Unpublished Works | Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften. 1856-1861. © The Nietzsche Channel

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Nietzsches Tagebuch
und andere
autobiographische Schriften.


1856-1861.


 
Naumburg den 26/12 1856
Endlich ist mein Entschluß gefaßt, ein Tagebuch zu schreiben, in welchem man alles, was freudig oder auch traurig das Herz bewegt, dem Gedächtniß überliefert, um sich nach Jahren noch an Leben und Treiben dieser Zeit und besonders meiner zu erinnern. Möge dieser Entschluß nicht wankend gemacht werden, obgleich bedeutende Hinderniße in den Weg treten. Doch jetzt will ich
anfangen:
Wir leben jetzt inmitten von Weihnachtsfreuden. Wir warteten auf sie, sahen sie erfüllt, genossen jene und jetzt drohen sie uns nun schon wieder zu verlassen. Denn es ist schon der zweite Feiertag. Jedoch ein beglückendes Gefühl strahlt hell fast von dem einen Weihnachtsabend, bis der andre schon mit mächtigen Schritten seiner Bestimmung entgegeneilt. Doch ich will mit dem Anfange meiner Ferien auch den Anfang der Weihnachtsfreuden schildern. Wir gingen aus der Schule; die ganze Zeit der Ferien lag vor uns und mit diesen das schönste aller Feste. Schon seit einiger Zeit war uns der Zutritt an einige Orte nicht gestattet. Ein Nebelflor hüllte alles geheimnißvoll ein, damit dann desto mächtiger die Freudenstrahlen der Christfestsonne hindurchbrächcn. Weihnachtsgänge wurden besorgt; das Gespräch wurde fast allein auf dieses geleitet; ich zitterte fast vor Freude, wenn das Herz jubelnd daran gedachte und ich eilte fort, um meinen Freund Gustav Krug zu besuchen. Wir machten unsern Empfindungen Raum, indem wir bedachten, was der morgende Tag für schöne Geschenke mit sich bringen werde. So verging der Tag in Erwartung der Dinge.
Der Tag erschien!
Schon leuchtete das Tageslicht in mein Schlafgemach, als ich erwachte. Was alles durchströmte meine Brust! Es war ja der Tag, an dessen Ende einst zu Bethlehem der Welt das größte Heil widerfuhr; es ist ja der Tag an welchem meine Mama mich jährlich mit reichen Gaben überschüttet. Der Tag verfloß mit Schneckenlangsamkeit; Pakete mußten von der Post geholt werden, geheimnißvoll wurden wir aus der Stube in den Garten vertrieben. Was mag während dieser Zeit dort vorgegangen sein? Dann ging ich in die Klavierstunden, in welche ich wöchentlich am Mittwoch einmal gehe. Ich hatte erst eine Sonata facile von Beethoven gespielt, und mußte jetzt Variation[en] spielen. Nun fing es schon an zu dämmern. Die Mama sagte zu mir und meiner Schwester Elisabeht: Die Vorbereitungen sind fast zu Ende. Wie freuten wir uns da. Nun kam die Tante; wir begrüßten sie mit einem Gejauchze oder vielmehr Gebrüll, daß das Haus davon bebte. Das Mädchen meiner Tante folgte ihr, und war noch zu Vorbereitungen dienlich. Zuletzt vor der Bescheerung kamen die Frau Pastor Haarseim mit ihrem Sohn. Da wer beschreibt unsern Jubel öffnet die Mama die Thür! Hell strahlt uns der Christbaum entgegen und unter ihm die Fülle der Gaben! Ich sprang nicht, nein ich stürzte hinein und gelangte merkwürdigerweise grade an meinen Platz. Da erblickte ich ein sehr schönes Buch (obgleich zwei dalagen, denn ich sollte mir auswählen), nämlich die Sagenwelt der Alten mit vielen prächtigen Bildern ausgestattet. Auch einen Schlittschuh fand ich, aber nur einen? Wie würde ich ausgelacht werden, wenn ich versuchen wollte einen Schlittschuh an zwei Beine zu schnallen. Das wäre doch merkwürdig. Doch sieh einmal, was liegt denn da noch daneben so ganz ungesehen? Bin ich denn so klein, so gering, daß du mich kaum ansiehst? sprach da plötzlich ein dicker Folioband, welcher zwölf vierhändige Sinfonien von Haydn enthielt. Ein freudiger Schrecken durchzuckte mich wie der Blitz die Wolken; also wirklich der ungeheure Wunsch war erfüllt; der größte!
Nebenan erblickte ich auch den zweiten Schlittschuh, und wie ich mir diesen näher besehe, da sah ich plötzlich noch ein paar Hosen. Nun betrachtete ich meinen Weihnachtstisch im ganzen und fragte nach denen, welche es mir geschenkt hatten. Doch wer mag der sein, welcher mir die vielen Noten geschenkt hat? Ich erhielt aber keine andre Auskunft als daß es ein Unbekannter sei, welcher mich bloß dem Namen nach kenne. Dann wurde Tee und Stolle getrunken und gegessen, und nachdem uns die Gäste verlassen hatten und uns Müdigkeit ankam, legten wir uns zur Ruhe.
 
Do[n]nerstag 25/12 1856
Heute "erster Feiertag." S' ist doch mit der schönste Tag im Jahre. Wenn man am heil'gen Abend sich der Geschenke wohl am meisten freut, so genießt man sie an den heutigen Tag am meisten. Auch kamen den Vormittag meine Freunde Gustav und Wilhelm um meine Geschenke anzusehn.  Denn  Nachmittag  ging  ich  zu  Gustav und that bei ihm desgleich[en]. Wir waren zur Bescheerung bei Pinders eingeladen und gaben uns deßhalb um 6 Uhr dorthin. Von seiner Grosmam[a] bekam er 6 Bände Reisebeschreibungen, das Triospiel, von seinen Grospapa die sämmtlichen Regenten Preusens und viele Schreibebücher. Aber von seinen Papa eine wunderschöne Steinsammlung, welche meistentheils selbstgesammelte Steine erhält.
— F. W. N. 1857.

Der Leusch und das Wethauthal.
[Juli 1857.]

Ich hatte mit Wilhelm Pinder verabredet, eine Partie nach dem Leusch zu machen und wir bestimmten dazu den nächsten Sonntag. (Das war der 19. Juli) Den Morgen um 7 Uhr giengen wir vom Jakobsthor aus fort. Das Wetter war für uns sehr günstig, denn es war bei weitem kühler als die vorigen Tage. Auch wählten wir statt der staubigen Chaussee lieber den Feldweg, welcher an den sogenannten Hussitenschanzen vorüberführt. Sodann kamen wir an den Gipsbrüchen vorbei, wo wir etwas ausruhten. Hier sahen wir den Leusch vor uns auf einer Erhöhung liegen, und unser erstes Ziel war erreicht. Wir traten in den Wald ein; alles war hier noch so frisch und der Thau schimmerte auf allen Zweigen, die Vögel sangen und das Geläute der Glocken, welche in die Kirchen riefen, tönte wunderbar um das Ohr, bald schwach, bald stark. Auch die Aussicht von dort ist nicht minder schön, denn der Leusch ist über Naumburg schon ziemlich erhaben. Ein vollständiger Kreis von Bergen zog sich am Horizonte um uns, in seiner Mitte Naumburg umfassend, dessen Thurmspitzen in Strahlen erglühten. Von hier giengen wir weiter, um in das Wethauthal zu gelangen, um dann den Weg über den Bürgergarten nach Hause zu nehmen. Bald erblickten wir einen dunklen Streifen von Bergen, der sich immer mehr vergrößerte, und endlich hatten wir das Wethauthal vor uns. Die es umgebenden Berge sind mit Wald bedeckt, und hinter ihnen erhebt sich noch eine blaue Bergkette. Wir giengen in das Thal hinab, an einen Teich.

Die Schönburg.
[Juli 1857.]

Diese Burg, welche Ludwig der Springer erbaut hat, liegt an dem Strande der Saale und unweit Gosecks. Kommt man durch das Dorf gleichen Namens, so zeigt sie sich in ihrer ganzen Größe und Stärke. Der sich hoch erhebende Thurm mit seiner gerundeten Spitze, die Basteien, welche schroff an den Felsen abfallen, erinnern sehr an die Zeit des Mittelalters, und wirklich bot wohl keine Gegend einen bessern Ort zu einer Raubburg dar, als diese; denn die eine Seite umfließt die Saale, die andre ist durch steile Abhänge geschützt. Wir gingen den Weg zur Burg hinauf, der noch an den Seiten von Mauerresten begrenzt ist, und traten in den Burghof ein, dessen Hälfte jetzt zu einem Garten umgewandelt ist. Noch ein sehr tiefer Brunnen befindet sich darin, über welchen ein Häuschen gebaut ist. Dieser Garten ist von dem Burghof durch eine Mauer getrennt und steht durch eine Pforte mit ihm in Verbindung. Sieht man durch die Fensternischen, so hat man eine wunderschöne Gegend vor sich: Eine weite Wiese dehnt sich vor uns aus und die Saale durchzieht sie gleich einem Silberreif, durch Berge, die von Weinbergen begrenzt sind. Im Hintergrunde liegt Naumburg, in einen grauen Schleier gehüllt, seitwärts Goseck, ein bei der Entstehung der Burg sehr wichtiger Ort.— Noch ein altes Burgverlies befindet sich da, auf dessen Rücken die Bewohner der Burg kleine Gartenanlagen angelegt haben.— Darauf wollten wir noch den Schloßthurm besteigen. Durch den sehr engen Eingang, an welchem man die Dicke der Mauern erkennen kann, gelangt man in das finstere Innre. Vier sehr breitsprossige Leitern führen auf ebensoviel Böden und auf dem ersten von ihnen ist noch ein alter Kamin. Oben angelangt gerät man durch ein Panorama, welches sich bis nach Weißenfels erstreckt, in Erstaunen. Wir hatten hier das erhabne Vergnügen, die Sonne untergehen zu sehen. Langsam tauchte die Sonne unter; ihre letzten Strahlen vergoldeten die Thürme von Naumburg und Goseck. Jetzt wurde es stiller in der Natur. Graue Nebel stiegen von dem Flusse auf, der Vögel Klang verstummte, der Landmann kehrte heim in seine väterliche Hütte und sucht nach des Tages Mühen Ruh, denn die Sonne hat Abschied genommen und der Nacht ihre Stelle eingeräumt. Aber auch wir verließen die schöne Burg, nahmen Abschied von ihren Zinnen und räumten dem Mond unsre Stelle, dessen Glanz auf das Gebäude schimmerte.

Mein Leben.
[Oktober 1858.]

Meine frühste Jugendzeit floß still und ungetrübt dahin und umsäuselte mich sanft gleich einem süßen Traum. Der Friede und Ruhe, die über einem Pfarrhause schwebt, drückte ihre teifen, unauslöschbaren Spuren in mein Gemüth ein, wie man denn überhaupt findet, daß die ersten Eindrücke, welche die Seele empfängt, unvergänglich sind. Da aber verdüsterte sich plötzlich der Himmel; mein geliebtet Vater erkrankte schwer und anhaltend. So trat auf einmal Angst und Spannung an die Stelle des heitern, goldenen Friedens, des ruhigen Familienglücks. Endlich nach langer Zeit geschah das Schreckliche: Mein Vater starb! Noch jetzt berührt mich der Gedanke daran innig tief und schmerzlich; damals erkannte ich die ungeheure Wichtigkeit dieses Ereignißes noch nicht so, wie jetzt.— Wenn ein Baum seiner Krone beraubt wird, so sieht er oed und traurig aus. Schlaff hängen die Zweige zur Erde nieder; die Vöglein verlassen die dürren Aeste und alles rege Leben ist verschwunden. Und stand es nicht ebenso mit unsrer Familie? Alle Freude war vorüber; Schmerz und Trauer waren an ihrer Stelle.— Nach einem halben Jahr verließen wir das friedliche Dorf; ich war nun ohne Vater, ohne Heimat. Naumburg bot uns zwar eine neue Wohnstätte dar; viel Liebe und Segen bescheerte uns Gott auch hier; aber immer wird mein Sinnen nach dem theuren Vaterhaus hingezogen und auf Flügeln der Wehmuth eile ich oft dahin, wo mein erstes Glück einst still erblühte.—

In Naumburg begann ich nun einen neuen Lebensabschnitt. Hier gewann ich meine lieben Freunde P. und K., die mir Naumburg für immer lieb und theuer machten. Obschon auch an diesem Ort manche Unglücksfälle unsre Familie trafen, so war doch in Allen Gottes segnende Hand zu erkennen. Nachdem ich einige Zeit auf einem Institut vorbereitet worden war, wurde ich in das Domgymnasium aufgenommen. Treue Lehrer waren hier beständig bemüht, unser Wissen zu mehren und zu fördern. Aber auch das Verhältniß der Schüler gegen- und die rege Theilnahme für einander, machten mir diese Anstalt sehr werth und theuer. Ich befand mich hier recht wohl und wäre sicher bis zur Universität hier geblieben, wenn es nicht Gottes weiser Rath anders beschlossen hätte. Denn plötzlich wurde uns eine Freistelle von Pforta angetragen. Nun, der Vater im Himmel wird mich auch hier an seiner Hand führen und leiten.—

["Porta coeli ..."]
[Februar 1859.]

Porta coeli locus appelatus est, quem nunc habito. In regione, jucunda et montibus circumdata sita et variis rebus insignis, amata est primis annis a me. Sed tempora mutantur; quae cupiebam, vera facta sunt et in hac regione, quam aspectu tantum cognovi, per sexennium moror.

Pforta, d. 6. 2. 59

In Jena.
[Juli-August 1859.]

Ich hatte meine Ferien unglücklicherweise mit zwei Übeln begonnen, die mich am Ausgehen verhinderten. Als ich nun einigermaßen wiederhergestellt war, dachte ich ernstlich darüber nach auf welche Weise ich meine Ferien am besten benutzen könnte. Verreisen wollte ich auf jeden Fall, aber wohin, war die bedenkliche Frage; denn ich wünschte Verwandte, die mir womöglich noch unbekannt waren, zu besuchen. Endlich fiel mir ein, daß ich meinen Onkel, den Herrn Oberbürgermeister kaum einmal vor vielen Jahren gesehen und noch gar nicht näher kennengelernt habe. Schnell war der Plan gefaßt und schon am andern Tag saß ich auf der Eisenbahn und wurde bei meiner Ankunft in Apolda sogleich durch einen Omnibus nach Jena transportiert. Die Sonne brannte auf den lederbeschlagenen Sitzen, als ob wir auf einem Rost säßen. Endlich wand sich der Weg zwischen zwei Bergreihen, von denen die eine in reichlichem Getreide prangte, die andere aber kahl und oede ein trauriges Bild der Verödung darbot. Endlich sahen wir in der Ferne die Thürme der Stadt und über ihnen zwei Berggipfel hervorragen. Endlich hielt der Wagen vor der Wohnung des Onkels, und die Tante bewillkommnete mich sehr herzlich, da der Onkel gerade Geschäfte hatte. Noch denselben Abend machte ich einige Bekanntschaft mit der Umgebung der Stadt, den Promenaden und Anlagen. Den folgenden Tag besuchten wir zusammen das Dörfchen Lichtenhain, berühmt durch sein gutes Bier. Da dieser Ort ein sehr besuchter Aufenthalt der Jenenser Studenten ist, so sind alle Bewohner auf Gäste vorbereitet. Aehnlich ist es auch bei Ziegenhain, einem Dörfchen, welches besonders des Fuchsthurms wegen so bekannt ist. Über diesen Überrest einer alten Burg gehen verschiedene Volkssagen; die bekannteste ist folgende:...

Einer der schönsten Punkte Jenas ist die Kunitzburg, welche wir nicht unterließen zu besuchen. Wir gingen erst eine lange Zeit an dem Ufer der Saale hin und kamen endlich nach dem Dorf Kunitz. Hier ließen wir uns den Weg sagen, und man wies uns auf den etwas näheren aber bei weitem beschwerlicheren. Es kostete eine ungeheure Mühe, besonders da wir plötzlich den Fußsteig verloren und ohne Weg und Steg hinaufklettern mußten. Oben angelangt konnten wir das schöne Schauspiel des Sonnenuntergangs genießen.— —

Jena selbst hat mehrere Reize. Ich will hier nur eine vorzügliche Badeanstalt erwähnen, die ich auch häufig benutzte. Dann sind an allen Häusern, wo berühmte Männer (und deren sind viele) gewohnt haben, Täfelchen mit den Namen der Betreffenden angeschlagen. Es machte mir besonderes Vergnügen die größten Häupter unserer Nation, wie Luther, Goethe, Schiller, Klopstock, Winkelmann und viele andere aufzusuchen.

Pforta.
v. Nietzsche.— [August-Oktober] 1859.

Den 6ten August [1859].

Wider das Heimweh. (nach Prof. Buddensieg)

1. Wenn wir etwas Tüchtiges lernen wollen, können wir nicht immer zu Hause bleiben.
2. Das wollen die lieben Eltern nicht; wir fügen uns deßhalb in den Willen der Eltern.
3. Unsre Lieben sind in Gottes Hand; wir sind immer von ihren Gedanken begleitet.
4. Wenn wir tüchtig arbeiten, so vergehen traurige Gedanken.
5. Hilft das alles nicht, so bete zu Gott dem Herrn.

