Bis jetzt habe ich noch sehr wenig erlebt; die
Sonne scheint noch nicht sehr warm; herbstliche Kühle
breitet sich über das Land. Wir haben in der
Klasse ein Docimasticon geschrieben; ich bin auf den
Erfolg begierig.
Die Mama sagte, ich würde wahrscheinlich nach
Korensen zu Weihnachten reisen, da sie vielleicht noch
nicht zurückgekehrt sei. Das wäre nun allerdings sehr
hübsch. Besonders auf die Reise freue ich mich sehr.
Wenn es nicht so kalt ist, so fahre ich bis Halle und
mache mich dann auf den Weg nach Deutschental. Dort
besuche ich den Herrn Pastor, den ich früher einmal
kennengelernt habe, von da nach Langenbogen, begrüße
dort meinen alten Bekannten, den Salzigen See. Dann geht
es nach Eisleben, wo Luthers Denkwürdigkeiten betrachtet
werden. Von dort nach Mansfeld, wo mich Mama und Onkel
erwarten. Ich freue mich sehr darauf.
Heute nachmittag beginnen die großen
Geographierepetitionen zuerst mit Asien. Das ist nun eine
üble Sache; ich wünsche, es wäre schon vorüber. Vor
der Geographie habe ich überhaupt immer etwas Furcht.
Alles ist recht gut vorübergegangen. Ich bin
in der Geographie dran- und durchgekommen. Wilhelm hat
mir übrigens geschrieben; er geht auf meinen Plan ein
und will sogar lieber eine kleine Fußreise machen.
In dem Tertianergedicht "Heimkehr" habe ich
IIa bekommen. Die zweite Abteilung folge:
II
I. |
Das milde Abendläuten
Hallet über das Feld.
Das will mir recht bedeuten,
Daß doch auf dieser Welt
Heimat und Heimatglück
Wohl keiner je gefunden:
Der Erde kaum entwunden,
Kehrn wir zur Erde zurück. |
|
|
II. |
Wenn so die Glocken hallen,
Geht es mir durch den Sinn,
Daß wir noch alle wallen
Zur ewgen Heimat hin.
Selig wer allezeit
Der Erde sich entringet
Und Heimatlieder singet
Von jener Seligkeit! |
In meinem lat[einischen]
Docimasticon habe ich IIa.Wir haben heute ein
mathematisches geschrieben und bin auf den Erfolg sehr
gespannt; ich habe alles heraus, ob aber alles richtig,
ist eine andere Frage.
Heute nachmittag stieg die Hitze wieder auf 24 Grad.
Die Lektionen fielen aus und wir gingen alle baden. Das
Wasser war wunderschön.
Ich habe heute nichts weiter zu erzählen. Deshalb
will ich mein Gedicht: Heimkehr anfügen.
Heimkehr.
|
Das war ein Tag der Schmerzen,
Als ich einst Abschied nahm;
Noch bänger war's dem Herzen,
Als ich nun wiederkam.
Der ganzen Wandrung Hoffen
Vernichtet mit einem Schlag!
O unglückselge Stunde!
O unheilvoller Tag! |
|
|
|
Ich habe viel geweinet
Auf meines Vaters Grab
Und manche bittre Träne
Fiel auf die Gruft herab.
Mir ward so öd und traurig
Im teuren Vaterhaus,
So daß ich oft bin gangen
Zum düstern Wald hinaus. |
|
|
|
In seinen Schattenräumen
Vergaß ich allen Schmerz
Es kam in stillen Träumen
Der Friede in mein Herz.
Der Jugend Blütenwonne
Rosen und Lerchenschlag
Erschien mir wenn ich schlummernd
Im Schatten der Eichen lag. |
Den 27 August
Siehe da, gestern nachmittag war wieder
Kommunschwemme. Die Kähne waren jedesmal überladen.
Ich habe jetzt die Literaturgeschichte von Kletke und
vorzüglich hat mich das Leben Jean Pauls angezogen. Die
Bruchstücke seiner Werke, die ich gelesen habe, ziehen
mich ungemein durch die blühende, überschwengliche
Schilderung, die zarten Gedanken und den satirischen Witz
an. Ich glaube, Jean Paul wird einmal bei reiferen Jahren
mein Lieblingsschriftsteller.
Ich werde jetzt einige Episoden aus meinem
Leben etwas phantastisch ausschmücken. Die erste soll
sein:
I. Aus den
Hundstagsferien.
Hundstage! Das ist ein Zauberwort für jeden nach
Freiheit schmachtenden Alumnus potensis, ein Eldorado,
das uns getrost den großen Ozean des Schulsemesters
duchsegeln läßt. Welche Wonne, wenn endlich der Ruf:
Land, Land, erschallt: jubelnd bekränzen alle das Schiff
ihres Daseins und die alten trauten Stuben umschlingen
Guirlanden, die auf jeden Blatt den Namen: Hoffnung
tragen. Wer vermöchte es nur zu schildern, das
überwallende Gefühl, das stolze Bewußtsein daß uns zu
den Sternen erhebt. Nicht mit Seupfzen und Klagen
entreißen wir uns den Armen der Alma mater; nein, uns
ist im Gegentheil so frei und lustig zu Muthe, wie einer
Lerche, die zu den Flammenmeer aufsteigt und in die
wogende Purpurgluht ihre Flügel taucht. Aber ist das
eine Freiheit? Nur fünf Wochen können wir unsre
Schwingen über Berg und Thal, in ewige Weiten erheben,
aber dann ruft uns ein Machtwort in die alten, düsteren
Mauern zurück. Wenn der lächelnde Frühling sein
überreiches Füllhorn über die Fluren aus schüttet,
wenn die Sonne die Erde feuriger um armt, da keimen und
sprießen die Lenzeskinder empor, schütteln das goldene
diamantenbesäte Haupt in der Morgengluth u. erschließen
sich, wonneschauernd, freudig verklärt. Und siehe!
Schwarze Nacht steigt empor und umhüllt die seupfzende
Erde mit düsteren Gewölbe. Gewaltige Stürme,
hindröhnende Donner gleiten an den finsteren Wänden
nieder und mühen sich die Pfosten zu sprengen. Feurige
Blitze schlängeln sich um die Säulen des Gewölbes und
züngeln emporda tritt Helios auf den purpurnen
Thron unddie finstern Mächte weichendie
Lichtgöttin schreitet mit farbigen Erglühen über die
demantenbethaute Brücke und über ihr schließt sich das
mit Blitzen behangene Triumpfthor.
aber die holden Frühlingskinder sind
hingesunken in den gewaltigen Anblick und auf den
zerstreuten Blüthen wandelt der siegende Gott.
Darum o Jüngling, benutze die Zeit deiner Ferien,
nicht mit Arbeiten sondern in jauchzender Erholung so
daß wenn das Ungewitter herannaht und die dröhnende
Donnerstimme das Ende der Rosenzeit verkündet, du willig
scheidestdoch stille! Ich bin nicht einer,
der ohne Klagen den Frühling fliehen sieht und ich kann
mir nicht vorstellen wie jemand gern wieder sich in
Fesseln schließt. Ich bin aber zu den Satz gekommen:
Genieße das Leben, wie es sich dir darbietet, und denke
nicht an die kommenden Mühen. Das ist jedenfalls der
größte menschliche Grundsatz, den ich in Pforta gelernt
habe. Wenn mich bittre Gedanken quälten und die Seele
von schmerzlichen Heimweh umwunden wurde, wenn ich
traurig den Frühling scheiden sah, und mein Herz im
tiefsten Weh schmachtete, da schlang sich jener Gedanke
wie eine Rosenguirlande durch die Trümmer der
Vergangenheit, undichschob Kegel! Darum weg
ihr Ferienabschiedsgedanken! Lustig voll von Lebenslust
stürz dich in das matte Leben und erkämpfe dir die
Krone der besten Ferienbenutzung!
II.
Es war schon die Sonne untergegangen, da schritten wir
aus dem düsteren Halle heraus. Bald lag diese Stadt, die
t[rotz] ihrer Belebtheit auf mich keinen angenehmen
Eindruck macht, hinter uns, der goldig umflossene Himmel,
wo noch die Gluten in rosiger Verklärung loderten, über
uns und Saatgefilde, auf denen der milde Hauch des Abends
ruhte, neben uns. O Wilhelm, rief ich, gibt es eine
größere Lust als so zusammen die Welt zu durchwandern?
Freundesliebe, Freundestreue! Atem der herrlichen
Sommernacht, Blumenduft und Abendröte! Steigen deine
Gedanken nicht auf wie die jubelnde Lerche, und thronen
auf den goldumkränzten Wolken. Wie eine wunderliebliche
Abendlandschaft liegt mein Leben vor mir. Wie gruppieren
sich die Tage vor mir bald in düsterer Beleuchtung, bald
in jubelvoller Auflösung!
Da drang ein greller Schrei uns zu Ohren: es
kam aus dem nahen Irrenhause. Inniger schlossen sich
unsre Hände zusammen: uns war, als berühre uns ein
böser Geist mit beängstigenden Fittichen. Nein, uns
soll nichts voneinander scheiden, nichts als der
Todesjüngling. Weichet, ihr bösen Mächte! Auch
in dieser schönen Welt gibt es Unglückliche. Aber was
ist Unglück?
Es wurde nun schon dunkler, die Wolken zogen sich
zusammen und bildeten eine graue, mitternächtliche
Masse. Wir beeilten unsre Schritte etwas, auch sprachen
wir nicht zusammen. Die Fluren wurden immer düsterer und
als wir endlich in einen Wald kamen, wurde uns etwas
unheimlich. Deshalb war es uns sehr angenehm und zugleich
etwas ängstlich, aus der Ferne ein Licht auf uns
zukommen zu sehen. Wir faßten indessen Mut und gingen
auf dasselbe los. Bald erblickten wir eine schwarze
Gestalt: wie es schien, war es ein Jäger. Denn eine
Büchse hing über seinen Rücken und ein laut bellender
Hund folgte ihm. Als wir aber näher kamen, und die
wilden, unheimlichen Gesichtszüge sahen, verschwand
unser Mut wieder und wir riefen mit schwacher Stimme:
Guten Abend. Gleiches erscholl in einem tiefen Basse, der
Fremde leuchtete uns in das Gesicht und rief, seinen auf
uns losstürzenden Hund beschwichtigend: Was macht ihr
hier noch so spät in dem Wald, ihr Burschen? Wir wußten
nicht recht, was wir entgegnen sollten und entgegneten:
Nach Eisleben führt unser Weg, und wir hofften noch in
dieser Nacht unser Ziel zu erreichen. Die Nacht ist aber
keines Menschen Freund, und so allein zu gehen ist für
solche junge Burschen hier hielt er inne und wir
sahen ihm ängstlich fragend ins Gesicht.