— Als heute abend Prof. Steinhardt unserer Abiturienten gedachte, erwähnte er auch die drohende Kriegsgefahr, die bald alle aus unserm Kreise vor der gesetzlichen Zeit und aus ihrer Cariere gerissen hätte. Sie hatten sich aber bloß in Naumburg stellen müssen und deßhalb 6 Tage ihrer Ferien eingebüßt.—

— Als ich in Jena war, erfuhr ich die telegraphische Depesche vom Schluß des Friedens zu erst. Es war dennoch keine rechte Friedensfreude; man fürchtet, der Löwe zieht sich zurück, um Kraft zu neuem Anlaufe zu fassen.

— Wir haben heute wieder frei gebadet. Das Wasser war ungewöhnlich flach; man konnte weit und breit über die Saale gehen. Es war auch ungemein warm.

— Die Schwimmprobe habe ich noch nicht gemacht; ich fürchte mich immer vor Blamage.

— Mein Onkel Edmund ist nach Corensen versetzt, einem Dorf im Unterharz bei Vipra und Mansfeld. Ich freue mich sehr darauf, ihn einmal besuchen zu können. Aber leider wird meine Mama in sechs Wochen auch dahin gehen und dem Onkel die Wirtschaft einrichten und erst Weihnachten zurückkommen. Ich werde dann nicht mehr Almrich zum Sonntagsbesuch wählen dürfen.— Allerdings wird Mad. Laubscher öfters nach Almrich kommen. Es ist dies eine geborne Schweizerin, gibt in Naumburg Privatstunden und hat Pensionärinnen. Ihr Mann ist ein Franzose, von ganz vorzüglichem Charakter, aber in sich geschlossen, so daß man ihn fast für unaufmerksam in Gesellschaften halten könnte, wenn er nicht mitunter durch treffende, sogar geistreiche Fragen das Gegenteil lehrte.

Den 7ten August

— Heute ist der erste Sonntag, den ich wiederum in Pforta verlebe. Aber merkwürdig; die wahre Sonntagsweihe fehlt mir.

— Ich gehe heute nach Almrich, wo die Mama mit Lisbeth sein wird. Es ist dies eigentlich nur Aufenthalt der Primaner; aber wenn Eltern dahin kommen, können sie es den Söhnen nicht verwehren. Die andern pflegen nach Kösen zu gehn: gewöhnlich zu Haemerling in die Konditorei. Indessen gibt es doch auch viele, die in dem Walde ihre Sonntagserquickung finden.

— Mein Obergesell Krämer kommt gewöhnlich mit nach Almrich und besucht die Mama. Es ist ein sehr liebenswürdiger Charakter, der mich von allen Primanern am meisten anspricht. Ich habe mich vor dem Weggang in die Hundstage in sein Stammbuch geschrieben und von ihm auf immer Abschied genommen, aber nun ist er doch wieder da.

— Mein Geburtstag ist nun in wenigen Monaten; ich bin noch nicht einig, was ich mir wünschen werde. Entweder Gaudys, Kleists Werke oder Tristram Shandy von Sterne. Krämer konnte nicht mit nach Almrich kommen; ich ging deshalb allein hin. Ich fand dort die liebe Mama mit Lisbeth, Onkel Oskar, Herrn v. Busch und später kamen noch mehrere Naumburger Primaner hinzu. Als ich ein falsches Gerücht über die Zahl der Abiturienten von Naumburg, mit denen es unsicher stehe, angab, äußerte einer: Die Pförtner haben auch nichts anderes, worüber sie sprechen können; und in ähnlicher Weise stichelten sie fortwährend auf Pforta. Ich habe zu allem geschwiegen; auch Schweigen ist eine Antwort und sie sollen doch sehen, daß ich in Pforta schweigen gelernt habe.

— Ich weiß gar nicht, wie es in den paar Tagen der Michaelisferien mit mir werden wird. Mama ist nicht zu Hause und ich werde wahrscheinlich zu Hause schlafen und bei den Tanten essen.

— Die Hitze war heute nicht so bedeutend wie gewöhnlich.

Den 8ten August

— Heute gibt es mehrere Repetitionen; deshalb ist es ein schlimmer Tag. Erstens eine Geschichtsrepetition vom peloponnesischen Krieg bis Alexander. Zweitens eine griechische Grammatikrepetition und drittens eine Geographierepetition über alle Teile der Erde außer Europa und Australien. Glück zu!

— Die Geschichtsrepetition ging glücklich vorüber oder kam vielmehr gar nicht her; denn es wurde über Alexanders Zug diktiert.— Wenn es doch auch so mit den übrigen ginge!

— Um zwei Uhr. Es ist uns auch so ergangen. Welche Freude! Es ist nämlich eine sehr lobenswerte Einrichtung in Pforta, daß, wenn die Hitze über 24 Grad steigt, die Nachmittagslektionen ausfallen und der ganze Coetus baden geht, was man in der Alumnensprache Kommunschwemme nennt. Solch ein Fall ist heute. Es ist drückend heiß; man kann es im Schulgarten nicht aushalten. Wir haben von zwei bis vier Repetierstunde und um fünf gehen wir baden. Welche Wonne, sich heute in den Fluten abzukühlen!

— Es ist wohl im Augenblick angenehmer, wenn man Ostern rezipiert wird, aber bei weitem erfolgreicher ist es doch zu Michael. Wenn uns auch nicht die Frühlingsnatur entgegenlacht, wenn man sogar lange nicht soviel Freiheiten wie im Sommer besitzt, so kann man doch wieder im Winter mehr arbeiten und späterhin, wenn jene Zeit in Pforta wiederkommt, wo alles prangt und blüht, erschließen sich uns viele Annehmlichkeiten. Wenn ich allein der vielen Vorrechte der Alten vor den Novizen im Sommer gedenke beim Kegelschieben und in der Klasse, wünschte ich schon zu Michael aufgenommen zu werden.

— Ich habe beschlossen, mir Tristram Shandys Leben und Meinungen selbst zu kaufen und Don Quixote mir zum Geburtstag zu wünschen. Ich hoffe in sechs Wochen das nötige Geld, die zwanzig Silbergroschen zu besitzen.

Den 9ten August

Ich will jetzt versuchen, ein Bild von dem ganz gewöhnlichen Leben in Pforta zu geben, da ich sonst wenig oder gar nichts zu erzählen habe.— Also — früh um vier Uhr wird der Schlafsaal aufgeschlossen und von da an steht es einem jeden frei aufzustehen. Aber um fünf Uhr müssen alle andern, mit der gewöhnlichen Schulglocke wird geläutet, die Schlafsaalinspektoren rufen dröhnend: "Steht auf, steht auf, macht daß ihr herauskommt!" und bestrafen auch wohl die, welche sich nicht so leicht aus den Federn herausfinden können. Dann ziehen sich alle so schnell und so leicht wie möglich an und eilen dann in die Waschstube, um noch einen Platz zu bekommen, bevor es zu voll wird. Zehn Minuten nach der kurzen Zeit des Aufstehens und Anziehens geht es wieder heraus in die Stuben, wo sich jeder ordentlich ankleidet. Fünf Minuten vor halb wird zum ersten Male zum Gebet geläutet und zum zweiten Male muß man in den Betsaal. Hier halten, bevor der Lehrer kommt, die Inspektoren auf Ruhe, verbieten das Sprechen und animieren die Primaner, die gewöhnlich viel später kommen, sich zu setzen. Dann erscheint der Lehrer mit dem ihn begleitenden Famulus, und die Inspektoren geben an, ob ihre Bänke vollzählig sind. Dann ertönt die Orgel, und nach kurzem Vorspiel erklingt ein Morgenlied. Dann liest der Lehrer einen Abschnitt aus dem Neuen Testament, mitunter auch noch ein geistliches Lied, spricht das Vaterunser und der Schlußvers beschließt die Versammlung. Dann gehen alle auf ihre Stuben, wo Kannen mit warmer Milch und Semmeln harren. Punkt sechs ertönt die Glocke zur Klasse. Jeder nimmt seine Bücher und geht dahin und bleibt bis sieben Uhr. Dann folgt eine Arbeitsstunde oder Repetierstunde, wie man sie nennt. Dann sind Lektionen bis zehn, darauf wieder eine Repetierstunde und endlich Klasse bis zwölf. Beim Schlusse jeder Lektion und Arbeitsstunde wird geläutet. Punkt zwölf trägt man schnell seine Bücher auf die Stube und eilt dann mit Serviette in den Kreuzgang.

Den 10ten August

— Ich muß noch einiges über den gestrigen Tag nachtragen und deshalb kann ich in meiner Beschreibung nicht fortfahren.

Es wurde wieder ungeheuer warm und dennoch keine Kommunschwemme. Auch nicht einmal baden wurde gegangen. In den Nachmittagslektionen war es ungemein schwül. Endlich um halb sechs hatte sich der ganze Himmel mit Wolken überzogen. Bald rollte dumpfer Donner dahin, bald leuchteten grelle Blitze, bald strömte eine Regenflut zur matten Erde nieder. Dies Gewitter zog sich, obwohl ziemlich schwach, noch lange Zeit hin. Auch nach Tische, in der Schulgartenfreizeit, regnete es, so daß alle im Schulhause bleiben mußten. Aber so ungemütlich wie den Abend war es mir nach den Hundstagen noch nicht. Ich sehnte mich nach Naumburg, nach meinen Freunden, mit denen ich mich in solchen Stunden angenehm unterhalten konnte, und hier hatte ich niemand! Das ganze Schulhaus kam mir so öde, so traurig vor, und das Düster, das sich überall verbreitete, ließ nur nur glückliche Bilder aus den Ferien vor den Augen erscheinen! O Weihnachten, o Weihnachten, wie weit, wie weit!!

Es ist heute morgen bedeutend kühler als alle Tage vorher. Der Himmel sieht regnerisch aus; mir ist wieder nicht sehr gemütlich; ich freue mich auf den Sonntag, aber die Woche vergeht so ungemein langsam. Es ist wahr; trübes Wetter weckt trübe Gedanken; düsterer Himmel macht die Seele düster, und weint der Himmel, so vergießt auch mein Auge Tränen. Ach, in meiner Seele erwacht das bittere Gefühl des Herbstes. Ich kann mich noch eines Tages aus vorigem Jahre erinnern, wie ich noch in Naumburg war. Ich ging da allein vor dem Marientor spazieren; der Wind strich über die kahlen Stoppelfelder, die Blätter fielen gelb zu Boden und mich durchdrang es so schmerzlich: der blühende Lenz, der glühende Sommer, sie sind dahin! Auf immer dahin! Bald wird der weiße Schnee die sterbende Natur begraben!

Das Laub fällt von den Bäumen,
Der wilden Winde Raub;
Das Leben mit seinen Träumen
Vergeht zu Asch und Staub!

Den 11ten August

— Auch heute hat die Sonne noch nicht die Nebel- und Wolkenhüllen durchbrochen; es ist heute Studientag oder nach dem alten Gebrauche, eine Stunde länger schlafen zu können. Ausschlafetag. Da sind nun von morgens um sieben Uhr Repetierstunden bis zwölf, von zwei bis fünf wiederum und von fünf bis sieben schulgartenfrei. Solche Tage eignen sich vorzüglich zu längeren Privatarbeiten. Die Lesestunden fallen übrigens immer aus.

— Es ist eigentümlich, wie rege die Phantasie im Traume ist; ich, der ich immer des Nachts Bänder von Gummi um die Füße trage, träumte, daß zwei Schlangen sich um meine Beine schlängelten, sofort greife ich der einen an den Kopf, wache auf und fühle, daß ich ein Strumpfband in der Hand habe.

— Ich habe gestern ein kleines Gedicht gemacht, indem ich durch Gedanken an die Heimat daran dachte, wie es wohl einem sein möge, der keine Heimat habe.— Es folgt hier:

Ohne Heimat! — —

Flüchtge Rosse tragen
Mich ohn Furcht und Zagen
Durch die weite Fern.
Und wer mich sieht, der kennt mich
Und wer mich kennt, der nennt mich:
Den heimatslosen Herrn.
Heidideldi!
Verlaß mich nie!
Mein Glück, du heller Stern!
 
Niemand darf es wagen,
Mich danach zu fragen,
Wo mein Heimat sei:
Ich bin wohl nie gebunden
An Raum und flüchtge Stunden,
Bin wie der Aar so frei!
Heidideldi!
Verlaß mich nie!
Mein Glück, du holder Mai!
 
Daß ich einst soll sterben,
Küssen muß den herben
Tod, das glaub ich kaum:
Zum Grabe soll ich sinken
Und nimmermehr dann trinken
Des Lebens duftgen Schaum?
Heidideldi!
Verlaß mich nie!
Mein Glück, du bunter Traum!

Den 12ten August

— Endlich habe ich nun die Schwimmprobe gemacht; da Sonnabend Schwimmfahrt ist, so wünschte ich gar zu sehr, sie noch zu machen. Auf dem Rückweg mußte ich noch bedeutend kämpfen, aber es ging doch noch.

— Ich will übrigens heute die Fortsetzung von dem Leben in Pforta liefern.— In dem Kreuzgang stellt man sich tischweise auf, so daß zwölf je zu zweien hintereinander stehen und die Inspektoren gebieten Ruhe. Sobald der Lehrer im Zönakel ist, marschiert der 15. Tisch zuerst hinein und dann die übrigen. Alle Fehlenden werden angegeben. Dann spricht einer der Inspektoren folgendes Gebet:

Herr Gott, himmlischer Vater, segne uns und diese deine Gaben, die wir jetzt von deiner milden Güte zu uns nehmen durch Jesum Christum, unsern Herrn. Amen.

Hier fällt der ganze Coetus mit dem alten lateinischen Gesänge ein:

Gloria tibi trinitas,
Aequalis una deitas
Et ante omne saeculum
Et nunc et in perpetuum!

Dann setzen sich alle und die Mahlzeit beginnt. Der Speisezettel für die Woche ist folgendermaßen:

Montag. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Obst
Dienstag. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Butter
Mittwoch. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Obst
Donnerstag. Suppe, Rindfleisch und Gemüse, Nierenbraten und Salat
Freitag. Suppe, Schweinebraten, Gemüse und Butter oder Klöße, Schweinebraten und Obst oder Linsen und Bratwurst und Butter
Sonnabend. Suppe, Rindfleisch, Gemüse, Obst
Jeder bekommt bei jeder Mahlzeit ein Zwölftel Brot. Die Mahlzeit wird mit folgendem Gebet geschlossen:

Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich; der allem Fleische Speise gibt und dem Vieh sein Futter gibt und den jungen Raben, die ihn darum anrufen. Er hat nicht Lust an der Stärke des Rosses, noch Gefallen an jemandes Beinen; der Herr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten und auf seine Güte warten. Wir danken dir Herr Gott, himmlischer Vater durch Jesum Christum unsern Herrn für alle deine Wohltat, der du lebest und regierest in Ewigkeit. Amen.— Ein Liedervers folgt dann.

Den 13ten August

— Nun ist der zweite Sonnabend da; schon mehr als eine ganze Woche habe ich wieder hier verlebt — aber die Zeit kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Die Woche des Prof. Steinhardt ist vorüber; es ist eine der angenehmsten Zeiten vorübergegangen, besonders für die Primaner.

— Unsre Abiturienten arbeiten sehr viel, da sie in nächster Woche zu schreiben anfangen. Ich wünsche ihnen recht viel Glück zu diesem wichtigen Unternehmen.

— Ich habe auch in dieser Woche die Schwimmprobe gemacht und bin kleiner Schwimmer geworden. Gott behüte mich, daß mir bei der heutigen Schwimmfahrt nichts zustößt.

— Heute Mittag erhob sich ein heftiges Gewitter mit gewaltigen Regengüssen, wodurch die Schwimmfahrt vereitelt ist.

In der vorletzten Stunde, wo wir bei Herrn Doktor Becker Lektion hatten, wurde zum Schluß derselben heftig gelärmt und getrampelt. Der Herr Doktor war wütend darüber und forderte die Übeltäter auf, sich bis zehn Uhr zu melden. Da aber niemand kam, hat er einzelne aus der Klasse zu sich bestellt und sie darüber ausgefragt. Er hat aber fast gar nichts erfahren. Wir haben aber auf heute Nachmittag um sechs Uhr eine Versammlung sämtlicher Alten angesetzt. Ich will hier auseinandersetzen, daß hierbei drei Fälle moglich sind, daß nämlich, erstens, die ganze Klasse die Strafe auf sich nimmt, wenn alles über die Urheber des Lärmes verborgen geblieben ist. Da letzteres aber a) nicht ist, zweitens durch jenen Streich die ganze Klasse in schlechten Ruf kommt, so geht dies nicht. Zweitens würden die Übeltäter von den andern angezeigt, so wäre dies a) für jeden Schüler sehr unangenehm und entehrend, b) großen Irrungen und Streitigkeiten unterworfen. So bliebe also nur der dritte Fall möglich, daß sich nämlich die Unruhestifter selbst anzeigen, wodurch a) die Allgemeinehre der Klasse gerettet wird, b) die Strafe der Lehrer milder und die Verzeihung leichter sein wird, da die Sache dann als kindisch und unbedachtsam ausgelegt wird und nur einigen zur Schuld geschoben, sonst aber, wenn die ganze Klasse die Strafe auf sich nimmt, als ein Zeichen von heftigem Oppositionsgeist in der Klasse!!

Den 14ten August

— Die Verhandlung wurde bei der Kegelbahn geführt. Es hatten sich ziemlich viele versammelt und das Resultat war, daß neune sich entweder freiwillig meldeten oder durch Zeugen überstimmt wurden. Nach dem Abendessen wurde die Synode fortgesetzt, so daß am Ende fünfzehn sich bei dem Doktor Becker gemeldet haben. Ich fürchte, daß aber alles dies zu spät geschah, da von jenem schon der Rektor und Professor Buchbinder über die Sache befragt sind. Daß alle Beteiligten vor die Synode kommen, ist natürlich.

— Es ist nun heute schon der zweite Sonntag, daß ich wieder in Pforta bin. Ich werde heute nachmittag mit Braunens nach Almrich gehn.

— Der Sonntag im Sommer wird folgendermaßen verlebt: Früh um sechs Uhr wird aufgestanden und dreiviertel sieben ist Gebet. Darauf schulgartenfrei bis acht. Dann aber ist Repetierstunde, welche das Läuten zur Kirche endigt. Dann stellt man sich in den Kreuzgang und zieht in die Kirche, wo der Hebdomodar die Inspektion hat. Darauf ist bis zwölf wieder schulgartenfrei und ebenso nach der Mahlzeit, die aus Suppe, Frikassee, Braten und Salat besteht, bis zur Betstunde, die halb zwei ihren Anfang nimmt. Bis drei muß man wieder arbeiten, bis vier kann man in den Schulgarten gehen, aber gleich nach der Vesper beginnt der ersehnte Spaziergang bis sechs Uhr. Die Zeit bis sieben Uhr füllt eine Arbeitsstunde aus. Dann schließt der Tag wie gewöhnlich mit Essen, Schulgartenfreizeit und Gebet.

— Ich habe in der letzten Zeit mehrerlei gelesen; so hat mich zweierlei von Ludwig Rellstab ganz hingerissen durch die furchtbare Spannung und prachtvolle Schilderung. Das letztere "Am Orinoco", das die Gefahren in den Urwäldern Amerikas schilderte, war geradezu abspannend. Auch die Werke von Gaudy ziehen mich sehr an, besonders der wahrhaft südliche Glut atmende Römerzug. Diese farbigen Gemälde, geistvollen Bemerkungen schlingen sich wie Efeu um die Säulen und morschen Hallen der Melancholie. Von seinen Gcdichten ziehen mich die Kaiserlieder besonders an, die, obwohl sie einen Gegenstand des Hasses verewigen und zu den Sternen erheben, ich dennoch zu einen der besten Verherrlichungsgedichte verstorbener Helden rechne. Man bewundert besonders den Schwung und die Glut in den Gesängen der Trauerweiden.

Den 15ten August

— Ich traf die Mama, den Onkel und Lisbeth in Almrich. Es war recht hübsch. Die Mama wird leider schon in vier Wochen fortgehn. Ich habe deshalb schon meine Geburtstagswünsche nach Naumburg geschickt. Sie sind folgendermaßen: Don Quixote, Poesiebuch, Platens Biographie, Kuchen, Nüsse, Weintrauben. Der Milde und Wohltätigkeit werden natürlich keine Schranken gesetzt.

— In betreff unserer Klassenangelegenheit hielt heute morgen Doktor Becker Ansprachen und Aufforderungen, sich zu melden. Er schien sehr betrübt zu sein. Der, welcher vor der Klasse die andern dazu angetrieben hat, ist nun offenbar: er hat sich freiwillig gemeldet. Die ganze Sache kommt Sonnabend vor die Synode und kann ernstliche Folgen haben.

Wenn man das Schulleben näher betrachtet, so ist es eine beständige fortlaufende Handlung, die, trotz daß alle Ereigniße immer wiederkehren, immer viel Interesse hat. Besonders sind die mannigfachen Episoden wichtig. Man sagt gewöhnlich: Schuljahre sind schwere Jahre, ja es sind auch Jahre, die sehr folgenschwer für das ganze Leben sind, es sind auch Jahre, die der Jugend schwer fallen, weil sich der frische Geist in enge Schranken schließen muß, aber es sind auch gerade für solche, denen die Jahre so schwer fallen, oft rechte leere Jahre. Deshalb kommt es nun sehr auf eine gute Benutzung derselben an; die Hauptregel ist, daß man sich in allen Wissenschaften, Künsten, Fähigkeiten gleichmäßig ausbildet und zwar so, daß Körper und Geist Hand in Hand gehen. Man muß sich sehr vor Einseitigkeit des Studiums hüten. Man muß alle Schriftsteller aus mehreren Ursachen lesen; nicht nur der Grammatik und Syntax, des Stils halber, nein, auch des geschichtlichen Inhalts, der geistigen Anschauung wegen; ja man sollte auch die Lektüre griechischer und lateinischer Dichter mit deutschen Klassikern zugleich studieren und ihre Anschauungsweise miteinander vergleichen. So soll auch Geschichte nur mit Geographie vereint getrieben werden, Mathematik mit Physik und Musik; dann steigen herrliche Früchte aus dem Baume der Wahrheit, von einem Geiste beseelt, von einer Sonne beleuchtet, hervor.

Den 16ten August

— Unsre Abiturienten fangen heute zu schreiben an; sie sind sehr in Spannung. Ich denke gern und nicht gern an diese Augenblicke, indem man sich durch diese letzte Mühe und Gefahr gleichsam von den Banden der Schule loskauft.

— Wir waren gestern wieder baden gegangen; zum erstenmal hatte ich die Bademütze auf, die Auszeichnung der Schwimmer. Ob ich die Schwimmfahrt aushalten werde, glaub ich kaum. Nun, Glück zu!

— Wenn ich abends auf den Schlafsaal komme, scheint gewöhnlich der Mond auf mein Bett. Es ist dies ein ganz eigentümliches Gefühl und mir wird merkwürdig zumute. Es ist ausgemacht, daß der Mond mit dem Geist des Menschen korrespondiert; die Nerven werden durch eine Mondnacht mehr aufgeregt als durch die wärmsten Strahlen der Sonne. Wer kennt nicht jenes liebliche Gedicht von Heine: Die Lotosblume?

Es war heute dreiviertel fünf ehe wir aufstanden. Morgenröte küßte die fernen Berge und spielte in den Blättern der Eichen. Mir ist, wenn ich in die purpurerglühende Morgensonne blicke, stets so unermeßlich wohl; denn die flammende Tageskönigin übergibt dem jungen Tag die Herrschaft. Aber wenn es Abend wird, trauert meine Seele. Schau ich in das Rosengewölk, schau ich auf die leis bewegten Rosen, höre ich die Nachtigallen, die aus Liliengirlanden bange Seufzer schallen lassen, so rufe ich schmerzlich sic transit gloria mundi!

— Ich betrachte immer im Geiste das unermeßliche All; wie wunderschön und erhaben ist die Erde und wie groß ist sie, da sie doch kein Mensch in allen ihren Teilen kennenlernen kann, aber wie wird mir, wenn ich erst die unzählbaren Sterne, wenn ich die Sonne sehe, und wer bürgt mir dafür, daß dieses ungeheure Himmelsgewölbe mit allen den Gestirnen nur ein kleiner Teil des Weltalls ist und wo endigt dieses? Und wir erbärmlichen Menschen, wir wollen den Schöpfer desselben verstehen, da wir seine Werke kaum ahnen können!

— Ich bekomme mein Tristram Shandy wahrscheinlich erst in der nächsten Woche. Ich habe es Lisbeth aufgetragen, mir es so bald als möglich zu besorgen: Ich bin außerordentlich begierig es kennenzulernen.

Den 17ten August

— Vorbei, vorbei! Herz, willst du zerspringen?— O Gott, was hast du mir ein solches Herz gegeben, daß ich mit der Natur zugleich jubele und mich freue. Ich kann es nicht ertragen; schon sendet die Sonne nicht mehr warme Strahlen; die Felder sind öde und leer und hungrige Vögel sammeln für den Winter. Für den Winter!— So nah begrenzt sich Freude und Leid, aber der Übergang ist zermalmend. Vorbei, vorbei! Vögel ziehen am blauen Himmel weiter in ein fernes Land und ich folge ihnen traurig mit dem schmerzergriffnen Herz. Welt, bist du nicht endlich müde, kannst nicht Bleibendes ersinnen; was nur keimet, blüht und pranget, muß vergehen, muß von hinnen. Aus dem holden Maienweben brichst du Rosen rot umflossen; nimm nun auch mein junges Leben, das sich eben erst erschlossen. Ach; mit was für festen Banden hast du mich an dich gebunden. O Natur; mit bittrem Leide hast du mir mein Herz umwunden. Letzte Rose! Weinend seh ich dich erblühen und vergehn, mit dir leb ich und vergeh ich, mit dir werd' ich einst erstehn! Denn nicht ewig kann versinken dieses Lebens holder Traum; einstmals werd ich wieder trinken Lenzes Atem, Lenzes Schaum!

— Heute ist endlich die lang erwartete Schwimmfahrt. Ich bin sehr auf den Ausgang gespannt.

— Wir haben jetzt in der Geschichte den Zug Alexanders des Großen. Dieser Heros zieht mich außerordentlich an; man könnte Teile aus seinem Leben zu vortrefflichen Tragödien benutzen. Ich will nur die Verschwörung des Philotas erwähnen. Dieser junge Mann ist einer der wenigen, die Alexander ihre Herzensmeinung sagen, offen und wahr mit Festigkeit des Charakters. Die Soldaten fürchten ihn, weil er streng ist und nicht leidet, daß jene asiatische Üppigkeit, die der König selbst angebahnt hat, überhand nimmt. Sein Stolz erträgt nicht, daß Perser gleichen Rang mit den Makedoniern haben, er gerät mit Alexander, dem Sohn des Jupiter, dem Herrscher on Asien, dem täglich Altäre lodern, kriechende Schmeichler unverdienten Weihrauch zollen, in Wortwechsel. Alexander wird ihm feindlich; jener aber, durch die Ermordung des Klitus angereizt, gerät in heftigen Zorn, läßt unvorsichtige Worte fallen und sein Leben ist verwirkt. Um den beunruhigenden Gedanken zu entgehen, sendet Alexander Meuchelmörder nach Ekbatana, um Parmenio zu ermorden. Babylon, Babylon, du bringst Rache! Er muß auch sterben!

Den 18ten August

— Die Schwimmfahrt fand gestern wirklich statt. Es war ganz famos, wie wir in Reihen abgeteilt unter lustiger Musik aus dem Tore marschierten. Wir hatten alle rote Schwimmützen auf, was einen sehr hübschen Anblick gewährte. Wir kleinen Schwimmer waren aber sehr überrascht, als die Schwimmfahrt eine weite Strecke noch die Saale hinunter ihren Anfang hatte, worüber wir alle etwas kleinmütig wurden; als wir aber die großen Schwimmer aus der Ferne kommen sahen, und die Musik hörten, vergaßen wir unsre Angst und sprangen in den Fluß; es wurde nun in derselben Ordnung geschwommen, wie wir ausmarschiert waren. Überhaupt ging alles recht gut; ich half mir, so gut ich konnte; obgleich ich nirgends Grund hatte. Auch das Auf-dem-Rücken-Schwimmen benutzte ich öfters. Als wir endlich anlangten, empfingen wir unsre Kleidungsstücke, die in einem Kahne hinterdrein gefahren waren, kleideten uns schnell und marschierten in gleicher Ordnung nach Pforta. Es war wirklich wunderhübsch.

— Es ist heute ungemein düster, hat auch schon viel geregnet. Als wir dreiviertel auf fünf aufstanden, konnte man noch nicht sehen. Unsre Abiturienten schreiben heute Deutsch, ich wünsche ihnen viel Glück dazu.

Fortsetzung des Tageslaufs in Pforta. Gleich nach Tische trägt man Brot und Serviette des Tischoberen in die Stube desselben und eilt in den Schulgarten. Vor halb zwei darf keiner in der Stube erscheinen, was die Wocheninspektoren streng bestrafen. Zuerst sieht nun nun nach, ob wohl eine Kiste oder ein Brief da ist, die der Pfonenbote täglich bringt oder man holt sich Obst für sein Taschengeld bei einer Obstfrau. Dann schiebt man im Schulgarten Kegel oder geht spazieren. Im Sommer wird auch viel Ball geschlagen. Dreiviertel zwei läutet es zur Klasse und in fünf Minuten muß man darin sein. Die Lektionen dauern nun bis zehn Minuten vor vier. Dann ist gleich Vesper, wo man Butter und Semmel oder Pflaumenmus, Fett, Obst und dgl. erhält. Darauf hält der Obere eine Lesestunde, wo griechische, lateinische oder mathematische Docimastica geschrieben werden. Um fünf ist eine kleine Pause, worauf dann Repetierstunden bis sieben folgen. Dann ist Abendessen, das im ganzen dem Mittag gleicht.

Montag. Freitag. Suppe, Butterbrot, Käse.
Dienstag. Sonnabend. Suppe, Kartoffeln, Butter.
Mittwoch. Suppe, Wurst, Kartoffelmus oder saure Gurken.
Donnerstag. Suppe, Eierkuchen, Pflaumensauce, Butterbrot.
Sonntag. Suppe, Reismus, Butterbrot — Heringe, Salat, Butterbrot — Eier, Salat, Butterbrot oder anderes.

Den 19ten August

— Dann können wir wieder in den Schulgarten bis ½9 gehen. Darauf ist Abendgebet und um 9 wird zu Bett gegangen. Alle Obergesellen, denen doch durch die Lesestunde eine Stunde verloren geht, bleiben noch bis zehn Uhr auf. So ist der gewöhnliche Tageslauf in Pforta.

— Gestern kam der Herr Rektor Peter in die Klasse und hielt uns eine große Strafrede der Trampelei wegen. Er sagte unter andern: "Habt ihr denn ganz vergessen, wer ihr seid und wie großen Dank ihr der Anstalt und ihren Lehrern schuldig seid? Ihr solltet uns durch Gehorsam und Folgsamkeit erfreuen und ihr kränkt uns durch ein solches Betragen? Das ist aber ein sehr schlechtes Zeichen für die Klasse; die Schuld fällt nicht allein auf die unmittelbar Beteiligten, sondern überhaupt aut den bösen Geist der Klasse." Dann ließ er noch sehr bedenkliche Worte über sehr strenge Strafen und dergleichen fallen.

— Ich war gestern abend bei Prof. Corssen mit sechs anderen. Es war wieder wie gewöhnlich sehr lustig und interessant. Es ist mir stets ein großes Vergnügen dahin zu gehen.

— Ich warte nun seit Dienstag täglich auf meine Kiste nebst Brief, aber immer vergebens! Was mag nur die Mama davon abhalten? — —

— Heute ist wieder Ausschlafetag oder Studientag und es ist immer sehr angenehm, daß ich etwas Ordentliches zu tun habe. Wir müssen nämlich eine deutsche Arbeit heute abend abgeben. Ich bin hier in Pforta etwas im Deutschen zurückgekommen. In Naumburg hatten wir schon Abhandlungen und Charakterschilderungen und hier müssen wir Geschichten zu Sprichwörtern ersinnen u. a. —

— Unsre Abiturienten haben morgen noch das mathematische Docimasticon zu schaffen; dann sind sie ganz fertig und erwarten das mündliche Examen. Ich hoffe, daß alle durchkommen werden.