Er aber rief lachend: Nun fürchtet euch nur nicht;
ich werde euch begleiten. Obwohl wir anfangs seine
Einladung scheu annahmen, so wurde uns sein rauhes
Antlitz etwas freundlicher und wir faßten Zutrauen zu
ihm. Es war jetzt pechschwarze Nacht, sogar der Mond
wurde von den tiefen Wolken bedeckt und die Laterne warf
auf die alten Baumriesen ihr zitterndes Licht. Mir kam
fast der Gedanke an, nach Deutschental zu wandern und
dort Halt zu machen. Dort hatte ich einen Onkel, von dem
ich aber wußte, daß er mich nicht sobald von sich
lassen werde. Endlich erkundigte ich mich wie zufällig
nach ihm und jener sah mich an und sagte: So, kennt den
der Herr? Ich antwortete: Ja etwas, aber wiederum
gefragt, warum ich ihn nicht besuchen wollte, meinte ich:
Auf der Rückkehr ist auch noch Zeit dazu. Aber der Alte
erwiderte verwundert: Sie haben hier in der Umgegend
Bekannte und ziehen es vor, auf gefährlichen Wegen der
Nacht zu gehen? Gefährlich; fragte ich und meine
Augen blickten wieder bang umher; aber es war ringsum
Nacht, tiefe schwarze Nacht. Habt ihr noch gar nicht von
den Gespenstergeschichten in diesem Walde gehört? Auch
sollen gewöhnlich sich hier Zigeunerbanden
aufhalten. Ich bat ihn hiervon zu schweigen, und
wir setzten nun in Todesstille unsern Weg fort. Wir
gelangten endlich in ein Tal, rings von wildem Gestrüpp
umgeben. Plötzlich setzte unser Begleiter eine Pfeife an
den Mund und ließ einen schrillen Ton hören. Wir sahen
uns verdutzt an; aber auf einmal wurde es im Wald
lebendig, hier und da leuchteten Fackeln auf, wild
vermummte Menschen umschlossen uns beide im Kreis, die
Besinnung verging mir und ich wußte nicht, was mit mir
vorging.
III.
Als ich erwachte, schwebten noch jene Schreckensbilder
um mich, aber bald nahm ein belebendes, erheiterndes
Gefühl die Oberhand ich war noch in Pforta, es
war der letzte Morgen, in zwei Stunden war ich schon in
Naumburg. Der Morgensonne Strahl blitzte durch das
Fenster und ich begrüßte freudig das himmlische Licht,
das die trüben Gebilde der Nacht vertrieb. Bald
wanderte ich zu dem kleinen Pförtchen hinaus und warf
noch einmal einen Blick des Abschieds auf die alten
grauen Gebäude. Dann trat ich in den grünen Wald
ein. Wenn ich in das Heiligtum der Natur trete, da
überrascht mich immer das Gefühl: Für uns ist all
diese Herrlichkeit geschaffen, für uns erheben sich die
hehren Schattengewölbe, für uns erglüht die Sonne,
leuchtet der Mond und durch dieses Verhältniß erscheint
mir die ganze Welt wie ein lieber Gefährte, mit dem ich
meine Gedanken austauschen kann und den ich bitter
beweine, wenn er von mir scheidet; aber ohne Scheiden ist
kein fröhliches Wiedersehen; die Sonne muß in das Meer
versinken, wenn sie am andern Tage wieder neues Leben
ausgießen soll; unser Leben muß verblühen, wenn eine
höhere geistige Auferstehung uns beleben soll.
Als ich in Naumburg ankam, war viel Freude und Jubel;
da nun der erste Freudenrausch vorüber war, unterhielten
wir uns viel und besonders, wohin ich in den Ferien
reisen würde. Endlich fiel ein Blitz mir durch die
Seele; ich dachte, einen Onkel mußt du besuchen, den du
noch nicht gesehen hast, wie der Traum mir angab. Nach
Jena also, wo ein Verwandter Oberbürgermeister ist. In
wenigen Tagen war der Entschluß zur Reife gediehen, die
freundliche Einladung des Onkels da und fort ging's in
Sturmessaus nach der Eisenbahn. Das dampfausspeiende
Ungeheuer war schon da und ich hatte noch Zeit, in ein
Waggon zu springen.
IV.
Fort ging's nun im fliegenden Saus und die schöne
Umgebung glitt wie ein Zauberbild vorüber. Ich liebe
gewissermaßen das Eisenbahnfahren; obwohl man alle
Bilder eben nur augenblicksweise kennenlernt, so ist ja
unser Leben überhaupt nur eine flüchtige Durchfahrt
ohne bleibenden Halt, und glücklich sind wir, wenn es
sich so darbietet, in seiner schönsten Blüte. Im Wagen
zu fahren ist mir zu unpoetisch; wenn man in den tiefsten
Gedanken sich befindet, entsteht plötzlich ein Rüttern
und Schüttern, daß der Kopf ganz verwirrt wird. Geht
man zu Fuß, so wird oft ein erhabener Eindruck durch
Gegenstände gestört, die man eben beim Spazierengehen
findet. Auch meine alte Pforta sah ich liegen,
wünschte aber nicht dorthin zu fahren und vertröstete
sie auf 4 Wochen. Die Rudelsburg lag bald vor uns und der
alte Samiel winkte mit einem Tuche und forderte uns zum
Besuche auf. Die Gegend ist dort wirklich wunderschön,
das Thal wie ein Blumenteppich, auf dem sich eine
silberne Schlange hinschlängelt. Die grauen Wächter der
Vergangenheit blicken öde auf das neue Leben, das sich
vor ihnen ausbreitet. In Apolda verließ ich den Wagen
und bestieg den Omnibus. Unglücklicherweise war alles
schon so besetzt, daß ich auf dem Bock allein noch Platz
fand. Hier brannte nun mitunter (denn die Sonne wurde
gewöhnlich mit Wolken verhüllt und durchbrach diese
bisweilen), brannte sie so heftig, als wollte sie uns
braten. So ist es auch in einem Herzen, das von allem
Möglichen verhindert wird sich zu ergießen und dann
stellenweise überwallt und die Ufer überschwemmt. Von
der heißen Chausee wand sich der Weg zwischen zwei
Bergrücken hin, die merkwürdig miteinander
contrastierten. Der eine ist ganz mit Wald und Flur
überdeckt, während der andere sich kahl und oede
hinzieht. Die Höhe erhebt sich schon bis 1000 Fuß,
während hinter Jena sich der Fuchsthurm bis zu 2000
erhebt. Bald sahen wir Jena vor uns liegen mit seinen
Thürmen und Bergen. Mir wird jedesmal ganz gemüthlich,
wenn ich die kleine, schöngelegene Universitätsstadt
betrachte. Ich ließ mich zurecht weißen und fand die
Wohnung meines Onkels. Die liebe Tante empfing mich sehr
freundlich und ich fühlte mich ganz heimisch. Der Onkel,
den ich noch gar nicht kannte, hat einen sehr
liebenswerthen Charakter und hat mich in allem, worüber
ich fragte, belehrt. Ueberhaupt erging es mir dort so
wohl, und so interessant, so daß ich nicht wüßte, wo
ich angenehmere Ferien verlebt hätte. Am ersten Morgen
ging ich mit dem Onkel auf den Hausberg, auf dem
Ziegenhain mit dem Fuchsthurm liegt. Ich lernte da Jena
von einer sehr schönen Seite kennen; unter mir zog sich
die Saale hin und umschloß theilweiße die Stadt, die
mit ihren engen Straßen und hohen Häusern ein zwar
alterthümliches, aber gemüthliches Aussehen hat. Darauf
mußte der Onkel das Rathhaus besuchen, ich aber
schlenderte noch in der Stadt herum, indem ich die
Wohnungen berühmter Männer aufsuchte, was mir großes
Vergnügen machte. Mittag gingen wir zur Badeanstalt und
schwammen da in Begleitung eines Kahnes die Saale hinauf,
was sehr anstrengt. Dann mundete auch das treffliche
Mittagbrot vorzüglich. Den Nachmittag las ich
gewöhnlich in des Onkels Bibliothek; ich fand da Novalis
(dessen philosophische Gedanken mich interessirten),
Geibel, Redwitz, mehrere Mustersammlungen, Schillers
Gedichte, erläutert von Viehoff usw. Den Abend kam der
Onkel wieder und dann machten wir zusammen Partien in die
Umgebung. Da will ich zuerst die Kunitzburgpartie
erzählen. Nachdem wir in der Wiese am Jensig
vorübergegangen waren, erschienen bald die alten
Trümmer jener Burg auf der Stirn des Berges. Da wir
über den Weg übel berichtet waren, verloren wir bald
den Weg und klommen mit unsäglicher Mühe aufwärts,
indem wir uns an Sträuchern und Büschen festhielten.
Endlich endlich! Mir troff der Schweiß in
Strömen hernieder und ich muß sagen, eine so große
Anstrengung hatte ich wohl noch nicht ausgehalten. Man
hat übrigens einen reichen Lohn für all' die Mühe.
Ueber uns ging gerade die Sonne unter und im Thale
wallten die Nebel auf und nieder. Es ist wunderschön, so
in den Trümmern der Vergangenheit zu weilen. Von diesen
morschen Fenstern blikten einst kühne Ritter in die
Weiten und von hier aus überfielen sie die Kaufleute,
die sorglos der Saale entlangzogen. Aber es ist schwer,
sich auf den Standpunkt des Mittelalters zu versetzen,
wir stellen uns das Leben immer übertrieben vor,
entweder ideal romantisch oder als einen Abschaum von
Faustrecht, Mord, Straßenraub. Wenn ich daran denke,
erscheinen mir muthige Ritter, die für Cott und Ehre
alle ihre Gegner in den Staub warfen, die bald mit der
Guitarre süße Lieder durch die finstre Nacht erschallen
lassen, bald im wilden Ungestüm die Welt durchstreifen
und kühne Abentheuer aufsuchen. Aus dem
Mittelalter wurden wir aber durch einen berühmten
Kunitzburger Eierkuchen recht vollständig der Gegenwart
zugewendet, die dann auch wieder in ihre vollen Rechte
trat, als wir den Abend uns recht müde und matt zur Ruhe
legten.
V.
Den Glanzpunkt meines Lebens in Jena bildete
jedenfalls der Verkehr mit den Studenten. Hiezu kam ich
auf folgende Weise. Mein Onkel ist als ehemaliger Stifter
der Teutonia Ehrenmitglied derselben. Da nun einst ein
Herr Oekonomierath ein altes Versprechen durch 4 Tonnen
löste, wurde der Onkel mit zu diesem Fest eingeladen.
Die weitere Beschreibung muß ich jetzt
unterlassen und etwas von meinem Leben in Pforta
nachholen. Den Sonntag, den 3ten September, hatte ich
mich mit Krämer von nach Tische bis 8 Uhr losgemacht. Es
war sehr hübsch und gemüthlich in Naumburg, besonders
für Krämer, der sein Examen glücklich bestanden hat.
Es sind alle außer dem Extraneer Neumann
durchgekommen; vorigen Sonnabend war die Entscheidung.
Krämer erzählte uns, wie es allen durch Mark und Bein
gegangen wäre und alle sonstige Freude vertrieben
hätte. Um ½2 Uhr gingen dann alle Abiturienten in den
Speisesaal, indem jeder zwei od[er] mehrere andre mit
sich nahm. Ich kam auch zu dieser Ehre. Hier wurden unter
andern die berühmten Abiturientenklöße gegessen.
Neulich war auch die Tante Ehrenberg mit der
Mama bei Rektors. Ich führte sie überall herum. Wie sie
fortfuhren, drückte mir die Tante noch einen Thaler in
die Hand, was auch ganz angenehm war.
Montag war Extraneersatz. Es gab da
zur Vesper zwei Gläser Wein und ein tüchtig Stück
Kuchen. Auch alle Extraneer waren im Coenakel,
eine Ehre, die ihnen nur eben hierbei, bei Carenen und
bei den Abiturientenklößen zu Theil wird.
Mittwoch reisen unsre Abiturienten ab; bis
dahin sind sie exlex, d. h. von allen Fesseln
der Schulordnung entbunden. Sie führen da ein ganz
gemüthliches Leben. Wenn sie abgefahren sind,
machen wir Sänger eine Partie nach der Rudelsburg,
worauf ich mich sehr freue. Wir hatten Mittwoch der
Abiturienten wegen Ausschlafetag. Um 9 Uhr war Ack[t]us
im Betsa[a]l, in dem alle in kurzen Worten von der Schule
Abschied nahmen. Ich glaube, nie ist die Stimmung im
Coetus ernster als an diesem Tag. Da sieht man keine
lachenden Mienen, denn ein jeder hat unter den allen
wenigstens einen, dem er wahr zugethan ist. Um 1 Uhr
erschienen zwei vierspännige Extraposten mit
zwei Vorreutern. Die Postillione waren alle mit großen
Stiefeln und ihrer bunten Uniform bekleidet, sie
ergötzten alle durch ihr gutes Blasen und schlechte
Witze; endlich erschienen die Abiturienten, die be[i]
ihren Tutoren gespeist und Abschied genommen hatten. Sie
waren alle sehr erregt; alles drängte sich um sie herum,
die meisten sagten Adieux, Freunden und Näherstehenden
durch Küsse und Umarmungen, den andern durch
Händedruck. Es war ein sehr ergreifender Augenblick;
vielen standen Thränen in den Augen, wie die Abgehenden
noch den Coetus leben ließen und dann fortfuhren. Auch
Prof. Buddensieg war durch den Fortgang seines Famulus
sehr tief bewegt; er hatte viel geweint.
Um drei Uhr ging es dann auf die Rudelsburg. Der Weg
und der Himmel war wunderschön und der Blick von der
Rudelsburg in das Thal ganz bezaubernd. Mir konnte in
dieser Umgebung gar keine Langeweile ankommen, so sehr
auch einige darüber klagten. Wir sangen ziemlich viel
vor der Menge von Fremden. Um ½ sieben begaben wir uns
wieder zurück. Da eine große Anzahl von Damen mit
zurückgingen, wurde noch wunderhübsch gesungen. Herr
Prof. Korssen war ungemein lustig und ergötzte alle
durch seine furchtbar schreiende Stimme und seine Witze.
Wir kamen erst ¾ Acht zurück, zum Aerger aller anderen,
die unterdessen im Kreuzgang von 7 an gewartet hatten.
Den Sonntag war ich in Almrich, obwohl ein heftig
strömender Regen uns beinahe verhindert hätte. Um so
angenehmer war es mir, daß ich auch die Tante Ida aus
Pobles fand, die die Mama auf einige Tage besuchte. Sie
begleitete mich auch, als meine Zeit um war, bis nach
Pforta, und ich konnte ihr noch meine Stube und den
Primanergarten zeigen.
Meinen Tristram Shandy habe ich bekommen. Ich
lese jetzt den ersten Band und lese ihn immer wieder von
neuem. Zuerst verstand ich das meiste nicht, ja sogar es
gereute mich, ihn gekauft zu haben. Jetzt aber zieht er
mich ungemein an; ich notire mir alle frappanten
Gedanken. Mir ist eine so allseitige Kenntniß der
Wissenschaften, eine solche Zergliederung des Herzens
noch gar nicht vorgekommen.
Hinsichtlich meiner Geldangelegenheiten stehe ich mich
jetzt folgendermaßen: 15 Sgr. von dem Thaler kommen für
jenes Buch nach Naumburg; von den anderen hebe ich mir 10
Sgr. auf zu jener Michaelisparthie, zu der ich mir
übrigens noch 10 Sgr. von Prof. Buddensieg geben lasse.
Ich will jetzt übrigens auch einige unnöthige Bücher
verkaufen.
Ich will nun in der Beschreibung meiner Ferien
fortfahren. Ich befand mich im letzten Cap[itel] noch in
Jena und war eben im Begriff, mein Zusammentreffen mit
Teutonen zu schildern. Mit Studenten? Ja, ja, und
sogar mit einer durch Trinken und Duellieren
berüchtigten Verbindung. Etsi Plato meus amicus est, dh.
obgleich ich sonst der kleinen Universitätsstadt zugetan
bin, tamen veritatem ducem sequor, so geht es doch in
Jena noch ziemlich wild her, obgleich es in früheren
Zeiten noch schlimmer gewesen sein mag.
Wer von Jena kommt ungeschlagen,
Der hat von großem Glück zu sagen! |
|
|
Da hatte ich einmal wieder rechten
Unsinn geschrieben (an dem dieses Buch überhaupt reich
ist). Ich habe die Blätter bei späterem Lesen
herausgerissen.
Ich befinde mich jetzt in ganz anderer Lage als
damals, wo ich das vorige geschrieben habe. Damals
grünte und blühte noch der Spätsommer, jetzt o
weh ist Spätherbst. Damals war ich
Untertertianer, jetzt bin ich eine Stufe vorgerückt.
Damals war noch Mama und Lisbeth in Naumburg, jetzt sind
sie schon seit den Michaelisexkursionstagen in Gorenzen
usw.
Ich habe meinen Geburtstag erlebt und bin
älter geworden. Die Zeit vergeht wie die Rose des
Frühlings und die Lust wie der Schaum des Baches.
Mich hat jetzt ein ungemeiner Drang nach Erkenntniß,
nach universeller Bildung ergriffen; Humboldt hat diese
Richtung in mir angeregt. Wenn sie doch so beständig wie
meine Zuneigung zur Poesie wäre!
Ich habe von der frühesten Kindheit an Steckenpferde
gehabt. Das erste waren die Blumen und Pflanzen, die
Hülle der Erde. Das habe ich indes nur durch Traditionen
gehört. Dann kam die Liebe zur Baukunst
(natürlich hauptsächlich auf Baukasten gegründet), die
ich in allen Formen ausgebildet habe. Noch sehr klein,
erinnere ich mich während der Kirchzeit in Röcken eine
kleine Kapelle gebaut zu haben. Später wurden dies
prachtvolle Tempel mit mehreren Säulenreihen, hohe
Thürme mit gewundenen Treppen, Bergwerke mit
unterirdischen Seen und innerer Beleuchtung und endlich
Burgen, die zugleich mit meiner dritten Liebe zum
Kriegswesen, angeregt vorzüglich durch den großen
russischen Krieg. Zuerst wurden Belagerungsmaschinen
erdacht (ich habe ein Büchlein über Kriegslisten
geschrieben), Bücher über Militärund Seewesen
angeschafft, große Pläne zur Ausrüstung eines Schiffes
gemacht, zahlreiche Schlachten und Belagerungen
vollzogen, bei denen mit brennenden Pechkugeln
geschleudert wurde, und dies alles waren eigentlich nur
Mittel zu einem großen Zweck, zu einer großen
Völkerschlacht, die aber in den Rüstungen dazu endete.