— Obwohl mir das holde Bild der Ferien fast aus den Augen entschwunden ist, so ist mir doch diese Woche recht schnell vergangen. Nächsten Montag ist wahrscheinlich Bergtag; die Mama habe ich schon dazu eingeladen. —

Was lebet muß vergehen:
Die Rose muß verwehen,
Willst du sie einstmals sehen
In Wonne auferstehen! —

Den 20ten August

— Endlich ist der für unsre Klasse so verhängnißvolle Sonnabend herangekommen; ich bin auf den Erfolg sehr gespannt. —

— Ich hatte gestern abend plötzlich eine so ungewöhnliche Reiselust und zwar in eigentümlicher Weise, ohne Geld. Mir kommt es nämlich so vor, als wenn man bei Befriedigung aller Bedürfniße lange nicht so interessant lebe, als wenn man nur seinem guten Glück vertraut und nicht für den andern Tag sorgt. Daß man natürlich für unvorhergesehene Fälle etwas bei sich versteckt hat, ist natürlich. Ich möchte eigentlich sehr gern die Michaelistage zu so einer Partie benutzen. Ich dächte, es müßte sehr viel Amüsement gewähren. So in den Tag hinein zu wandern, Unterkommen bei den ersten, besten finden, ein paar Abenteuer erleben, ist doch ganz famos. —

— Heute morgen habe ich schon einen Brief an die Mama geschrieben und sie zum Bergtag eingeladen. Sie will Madame Laubscher und Pensionärinnen mitbringen. Ich habe noch gar nicht an Wilhelm geschrieben und er nicht an mich; er wird doch nicht auf mich böse sein. —

— Wir sind gestern wieder baden gewesen, die Saale war kühl und etwas gestiegen. Ich habe den Schwe[rt]sprung mehrere Male versucht; auch so ziemlich gelernt. —

— In Gaudys wandernden Schneidergesellen ist doch ein köstlicher Humor. Wie fein ist Italien in allen seinen Schwächen, wie vorzüglich das materielle Berliner Kind charakterisiert! —

— Herr Prof. Buddensieg sagte uns heute einiges über die hebräische Poesie. Sie besteht in dem Parallelismus der Gedankenglieder und bedient sich mitunter sogar des Reimes. Er führte uns als Muster desselben den achten Psalm auf. —

Ich schreibe jetzt fast gar keine Gedichte mehr und die wenigen sind gewöhnlich etwas gewöhnlich. So habe ich in Pforta erstens das Mailied gemacht, dann die Maisonne, im Wald, der Schwan, Heimkehr I, II, In der Ferne, und endlich Ohne Heimat. Allerdings für die lange Zeit sehr wenig. Ich will aber vielleicht wieder einmal einführen, täglich eins zu schreiben, die dann auch in diesem Buche ihren Platz finden werden.— Wann wird aber die poetische Ader so ergiebig sein? Das ist ein sehr unangenehmer Gedanke. —

Den 21ten August

— Ich habe gestern einen Brief bekommen, daß ich sonntags nicht nach Almrich kommen sollte; ich werde deshalb Herrn Rat Teichmann in Kösen besuchen. Es sind alte liebe Leute, die ich schon von Naumburg aus kannte.—

— Unsere Klassenmissetäter sind im ganzen mild bestraft, der Rädelsführer ist heruntergesetzt und mit Karena bestraft, seine dritte Strafe teilt er mit allen; sie haben nämlich eine Stunde von ihrem Spaziergang verloren. —

— Gestern abend sind zwei Quartaner auf ihrer Bank von einem Inspektor beim Rauchen gefaßt und auf der Inspektionsstube angezeigt. Es ist einer darunter, der schon neulich beteiligt war. Ein andrer hat ein Zeichen gegeben und auch dieser ist gefaßt. Es ist der Anführer jener Trampelei! —

— Ich bin seit gestern nun wirklich im Chor, worüber ich mich sehr freue. Ich singe nun mit in der Kirche, kann die Sängerfahrt mitmachen und genieße nun alle Vor- und Nachteile eines Choristen. —

— Unsere Abiturienten sind mit dem schriftlichen Examen zu Ende. Ich hoffe, sie werden alle gut durchkommen. —

— Ich habe heute im Don Quixote gelesen und er zieht mich sehr an; dennoch trage ich Bedenken ihn mir zu wünschen. —

— Es ist sehr zweifelhaftes Wetter, was mir besonders des Bergtags halber sehr unangenehm ist. Nun, Hoffnung läßt nicht zuschanden werden! —

— Ich bin nicht nach Kösen gegangen, sondern etwas in den Wald. Wir holten uns erst etwas Obst und erzählten uns dann gegenseitig ganz angenehm; ich bin übrigens auf die Idee gekommen, die Michaelistage zu einer Partie zu verwenden. Zwar folgendermaßen: Ich bestelle Wilhelm den ersten Tag früh nach Pforta und gehe mit ihm dann auf die Katze, genießen hier einen Kunitzburger Eierkuchen, und machen uns dann wieder auf den Weg über die Rudelsburg und Saaleck und kehren dann den Nachmittag wieder zurück. Es ist wirklich ein sehr hübscher Gedanke; ich werde ihn Wilhelm mitteilen. Ich habe so nach den Ferien noch gar nicht an ihn geschrieben. — —

Den 22ten August

Nun, Hoffnung ließ auch nicht zuschanden werden. Wir haben einen sehr hübschen Bergtag verlebt, den ich auch näher beschreiben will. Als ich den Morgen aufstand, schaute ich sogleich nach dem Himmel. Das sah nun allerdings ziemlich gefährlich aus. Denn viele dicke Wolken umhüllten den Horizont. Darauf war gewöhnlicher Studientag bis zwölf Uhr. Als aber da der Himmel heller wurde, kleidete sich ein jeder an und man versammelte sich um zwei Uhr auf dem Fürstenplatz und zwar stubenweise. Nach abgehaltener Visitation ging dann der Zug, Musici und Sänger voran, vor die rechte Front des Schulhauses. Hier wird unter Begleitung der Instrumente das Berglied gesungen und dann marschiert alles mit der Schulfahne voran den Berg hinauf. Auf dem weiten Plateau angekommen, wird Halt gemacht. Hier hat nun Konditor Furcht seinen Platz aufgeschlagen und findet einen ungeheuren Absatz. Besonders der Schaumkuchen verschwindet im Nu. Wir lagerten uns dicht an den Wald und unterhielten uns ziemlich über das Amüsement der Untern am Bergtag. Da meldete mir endlich einer, daß die Mama mit Lisbeth da sei. Das war nun wunderhübsch. Erst tranken wir zusammen Kaffee mit Kuchen und unterhielten uns dann. Später kamen auch noch Madame Laubscher mit Pensionärinnen. Da unterdessen der Tanz begonnen hatte, tanzten letztere ziemlich viel mit. Es waren überhaupt ziemlich viel Damen da, während sie fast sämtliche Bergtage ein tüchtiger Regen abgehalten hatte. Dann trat der Chor zusammen und sang sehr hübsche Lieder wie das Abendlied, dann "Hoch Deutschland hoch" und "Ade du liebes Waldesgrün". Darauf wurde wieder bis halb 7 getanzt. Da war endlich das Ende der Lust da und wir marschierten, nachdem ich herzlich Abschied genommen und gedankt hatte, klassenweise wieder hinunter in das Schulgebäude. Bis in den Primanergarten dauerte der Festmarsch und dann ging alles auseinander. Die Mittleren hatten den Abend noch auf dem Tanzsaal Ball. So endete der schönste Bergtag seit mehreren Jahren. —

Den 23ten August

— Heute ist man von dem gestrigen Tage noch etwas abgemattet; denn solche Freude und Lust nimmt immer etwas mit. Aber die schöne Erinnerung bleibt doch. —

— Ich muß noch einen Zug des Bergtags erwähnen. Wenn nämlich auf dem Rückweg Pforta gerade unter uns liegt, stellen sich die Klassen untereinander auf und der Präfekt bringt erst dem König ein Lebehoch, dann dem Prinz von Preußen, dann den zukünftigen Abiturienten, darauf der Alma mater mit Lehrern und endlich dem gesamten Coetus. Vier, fünf, 6 Lebehochs ertönten letzterem — da rief endlich Prof. Buchbinder lachend: Nun wie lange wollt ihr denn leben? —

— Madame Laubscher war so freundlich, mir anzubieten, während der Abwesenheit der Mama öfters nach Almrich zu kommen. Ich werde das gewiß mehrere Male benutzen. —

Ich bin jetzt in einer merkwürdigen Verlegenheit. Ich habe nämlich hier in Pforta zwei Brüder, die mit mir etwas verwandt sind.— Der ältere ist bei dem ganzen Coetus gewissermaßen in Verachtung, wird von allen geneckt und verlacht. Er dringt aber darauf, mich zu ihm bringen zu lassen, da ich nächstes Semester noch keinen Obergesellen habe. Sein Bruder hingegen ist ein ganz angenehmer Mensch, lustig und guter Dinge, äußerte aber, da ich ihm das von seinem Bruder erzählte: ich könne mich auch zu ihm bringen lassen; ich hätte da freilich zu entscheiden, wer mir von ihnen am besten gefalle. Nun bin ich in neuer Verlegenheit; denn ich beleidige auf jeden Fall einen von beiden. Dann ist nun auf jeden Fall das beste, ich lasse mich zu keinem von beiden bringen. —

— Der Herbst erinnert mich immer an meine zukünftige Stellung in der Welt; denn die Jugend soll dann noch Früchte tragen. Aber es ist mir ein schrecklicher Gedanke, dann nur zu genießen, was einstige Mühe heimgebracht. Meine Seele muß im ewigen Frühling stehen, denn wenn erst die rosige Blütenzeit vorüber ist, dann ist auch mein Leben vorüber. Wie schwer wird es mir, den irdischen Frühling zu missen, aber um wieviel bittrer ist jenes!

Den 24ten August

— Ich habe gestern wieder einmal die Räuber gelesen; es wird mir dabei jedesmal ganz eigentümlich zumute. Die Charaktere sind mir fast übermenschlich, man glaubt einen Titanenkampf gegen Religion und Tugend zu sehen, bei dem aber doch die himmlische Allgewalt einen endlos tragischen Sieg erringt. Furchtbar ist zuletzt die Verzweiflung des unendlichen Sünders, die durch die Worte des Paters grausenerregend vermehrt wird. Mir ist nichts Neues aufgefallen, als daß Schiller an einer Stelle auf ein Jugendgedicht von sich selbst hinweist. —

— Dritter Akt, zweite Szene —

Schwarz: "Wie herrlich die Sonne dort untergeht!"

Moor: "So stirbt ein Held: Anbetungswürdig!"

— — — —

"Da ich noch Bube war, war's mein Lieblingsgedanke, wie sie zu leben, zu sterben wie sie!"

Man vergleiche hiermit das Gedicht:

"Die Sonne hat vollendet gleich dem Helden" usw.

Man sieht auch hierin, daß in dem Karl Moor Schiller viele seiner Ideen, seiner Entwürfe verwebt hat. —

— Wir konnten gleich nach Tische vorgehen und versammelten uns an der Saline in der Davisonshalle. So ungefähr um drei kamen wir in die Buchenhalle. Es ist dies ein wunderschöner Platz im Walde, nach Art eines Amphitheaters mit Bänken versehen. Der Chor und die andre Musik nahmen den höchsten Platz ein. Unten war ein Altar und eine Kanzel errichtet und mit Blumen sehr feierlich verziert. Zuerst wurde "Ach bleib mit deiner Gnade" gesungen, dann las Prof. Buddensieg die Liturgie; wir aber sangen noch einige Motetten; darauf bestieg Diakonus Link aus Ekartberga [die Kanzel] und hielt eine sehr schöne geistvolle Predigt. Dann schloß die Feierlichkeit mit mehreren Gesangstücken.

Es war ungemein belebt, fast alle Badegäste waren da. Um ½ 5 Uhr waren wir wieder in Pforta und gingen dann gleich baden. Die Saale war wunderschön erwärmt und wir blieben auch ziemlich lange darin. Ich habe wieder öfters den Schwertsprung versucht. Wenn ich doch übrigens bald wieder einen Brief von der Mama bekäme! Ich weiß gar nicht, wie es ihnen bekommen ist! Nun morgen, Donnerstag!

Den 25ten August

— Bis jetzt habe ich noch sehr wenig erlebt; die Sonne scheint noch nicht sehr warm; herbstliche Kühle breitet sich über das Land.— Wir haben in der Klasse ein Docimasticon geschrieben; ich bin auf den Erfolg begierig. —

— Die Mama sagte, ich würde wahrscheinlich nach Korensen zu Weihnachten reisen, da sie vielleicht noch nicht zurückgekehrt sei. Das wäre nun allerdings sehr hübsch. Besonders auf die Reise freue ich mich sehr. Wenn es nicht so kalt ist, so fahre ich bis Halle und mache mich dann auf den Weg nach Deutschental. Dort besuche ich den Herrn Pastor, den ich früher einmal kennengelernt habe, von da nach Langenbogen, begrüße dort meinen alten Bekannten, den Salzigen See. Dann geht es nach Eisleben, wo Luthers Denkwürdigkeiten betrachtet werden. Von dort nach Mansfeld, wo mich Mama und Onkel erwarten. Ich freue mich sehr darauf. —

— Heute nachmittag beginnen die großen Geographierepetitionen zuerst mit Asien. Das ist nun eine üble Sache; ich wünsche, es wäre schon vorüber. Vor der Geographie habe ich überhaupt immer etwas Furcht.

— Alles ist recht gut vorübergegangen. Ich bin in der Geographie dran- und durchgekommen. Wilhelm hat mir übrigens geschrieben; er geht auf meinen Plan ein und will sogar lieber eine kleine Fußreise machen. —

In dem Tertianergedicht "Heimkehr" habe ich IIa bekommen. Die zweite Abteilung folge:

II

— I. Das milde Abendläuten
Hallet über das Feld.
Das will mir recht bedeuten,
Daß doch auf dieser Welt
Heimat und Heimatglück
Wohl keiner je gefunden:
Der Erde kaum entwunden,
Kehrn wir zur Erde zurück. —
   
II. Wenn so die Glocken hallen,
Geht es mir durch den Sinn,
Daß wir noch alle wallen
Zur ewgen Heimat hin.
Selig wer allezeit
Der Erde sich entringet
Und Heimatlieder singet
Von jener Seligkeit!

— In meinem lat[einischen] Docimasticon habe ich IIa.Wir haben heute ein mathematisches geschrieben und bin auf den Erfolg sehr gespannt; ich habe alles heraus, ob aber alles richtig, ist eine andere Frage. —

Heute nachmittag stieg die Hitze wieder auf 24 Grad. Die Lektionen fielen aus und wir gingen alle baden. Das Wasser war wunderschön. —

Ich habe heute nichts weiter zu erzählen. Deshalb will ich mein Gedicht: Heimkehr anfügen.

Heimkehr.

Das war ein Tag der Schmerzen,
Als ich einst Abschied nahm;
Noch bänger war's dem Herzen,
Als ich nun wiederkam.
Der ganzen Wandrung Hoffen
Vernichtet mit einem Schlag!
O unglückselge Stunde!
O unheilvoller Tag!
   
Ich habe viel geweinet
Auf meines Vaters Grab
Und manche bittre Träne
Fiel auf die Gruft herab.
Mir ward so öd und traurig
Im teuren Vaterhaus,
So daß ich oft bin gangen
Zum düstern Wald hinaus. —
   
  In seinen Schattenräumen
Vergaß ich allen Schmerz
Es kam in stillen Träumen
Der Friede in mein Herz.
Der Jugend Blütenwonne
Rosen und Lerchenschlag
Erschien mir wenn ich schlummernd
Im Schatten der Eichen lag.

Den 27 August

— Siehe da, gestern nachmittag war wieder Kommunschwemme. Die Kähne waren jedesmal überladen.

Ich habe jetzt die Literaturgeschichte von Kletke und vorzüglich hat mich das Leben Jean Pauls angezogen. Die Bruchstücke seiner Werke, die ich gelesen habe, ziehen mich ungemein durch die blühende, überschwengliche Schilderung, die zarten Gedanken und den satirischen Witz an. Ich glaube, Jean Paul wird einmal bei reiferen Jahren mein Lieblingsschriftsteller. —

— Ich werde jetzt einige Episoden aus meinem Leben etwas phantastisch ausschmücken. Die erste soll sein:

I. Aus den Hundstagsferien.

Hundstage! Das ist ein Zauberwort für jeden nach Freiheit schmachtenden Alumnus potensis, ein Eldorado, das uns getrost den großen Ozean des Schulsemesters duchsegeln läßt. Welche Wonne, wenn endlich der Ruf: Land, Land, erschallt: jubelnd bekränzen alle das Schiff ihres Daseins und die alten trauten Stuben umschlingen Guirlanden, die auf jeden Blatt den Namen: Hoffnung tragen. Wer vermöchte es nur zu schildern, das überwallende Gefühl, das stolze Bewußtsein daß uns zu den Sternen erhebt. Nicht mit Seupfzen und Klagen entreißen wir uns den Armen der Alma mater; nein, uns ist im Gegentheil so frei und lustig zu Muthe, wie einer Lerche, die zu den Flammenmeer aufsteigt und in die wogende Purpurgluht ihre Flügel taucht. Aber ist das eine Freiheit? Nur fünf Wochen können wir unsre Schwingen über Berg und Thal, in ewige Weiten erheben, aber dann ruft uns ein Machtwort in die alten, düsteren Mauern zurück.— Wenn der lächelnde Frühling sein überreiches Füllhorn über die Fluren aus schüttet, wenn die Sonne die Erde feuriger um armt, da keimen und sprießen die Lenzeskinder empor, schütteln das goldene diamantenbesäte Haupt in der Morgengluth u. erschließen sich, wonneschauernd, freudig verklärt. Und siehe! Schwarze Nacht steigt empor und umhüllt die seupfzende Erde mit düsteren Gewölbe. Gewaltige Stürme, hindröhnende Donner gleiten an den finsteren Wänden nieder und mühen sich die Pfosten zu sprengen. Feurige Blitze schlängeln sich um die Säulen des Gewölbes und züngeln empor—da tritt Helios auf den purpurnen Thron und—die finstern Mächte weichen—die Lichtgöttin schreitet mit farbigen Erglühen über die demantenbethaute Brücke und über ihr schließt sich das mit Blitzen behangene Triumpfthor.—

— aber die holden Frühlingskinder sind hingesunken in den gewaltigen Anblick und auf den zerstreuten Blüthen wandelt der siegende Gott. —

Darum o Jüngling, benutze die Zeit deiner Ferien, nicht mit Arbeiten sondern in jauchzender Erholung so daß wenn das Ungewitter herannaht und die dröhnende Donnerstimme das Ende der Rosenzeit verkündet, du willig scheidest—doch stille!— Ich bin nicht einer, der ohne Klagen den Frühling fliehen sieht und ich kann mir nicht vorstellen wie jemand gern wieder sich in Fesseln schließt. Ich bin aber zu den Satz gekommen: Genieße das Leben, wie es sich dir darbietet, und denke nicht an die kommenden Mühen. Das ist jedenfalls der größte menschliche Grundsatz, den ich in Pforta gelernt habe. Wenn mich bittre Gedanken quälten und die Seele von schmerzlichen Heimweh umwunden wurde, wenn ich traurig den Frühling scheiden sah, und mein Herz im tiefsten Weh schmachtete, da schlang sich jener Gedanke wie eine Rosenguirlande durch die Trümmer der Vergangenheit, und—ich—schob Kegel! Darum weg ihr Ferienabschiedsgedanken! Lustig voll von Lebenslust stürz dich in das matte Leben und erkämpfe dir die Krone der besten Ferienbenutzung!