Die Liebe zum Soldatenwesen zeigte sich auch schon im
Anfertigen eines großen militärischen Generallexikons;
aber das Ende war Sebastopols Untergang. Aber ein
sogenanntes Theater des arts führte mich auf
Bühnenwesen; wir versuchten selbst etwas zu dichten und
aufzuführen, zuerst die Götter im Olymp. Zugleich
begann bei mir die Neigung zur Poesie, schon im neunten
Jahre, kleine Versuche wiederholten sich jährlich. Im
11ten Jahre trat die Neigung zuerst zur Kirchenmusik und
endlich zu eigener Komposition; die Ursache habe ich
anderswo angegeben; auch die Liebe zur Malerei stammt aus
dieser Zeit, hervorgerufen durch die jährlichen
Gemäldeausstellungen. Diese Neigungen folgen nicht
unmittelbar aufeinander, sondern sind ineinander
verwoben, daß es unmöglich ist, Anfang und Ende zu
bestimmen. Nun kommen noch spätere Neigungen zur
Literatur, zur Geologie, zur Himmelskunde, Mythologie,
deutschen Sprache (althochdeutsch) usw. hinzu, so daß
folgende Gruppen entstehen:
1. Naturgenuß |
a) Geologie
b) Botanik
c) Himmelskunde |
2. Kunstgenuß |
a) Musik
b) Poesie
c) Malerei
d) Theater |
3. Nachahmungen des Handelns
und Treibens |
a) Kriegswesen
b) Baukunst
c) Seewesen |
4. Lieblingsneigung in den
Wissenschaften |
a) guter lateinischer Stil
b) Mythologie
c) Literatur
d) deutsche Sprache |
5. Innerer Trieb
zu universeller Bildung umfaßt alles andere und fügt
vieles Neue hinzu |
Sprachen
1. Hebräisch
2. Griechisch
3. Lateinisch
4. Deutsch
5. Englisch
6. Französisch usw. |
Künste
1. Mathematik
2. Musik
3. Poesie
4. Malerei
5. Plastik
6. Chemie.
7. Architektur usw. |
Nachahmungen
1. Militärische Wissenschaft
2. Seewissenschaft
3. Kenntniß der verschiedenen Gewerbe usw. |
Wissen
1. Geographie
2. Geschichte
3. Literatur
4. Geologie
5. Naturgeschichte
6. Alterthum usw. |
und über alles
Religion, die Grundveste alles Wissens! Groß ist das
Gebiet des Wissens, unendlich das Forschen nach Wahrheit! |
Die Schillerfeier in Pforta.
Den 8. 12. 1859
Der hundertjährige Geburtstag Schillers hatte bei
allen Verehrern des großen Deutschen den Wunsch einer
allgemeinen Gedächtnißfeier angeregt. Und nicht nur die
Gebildeten, nein, auch die untern Stände des Volkes
nahmen lebhaft an diesem Nationalfeste Antheil. Über die
Grenzen Deutschlands hinaus war das Gerücht hiervon
gedrungen; fremde Länder, ja ferne Erdtheile trafen
großartige Vorbereitungen zu diesem Tage, so daß man
wohl behaupten kann, daß noch kein Schriftsteller ein
allgemeineres Interesse hervorgerufen hat, als Schiller.
Aber wodurch konnte man den Dichter würdiger feiern, als
durch die Aufführung seiner hohen Werke? Was vermöchte
uns mehr an ihn zu erinnern, als seine eignen
Geistesprodukte, der Spiegel seines großen Geistes? Und
so wurden auch an diesem Tage in allen Schauspielhäusern
nur schillersche Stücke gegeben, in geschlossenen
Gesellschaften vorzügliche Scenen aus seinen Dramen
aufgeführt, ja fast in jedem Hause wurde er auf
irgendeine Weise gefeiert; ein Band aber schlang sich um
alle Herzen, das Band der Liebe und Verehrung für den
großen Toten. Auch Pforta wollte nicht hinter den
allgemeinen Bestrebungen zurückbleiben: schon lange Zeit
vorher waren Vorbereitungen zu diesem Tag getroffen. Am
Mittwoch fand eine Vorfeier im Turnsaal statt, der hierzu
festlich ausgeschmückt war. Eine große Menschenmenge
hatte sich in ihm versammelt; der Name
"Schiller" schwebte auf aller Munde, und aller
Augen auf seiner lorbeerbekränzten Büste. Zuerst wurden
die Piccolomini von den Primanern gelesen; die Rolle des
Wallenstein hatte Herr Prof. Koberstein
übernommen. Eine hehre Heldengestalt trat vor
unsre Augen, die sich kühn über die beengenden
Verhältniße des Lebens hinwegsetzt, einem Ziele nur
nachstrebend, das in des Herzens tiefsten Grunde
verborgen liegt und alle Handlungen lenkt und leitet. Um
sie eine Schar von Feldherrn; die einen in feiger
Selbstsucht die Heldengröße ihres Herrn verkleinernd,
die andern treu ihm allein ergeben und für sein Wohl wie
um das ihrige besorgt. Diesen gegenüber erscheint ein
kaiserlicher Hofmann, in allen Schlichen und Redekünsten
gewandt, aber doch an der gewaltigen Majestät
Wallensteins scheiternd. Und nur ein Schiller konnte uns
in so klaren Umrissen den großartigen Charakter dieses
Helden vorführen, der über seine Zeit erhaben stolz auf
alles Niedrige niederblickt.
Den zweiten Theil der Vorfeier bildete die Aufführung
der Glocke, componirt von Romberg. Dieses edle Werk
versetzte uns durch die Gewalt der Töne in all die
Situationen und Lebensbilder, die die Glocke vor uns
aufrollt. Wir gerieten in Angst bei der Verwirrung der
Feuersbrunst, wir trauerten mit bei den ernsten
Klagegesängen, wir wurden erschreckt über die wilden
Melodien der Revolution, bis sich unsre Gemüther wieder
in der Milde der Friedenschöre beruhigten. Kaum waren
die letzten Töne verklungen, da betrat Herr Prof.
Koberstein die Bühne und beschloß mit dem edlen Epilog
Goethes die Vorfeier.
Am folgenden Tage fielen die Lektionen der Feier wegen
aus. Um zehn Uhr war wiederum Aktus im Turnsaal, der mit
zwei schillerschen Chören "Frisch auf,
Kameraden" und "Freude, schöner
Götterfunken" begann. Gedichte einiger Primaner zu
Ehren Schillers wechselten nun mit Arien und Balladen ab,
bis endlich Herr Prof. Koberstein die Bühne betrat und
die Festrede hielt. Er vergegenwärtigte uns in derselben
die Zeit vor Schillers Auftreten und entwickelte dann
seine literarische Wichtigkeit für die deutsche Nation
und schloß endlich mit dem Gedanken "dieses
Nationallest sei ein bedeutsames Vorzeichen für das
wiedererwachte deutsche Nationalgefühl, und man könne
an diese Feier schöne Hoffnungen für die Zukunft
knüpfen."
Nach dem Festessen war dann allgemeiner Spaziergang
bis drei Uhr. Die folgenden Stunden verbrachte jeder mit
Lesen von Schillers Werken usw. bis endlich Tanz bis 10
Uhr die Feierlichkeiten beschloß. Die Primaner indessen
vergnügten sich bei einem Ball noch bis spät in die
Nacht hinein. Der folgende Morgen führte uns wieder in
das Gleis des gewöhnlichen Lebens: ein hoher und edler
Gedanke war aber allen geblieben, nämlich den Manen
Schillers ein würdiges Totenopfer gebracht zu haben.
Meine
Ferienreise.
Nietzsche.
Pforta 1860.
Hundstage.
Früh um drei Uhr standen wir auf; der Morgen war
kühl, düster, man konnte einen Regen vermuten.
Schweigend gingen wir durch die Felder, manchen Blick
noch auf das liebe Haus zurückwerfend, das hinter uns
lag. Der Himmel wurde immer trüber, immer umwölkter;
als wir über die Saale fuhren, fielen die ersten
schweren Tropfen. Schon lag der Eisenbahndamm vor uns,
noch zehn Minuten und wir sind da. Es regnet heftig; mit
hastigen Schritten geht es vorwärts.
Ein dröhnendes Geräusch; donnernd rasselt der Zug an
uns vorüber.
Atemlos kommen wir an; der Bahnwärter winkt uns zu
eilen; wir nehmen Platz; der Zug setzt sich in Bewegung.
Wunderbar, wir waren ganz durchnäßt und ganz mit
Schweiß überdeckt; aber ohne Schaden ging alles
vorüber. Merseburg lassen wir seitwärts liegen; in
Halle machen wir Halt. Ich war über die Veränderung
erstaunt, die in dieser Stadt innerhalb weniger Jahre
stattgefunden hat; nette, moderne Häuser und Läden
überall, wo früher jene schwarzen, langgegiebelten
Gebäude mit den hohen Eingangstreppen waren. Ein kleines
Geschäft, das den Onkel noch verhinderte, wurde bald
abgemacht; dann begaben wir uns auf die Post und ließen
uns einschreiben. Nach kurzer Zeit fuhr der Postwagen
vor, wir stiegen ein und fort ging's nach Eisleben. Der
Himmel hatte sich aufgeheitert. Lange glänzende Strahlen
lagen auf den weiten Feldern, dazwischen schwebten die
flüchtigen Schatten eilender Wolken. Lange Zeit
verweilte unser Auge auf der Irrenanstalt, an die sich so
leicht eine traurige Gedankenkette knüpft. Das lange,
weiße Gebäude tritt seltsam aus dem hellen, frischen
Grün hervor, das sich rings hinzieht. Dann wurde die
Straße eintöniger; hier und da ein Blick auf die öde
Heide, sonst alle Felder grün, weiß, gelb in ewiger
Abwechslung. Ich begann meine Reisegesellschaft zu
mustern. Neben mir saß ein Mann, der, zufrieden mit
allem, wie es schien, gutmütig zu allem lächelnd
nickte, was sein Nachbar sagte. Dieser hingegen war in
fortwährender Aufregung; der Fluß seiner Rede konnte
durch nichts gedämmt werden. Er verbreitete sich
hauptsächlich über seine eignen Güterangelegenheiten;
ein Mann von Geld, aber ohne Bildung. Charakteristisch
war, daß er fortwährend von Minister B..... H.....
sprach, hie und da heftig auf ihn losfuhr, dann aber
allemal hinzufügte: "Trotzdem ist es doch ein ganz
vorzüglieber Mann, der B. H., was der Mann nicht für
ein leutseliges Gemüth hat!" [....]
[....]
Um 4 Uhr bestiegen wir wieder die Post. Der Weg
führte nach Mansfeld zwar in ewigen Umwegen, so daß wir
uns fast im Kreise bewegten, aber doch endlich zum Ziele.