II.

Es war schon die Sonne untergegangen, da schritten wir aus dem düsteren Halle heraus. Bald lag diese Stadt, die t[rotz] ihrer Belebtheit auf mich keinen angenehmen Eindruck macht, hinter uns, der goldig umflossene Himmel, wo noch die Gluten in rosiger Verklärung loderten, über uns und Saatgefilde, auf denen der milde Hauch des Abends ruhte, neben uns. O Wilhelm, rief ich, gibt es eine größere Lust als so zusammen die Welt zu durchwandern? Freundesliebe, Freundestreue! Atem der herrlichen Sommernacht, Blumenduft und Abendröte! Steigen deine Gedanken nicht auf wie die jubelnde Lerche, und thronen auf den goldumkränzten Wolken. Wie eine wunderliebliche Abendlandschaft liegt mein Leben vor mir. Wie gruppieren sich die Tage vor mir bald in düsterer Beleuchtung, bald in jubelvoller Auflösung! —

— Da drang ein greller Schrei uns zu Ohren: es kam aus dem nahen Irrenhause. Inniger schlossen sich unsre Hände zusammen: uns war, als berühre uns ein böser Geist mit beängstigenden Fittichen. Nein, uns soll nichts voneinander scheiden, nichts als der Todesjüngling. Weichet, ihr bösen Mächte!— Auch in dieser schönen Welt gibt es Unglückliche. Aber was ist Unglück? —

Es wurde nun schon dunkler, die Wolken zogen sich zusammen und bildeten eine graue, mitternächtliche Masse. Wir beeilten unsre Schritte etwas, auch sprachen wir nicht zusammen. Die Fluren wurden immer düsterer und als wir endlich in einen Wald kamen, wurde uns etwas unheimlich. Deshalb war es uns sehr angenehm und zugleich etwas ängstlich, aus der Ferne ein Licht auf uns zukommen zu sehen. Wir faßten indessen Mut und gingen auf dasselbe los. Bald erblickten wir eine schwarze Gestalt: wie es schien, war es ein Jäger. Denn eine Büchse hing über seinen Rücken und ein laut bellender Hund folgte ihm. Als wir aber näher kamen, und die wilden, unheimlichen Gesichtszüge sahen, verschwand unser Mut wieder und wir riefen mit schwacher Stimme: Guten Abend. Gleiches erscholl in einem tiefen Basse, der Fremde leuchtete uns in das Gesicht und rief, seinen auf uns losstürzenden Hund beschwichtigend: Was macht ihr hier noch so spät in dem Wald, ihr Burschen? Wir wußten nicht recht, was wir entgegnen sollten und entgegneten: Nach Eisleben führt unser Weg, und wir hofften noch in dieser Nacht unser Ziel zu erreichen. Die Nacht ist aber keines Menschen Freund, und so allein zu gehen ist für solche junge Burschen — hier hielt er inne und wir sahen ihm ängstlich fragend ins Gesicht.

Er aber rief lachend: Nun fürchtet euch nur nicht; ich werde euch begleiten. Obwohl wir anfangs seine Einladung scheu annahmen, so wurde uns sein rauhes Antlitz etwas freundlicher und wir faßten Zutrauen zu ihm. Es war jetzt pechschwarze Nacht, sogar der Mond wurde von den tiefen Wolken bedeckt und die Laterne warf auf die alten Baumriesen ihr zitterndes Licht. Mir kam fast der Gedanke an, nach Deutschental zu wandern und dort Halt zu machen. Dort hatte ich einen Onkel, von dem ich aber wußte, daß er mich nicht sobald von sich lassen werde. Endlich erkundigte ich mich wie zufällig nach ihm und jener sah mich an und sagte: So, kennt den der Herr? Ich antwortete: Ja etwas, aber wiederum gefragt, warum ich ihn nicht besuchen wollte, meinte ich: Auf der Rückkehr ist auch noch Zeit dazu. Aber der Alte erwiderte verwundert: Sie haben hier in der Umgegend Bekannte und ziehen es vor, auf gefährlichen Wegen der Nacht zu gehen?— Gefährlich; fragte ich und meine Augen blickten wieder bang umher; aber es war ringsum Nacht, tiefe schwarze Nacht. Habt ihr noch gar nicht von den Gespenstergeschichten in diesem Walde gehört? Auch sollen gewöhnlich sich hier Zigeunerbanden aufhalten.— Ich bat ihn hiervon zu schweigen, und wir setzten nun in Todesstille unsern Weg fort. Wir gelangten endlich in ein Tal, rings von wildem Gestrüpp umgeben. Plötzlich setzte unser Begleiter eine Pfeife an den Mund und ließ einen schrillen Ton hören. Wir sahen uns verdutzt an; aber auf einmal wurde es im Wald lebendig, hier und da leuchteten Fackeln auf, wild vermummte Menschen umschlossen uns beide im Kreis, die Besinnung verging mir und ich wußte nicht, was mit mir vorging. —

III.

Als ich erwachte, schwebten noch jene Schreckensbilder um mich, aber bald nahm ein belebendes, erheiterndes Gefühl die Oberhand — ich war noch in Pforta, es war der letzte Morgen, in zwei Stunden war ich schon in Naumburg. Der Morgensonne Strahl blitzte durch das Fenster und ich begrüßte freudig das himmlische Licht, das die trüben Gebilde der Nacht vertrieb.— Bald wanderte ich zu dem kleinen Pförtchen hinaus und warf noch einmal einen Blick des Abschieds auf die alten grauen Gebäude.— Dann trat ich in den grünen Wald ein. Wenn ich in das Heiligtum der Natur trete, da überrascht mich immer das Gefühl: Für uns ist all diese Herrlichkeit geschaffen, für uns erheben sich die hehren Schattengewölbe, für uns erglüht die Sonne, leuchtet der Mond und durch dieses Verhältniß erscheint mir die ganze Welt wie ein lieber Gefährte, mit dem ich meine Gedanken austauschen kann und den ich bitter beweine, wenn er von mir scheidet; aber ohne Scheiden ist kein fröhliches Wiedersehen; die Sonne muß in das Meer versinken, wenn sie am andern Tage wieder neues Leben ausgießen soll; unser Leben muß verblühen, wenn eine höhere geistige Auferstehung uns beleben soll. —

Als ich in Naumburg ankam, war viel Freude und Jubel; da nun der erste Freudenrausch vorüber war, unterhielten wir uns viel und besonders, wohin ich in den Ferien reisen würde. Endlich fiel ein Blitz mir durch die Seele; ich dachte, einen Onkel mußt du besuchen, den du noch nicht gesehen hast, wie der Traum mir angab. Nach Jena also, wo ein Verwandter Oberbürgermeister ist. In wenigen Tagen war der Entschluß zur Reife gediehen, die freundliche Einladung des Onkels da und fort ging's in Sturmessaus nach der Eisenbahn. Das dampfausspeiende Ungeheuer war schon da und ich hatte noch Zeit, in ein Waggon zu springen. —

IV.

Fort ging's nun im fliegenden Saus und die schöne Umgebung glitt wie ein Zauberbild vorüber. Ich liebe gewissermaßen das Eisenbahnfahren; obwohl man alle Bilder eben nur augenblicksweise kennenlernt, so ist ja unser Leben überhaupt nur eine flüchtige Durchfahrt ohne bleibenden Halt, und glücklich sind wir, wenn es sich so darbietet, in seiner schönsten Blüte. Im Wagen zu fahren ist mir zu unpoetisch; wenn man in den tiefsten Gedanken sich befindet, entsteht plötzlich ein Rüttern und Schüttern, daß der Kopf ganz verwirrt wird. Geht man zu Fuß, so wird oft ein erhabener Eindruck durch Gegenstände gestört, die man eben beim Spazierengehen findet.— Auch meine alte Pforta sah ich liegen, wünschte aber nicht dorthin zu fahren und vertröstete sie auf 4 Wochen. Die Rudelsburg lag bald vor uns und der alte Samiel winkte mit einem Tuche und forderte uns zum Besuche auf. Die Gegend ist dort wirklich wunderschön, das Thal wie ein Blumenteppich, auf dem sich eine silberne Schlange hinschlängelt. Die grauen Wächter der Vergangenheit blicken öde auf das neue Leben, das sich vor ihnen ausbreitet. In Apolda verließ ich den Wagen und bestieg den Omnibus. Unglücklicherweise war alles schon so besetzt, daß ich auf dem Bock allein noch Platz fand. Hier brannte nun mitunter (denn die Sonne wurde gewöhnlich mit Wolken verhüllt und durchbrach diese bisweilen), brannte sie so heftig, als wollte sie uns braten. So ist es auch in einem Herzen, das von allem Möglichen verhindert wird sich zu ergießen und dann stellenweise überwallt und die Ufer überschwemmt. Von der heißen Chausee wand sich der Weg zwischen zwei Bergrücken hin, die merkwürdig miteinander contrastierten. Der eine ist ganz mit Wald und Flur überdeckt, während der andere sich kahl und oede hinzieht. Die Höhe erhebt sich schon bis 1000 Fuß, während hinter Jena sich der Fuchsthurm bis zu 2000 erhebt. Bald sahen wir Jena vor uns liegen mit seinen Thürmen und Bergen. Mir wird jedesmal ganz gemüthlich, wenn ich die kleine, schöngelegene Universitätsstadt betrachte. Ich ließ mich zurecht weißen und fand die Wohnung meines Onkels. Die liebe Tante empfing mich sehr freundlich und ich fühlte mich ganz heimisch. Der Onkel, den ich noch gar nicht kannte, hat einen sehr liebenswerthen Charakter und hat mich in allem, worüber ich fragte, belehrt. Ueberhaupt erging es mir dort so wohl, und so interessant, so daß ich nicht wüßte, wo ich angenehmere Ferien verlebt hätte. Am ersten Morgen ging ich mit dem Onkel auf den Hausberg, auf dem Ziegenhain mit dem Fuchsthurm liegt. Ich lernte da Jena von einer sehr schönen Seite kennen; unter mir zog sich die Saale hin und umschloß theilweiße die Stadt, die mit ihren engen Straßen und hohen Häusern ein zwar alterthümliches, aber gemüthliches Aussehen hat. Darauf mußte der Onkel das Rathhaus besuchen, ich aber schlenderte noch in der Stadt herum, indem ich die Wohnungen berühmter Männer aufsuchte, was mir großes Vergnügen machte. Mittag gingen wir zur Badeanstalt und schwammen da in Begleitung eines Kahnes die Saale hinauf, was sehr anstrengt. Dann mundete auch das treffliche Mittagbrot vorzüglich. Den Nachmittag las ich gewöhnlich in des Onkels Bibliothek; ich fand da Novalis (dessen philosophische Gedanken mich interessirten), Geibel, Redwitz, mehrere Mustersammlungen, Schillers Gedichte, erläutert von Viehoff usw. Den Abend kam der Onkel wieder und dann machten wir zusammen Partien in die Umgebung. Da will ich zuerst die Kunitzburgpartie erzählen. Nachdem wir in der Wiese am Jensig vorübergegangen waren, erschienen bald die alten Trümmer jener Burg auf der Stirn des Berges. Da wir über den Weg übel berichtet waren, verloren wir bald den Weg und klommen mit unsäglicher Mühe aufwärts, indem wir uns an Sträuchern und Büschen festhielten. Endlich — endlich! Mir troff der Schweiß in Strömen hernieder und ich muß sagen, eine so große Anstrengung hatte ich wohl noch nicht ausgehalten. Man hat übrigens einen reichen Lohn für all' die Mühe. Ueber uns ging gerade die Sonne unter und im Thale wallten die Nebel auf und nieder. Es ist wunderschön, so in den Trümmern der Vergangenheit zu weilen. Von diesen morschen Fenstern blikten einst kühne Ritter in die Weiten und von hier aus überfielen sie die Kaufleute, die sorglos der Saale entlangzogen. Aber es ist schwer, sich auf den Standpunkt des Mittelalters zu versetzen, wir stellen uns das Leben immer übertrieben vor, entweder ideal romantisch oder als einen Abschaum von Faustrecht, Mord, Straßenraub. Wenn ich daran denke, erscheinen mir muthige Ritter, die für Cott und Ehre alle ihre Gegner in den Staub warfen, die bald mit der Guitarre süße Lieder durch die finstre Nacht erschallen lassen, bald im wilden Ungestüm die Welt durchstreifen und kühne Abentheuer aufsuchen.— Aus dem Mittelalter wurden wir aber durch einen berühmten Kunitzburger Eierkuchen recht vollständig der Gegenwart zugewendet, die dann auch wieder in ihre vollen Rechte trat, als wir den Abend uns recht müde und matt zur Ruhe legten. —

V.

Den Glanzpunkt meines Lebens in Jena bildete jedenfalls der Verkehr mit den Studenten. Hiezu kam ich auf folgende Weise. Mein Onkel ist als ehemaliger Stifter der Teutonia Ehrenmitglied derselben. Da nun einst ein Herr Oekonomierath ein altes Versprechen durch 4 Tonnen löste, wurde der Onkel mit zu diesem Fest eingeladen. —

— Die weitere Beschreibung muß ich jetzt unterlassen und etwas von meinem Leben in Pforta nachholen. Den Sonntag, den 3ten September, hatte ich mich mit Krämer von nach Tische bis 8 Uhr losgemacht. Es war sehr hübsch und gemüthlich in Naumburg, besonders für Krämer, der sein Examen glücklich bestanden hat. Es sind alle außer dem Extraneer Neumann durchgekommen; vorigen Sonnabend war die Entscheidung. Krämer erzählte uns, wie es allen durch Mark und Bein gegangen wäre und alle sonstige Freude vertrieben hätte. Um ½2 Uhr gingen dann alle Abiturienten in den Speisesaal, indem jeder zwei od[er] mehrere andre mit sich nahm. Ich kam auch zu dieser Ehre. Hier wurden unter andern die berühmten Abiturientenklöße gegessen. —

— Neulich war auch die Tante Ehrenberg mit der Mama bei Rektors. Ich führte sie überall herum. Wie sie fortfuhren, drückte mir die Tante noch einen Thaler in die Hand, was auch ganz angenehm war. —

— Montag war Extraneersatz. Es gab da zur Vesper zwei Gläser Wein und ein tüchtig Stück Kuchen. Auch alle Extraneer waren im Coenakel, eine Ehre, die ihnen nur eben hierbei, bei Carenen und bei den Abiturientenklößen zu Theil wird. —

— Mittwoch reisen unsre Abiturienten ab; bis dahin sind sie exlex, d. h. von allen Fesseln der Schulordnung entbunden. Sie führen da ein ganz gemüthliches Leben.— Wenn sie abgefahren sind, machen wir Sänger eine Partie nach der Rudelsburg, worauf ich mich sehr freue. Wir hatten Mittwoch der Abiturienten wegen Ausschlafetag. Um 9 Uhr war Ack[t]us im Betsa[a]l, in dem alle in kurzen Worten von der Schule Abschied nahmen. Ich glaube, nie ist die Stimmung im Coetus ernster als an diesem Tag. Da sieht man keine lachenden Mienen, denn ein jeder hat unter den allen wenigstens einen, dem er wahr zugethan ist. Um 1 Uhr erschienen zwei vierspännige Extraposten mit zwei Vorreutern. Die Postillione waren alle mit großen Stiefeln und ihrer bunten Uniform bekleidet, sie ergötzten alle durch ihr gutes Blasen und schlechte Witze; endlich erschienen die Abiturienten, die be[i] ihren Tutoren gespeist und Abschied genommen hatten. Sie waren alle sehr erregt; alles drängte sich um sie herum, die meisten sagten Adieux, Freunden und Näherstehenden durch Küsse und Umarmungen, den andern durch Händedruck. Es war ein sehr ergreifender Augenblick; vielen standen Thränen in den Augen, wie die Abgehenden noch den Coetus leben ließen und dann fortfuhren. Auch Prof. Buddensieg war durch den Fortgang seines Famulus sehr tief bewegt; er hatte viel geweint. — —

Um drei Uhr ging es dann auf die Rudelsburg. Der Weg und der Himmel war wunderschön und der Blick von der Rudelsburg in das Thal ganz bezaubernd. Mir konnte in dieser Umgebung gar keine Langeweile ankommen, so sehr auch einige darüber klagten. Wir sangen ziemlich viel vor der Menge von Fremden. Um ½ sieben begaben wir uns wieder zurück. Da eine große Anzahl von Damen mit zurückgingen, wurde noch wunderhübsch gesungen. Herr Prof. Korssen war ungemein lustig und ergötzte alle durch seine furchtbar schreiende Stimme und seine Witze. Wir kamen erst ¾ Acht zurück, zum Aerger aller anderen, die unterdessen im Kreuzgang von 7 an gewartet hatten.