Die Burg selbst wird von dem neuen Besitzer, dem Herrn v.
d. Recke aufs glänzendste restauriert. Wir hatten das
Vergnügen, mit dem "hohen, edlen" Herrn zu
reisen; er unterhielt sich auf das liebenswürdigste mit
uns. Der Onkel, dessen Patron er ist, ist auch voll
seines Lobes auch in bezug auf seine ganz christlichen
Grundsätze. Auch in Mansfeld hielten wir uns nicht
auf. Je näher ich kam, desto reger wurde meine
Erwartung. Wir gingen dann zu Fuß; die Gegend wurde
immer schöner. Je höher wir stiegen und der
ganze Weg ist beinahe ein beständiges Aufsteigen
um so dichter kamen wir in den Wald. Dazwischen wieder
lichte Stellen zur Seite ein lang sich
dahinstreckender Berg mit dem wundervollsten Grün, in
den Tälern fruchtbare Felder, dahinter blaue Bergketten.
Endlich ragte der Turm aus der Ferne hervor. Wir trafen
einzelne Männer aufs eifrigste mit Holzhacken
beschäftigt. Sonst alles dichter, grüner Wald.
Ein Schritt und wir standen plötzlich im Dorf
und nach wenig Augenblicken im Haus des lieben Onkels.
Freudig, jubelnd empfing uns die alte Haushälterin, eine
Naumburgerin. Wir waren beide etwas ermattet, ein
kräftiges Abendbrot stärkte uns wieder. Von Anfang an
war mir hier gleich so heimisch, wie noch nirgends. Nach
dem Abendbrot begann der Onkel auch auf seinem Aeolodicon
zu spielen. Goldenklar begann ein zarter Ton, im reinsten
Wohlklang folgten andere und plötzlich schwoll die
Harmonie in wundervoller Weise an. So ernst, so erhaben,
so ganz dem innersten Gefühl entquollen, strömte eine
mächtige Tonfülle in den reinsten, kirchlichen Typen.
Am Abend sangen wir noch ein geistlich Lied zusammen,
wozu die Haushälterin des Onkels herbeikam. Dann hielt
der Onkel die Abendandacht. Diese schöne Sitte wurde nie
hier vernachlässigt.
Den andern Tag verbrachte ich immer noch ausruhend;
der Onkel führte mich in seiner ganzen Besitzung herum.
Das Haus selbst ist einfach, aber geräumig, mehrere
große Stuben, Kammern, Küche, Keller, Boden. Ein Hof
mit mehreren Gebäuden, Scheune und kleinem
Gemüsegarten, den sich der Onkel selbst angelegt hat.
Ein Brunnen mit sehr schönem frischem Trinkwasser.
Einige Schritte entfernt liegt der große Baumgarten, ein
gleichseitiges Rechteck von ungeheurer Dimension. Die
mannigfachsten Baumarten, Fruchtbäume, dazwischen
Gemüseanpflanzungen. Den vierten Teil nimmt der
Blumengarten ein; die kleine von Gebüsch umgebene Laube
habe ich sehr oft aufgesucht. Das ganze Leben hier
war höchst gemütlich und einfach. Ich hielt mich oben
oft in der großen Stube auf, während der Onkel unten
arbeitete. Treffliche Bücher fand ich hier, später
bekam ich auch eigne Bücher nachgeschickt. Beständig
habe ich mich auf das angenehmste beschäftigt.
Mancherlei geschrieben und komponiert. Viel auch
spielt ich auf dem reizenden Aeolodicon, ein Vergnügen,
das ich nicht sattbekommen konnte.
Den folgenden Tag bekam ich vor Mittag einen Brief von
meinem Freund W. Pinder. Durch Umstände verhindert mit
mir in Korbetha zusammenzutreffen, wollte er doch noch
nachkommen, eine Nachricht, die mich sehr erfreute. In
der Hoffnung, ihn den Nachmittag auf der Post in Mansfeld
zu finden, ging ich hin, ihn abzuholen. Aber ich hatte
mich getäuscht; er kam nicht. Und so kehrte ich allein
durch die schönen Wälder zurück.
Sonntag war's. Der Onkel war den ganzen Morgen noch
sehr fleißig. Ich sah ihn erst unmittelbar vor dem
Kirchgang. Die Kirche ist klein, aber sehr nett
ausgeschmückt; der Besuch war immer recht zahlreich.
Aber was für eine wunderschöne Rede hielt der Onkel!
Welche Kraft in dieser Predigt! Wie nachdrücklich war
jedes Wort! Ich erinnere mich fast noch jedes Gedankens,
den der Onkel aussprach. Er sprach über die Versöhnung,
anknüpfend an das Wort: Wenn du deine Gabe zum Altare
bringst, so versöhne dich zuvor mit deinem Bruder. Es
war den Tag gerade Kommunion; gleich nach der Predigt
traten die zwei Amtleute des Dorfes vor, gebildete
Männer, aber von jeher einander feind, und versöhnten
sich, indem sie sich gegenseitig die Hand reichten. Das
heißt doch ein Erfolg! Ich blieb nach der Predigt mit
dem Onkel noch zurück; denn es war noch eine Taufe. Der
Herr Kantor kam herunter und begrüßte uns. Welch ein
lieber Mann! Eine lange gerade Gestalt, schmal, etwas
eingefallen, aber noch sehr rüstig, mit dem
freundlichsten Gesicht, der ruhigsten, zufriedensten
Miene. Dabei so bescheiden, so still, daß man von Tag zu
Tag ihn lieber gewinnt. Der Onkel lud ihn mit zu Mittag
ein. Nach Tische beratschlagten wir, wohin wir unsre
Blicke wenden sollten. Um drei gingen wir fort,
fortwährend im dichten grünen Hochwald. Welchen
erhabnen Eindruck macht nicht so ein Waldspaziergang!
Plötzlich traten wir in das Freie heraus und sogleich
weitet sich die Aussicht. Ein liebliches Gemälde bietet
sich uns dar. Wir standen auf einem Bergrücken, von
Heidekräutern bewachsen; vor uns breiteten sich goldene
Gefilde, die Güldne Auen, vor allen trat Sangerhausen
mit seinen Türmen deutlich hervor. Weiter dahinter der
Kyffhäuser und ganz am Horizont die blaue Kette des
Thüringer Waldes. Berg und Tal, Wald und Feld bildeten
eine lebendige, farbenreiche Landschaft.
Längere Zeit verweilten wir hier. Dann ging es auf
einem andern Wege wieder nach Hause zurück.
Den folgenden Tag erhielt ich wieder einen Brief von
W., der mich sehr froh machte. Der Regen, der ihn
gehindert hatte, am bestimmten Tage einzutreffen, hatte
ihm doch nicht die Lust genommen und so wollte er den
Nachmittag kommen. Wir sandten einen Knaben nach
Mansfeld, wir aber beschlossen, am Abend ihm
entgegenzugehn. Auf der Hälfte des Weges trafen
wir ihn und freuten uns sehr, uns wiederzusehn. Der ganze
Tag verging unter fröhlichen Gesprächen.
Auch der Dienstag verfloß wieder höchst angenehm;
den Nachmittag machten wir einen wunderhübschen
Spaziergang zusammen. Erst brannte die Sonne sehr;
endlich kamen wir aus dem freien Felde in frische lebende
Wiesen und dann in den kühlen Wald. An einer
Köhlerhütte machten wir halt. Der ganze Bau
interessierte mich, da ich einen ähnlichen noch nie
gesehen hatte. Auf einem größern Kreise waren
Baumstämme eingerammt, so, daß die Spitzen
zusammenkamen und das Ganze die Gestalt eines Giebels
hatte. Darüber war dann Erde und Rasen geworfen, so daß
sie gegen Regen und Wind fest genug war. In der Hütte
selbst waren einige Bänke, sonst schien sie längere
Zeit unbewohnt zu sein. In der Nähe fanden wir auch
mehrere Meilerstätten. Den Brand anzusehn war mir nicht
vergönnt; es war wohl nicht die passende Jahreszeit.
Endlich traten wir aus dem Wald und befanden uns auf
einem ziemlich steilen Abhang, vor uns die blauen Berge
des Harzes. Mit dem Fernrohr besichtigten wir die Höhen;
ich konnte das Kreuz auf der Josephshöhe erkennen, dann
zeigte sich auch Viktorshöhe und der Brocken alles sehr
schön und deutlich. Wie gern versetzt man sich über die
wenig Meilen hinweg, die uns noch von einem Lieblingsort
trennen! Das Auge sieht erst die Stätte von weitem, der
Geist aber weilt längst auf ihr und genießt, obschon
ihm der träge Körper nicht folgen kann.
Den folgenden Tag sahen wir endlich den schönsten
Punkt, den die nächste Gegend hat, die Rammelsburg. Da
der liebe Onkel zurückblieb aus Sorge für die
Haushälterin, die krank geworden war, so war der Herr
Kantor mit seiner gewohnten Freundlichkeit sogleich
bereit uns zu führen. Beinah schien das Wetter uns
ungünstig zu werden. Ein brodelndes, dumpfes Gewitter
schwebte über unsern Häuptern hin. Wir ließen uns aber
nicht abschrecken, sondern suchten die geradesten Wege
auf, um so bald als möglich hinzukommen. Zur Rechten
zogen sich dicht bewaldete Höhen hin, die in dem
schönsten Blau sich verloren, vor uns ein durchrieseltes
Wiesental, angrenzend an einen düsteren Forst. Wir
gingen hindurch; der Weg führte aufwärts, endlich sahen
wir ein niedliches Haus, das Schweizerhäuschen genannt,
vor uns stehen. Wir eilten auf dasselbe zu, hielten uns
aber die Augen zu bis wir auf der Galerie desselben waren
und die ganze Gegend vor uns hatten. Welch reizend
Schauspiel! Vor uns die Rammelsburg auf einem bewaldeten
Berge liegend, niedriger als wir, rechts und links
überall Höhenzüge voll dichter Forsten, die sich
übereinander erhoben und deren Grün den angenehmsten
Eindruck auf mich machte. Dahinter die blauen Harzberge.
Man kann sich eine Waldlandschaft nicht reizender denken.
Der liebliche Gegensatz von Berg und Tal, das alte
Schloß, der Duft, der auf den Wäldern schwebte, endlich
der blaue Himmel, der darüber so still, so friedlich
ruhte. Im Tale tönte das Geplätscher der Bode, sonst
alles still, ohne Geräusch. Wir waren ganz in den
Anblick vertieft; im stummen Entzücken standen wir da,
wie traulich ist doch die Waldeinsamkeit! Oben fand
ich an den Wänden des Hauses einen Vers aus Amaranth
angeschrieben, der ganz diesem Gefühl entquollen zu sein
schien. Auch die Namen der Mama und Liesbeth fand ich
wieder, die sich vor einem Jahre hier angeschrieben
hatten. Ich schrieb den meinigen hinzu. Wohl eine Stunde
weilten wir hier. Dann führte uns der Herr Kantor auf
unsern Wunsch hin nach der Rammelsburg. Um keine Umwege
machen zu müssen, stiegen wir gerade den Weg hinunter,
überschritten den lebendigen, forellenreichen Waldbach
und stiegen auf der andern Seite wieder hinauf. Noch
mehrere romantische Partien sahen wir; so standen wir
plötzlich an einem Abhang, der, ähnlich der Roßtrappe
uns mit Staunen und Schrecken erfüllte. Das Lieblichste
auf dem ganzen Wege aber sahen wir oben. Das ganze
Bodental mit seinem grünen Teppich, die grünen duftigen
Bergketten zu den Seiten, am Fuß des Berges einzelne
Häuser, die zu Rammelsburg gehörten, der Bach, der
silbern das Grün durchschlängelte und weit in der
Entfernung mit Wald und Wiese verschwamm, das alles
deuchte mir der lieblichste Anblick, den ich je gesehn
hatte. Wir ruhten hier oben noch etwas aus, dann begannen
wir den Rückweg. Der Herr Kantor erzählte uns aus
seinem Leben, besonders aus den Jahren 1813-15, die
angenehmsten Geschichten. Wie leid tut es mir, daß ich
eine wunderhübsche Geschichte von einem Schillschen
Jäger beinah wieder vergessen habe! Am Abend aßen wir
wieder zusammen, der Onkel war sehr heiter und er
erzählte uns allerlei lustige Sachen.
Es regnete die Nacht etwas; den Morgen kam der Herr
Superintendent von Boneckau, um die Schule zu revidieren.
Wir begaben uns in den Garten, wo wir uns über die
Kirschbäume hermachten, ein Geschäft, das wir
überhaupt sehr eifrig betrieben haben. Der Herr
Superintendent war mit bei Tische, lud uns auch ein, mit
ihm nach Mansfeld zu fahren, aber der Onkel schlug es
aus. Den Nachmittag gingen wir nach dem Knochenbrunnen,
der mitten im Walde aus einem Abhange quellend, kleine
Knöchlein mit sich führt. Wir sammelten mehrere, und
ich versuchte, dies auf das sonderbarste zu erklären; es
wird aber wohl so sein, wie ein Förster gesagt hat, daß
es Knochen von Fröschen sind, die sich im Winter hier
verkrochen haben und umgekommen sind, die dann von den
strömenden Fluten mit herausgespült werden. Der Weg war
etwas feucht.
Der folgende Tag führte uns nach einem neuen Punkt
der Waldfeste Grillenburg. An der Luke vorbei führte der
Weg durch einen wunderschönen Tannenwald, verlor sich
dann etwas im dichten Gebüsch, tauchte dann aber wieder
an einer sonnigen, erdbeerreichen Stelle auf. Dann ging
es etwas abwärts, dann wieder empor und plötzlich
standen wir vor einer wunderschön gelegenen Burg. Wir
stiegen sogleich auf den höchsten Teil der Mauer und
ergötzten uns an den schönen Wäldern, die sich in den
schönsten Farben vor uns ausbreiteten. Nach rechts war
der Blick freier. Ein nettes Dorf lag zu unsern Füßen.
Dahinter lag die Goldne Aue. Den Horizont begrenzten die
Höhen des Thüringer Waldes. Der Onkel erzählte uns
folgende Geschichte, die darauf bezüglich ist. Die
Herren der Grillenburg hatten einst die Braut eines
Grafen von Mansfeld entführt. Letzterer, untröstlich
über den Verlust, verkleidete sich als Troubadour und
besuchte alle Burgen der Umgegend, indem er immer ein
Lied wiederholte, das, wie er wußte, seine Geliebte
recht wohl kannte. Endlich kam er auch zur Grillenburg;
vor der Mauer begann er traurig seinen innigen Gesang. Da
antwortete ihm plötzlich eine bekannte Stimme und fiel
leise in dieselbe Melodie ein. Der freudig überraschte
Sänger eilte nach Mansfeld zurück, überfiel bei Nacht
die Grillenburg mit seinen Mannen, und als schönste
Beute brachte er seine Geliebte mit.
Der folgende Tag; es war Sonnabend; ist berühmt, weil
an ihm der Beschluß zu unsern monatlichen Sendungen und
zu der gemeinschaftlichen Kasse gefaßt wurde. W. und ich
waren in den Wald gegangen; hier setzten wir uns etwas
hin und beratschlagten darüber. Der Plan erstreckte sich
zuerst nur auf Poesie und Wissenschaft. Musik war noch
ausgeschlossen. Über einzelne Forderungen und
Bedingungen entstand ein Streit. Endlich schwiegen wir
mißmutig und gingen schweigend zurück in den Garten des
Onkels. Hier endlich löste sich unsre Zunge; beide Teile
waren nachgiebiger geworden. An diesem Tag soll nun
jährlich ein Fest gefeiert werden, und zwar auf der
Rudelsburg, wozu jeder irgendeinen Beitrag schriftlich
einliefern muß, dies wird dann oben auf dem Turm
vorgelesen.
Das Ende unsres Aufenthaltes nahte heran. Es war
wiederum Sonntag, und Dienstag wollte der W. so durchaus
wieder fort. Den Vormittag hörten wir wieder eine
herrliche Predigt. Mittag war wieder der Herr Kantor zu
Tisch eingeladen. Nachdem wir in der Betstunde gewesen
waren, wo der Onkel die Kinder katechisierte, gingen wir
alle vier zusammen etwas spazieren. Wir suchten heute die
Überreste eines verwüsteten Dorfes auf. Dichter Wald
und Gebüsch bedeckte die Stätte, so daß man kaum
durchdringen konnte. Man erkannte noch die Lage des
Kirchhofs; sonst waren alle Trümmer dicht bewachsen und
unerkennbar. Dann suchten wir Erdbeeren und fanden auch
eine ziemliche Menge. Zu Hause zurückgekehrt,
beschlossen wir den Tag unter heiteren Gesprächen. Ich
möchte gern noch mehreres von den hübschen
Erzählungen, die uns der Onkel mitteilte, anführen;
aber wie leer kommt mir alles Geschriebene vor, im
Gegensatz zu dem lebendigen, mündlichen Wort! Wenn uns
jemand eine Geschichte erzählt, so knüpft sich sogleich
ein persönliches Interesse daran; wenn dieses aber
fehlt, so erscheint uns manches sehr unbedeutend und
nichtig.
Der folgende Tag war ein Packtag. Der Onkel war von
vormittags zehn bis vier nachmittags abwesend, und zwar
bei einem benachbarten Geistlichen, dessen Geburtstag
war. Wir verbrachten diese Zeit, da wir der Einladung des
Onkels, mitzukommen, nicht Folge leisteten, unter
Abschreiben von schönen Gedichten und Volksliedern, die
wir noch nie gesehn hatten, oder mit Aeolodiconspielen
und Lesen. Den Nachmittag besuchten wir noch den Herrn
Kantor, um von ihm Abschied zu nehmen. Er war wieder so
außerordentlich freundlich. Dann wollten wir noch dem
Onkel entgegengehn, aber kaum waren wir fort, so trafen
wir ihn. Den ganzen Abend verbrachten wir noch sehr
angenehm, indem uns der Onkel Abenteuer aus seinem Leben
erzählte, die er meistenteils auf Reisen erlebt hatte;
wir waren immer sehr gespannt.
Endlich war der traurige Dienstag herangekommen, wo
wir Gorenzen verlassen wollten; ich war sehr betrübt und
wäre gar zu gern noch ein paar Tage dageblieben. Aber es
mußte nun einmal geschieden sein!
Wir standen etwas zeitig auf, tranken Kaffee und
frühstückten und machten uns dann nach vielem
Abschiednehmen auf den Weg. Der Onkel begleitete uns noch
ein ziemliches Stück. Dann schied er von uns; mir wurde
sehr traurig zumute. Die wenigen Worte des Dankes, die
ich ihm sagen konnte, waren für all die Freude, für all
diese herrlichen Stunden so unzureichend. Und gerade
jetzt, wo mir das großväterliche Haus auf immer
geschlossen ist, war mir ein so lieber Ort so wohltuend,
so beglückend.
Der erste Teil des Weges war wunderschön. Bald in den
prachtvollsten Wiesen, auf denen noch der Morgentau
blitzte, bald durch die dunkelsten Tannenwälder, in
ewigem Wechsel. Wie oft schauten wir wehmütig auf die
herrliche Gegend zurück!
Wir eilten jetzt den Ebenen unsres Vaterlandes immer
mehr zu; das merkten wir an dem beständigen
Herabsteigen. Ein weißer Nebelfleck leuchtete lange am
Horizonte; es war der Süße See. Bald winkten uns von
fern die Türme von Eisleben. Die Sonne brannte etwas,
ich wünschte sehr bald dort zu sein. Auf der Post
besorgten wir sogleich unser Gepäck, begaben uns dann in
einen Gasthof und nahmen hier etwas zu uns. Dann gingen
wir zum Lutherhaus, geführt von einem ehrbaren
Handwerker. Ein Seminarist empfing und führte uns zuerst
in einen Saal, wo sehr viele Andenken an Luther waren.