Den Sonntag war ich in Almrich, obwohl ein heftig strömender Regen uns beinahe verhindert hätte. Um so angenehmer war es mir, daß ich auch die Tante Ida aus Pobles fand, die die Mama auf einige Tage besuchte. Sie begleitete mich auch, als meine Zeit um war, bis nach Pforta, und ich konnte ihr noch meine Stube und den Primanergarten zeigen. —

— Meinen Tristram Shandy habe ich bekommen. Ich lese jetzt den ersten Band und lese ihn immer wieder von neuem. Zuerst verstand ich das meiste nicht, ja sogar es gereute mich, ihn gekauft zu haben. Jetzt aber zieht er mich ungemein an; ich notire mir alle frappanten Gedanken. Mir ist eine so allseitige Kenntniß der Wissenschaften, eine solche Zergliederung des Herzens noch gar nicht vorgekommen. —

Hinsichtlich meiner Geldangelegenheiten stehe ich mich jetzt folgendermaßen: 15 Sgr. von dem Thaler kommen für jenes Buch nach Naumburg; von den anderen hebe ich mir 10 Sgr. auf zu jener Michaelisparthie, zu der ich mir übrigens noch 10 Sgr. von Prof. Buddensieg geben lasse. Ich will jetzt übrigens auch einige unnöthige Bücher verkaufen.—

— Ich will nun in der Beschreibung meiner Ferien fortfahren. Ich befand mich im letzten Cap[itel] noch in Jena und war eben im Begriff, mein Zusammentreffen mit Teutonen zu schildern.— Mit Studenten? Ja, ja, und sogar mit einer durch Trinken und Duellieren berüchtigten Verbindung. Etsi Plato meus amicus est, dh. obgleich ich sonst der kleinen Universitätsstadt zugetan bin, tamen veritatem ducem sequor, so geht es doch in Jena noch ziemlich wild her, obgleich es in früheren Zeiten noch schlimmer gewesen sein mag.

— Wer von Jena kommt ungeschlagen,
Der hat von großem Glück zu sagen! —
 
— — —

Da hatte ich einmal wieder rechten Unsinn geschrieben (an dem dieses Buch überhaupt reich ist). Ich habe die Blätter bei späterem Lesen herausgerissen. —

— Ich befinde mich jetzt in ganz anderer Lage als damals, wo ich das vorige geschrieben habe. Damals grünte und blühte noch der Spätsommer, jetzt — o weh — ist Spätherbst. Damals war ich Untertertianer, jetzt bin ich eine Stufe vorgerückt. Damals war noch Mama und Lisbeth in Naumburg, jetzt sind sie schon seit den Michaelisexkursionstagen in Gorenzen usw.

— Ich habe meinen Geburtstag erlebt und bin älter geworden.— Die Zeit vergeht wie die Rose des Frühlings und die Lust wie der Schaum des Baches. —

Mich hat jetzt ein ungemeiner Drang nach Erkenntniß, nach universeller Bildung ergriffen; Humboldt hat diese Richtung in mir angeregt. Wenn sie doch so beständig wie meine Zuneigung zur Poesie wäre!

Ich habe von der frühesten Kindheit an Steckenpferde gehabt. Das erste waren die Blumen und Pflanzen, die Hülle der Erde. Das habe ich indes nur durch Traditionen gehört.— Dann kam die Liebe zur Baukunst (natürlich hauptsächlich auf Baukasten gegründet), die ich in allen Formen ausgebildet habe. Noch sehr klein, erinnere ich mich während der Kirchzeit in Röcken eine kleine Kapelle gebaut zu haben. Später wurden dies prachtvolle Tempel mit mehreren Säulenreihen, hohe Thürme mit gewundenen Treppen, Bergwerke mit unterirdischen Seen und innerer Beleuchtung und endlich Burgen, die zugleich mit meiner dritten Liebe zum Kriegswesen, angeregt vorzüglich durch den großen russischen Krieg. Zuerst wurden Belagerungsmaschinen erdacht (ich habe ein Büchlein über Kriegslisten geschrieben), Bücher über Militärund Seewesen angeschafft, große Pläne zur Ausrüstung eines Schiffes gemacht, zahlreiche Schlachten und Belagerungen vollzogen, bei denen mit brennenden Pechkugeln geschleudert wurde, und dies alles waren eigentlich nur Mittel zu einem großen Zweck, zu einer großen Völkerschlacht, die aber in den Rüstungen dazu endete. Die Liebe zum Soldatenwesen zeigte sich auch schon im Anfertigen eines großen militärischen Generallexikons; aber das Ende war Sebastopols Untergang. Aber ein sogenanntes Theater des arts führte mich auf Bühnenwesen; wir versuchten selbst etwas zu dichten und aufzuführen, zuerst die Götter im Olymp. Zugleich begann bei mir die Neigung zur Poesie, schon im neunten Jahre, kleine Versuche wiederholten sich jährlich. Im 11ten Jahre trat die Neigung zuerst zur Kirchenmusik und endlich zu eigener Komposition; die Ursache habe ich anderswo angegeben; auch die Liebe zur Malerei stammt aus dieser Zeit, hervorgerufen durch die jährlichen Gemäldeausstellungen.— Diese Neigungen folgen nicht unmittelbar aufeinander, sondern sind ineinander verwoben, daß es unmöglich ist, Anfang und Ende zu bestimmen. Nun kommen noch spätere Neigungen zur Literatur, zur Geologie, zur Himmelskunde, Mythologie, deutschen Sprache (althochdeutsch) usw. hinzu, so daß folgende Gruppen entstehen:

1. Naturgenuß a) Geologie
b) Botanik
c) Himmelskunde
2. Kunstgenuß a) Musik
b) Poesie
c) Malerei
d) Theater
3. Nachahmungen des Handelns und Treibens a) Kriegswesen
b) Baukunst
c) Seewesen
4. Lieblingsneigung in den Wissenschaften a) guter lateinischer Stil
b) Mythologie
c) Literatur
d) deutsche Sprache
5. Innerer Trieb zu universeller Bildung umfaßt alles andere und fügt vieles Neue hinzu
Sprachen
1. Hebräisch
2. Griechisch
3. Lateinisch
4. Deutsch
5. Englisch
6. Französisch usw.
Künste
1. Mathematik
2. Musik
3. Poesie
4. Malerei
5. Plastik
6. Chemie.
7. Architektur usw.
Nachahmungen
1. Militärische Wissenschaft
2. Seewissenschaft
3. Kenntniß der verschiedenen Gewerbe usw.
Wissen
1. Geographie
2. Geschichte
3. Literatur
4. Geologie
5. Naturgeschichte
6. Alterthum usw.
und über alles Religion, die Grundveste alles Wissens! Groß ist das Gebiet des Wissens, unendlich das Forschen nach Wahrheit!

— Die Schillerfeier in Pforta. —

Den 8. 12. 1859

Der hundertjährige Geburtstag Schillers hatte bei allen Verehrern des großen Deutschen den Wunsch einer allgemeinen Gedächtnißfeier angeregt. Und nicht nur die Gebildeten, nein, auch die untern Stände des Volkes nahmen lebhaft an diesem Nationalfeste Antheil. Über die Grenzen Deutschlands hinaus war das Gerücht hiervon gedrungen; fremde Länder, ja ferne Erdtheile trafen großartige Vorbereitungen zu diesem Tage, so daß man wohl behaupten kann, daß noch kein Schriftsteller ein allgemeineres Interesse hervorgerufen hat, als Schiller. Aber wodurch konnte man den Dichter würdiger feiern, als durch die Aufführung seiner hohen Werke? Was vermöchte uns mehr an ihn zu erinnern, als seine eignen Geistesprodukte, der Spiegel seines großen Geistes? Und so wurden auch an diesem Tage in allen Schauspielhäusern nur schillersche Stücke gegeben, in geschlossenen Gesellschaften vorzügliche Scenen aus seinen Dramen aufgeführt, ja fast in jedem Hause wurde er auf irgendeine Weise gefeiert; ein Band aber schlang sich um alle Herzen, das Band der Liebe und Verehrung für den großen Toten. Auch Pforta wollte nicht hinter den allgemeinen Bestrebungen zurückbleiben: schon lange Zeit vorher waren Vorbereitungen zu diesem Tag getroffen. Am Mittwoch fand eine Vorfeier im Turnsaal statt, der hierzu festlich ausgeschmückt war. Eine große Menschenmenge hatte sich in ihm versammelt; der Name "Schiller" schwebte auf aller Munde, und aller Augen auf seiner lorbeerbekränzten Büste. Zuerst wurden die Piccolomini von den Primanern gelesen; die Rolle des Wallenstein hatte Herr Prof. Koberstein übernommen.— Eine hehre Heldengestalt trat vor unsre Augen, die sich kühn über die beengenden Verhältniße des Lebens hinwegsetzt, einem Ziele nur nachstrebend, das in des Herzens tiefsten Grunde verborgen liegt und alle Handlungen lenkt und leitet. Um sie eine Schar von Feldherrn; die einen in feiger Selbstsucht die Heldengröße ihres Herrn verkleinernd, die andern treu ihm allein ergeben und für sein Wohl wie um das ihrige besorgt. Diesen gegenüber erscheint ein kaiserlicher Hofmann, in allen Schlichen und Redekünsten gewandt, aber doch an der gewaltigen Majestät Wallensteins scheiternd. Und nur ein Schiller konnte uns in so klaren Umrissen den großartigen Charakter dieses Helden vorführen, der über seine Zeit erhaben stolz auf alles Niedrige niederblickt. —

Den zweiten Theil der Vorfeier bildete die Aufführung der Glocke, componirt von Romberg. Dieses edle Werk versetzte uns durch die Gewalt der Töne in all die Situationen und Lebensbilder, die die Glocke vor uns aufrollt. Wir gerieten in Angst bei der Verwirrung der Feuersbrunst, wir trauerten mit bei den ernsten Klagegesängen, wir wurden erschreckt über die wilden Melodien der Revolution, bis sich unsre Gemüther wieder in der Milde der Friedenschöre beruhigten. Kaum waren die letzten Töne verklungen, da betrat Herr Prof. Koberstein die Bühne und beschloß mit dem edlen Epilog Goethes die Vorfeier. —

Am folgenden Tage fielen die Lektionen der Feier wegen aus. Um zehn Uhr war wiederum Aktus im Turnsaal, der mit zwei schillerschen Chören "Frisch auf, Kameraden" und "Freude, schöner Götterfunken" begann. Gedichte einiger Primaner zu Ehren Schillers wechselten nun mit Arien und Balladen ab, bis endlich Herr Prof. Koberstein die Bühne betrat und die Festrede hielt. Er vergegenwärtigte uns in derselben die Zeit vor Schillers Auftreten und entwickelte dann seine literarische Wichtigkeit für die deutsche Nation und schloß endlich mit dem Gedanken "dieses Nationallest sei ein bedeutsames Vorzeichen für das wiedererwachte deutsche Nationalgefühl, und man könne an diese Feier schöne Hoffnungen für die Zukunft knüpfen." —

Nach dem Festessen war dann allgemeiner Spaziergang bis drei Uhr. Die folgenden Stunden verbrachte jeder mit Lesen von Schillers Werken usw. bis endlich Tanz bis 10 Uhr die Feierlichkeiten beschloß. Die Primaner indessen vergnügten sich bei einem Ball noch bis spät in die Nacht hinein. Der folgende Morgen führte uns wieder in das Gleis des gewöhnlichen Lebens: ein hoher und edler Gedanke war aber allen geblieben, nämlich den Manen Schillers ein würdiges Totenopfer gebracht zu haben. —

Meine Ferienreise.

Nietzsche.

Pforta 1860. Hundstage.

Früh um drei Uhr standen wir auf; der Morgen war kühl, düster, man konnte einen Regen vermuten. Schweigend gingen wir durch die Felder, manchen Blick noch auf das liebe Haus zurückwerfend, das hinter uns lag. Der Himmel wurde immer trüber, immer umwölkter; als wir über die Saale fuhren, fielen die ersten schweren Tropfen. Schon lag der Eisenbahndamm vor uns, noch zehn Minuten und wir sind da. Es regnet heftig; mit hastigen Schritten geht es vorwärts.

Ein dröhnendes Geräusch; donnernd rasselt der Zug an uns vorüber.

Atemlos kommen wir an; der Bahnwärter winkt uns zu eilen; wir nehmen Platz; der Zug setzt sich in Bewegung. Wunderbar, wir waren ganz durchnäßt und ganz mit Schweiß überdeckt; aber ohne Schaden ging alles vorüber. Merseburg lassen wir seitwärts liegen; in Halle machen wir Halt. Ich war über die Veränderung erstaunt, die in dieser Stadt innerhalb weniger Jahre stattgefunden hat; nette, moderne Häuser und Läden überall, wo früher jene schwarzen, langgegiebelten Gebäude mit den hohen Eingangstreppen waren. Ein kleines Geschäft, das den Onkel noch verhinderte, wurde bald abgemacht; dann begaben wir uns auf die Post und ließen uns einschreiben. Nach kurzer Zeit fuhr der Postwagen vor, wir stiegen ein und fort ging's nach Eisleben. Der Himmel hatte sich aufgeheitert. Lange glänzende Strahlen lagen auf den weiten Feldern, dazwischen schwebten die flüchtigen Schatten eilender Wolken. Lange Zeit verweilte unser Auge auf der Irrenanstalt, an die sich so leicht eine traurige Gedankenkette knüpft. Das lange, weiße Gebäude tritt seltsam aus dem hellen, frischen Grün hervor, das sich rings hinzieht. Dann wurde die Straße eintöniger; hier und da ein Blick auf die öde Heide, sonst alle Felder grün, weiß, gelb in ewiger Abwechslung. Ich begann meine Reisegesellschaft zu mustern. Neben mir saß ein Mann, der, zufrieden mit allem, wie es schien, gutmütig zu allem lächelnd nickte, was sein Nachbar sagte. Dieser hingegen war in fortwährender Aufregung; der Fluß seiner Rede konnte durch nichts gedämmt werden. Er verbreitete sich hauptsächlich über seine eignen Güterangelegenheiten; ein Mann von Geld, aber ohne Bildung. Charakteristisch war, daß er fortwährend von Minister B..... H..... sprach, hie und da heftig auf ihn losfuhr, dann aber allemal hinzufügte: "Trotzdem ist es doch ein ganz vorzüglieber Mann, der B. H., was der Mann nicht für ein leutseliges Gemüth hat!" [....]

[....]

Um 4 Uhr bestiegen wir wieder die Post. Der Weg führte nach Mansfeld zwar in ewigen Umwegen, so daß wir uns fast im Kreise bewegten, aber doch endlich zum Ziele. Die Burg selbst wird von dem neuen Besitzer, dem Herrn v. d. Recke aufs glänzendste restauriert. Wir hatten das Vergnügen, mit dem "hohen, edlen" Herrn zu reisen; er unterhielt sich auf das liebenswürdigste mit uns. Der Onkel, dessen Patron er ist, ist auch voll seines Lobes auch in bezug auf seine ganz christlichen Grundsätze.— Auch in Mansfeld hielten wir uns nicht auf. Je näher ich kam, desto reger wurde meine Erwartung. Wir gingen dann zu Fuß; die Gegend wurde immer schöner. Je höher wir stiegen — und der ganze Weg ist beinahe ein beständiges Aufsteigen — um so dichter kamen wir in den Wald. Dazwischen wieder lichte Stellen — zur Seite ein lang sich dahinstreckender Berg mit dem wundervollsten Grün, in den Tälern fruchtbare Felder, dahinter blaue Bergketten. Endlich ragte der Turm aus der Ferne hervor. Wir trafen einzelne Männer aufs eifrigste mit Holzhacken beschäftigt. Sonst alles dichter, grüner Wald.

Ein Schritt — und wir standen plötzlich im Dorf und nach wenig Augenblicken im Haus des lieben Onkels. Freudig, jubelnd empfing uns die alte Haushälterin, eine Naumburgerin. Wir waren beide etwas ermattet, ein kräftiges Abendbrot stärkte uns wieder. Von Anfang an war mir hier gleich so heimisch, wie noch nirgends. Nach dem Abendbrot begann der Onkel auch auf seinem Aeolodicon zu spielen. Goldenklar begann ein zarter Ton, im reinsten Wohlklang folgten andere und plötzlich schwoll die Harmonie in wundervoller Weise an. So ernst, so erhaben, so ganz dem innersten Gefühl entquollen, strömte eine mächtige Tonfülle in den reinsten, kirchlichen Typen.