Handschriften, Bilder von Lucas Cranach, sämtliche
Kurfürsten von Sachsen, der Schwan Luthers und andres
unzählige. Ein Zimmer daneben enthielt sehr wertvolle
alte Gemälde, den Untergang der Welt, den Kreuzestod
Jesu, die Auferstehung, mehrere darunter von Lucas
Cranach, sonst auch von andern berühmten Meistern. Dann
gingen wir die Treppe herunter und traten in die Stube,
wo Luther geboren war, wiederum mit vielen Bildern
ausgeschmückt. Wir hatten nicht lange Zeit, drum
trennten wir uns bald wieder und besuchten noch den Herrn
Oberpfarrer Jahr, den ehemaligen Superintendenten von
Naumburg. Er nahm uns auf das freundlichste auf und war
überrascht, als wir nach einem Halbstündchen schon
wieder aufbrachen, lud uns auch zu einem längern
Aufenthalt sehr liebenswürdig ein. Sein Sohn, der
Primaner, begleitete uns zur Post. In kurzem fuhren wir
ab. Mir war es den ganzen Tag sehr unwohl. Auf der
langweiligen, staubigen Chaussee wurde es immer
schlimmer; ich versuchte zu schlafen, wachte aber immer
zu bald wieder von dem lauten Geschwätz meiner Umgebung
auf. Besonders zeichnete sich hierin ein junger
Reisediener aus, ein gutmütiger Leichtfuß, der trotz
seiner beständigen Reisen noch nicht erkannt zu haben
schien, daß das Leben auch nur eine Reise sei, aber nach
einem ewigen Ziel. In Halle stiegen wir ab. Mein
Freund besuchte noch Verwandte, ich aber ließ mich von
einem Jungen, der mein Gepäck trug, auf den Bahnhof
führen. Nach unseligen Umwegen kam ich dorthin, ging
dort in das Hotel zur Eisenbahn und suchte dort durch
Lesen und Essen meine Mißstimmung zu vertreiben. Um
sechs begab ich mich auf den Bahnhof selbst, wurde hier
noch recht in Schrecken gesetzt, indem mir jemand
versicherte, der Zug nach Naumburg wäre schon da.
Endlich kam mein Freund, nach längerm Warten auch der
Zug, und fort ging's nach Naumburg. Als wir dort um ½9
Uhr ausstiegen, begann es tüchtig zu regnen. Wir waren
sehr froh, als wir zu Hause glücklich anlangten und ein
jeder seine matten Glieder und den verstimmten Geist
durch einen ruhigen Schlaf erquicken konnte. Somit war
diese Reise geendet, in vieler Beziehung die angenehmste,
die ich seit längerer Zeit gemacht habe. Schade nur,
daß mir der letzte Tag der Zurückreise so unangenehm
verging! Den andern Tag schrieb ich sogleich noch mit
meinem Freund an den Onkel, indem ich mich noch viele Mal
bedankte und meine Zurückreise erzählte. Was soll
ich noch anfügen? Meine Aufgabe ist gelöst, mein Ziel
erreicht.
Mein
Lebenslauf.
[Mai 1861]
Die verflossene Zeit des Lebens zu überschauen, und
Gedanken an die wichtigsten Ereigniße desselben
anzuknüpfen, kann und darf niemandem uninteressant sein,
dem seine eigne Sitten- und Geistesentwicklung am Herzen
liegt. Denn wenn auch die Keime zu den geistigen und
sittlichen Anlagen schon in uns verborgen liegen und der
Grundcharakter jedem Menschen gleichsam angeboren ist, so
pflegen doch erst die äußern einwirkenden
Verhältniße, die in bunter Mannigfaltigkeit den
Menschen bald tiefer, bald flüchtiger berühren, ihn so
zu gestalten, wie er als Mann sowohl in sittlicher als
geistiger Beziehung auftritt. Günstige
Lebensverhältniße können deshalb, ebenso wie
unglückliche, sich sowohl nützlich als schädlich
zeigen, je nachdem die verschiedenen Keime zu bösen und
guten Neigungen dadurch geweckt werden. Wie oft doch
preisen die Menschen die Reichen, Berühmten, überhaupt
vom Glück Begünstigten glücklich und wie oft
verwünschen nicht gerade jene ihre Lebensstellung, die
sie in Laster und Gemütsunruhe gestürzt habe und
Neigungen, die ihre Lebensfreude aufzehren, in ihnen
erweckt habe. Wofern diese Anschuldigung des Schicksals
gerecht ist, wofern überhaupt alle die ihm gemachten
Vorwürfe billig sind, so muß diese austeilende Macht
entweder blind oder das Prinzip der Ungerechtigkeit sein.
Es ist aber ebenso undenkbar, die höchsten Interessen
des Menschengeschlechts in die Hände eines gedanken- und
unterscheidungslosen Wesens zu legen, als einem urbösen
Etwas anzuvertrauen. Denn ein abstraktes, ungeistiges
Schöpferisches kann ebensowenig wie ein urböses Wesen
unsre Geschicke leiten, da im ersten Fall das Geistlose
nicht existieren kann denn alles, was ist, lebt
im zweiten Fall der dem Menschen angestammte Trieb
zum Guten unerklärbar wäre. Es gibt in allem
Geschaffnen Stufenleitern, die sich auch auf unsichtbare
Wesen erstrecken müssen, wenn nicht die Welt selbst die
Urseele sein soll. So bemerken wir einen Fortschritt des
Lebens, ausgehend vom Stein, überhaupt dem scheinbar
Festen, Starren, fortschreitend zu Pflanzen, Tieren,
Menschen und auslaufend in Erde, Luft, Himmelskörper,
Welt oder Raum, Stoff und Zeit. Soll hier die Grenze und
das Ende sein? Sollen abstrakte Begriffe die Schöpfer
alles Seins sein? Nein, über das Stoffliche, Räumliche,
Zeitliche hinaus ragen die Urquellen des Lebens, sie
müssen höher und geistiger sein, die Lebensfähigkeit
unendlich, die Schöpferkraft unbegrenzt sein.
Eine andre Stufenleiter bildet die anwachsende
Verteilung der Geisteskräfte, und hier steht von allen
sichtbaren der Mensch an der Spitze, da er die größte
Geistesausdehnbarkeit hat. Aber die Unvollkommenheit und
Beschränktheit des menschlichen Geistes, der die Welt
klar durchdringen müßte, wenn er der Urgeist sein
sollte, leitet unsre Blicke auf eine höhere, erhabenere
Geisteskraft, von der alle andern Geisteskräfte wie von
einer Urquelle her fließen. So lassen sich noch viele
solche Stufenleitern finden, wie der anwachsende
Fortschritt des Stofflichen, Räumlichen, Zeitlichen, der
Moral usw. Alle aber und das ist das Wichtige
bestimmen uns erstens die Existenz des ewigen
Wesens, dann auch die Eigenschaften desselben. Nur auf
einem guten Wesen und zwar auf einem Prinzip des Guten
kann die Austeilung der Geschicke ruhen und wir müssen
nicht verwegen den Schleier zu heben wagen, der über der
Leitung unsrer Verhältniße gebreitet ist. Wie
vermöchte auch der Mensch mit seinen so gering
ausgebreiteten Anlagen des Geistes die erhabenen Pläne
zu durchdringen, die der Urgeist aussann und ausführt!
Es gibt keinen Zufall; alles was geschieht, hat
Bedeutung, und je mehr die Wissenschaft forscht und
sucht, desto einleuchtender wird der Gedanke, daß alles,
was ist oder geschieht, ein Glied einer verborgenen Kette
sei. Wirf deinen Blick auf die Geschichte; glaubst du,
daß bedeutungslos die Zahlen sich aneinanderreihen?
Schaue den Himmel an; meinst du, daß ordnungs- und
gesetzlos die Himmelskörper ihre Bahnen wandeln? Nein,
nein! Was geschieht, das geschieht nicht von ungefähr,
ein höheres Wesen leitet berechnend und bedeutungsvoll
alles Erschaffne.
Mein
Lebenslauf.
[Mai 1861]
Es macht auf mich immer einen eigentümlichen
Eindruck, wenn ich auf die verflossnen Jahre
zurückschaue und mir längst geschwundene Zeiten
vergegenwärtige. Jetzt erst erkenne ich, wie manche
Ereigniße auf meine Entwicklung eingewirkt haben, wie
sich Geist und Herz durch den Einfluß der umgebenden
Verhältniße gestaltet haben. Denn wenn auch die
Grundzüge des Charakters jedem Menschen gleichsam
angeboren sind, so bilden doch erst die Zeit und die
Umstände diese rohen Keime aus und prägen ihnen
bestimmte Formen auf, die dann durch die Dauer fest und
unverlöschlich werden. Wenn ich nun mein Leben ansehe,
so finden sich mehrere Ereigniße, deren Einflüsse auf
meine Entwicklung unverkennbar sind. Diese Vorfälle sind
aber eben nur für mich bedeutsam und mögen für andre
wenig Anziehendes haben.
Mein Vater war Geistlicher zu Röcken, einem Dorf, das
in der Nähe von Lützen liegt und sich an der
Landstraße hinstreckt. Rings wird es durch mehrere
größere Teiche, teils durch frische Waldungen umgeben,
ist aber sonst weder schön, noch anziehend gelegen. Hier
bin ich am 15. 10. 1844 geboren und erhielt meinem
Geburtstag zufolge den Namen Friedrich Wilhelm. Was ich
über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu
unbedeutend, es zu erzählen. Verschiedene Eigenschaften
entwickelten sich schon sehr frühe, eine gewisse
betrachtende Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich
von andern Kindern leicht fernhielt, dabei eine bisweilen
ausbrechende Leidenschaftlichkeit.
Bedeutungsvoll war für mich das Jahr 1848. Neue
Eindrücke nahm ich hier in mich auf; ich lernte das
Kriegswesen durch die Einquartierung von Husaren kennen.