Am Abend sangen wir noch ein geistlich Lied zusammen, wozu die Haushälterin des Onkels herbeikam. Dann hielt der Onkel die Abendandacht. Diese schöne Sitte wurde nie hier vernachlässigt. —

Den andern Tag verbrachte ich immer noch ausruhend; der Onkel führte mich in seiner ganzen Besitzung herum. Das Haus selbst ist einfach, aber geräumig, mehrere große Stuben, Kammern, Küche, Keller, Boden. Ein Hof mit mehreren Gebäuden, Scheune und kleinem Gemüsegarten, den sich der Onkel selbst angelegt hat. Ein Brunnen mit sehr schönem frischem Trinkwasser. Einige Schritte entfernt liegt der große Baumgarten, ein gleichseitiges Rechteck von ungeheurer Dimension. Die mannigfachsten Baumarten, Fruchtbäume, dazwischen Gemüseanpflanzungen. Den vierten Teil nimmt der Blumengarten ein; die kleine von Gebüsch umgebene Laube habe ich sehr oft aufgesucht.— Das ganze Leben hier war höchst gemütlich und einfach. Ich hielt mich oben oft in der großen Stube auf, während der Onkel unten arbeitete. Treffliche Bücher fand ich hier, später bekam ich auch eigne Bücher nachgeschickt. Beständig habe ich mich auf das angenehmste beschäftigt. Mancherlei geschrieben und komponiert.— Viel auch spielt ich auf dem reizenden Aeolodicon, ein Vergnügen, das ich nicht sattbekommen konnte. —

Den folgenden Tag bekam ich vor Mittag einen Brief von meinem Freund W. Pinder. Durch Umstände verhindert mit mir in Korbetha zusammenzutreffen, wollte er doch noch nachkommen, eine Nachricht, die mich sehr erfreute. In der Hoffnung, ihn den Nachmittag auf der Post in Mansfeld zu finden, ging ich hin, ihn abzuholen. Aber ich hatte mich getäuscht; er kam nicht. Und so kehrte ich allein durch die schönen Wälder zurück. —

Sonntag war's. Der Onkel war den ganzen Morgen noch sehr fleißig. Ich sah ihn erst unmittelbar vor dem Kirchgang. Die Kirche ist klein, aber sehr nett ausgeschmückt; der Besuch war immer recht zahlreich. Aber was für eine wunderschöne Rede hielt der Onkel! Welche Kraft in dieser Predigt! Wie nachdrücklich war jedes Wort! Ich erinnere mich fast noch jedes Gedankens, den der Onkel aussprach. Er sprach über die Versöhnung, anknüpfend an das Wort: Wenn du deine Gabe zum Altare bringst, so versöhne dich zuvor mit deinem Bruder. Es war den Tag gerade Kommunion; gleich nach der Predigt traten die zwei Amtleute des Dorfes vor, gebildete Männer, aber von jeher einander feind, und versöhnten sich, indem sie sich gegenseitig die Hand reichten. Das heißt doch ein Erfolg! Ich blieb nach der Predigt mit dem Onkel noch zurück; denn es war noch eine Taufe. Der Herr Kantor kam herunter und begrüßte uns. Welch ein lieber Mann! Eine lange gerade Gestalt, schmal, etwas eingefallen, aber noch sehr rüstig, mit dem freundlichsten Gesicht, der ruhigsten, zufriedensten Miene. Dabei so bescheiden, so still, daß man von Tag zu Tag ihn lieber gewinnt. Der Onkel lud ihn mit zu Mittag ein. Nach Tische beratschlagten wir, wohin wir unsre Blicke wenden sollten. Um drei gingen wir fort, fortwährend im dichten grünen Hochwald. Welchen erhabnen Eindruck macht nicht so ein Waldspaziergang! Plötzlich traten wir in das Freie heraus und sogleich weitet sich die Aussicht. Ein liebliches Gemälde bietet sich uns dar. Wir standen auf einem Bergrücken, von Heidekräutern bewachsen; vor uns breiteten sich goldene Gefilde, die Güldne Auen, vor allen trat Sangerhausen mit seinen Türmen deutlich hervor. Weiter dahinter der Kyffhäuser und ganz am Horizont die blaue Kette des Thüringer Waldes. Berg und Tal, Wald und Feld bildeten eine lebendige, farbenreiche Landschaft. —

Längere Zeit verweilten wir hier. Dann ging es auf einem andern Wege wieder nach Hause zurück. —

Den folgenden Tag erhielt ich wieder einen Brief von W., der mich sehr froh machte. Der Regen, der ihn gehindert hatte, am bestimmten Tage einzutreffen, hatte ihm doch nicht die Lust genommen und so wollte er den Nachmittag kommen. Wir sandten einen Knaben nach Mansfeld, wir aber beschlossen, am Abend ihm entgegenzugehn.— Auf der Hälfte des Weges trafen wir ihn und freuten uns sehr, uns wiederzusehn. Der ganze Tag verging unter fröhlichen Gesprächen. —

Auch der Dienstag verfloß wieder höchst angenehm; den Nachmittag machten wir einen wunderhübschen Spaziergang zusammen. Erst brannte die Sonne sehr; endlich kamen wir aus dem freien Felde in frische lebende Wiesen und dann in den kühlen Wald. An einer Köhlerhütte machten wir halt. Der ganze Bau interessierte mich, da ich einen ähnlichen noch nie gesehen hatte. Auf einem größern Kreise waren Baumstämme eingerammt, so, daß die Spitzen zusammenkamen und das Ganze die Gestalt eines Giebels hatte. Darüber war dann Erde und Rasen geworfen, so daß sie gegen Regen und Wind fest genug war. In der Hütte selbst waren einige Bänke, sonst schien sie längere Zeit unbewohnt zu sein. In der Nähe fanden wir auch mehrere Meilerstätten. Den Brand anzusehn war mir nicht vergönnt; es war wohl nicht die passende Jahreszeit. —

Endlich traten wir aus dem Wald und befanden uns auf einem ziemlich steilen Abhang, vor uns die blauen Berge des Harzes. Mit dem Fernrohr besichtigten wir die Höhen; ich konnte das Kreuz auf der Josephshöhe erkennen, dann zeigte sich auch Viktorshöhe und der Brocken alles sehr schön und deutlich. Wie gern versetzt man sich über die wenig Meilen hinweg, die uns noch von einem Lieblingsort trennen! Das Auge sieht erst die Stätte von weitem, der Geist aber weilt längst auf ihr und genießt, obschon ihm der träge Körper nicht folgen kann. —

Den folgenden Tag sahen wir endlich den schönsten Punkt, den die nächste Gegend hat, die Rammelsburg. Da der liebe Onkel zurückblieb aus Sorge für die Haushälterin, die krank geworden war, so war der Herr Kantor mit seiner gewohnten Freundlichkeit sogleich bereit uns zu führen. Beinah schien das Wetter uns ungünstig zu werden. Ein brodelndes, dumpfes Gewitter schwebte über unsern Häuptern hin. Wir ließen uns aber nicht abschrecken, sondern suchten die geradesten Wege auf, um so bald als möglich hinzukommen. Zur Rechten zogen sich dicht bewaldete Höhen hin, die in dem schönsten Blau sich verloren, vor uns ein durchrieseltes Wiesental, angrenzend an einen düsteren Forst. Wir gingen hindurch; der Weg führte aufwärts, endlich sahen wir ein niedliches Haus, das Schweizerhäuschen genannt, vor uns stehen. Wir eilten auf dasselbe zu, hielten uns aber die Augen zu bis wir auf der Galerie desselben waren und die ganze Gegend vor uns hatten. Welch reizend Schauspiel! Vor uns die Rammelsburg auf einem bewaldeten Berge liegend, niedriger als wir, rechts und links überall Höhenzüge voll dichter Forsten, die sich übereinander erhoben und deren Grün den angenehmsten Eindruck auf mich machte. Dahinter die blauen Harzberge. Man kann sich eine Waldlandschaft nicht reizender denken. Der liebliche Gegensatz von Berg und Tal, das alte Schloß, der Duft, der auf den Wäldern schwebte, endlich der blaue Himmel, der darüber so still, so friedlich ruhte. Im Tale tönte das Geplätscher der Bode, sonst alles still, ohne Geräusch. Wir waren ganz in den Anblick vertieft; im stummen Entzücken standen wir da, wie traulich ist doch die Waldeinsamkeit!— Oben fand ich an den Wänden des Hauses einen Vers aus Amaranth angeschrieben, der ganz diesem Gefühl entquollen zu sein schien. Auch die Namen der Mama und Liesbeth fand ich wieder, die sich vor einem Jahre hier angeschrieben hatten. Ich schrieb den meinigen hinzu. Wohl eine Stunde weilten wir hier. Dann führte uns der Herr Kantor auf unsern Wunsch hin nach der Rammelsburg. Um keine Umwege machen zu müssen, stiegen wir gerade den Weg hinunter, überschritten den lebendigen, forellenreichen Waldbach und stiegen auf der andern Seite wieder hinauf. Noch mehrere romantische Partien sahen wir; so standen wir plötzlich an einem Abhang, der, ähnlich der Roßtrappe uns mit Staunen und Schrecken erfüllte. Das Lieblichste auf dem ganzen Wege aber sahen wir oben. Das ganze Bodental mit seinem grünen Teppich, die grünen duftigen Bergketten zu den Seiten, am Fuß des Berges einzelne Häuser, die zu Rammelsburg gehörten, der Bach, der silbern das Grün durchschlängelte und weit in der Entfernung mit Wald und Wiese verschwamm, das alles deuchte mir der lieblichste Anblick, den ich je gesehn hatte. Wir ruhten hier oben noch etwas aus, dann begannen wir den Rückweg. Der Herr Kantor erzählte uns aus seinem Leben, besonders aus den Jahren 1813-15, die angenehmsten Geschichten. Wie leid tut es mir, daß ich eine wunderhübsche Geschichte von einem Schillschen Jäger beinah wieder vergessen habe! Am Abend aßen wir wieder zusammen, der Onkel war sehr heiter und er erzählte uns allerlei lustige Sachen.

Es regnete die Nacht etwas; den Morgen kam der Herr Superintendent von Boneckau, um die Schule zu revidieren. Wir begaben uns in den Garten, wo wir uns über die Kirschbäume hermachten, ein Geschäft, das wir überhaupt sehr eifrig betrieben haben. Der Herr Superintendent war mit bei Tische, lud uns auch ein, mit ihm nach Mansfeld zu fahren, aber der Onkel schlug es aus. Den Nachmittag gingen wir nach dem Knochenbrunnen, der mitten im Walde aus einem Abhange quellend, kleine Knöchlein mit sich führt. Wir sammelten mehrere, und ich versuchte, dies auf das sonderbarste zu erklären; es wird aber wohl so sein, wie ein Förster gesagt hat, daß es Knochen von Fröschen sind, die sich im Winter hier verkrochen haben und umgekommen sind, die dann von den strömenden Fluten mit herausgespült werden. Der Weg war etwas feucht. —

Der folgende Tag führte uns nach einem neuen Punkt der Waldfeste Grillenburg. An der Luke vorbei führte der Weg durch einen wunderschönen Tannenwald, verlor sich dann etwas im dichten Gebüsch, tauchte dann aber wieder an einer sonnigen, erdbeerreichen Stelle auf. Dann ging es etwas abwärts, dann wieder empor und plötzlich standen wir vor einer wunderschön gelegenen Burg. Wir stiegen sogleich auf den höchsten Teil der Mauer und ergötzten uns an den schönen Wäldern, die sich in den schönsten Farben vor uns ausbreiteten. Nach rechts war der Blick freier. Ein nettes Dorf lag zu unsern Füßen. Dahinter lag die Goldne Aue. Den Horizont begrenzten die Höhen des Thüringer Waldes. Der Onkel erzählte uns folgende Geschichte, die darauf bezüglich ist. Die Herren der Grillenburg hatten einst die Braut eines Grafen von Mansfeld entführt. Letzterer, untröstlich über den Verlust, verkleidete sich als Troubadour und besuchte alle Burgen der Umgegend, indem er immer ein Lied wiederholte, das, wie er wußte, seine Geliebte recht wohl kannte. Endlich kam er auch zur Grillenburg; vor der Mauer begann er traurig seinen innigen Gesang. Da antwortete ihm plötzlich eine bekannte Stimme und fiel leise in dieselbe Melodie ein. Der freudig überraschte Sänger eilte nach Mansfeld zurück, überfiel bei Nacht die Grillenburg mit seinen Mannen, und als schönste Beute brachte er seine Geliebte mit. —

Der folgende Tag; es war Sonnabend; ist berühmt, weil an ihm der Beschluß zu unsern monatlichen Sendungen und zu der gemeinschaftlichen Kasse gefaßt wurde. W. und ich waren in den Wald gegangen; hier setzten wir uns etwas hin und beratschlagten darüber. Der Plan erstreckte sich zuerst nur auf Poesie und Wissenschaft. Musik war noch ausgeschlossen. Über einzelne Forderungen und Bedingungen entstand ein Streit. Endlich schwiegen wir mißmutig und gingen schweigend zurück in den Garten des Onkels. Hier endlich löste sich unsre Zunge; beide Teile waren nachgiebiger geworden.— An diesem Tag soll nun jährlich ein Fest gefeiert werden, und zwar auf der Rudelsburg, wozu jeder irgendeinen Beitrag schriftlich einliefern muß, dies wird dann oben auf dem Turm vorgelesen. —

Das Ende unsres Aufenthaltes nahte heran. Es war wiederum Sonntag, und Dienstag wollte der W. so durchaus wieder fort.— Den Vormittag hörten wir wieder eine herrliche Predigt. Mittag war wieder der Herr Kantor zu Tisch eingeladen. Nachdem wir in der Betstunde gewesen waren, wo der Onkel die Kinder katechisierte, gingen wir alle vier zusammen etwas spazieren. Wir suchten heute die Überreste eines verwüsteten Dorfes auf. Dichter Wald und Gebüsch bedeckte die Stätte, so daß man kaum durchdringen konnte. Man erkannte noch die Lage des Kirchhofs; sonst waren alle Trümmer dicht bewachsen und unerkennbar. Dann suchten wir Erdbeeren und fanden auch eine ziemliche Menge. Zu Hause zurückgekehrt, beschlossen wir den Tag unter heiteren Gesprächen. Ich möchte gern noch mehreres von den hübschen Erzählungen, die uns der Onkel mitteilte, anführen; aber wie leer kommt mir alles Geschriebene vor, im Gegensatz zu dem lebendigen, mündlichen Wort! Wenn uns jemand eine Geschichte erzählt, so knüpft sich sogleich ein persönliches Interesse daran; wenn dieses aber fehlt, so erscheint uns manches sehr unbedeutend und nichtig. —

Der folgende Tag war ein Packtag. Der Onkel war von vormittags zehn bis vier nachmittags abwesend, und zwar bei einem benachbarten Geistlichen, dessen Geburtstag war. Wir verbrachten diese Zeit, da wir der Einladung des Onkels, mitzukommen, nicht Folge leisteten, unter Abschreiben von schönen Gedichten und Volksliedern, die wir noch nie gesehn hatten, oder mit Aeolodiconspielen und Lesen. Den Nachmittag besuchten wir noch den Herrn Kantor, um von ihm Abschied zu nehmen. Er war wieder so außerordentlich freundlich. Dann wollten wir noch dem Onkel entgegengehn, aber kaum waren wir fort, so trafen wir ihn. Den ganzen Abend verbrachten wir noch sehr angenehm, indem uns der Onkel Abenteuer aus seinem Leben erzählte, die er meistenteils auf Reisen erlebt hatte; wir waren immer sehr gespannt. —

Endlich war der traurige Dienstag herangekommen, wo wir Gorenzen verlassen wollten; ich war sehr betrübt und wäre gar zu gern noch ein paar Tage dageblieben. Aber es mußte nun einmal geschieden sein! —

Wir standen etwas zeitig auf, tranken Kaffee und frühstückten und machten uns dann nach vielem Abschiednehmen auf den Weg. Der Onkel begleitete uns noch ein ziemliches Stück. Dann schied er von uns; mir wurde sehr traurig zumute. Die wenigen Worte des Dankes, die ich ihm sagen konnte, waren für all die Freude, für all diese herrlichen Stunden so unzureichend. Und gerade jetzt, wo mir das großväterliche Haus auf immer geschlossen ist, war mir ein so lieber Ort so wohltuend, so beglückend. —

Der erste Teil des Weges war wunderschön. Bald in den prachtvollsten Wiesen, auf denen noch der Morgentau blitzte, bald durch die dunkelsten Tannenwälder, in ewigem Wechsel. Wie oft schauten wir wehmütig auf die herrliche Gegend zurück! —

Wir eilten jetzt den Ebenen unsres Vaterlandes immer mehr zu; das merkten wir an dem beständigen Herabsteigen. Ein weißer Nebelfleck leuchtete lange am Horizonte; es war der Süße See. Bald winkten uns von fern die Türme von Eisleben. Die Sonne brannte etwas, ich wünschte sehr bald dort zu sein. Auf der Post besorgten wir sogleich unser Gepäck, begaben uns dann in einen Gasthof und nahmen hier etwas zu uns. Dann gingen wir zum Lutherhaus, geführt von einem ehrbaren Handwerker. Ein Seminarist empfing und führte uns zuerst in einen Saal, wo sehr viele Andenken an Luther waren. Handschriften, Bilder von Lucas Cranach, sämtliche Kurfürsten von Sachsen, der Schwan Luthers und andres unzählige. Ein Zimmer daneben enthielt sehr wertvolle alte Gemälde, den Untergang der Welt, den Kreuzestod Jesu, die Auferstehung, mehrere darunter von Lucas Cranach, sonst auch von andern berühmten Meistern. Dann gingen wir die Treppe herunter und traten in die Stube, wo Luther geboren war, wiederum mit vielen Bildern ausgeschmückt. Wir hatten nicht lange Zeit, drum trennten wir uns bald wieder und besuchten noch den Herrn Oberpfarrer Jahr, den ehemaligen Superintendenten von Naumburg. Er nahm uns auf das freundlichste auf und war überrascht, als wir nach einem Halbstündchen schon wieder aufbrachen, lud uns auch zu einem längern Aufenthalt sehr liebenswürdig ein. Sein Sohn, der Primaner, begleitete uns zur Post. In kurzem fuhren wir ab. Mir war es den ganzen Tag sehr unwohl. Auf der langweiligen, staubigen Chaussee wurde es immer schlimmer; ich versuchte zu schlafen, wachte aber immer zu bald wieder von dem lauten Geschwätz meiner Umgebung auf. Besonders zeichnete sich hierin ein junger Reisediener aus, ein gutmütiger Leichtfuß, der trotz seiner beständigen Reisen noch nicht erkannt zu haben schien, daß das Leben auch nur eine Reise sei, aber nach einem ewigen Ziel.— In Halle stiegen wir ab. Mein Freund besuchte noch Verwandte, ich aber ließ mich von einem Jungen, der mein Gepäck trug, auf den Bahnhof führen. Nach unseligen Umwegen kam ich dorthin, ging dort in das Hotel zur Eisenbahn und suchte dort durch Lesen und Essen meine Mißstimmung zu vertreiben. Um sechs begab ich mich auf den Bahnhof selbst, wurde hier noch recht in Schrecken gesetzt, indem mir jemand versicherte, der Zug nach Naumburg wäre schon da. Endlich kam mein Freund, nach längerm Warten auch der Zug, und fort ging's nach Naumburg. Als wir dort um ½9 Uhr ausstiegen, begann es tüchtig zu regnen. Wir waren sehr froh, als wir zu Hause glücklich anlangten und ein jeder seine matten Glieder und den verstimmten Geist durch einen ruhigen Schlaf erquicken konnte. Somit war diese Reise geendet, in vieler Beziehung die angenehmste, die ich seit längerer Zeit gemacht habe. Schade nur, daß mir der letzte Tag der Zurückreise so unangenehm verging! Den andern Tag schrieb ich sogleich noch mit meinem Freund an den Onkel, indem ich mich noch viele Mal bedankte und meine Zurückreise erzählte.— Was soll ich noch anfügen? Meine Aufgabe ist gelöst, mein Ziel erreicht.