Von der ausgebreiteten Revolution blieb unser Ort
verschont, doch erinnere ich mich noch wohl, auf der
Landstraße häufig Wagen mit großen bunten Fahnen und
Leuten, die Lieder sangen, gesehen zu haben. Wichtiger
wurde für mich noch das Jahr durch die Krankheit meines
Vaters, die sich noch bis ins folgende Jahr hinzog und
dann schnell das Ende herbeibrachte. Es war eine
Gehirnentzündung, in ihren Symptomen der Krankheit des
höchst seligen Königs ungemein gleich. Trotz der
ausgezeichneten Beihilfe des Hofrat Opolcer nachher
Kaiserl. österreich. Leibarzt, nahm die Krankheit einen
reißenden Fortgang. Unruhe und Besorgniß breitete sich
um unser Haus, das früher der Aufenthalt der schönsten
Glückseligkeit gewesen war. Und wenn ich auch die
Größe der bevorstehenden Gefahr nicht völlig begriff,
so mußte doch die traurige, angstvolle Stimmung auf mich
einen beunruhigenden Eindruck machen. Die Leiden meines
Vaters, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen
Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen
Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes
Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach endlich
ein.
Das war jene erste verhängnißvolle Zeit, von der aus
sich mein ganzes Leben anders gestaltete.
Mein
Lebenslauf.
[Mai 1861]
Ich bin zu Röcken geboren, einem Dorf, das in der
Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße
entlang hinzieht. Rings wird es von Weidengebüsch und
vereinzelten Pappeln und Ulmen umschlossen, so daß aus
der Ferne nur die ragenden Schornsteine und der
altertümliche Kirchturm durch die grünen Wipfel
hindurchschauen. Innerhalb des Dorfes breiten sich
größere Teiche aus, nur durch schmale Landstrecken
voneinander getrennt: ringsum frisches Grün und knorrige
Weiden. Etwas höher liegt das Pfarrhaus und die Kirche,
ersteres von Gärten und Baumpflanzungen umgeben. Dicht
grenzt der Friedhof an, voll von eingesunknen Grabsteinen
und Kreuzen. Die Pfarrwohnung selbst wird von drei schön
gewachsenen weitästigen Ulmen beschattet und macht durch
ihren stattlichen Bau und ihre innere Einrichtung auf
jeden Besucher einen angenehmen Eindruck.
Hier bin ich am fünfzehnten Oktober 1844 geboren und
erhielt meinem Geburtstag angemessen den Namen:
"Friedrich Wilhelm". Was ich über die ersten
Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, um es zu
erzählen. Verschiedne Eigenschaften entwickelten sich
schon sehr frühe. So eine gewisse Ruhe und
Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern
leicht fern hielt, dabei eine bisweilen ausbrechende
Leidenschaftlichkeit. Von der Außenwelt unberührt lebte
ich in einem glücklichen Familienkreis; das Dorf und die
nächste Umgebung war meine Welt, alles Fernerliegende
ein mir unbekanntes Zauberreich. Der heitre Himmel,
der mich bis jetzt umlacht hatte, wurde plötzlich von
schwarzen, unheilschwangeren Wolken getrübt. Mein Vater
erkrankte gefährlich, ohne daß wir die Ursache der
Krankheit durchschauten. Der scharfe Blick des Hofrats
Opolzer erkannte sofort die Symptome einer
Gehirnerweichung. Der Zustand wurde immer schlimmer,
immer bedenklicher. Die zunehmenden Leiden meines Vaters,
sein Erblinden, seine abgezehrte Gestalt, die Tränen
meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes,
endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute
mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und
dieses Unglück brach auch ein mein Vater starb.
Ich übergehe meinen Schmerz, meine Tränen, die
Leiden meiner Mutter, die tiefe Betrübniß des Dorfes.
Wie hat mich das Begräbniß ergriffen! Wie drangen mir
die dumpfen Sterbeglocken durch Mark und Bein! Zuerst
fühlte ich, daß ich verwaist und vaterlos sei, daß ich
einen liebevollen Vater verloren habe. Sein Bild steht
noch lebendig vor meiner Seele: eine hohe, schmächtige
Gestalt mit feinen Gesichtszügen und wohlwollender
Freundlichkeit. Überall beliebt und gern gesehn, sowohl
wegen seines geistreichen Gesprächs, als seiner
teilnehmenden Herzlichkeit, von den Bauern geehrt und
geliebt, als Geistlicher durch Wort und Tat segensreich
wirkend, in der Familie der zärtlichste Gatte, der
liebevollste Vater, war er das vollendete Musterbild
eines Landgeistlichen.
"Ach sie haben
Einen guten Mann begraben,
Und mir war er mehr!"
Einige Monate darauf betraf mich ein zweites Unglück,
das ich durch einen sonderbaren Traum vorausahnte. Mir
war es, als hörte ich aus der nahen Kirche dumpfen
Orgelton. Überrascht öffne ich das Fenster, das der
Kirche und dem Friedhof zugewandt war. Das Grab meines
Vaters tut sich auf, eine weiße Gestalt steigt herauf
und verschwindet in der Kirche. Die düsteren,
unheimlichen Klänge rauschen fort; die weiße Gestalt
erscheint wieder, etwas unter dem Arm tragend, das ich
nicht deutlich erkannte. Der Hügel hebt sich, die
Gestalt versinkt, die Orgel verstummt ich erwache.
Am folgenden Morgen wird mein jüngerer Bruder, ein
lebhaftes und begabtes Kind, von Krämpfen überfallen
und ist in einer halben Stunde tot. Er wurde ganz
unmittelbar an dem Grabe meines Vaters beerdigt.
Die Zeit, wo wir von unsrer geliebten Heimat scheiden
sollten, rückte heran. Der letzte Tag und die letzte
Nacht stehen mir noch besonders lebendig vor der Seele.
Am Abend spielte ich noch mit mehreren Kindern,
eingedenk, daß es das letzte Mal sei, und nahm dann von
ihnen, wie auch von allen Orten, die mir lieb und teuer
geworden waren, Abschied. Die Abendglocke hallte mit
wehmütigem Klange durch die Fluren; mattes Dunkel
breitete sich über unser Dorf, der Mond stieg auf und
schaute bleich auf uns herab. Ich konnte nicht schlafen;
unruhig und aufgeregt warf ich mich auf meinem Lager
umher und stand endlich auf. Im Hof standen mehrere
beladne Wagen, der matte Schein einer Laterne beleuchtete
die Hofräume. Nie erschien mir meine Zukunft so dunkel
und ungewiß, als damals. Sobald der Morgen graute,
wurden die Pferde angeschirrt; wir fuhren durch den
Morgennebel fort und riefen unsrer lieben Heimat
wehmütig ein Lebewohl zu.
Naumburg, das Ziel unserer Reise machte auf mich einen
höchst sonderbaren Eindruck. Das viele Neue, Kirchen und
Häuser, öffentliche Plätze und Straßen, alles erregte
mein Erstaunen und verwirrte zuerst meine Sinne. Auch die
Umgegend zog mich sehr an, die durch ihre schönen Berge
und Flußtäler, Schlösser und Burgen die ländliche
Einfachheit meiner Heimat sehr in Schatten stellte. Bald
auch begann ich meine Schullaufbahn und wurde nach
genügenden Vorkenntnißen einem Institut zum Unterricht
übergeben. Diese Zeit wurde für mich auch besonders
dadurch wichtig, daß ich damals zuerst die beiden Knaben
kennenlernte, mit denen verbunden ich bis jetzt in treuer
Freundschaft stehe. Überhaupt wurde meine Bekanntschaft
erweitert; ich wurde von mehreren Familien freundlich
aufgenommen und begann mich wieder heimisch und wohl zu
fühlen. Im Kreis meiner Freunde verlebte ich frohe und
glückliche Stunden; gleiche Bestrebungen, gleiche
Wünsche banden unsere Seelen immer fester aneinander, so
daß wir Freude und Leid gemeinsam genossen und ertrugen.
Wie unbedeutend erscheinen doch die Trübsale der
Knabenjahre! Leichte, fliehende Wolken verdunkeln die
aufgegangene Sonne; wenn aber die Sonne hoch steht und
die Erde dennoch düster erscheint, dann müssen wahrlich
schwere, drohende Wolken sie verschleiern. Bald
auch wurde ich als reif für das Gymnasium erklärt und
betrat jene Räume, die ich schon früher immer mit einem
geheimen Schauer betrachtet hatte. Die düsteren
Lehrzimmer, die strengen und gelehrten Mienen meiner
Lehrer, die vielen, so erwachsenen Mitschüler, die mit
Geringschätzung auf mich herabsahen und im Gefühl
eigner Würde die Neulinge kaum beachteten, alles dies
machte mich ängstlich und scheu, und erst allmählich
gewöhnte ich mich, meine Stellung mit mehr Zuversicht
und Ruhe zu behaupten. Zu gleicher Zeit entwickelten sich
auch verschiedne Lieblingsneigungen, von denen einige
sich bis jetzt erhalten haben. Insbesondere war es die
Neigung zur Musik, die im Laufe der Zeit nur zunahm und
jetzt unerschütterlich fest in meiner Seele wurzelt.
Ich war regelmäßig bis Tertia vorgerückt und hatte
hier schon ein Semester zugebracht, da traf mich eine
Veränderung, die körperlich und geistig bedeutungsvoll
auf mich eingewirkt hat. Es wurde uns eine Pförtner
Alumnatsstelle angetragen; mir wurde ganz anheimgestellt,
ob ich sie annehmen oder ausschlagen wollte. Schon
früher hatte ich immer eine Zuneigung für Pforte
gehegt, teils weil mich der gute Ruf der Anstalt und die
berühmten Namen dort gewesener und dort seiender Männer
anzogen, teils weil ich ihre schöne Lage und Umgebung
bewunderte. Ich entschied mich schnell für die Annahme
der Stelle und habe es nie bereut. Wenn auch die Trennung
von Mutter, Schwester und lieben Freunden mir zuerst
schwer fiel, so schwand dieses Gefühl doch sehr bald und
ich fühlte mich bald hier wieder zufrieden und wohl. Ich
verkenne nicht, wie wohltätig Pforte auf mich einwirkt,
und ich kann nur wünschen, daß ich mich schon hier und
noch mehr in spätren Zeiten immer als ein würdiger Sohn
der Pforte erweise.
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