Mein Lebenslauf.
[Mai 1861]

Die verflossene Zeit des Lebens zu überschauen, und Gedanken an die wichtigsten Ereigniße desselben anzuknüpfen, kann und darf niemandem uninteressant sein, dem seine eigne Sitten- und Geistesentwicklung am Herzen liegt. Denn wenn auch die Keime zu den geistigen und sittlichen Anlagen schon in uns verborgen liegen und der Grundcharakter jedem Menschen gleichsam angeboren ist, so pflegen doch erst die äußern einwirkenden Verhältniße, die in bunter Mannigfaltigkeit den Menschen bald tiefer, bald flüchtiger berühren, ihn so zu gestalten, wie er als Mann sowohl in sittlicher als geistiger Beziehung auftritt. Günstige Lebensverhältniße können deshalb, ebenso wie unglückliche, sich sowohl nützlich als schädlich zeigen, je nachdem die verschiedenen Keime zu bösen und guten Neigungen dadurch geweckt werden. Wie oft doch preisen die Menschen die Reichen, Berühmten, überhaupt vom Glück Begünstigten glücklich und wie oft verwünschen nicht gerade jene ihre Lebensstellung, die sie in Laster und Gemütsunruhe gestürzt habe und Neigungen, die ihre Lebensfreude aufzehren, in ihnen erweckt habe. Wofern diese Anschuldigung des Schicksals gerecht ist, wofern überhaupt alle die ihm gemachten Vorwürfe billig sind, so muß diese austeilende Macht entweder blind oder das Prinzip der Ungerechtigkeit sein. Es ist aber ebenso undenkbar, die höchsten Interessen des Menschengeschlechts in die Hände eines gedanken- und unterscheidungslosen Wesens zu legen, als einem urbösen Etwas anzuvertrauen. Denn ein abstraktes, ungeistiges Schöpferisches kann ebensowenig wie ein urböses Wesen unsre Geschicke leiten, da im ersten Fall das Geistlose nicht existieren kann — denn alles, was ist, lebt — im zweiten Fall der dem Menschen angestammte Trieb zum Guten unerklärbar wäre. Es gibt in allem Geschaffnen Stufenleitern, die sich auch auf unsichtbare Wesen erstrecken müssen, wenn nicht die Welt selbst die Urseele sein soll. So bemerken wir einen Fortschritt des Lebens, ausgehend vom Stein, überhaupt dem scheinbar Festen, Starren, fortschreitend zu Pflanzen, Tieren, Menschen und auslaufend in Erde, Luft, Himmelskörper, Welt oder Raum, Stoff und Zeit. Soll hier die Grenze und das Ende sein? Sollen abstrakte Begriffe die Schöpfer alles Seins sein? Nein, über das Stoffliche, Räumliche, Zeitliche hinaus ragen die Urquellen des Lebens, sie müssen höher und geistiger sein, die Lebensfähigkeit unendlich, die Schöpferkraft unbegrenzt sein.

Eine andre Stufenleiter bildet die anwachsende Verteilung der Geisteskräfte, und hier steht von allen sichtbaren der Mensch an der Spitze, da er die größte Geistesausdehnbarkeit hat. Aber die Unvollkommenheit und Beschränktheit des menschlichen Geistes, der die Welt klar durchdringen müßte, wenn er der Urgeist sein sollte, leitet unsre Blicke auf eine höhere, erhabenere Geisteskraft, von der alle andern Geisteskräfte wie von einer Urquelle her fließen. So lassen sich noch viele solche Stufenleitern finden, wie der anwachsende Fortschritt des Stofflichen, Räumlichen, Zeitlichen, der Moral usw. Alle aber — und das ist das Wichtige — bestimmen uns erstens die Existenz des ewigen Wesens, dann auch die Eigenschaften desselben. Nur auf einem guten Wesen und zwar auf einem Prinzip des Guten kann die Austeilung der Geschicke ruhen und wir müssen nicht verwegen den Schleier zu heben wagen, der über der Leitung unsrer Verhältniße gebreitet ist. Wie vermöchte auch der Mensch mit seinen so gering ausgebreiteten Anlagen des Geistes die erhabenen Pläne zu durchdringen, die der Urgeist aussann und ausführt! Es gibt keinen Zufall; alles was geschieht, hat Bedeutung, und je mehr die Wissenschaft forscht und sucht, desto einleuchtender wird der Gedanke, daß alles, was ist oder geschieht, ein Glied einer verborgenen Kette sei. Wirf deinen Blick auf die Geschichte; glaubst du, daß bedeutungslos die Zahlen sich aneinanderreihen? Schaue den Himmel an; meinst du, daß ordnungs- und gesetzlos die Himmelskörper ihre Bahnen wandeln? Nein, nein! Was geschieht, das geschieht nicht von ungefähr, ein höheres Wesen leitet berechnend und bedeutungsvoll alles Erschaffne.

Mein Lebenslauf.
[Mai 1861]

Es macht auf mich immer einen eigentümlichen Eindruck, wenn ich auf die verflossnen Jahre zurückschaue und mir längst geschwundene Zeiten vergegenwärtige. Jetzt erst erkenne ich, wie manche Ereigniße auf meine Entwicklung eingewirkt haben, wie sich Geist und Herz durch den Einfluß der umgebenden Verhältniße gestaltet haben. Denn wenn auch die Grundzüge des Charakters jedem Menschen gleichsam angeboren sind, so bilden doch erst die Zeit und die Umstände diese rohen Keime aus und prägen ihnen bestimmte Formen auf, die dann durch die Dauer fest und unverlöschlich werden. Wenn ich nun mein Leben ansehe, so finden sich mehrere Ereigniße, deren Einflüsse auf meine Entwicklung unverkennbar sind. Diese Vorfälle sind aber eben nur für mich bedeutsam und mögen für andre wenig Anziehendes haben.

Mein Vater war Geistlicher zu Röcken, einem Dorf, das in der Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße hinstreckt. Rings wird es durch mehrere größere Teiche, teils durch frische Waldungen umgeben, ist aber sonst weder schön, noch anziehend gelegen. Hier bin ich am 15. 10. 1844 geboren und erhielt meinem Geburtstag zufolge den Namen Friedrich Wilhelm. Was ich über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, es zu erzählen. Verschiedene Eigenschaften entwickelten sich schon sehr frühe, eine gewisse betrachtende Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern leicht fernhielt, dabei eine bisweilen ausbrechende Leidenschaftlichkeit.

Bedeutungsvoll war für mich das Jahr 1848. Neue Eindrücke nahm ich hier in mich auf; ich lernte das Kriegswesen durch die Einquartierung von Husaren kennen. Von der ausgebreiteten Revolution blieb unser Ort verschont, doch erinnere ich mich noch wohl, auf der Landstraße häufig Wagen mit großen bunten Fahnen und Leuten, die Lieder sangen, gesehen zu haben. Wichtiger wurde für mich noch das Jahr durch die Krankheit meines Vaters, die sich noch bis ins folgende Jahr hinzog und dann schnell das Ende herbeibrachte. Es war eine Gehirnentzündung, in ihren Symptomen der Krankheit des höchst seligen Königs ungemein gleich. Trotz der ausgezeichneten Beihilfe des Hofrat Opolcer nachher Kaiserl. österreich. Leibarzt, nahm die Krankheit einen reißenden Fortgang. Unruhe und Besorgniß breitete sich um unser Haus, das früher der Aufenthalt der schönsten Glückseligkeit gewesen war. Und wenn ich auch die Größe der bevorstehenden Gefahr nicht völlig begriff, so mußte doch die traurige, angstvolle Stimmung auf mich einen beunruhigenden Eindruck machen. Die Leiden meines Vaters, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach endlich ein.

Das war jene erste verhängnißvolle Zeit, von der aus sich mein ganzes Leben anders gestaltete.

Mein Lebenslauf.
[Mai 1861]

Ich bin zu Röcken geboren, einem Dorf, das in der Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße entlang hinzieht. Rings wird es von Weidengebüsch und vereinzelten Pappeln und Ulmen umschlossen, so daß aus der Ferne nur die ragenden Schornsteine und der altertümliche Kirchturm durch die grünen Wipfel hindurchschauen. Innerhalb des Dorfes breiten sich größere Teiche aus, nur durch schmale Landstrecken voneinander getrennt: ringsum frisches Grün und knorrige Weiden. Etwas höher liegt das Pfarrhaus und die Kirche, ersteres von Gärten und Baumpflanzungen umgeben. Dicht grenzt der Friedhof an, voll von eingesunknen Grabsteinen und Kreuzen. Die Pfarrwohnung selbst wird von drei schön gewachsenen weitästigen Ulmen beschattet und macht durch ihren stattlichen Bau und ihre innere Einrichtung auf jeden Besucher einen angenehmen Eindruck.

Hier bin ich am fünfzehnten Oktober 1844 geboren und erhielt meinem Geburtstag angemessen den Namen: "Friedrich Wilhelm". Was ich über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, um es zu erzählen. Verschiedne Eigenschaften entwickelten sich schon sehr frühe. So eine gewisse Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern leicht fern hielt, dabei eine bisweilen ausbrechende Leidenschaftlichkeit. Von der Außenwelt unberührt lebte ich in einem glücklichen Familienkreis; das Dorf und die nächste Umgebung war meine Welt, alles Fernerliegende ein mir unbekanntes Zauberreich.— Der heitre Himmel, der mich bis jetzt umlacht hatte, wurde plötzlich von schwarzen, unheilschwangeren Wolken getrübt. Mein Vater erkrankte gefährlich, ohne daß wir die Ursache der Krankheit durchschauten. Der scharfe Blick des Hofrats Opolzer erkannte sofort die Symptome einer Gehirnerweichung. Der Zustand wurde immer schlimmer, immer bedenklicher. Die zunehmenden Leiden meines Vaters, sein Erblinden, seine abgezehrte Gestalt, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach auch ein — mein Vater starb. —

Ich übergehe meinen Schmerz, meine Tränen, die Leiden meiner Mutter, die tiefe Betrübniß des Dorfes. Wie hat mich das Begräbniß ergriffen! Wie drangen mir die dumpfen Sterbeglocken durch Mark und Bein! Zuerst fühlte ich, daß ich verwaist und vaterlos sei, daß ich einen liebevollen Vater verloren habe. Sein Bild steht noch lebendig vor meiner Seele: eine hohe, schmächtige Gestalt mit feinen Gesichtszügen und wohlwollender Freundlichkeit. Überall beliebt und gern gesehn, sowohl wegen seines geistreichen Gesprächs, als seiner teilnehmenden Herzlichkeit, von den Bauern geehrt und geliebt, als Geistlicher durch Wort und Tat segensreich wirkend, in der Familie der zärtlichste Gatte, der liebevollste Vater, war er das vollendete Musterbild eines Landgeistlichen.

"Ach sie haben
Einen guten Mann begraben,
Und mir war er mehr!"

Einige Monate darauf betraf mich ein zweites Unglück, das ich durch einen sonderbaren Traum vorausahnte. Mir war es, als hörte ich aus der nahen Kirche dumpfen Orgelton. Überrascht öffne ich das Fenster, das der Kirche und dem Friedhof zugewandt war. Das Grab meines Vaters tut sich auf, eine weiße Gestalt steigt herauf und verschwindet in der Kirche. Die düsteren, unheimlichen Klänge rauschen fort; die weiße Gestalt erscheint wieder, etwas unter dem Arm tragend, das ich nicht deutlich erkannte. Der Hügel hebt sich, die Gestalt versinkt, die Orgel verstummt — ich erwache. Am folgenden Morgen wird mein jüngerer Bruder, ein lebhaftes und begabtes Kind, von Krämpfen überfallen und ist in einer halben Stunde tot. Er wurde ganz unmittelbar an dem Grabe meines Vaters beerdigt. —

Die Zeit, wo wir von unsrer geliebten Heimat scheiden sollten, rückte heran. Der letzte Tag und die letzte Nacht stehen mir noch besonders lebendig vor der Seele. Am Abend spielte ich noch mit mehreren Kindern, eingedenk, daß es das letzte Mal sei, und nahm dann von ihnen, wie auch von allen Orten, die mir lieb und teuer geworden waren, Abschied. Die Abendglocke hallte mit wehmütigem Klange durch die Fluren; mattes Dunkel breitete sich über unser Dorf, der Mond stieg auf und schaute bleich auf uns herab. Ich konnte nicht schlafen; unruhig und aufgeregt warf ich mich auf meinem Lager umher und stand endlich auf. Im Hof standen mehrere beladne Wagen, der matte Schein einer Laterne beleuchtete die Hofräume. Nie erschien mir meine Zukunft so dunkel und ungewiß, als damals. Sobald der Morgen graute, wurden die Pferde angeschirrt; wir fuhren durch den Morgennebel fort und riefen unsrer lieben Heimat wehmütig ein Lebewohl zu.

Naumburg, das Ziel unserer Reise machte auf mich einen höchst sonderbaren Eindruck. Das viele Neue, Kirchen und Häuser, öffentliche Plätze und Straßen, alles erregte mein Erstaunen und verwirrte zuerst meine Sinne. Auch die Umgegend zog mich sehr an, die durch ihre schönen Berge und Flußtäler, Schlösser und Burgen die ländliche Einfachheit meiner Heimat sehr in Schatten stellte. Bald auch begann ich meine Schullaufbahn und wurde nach genügenden Vorkenntnißen einem Institut zum Unterricht übergeben. Diese Zeit wurde für mich auch besonders dadurch wichtig, daß ich damals zuerst die beiden Knaben kennenlernte, mit denen verbunden ich bis jetzt in treuer Freundschaft stehe. Überhaupt wurde meine Bekanntschaft erweitert; ich wurde von mehreren Familien freundlich aufgenommen und begann mich wieder heimisch und wohl zu fühlen. Im Kreis meiner Freunde verlebte ich frohe und glückliche Stunden; gleiche Bestrebungen, gleiche Wünsche banden unsere Seelen immer fester aneinander, so daß wir Freude und Leid gemeinsam genossen und ertrugen. Wie unbedeutend erscheinen doch die Trübsale der Knabenjahre! Leichte, fliehende Wolken verdunkeln die aufgegangene Sonne; wenn aber die Sonne hoch steht und die Erde dennoch düster erscheint, dann müssen wahrlich schwere, drohende Wolken sie verschleiern.— Bald auch wurde ich als reif für das Gymnasium erklärt und betrat jene Räume, die ich schon früher immer mit einem geheimen Schauer betrachtet hatte. Die düsteren Lehrzimmer, die strengen und gelehrten Mienen meiner Lehrer, die vielen, so erwachsenen Mitschüler, die mit Geringschätzung auf mich herabsahen und im Gefühl eigner Würde die Neulinge kaum beachteten, alles dies machte mich ängstlich und scheu, und erst allmählich gewöhnte ich mich, meine Stellung mit mehr Zuversicht und Ruhe zu behaupten. Zu gleicher Zeit entwickelten sich auch verschiedne Lieblingsneigungen, von denen einige sich bis jetzt erhalten haben. Insbesondere war es die Neigung zur Musik, die im Laufe der Zeit nur zunahm und jetzt unerschütterlich fest in meiner Seele wurzelt.

Ich war regelmäßig bis Tertia vorgerückt und hatte hier schon ein Semester zugebracht, da traf mich eine Veränderung, die körperlich und geistig bedeutungsvoll auf mich eingewirkt hat. Es wurde uns eine Pförtner Alumnatsstelle angetragen; mir wurde ganz anheimgestellt, ob ich sie annehmen oder ausschlagen wollte. Schon früher hatte ich immer eine Zuneigung für Pforte gehegt, teils weil mich der gute Ruf der Anstalt und die berühmten Namen dort gewesener und dort seiender Männer anzogen, teils weil ich ihre schöne Lage und Umgebung bewunderte. Ich entschied mich schnell für die Annahme der Stelle und habe es nie bereut. Wenn auch die Trennung von Mutter, Schwester und lieben Freunden mir zuerst schwer fiel, so schwand dieses Gefühl doch sehr bald und ich fühlte mich bald hier wieder zufrieden und wohl. Ich verkenne nicht, wie wohltätig Pforte auf mich einwirkt, und ich kann nur wünschen, daß ich mich schon hier und noch mehr in spätren Zeiten immer als ein würdiger Sohn der Pforte erweise. —

Unpublished Works | Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften. 1856-1861. © The Nietzsche Channel