COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel. Die Geburt des tragischen Gedankens (Juli-August 1870)
Die Griechen, die die Geheimlehre ihrer Weltanschauung in ihren Göttern aussprechen und zugleich verschweigen, haben als den Doppelquell ihrer Kunst zwei Gottheiten aufgestellt, Apollo und Dionysus. Diese Namen repräsentiren im Bereich der Kunst Stilgegensätze, die fast immer im Kampf neben einander einhergehen und nur einmal, im Blüthemoment des hellenischen "Willens" zu dem Kunstwerke der attischen Tragoedie verschmolzen erscheinen. In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch. Der schöne Schein der Traumwelt, in der jeder Mensch voller Künstler ist, ist der Vater aller bildenden Kunst und, wie wir sehen werden, auch einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts unnöthiges und Gleichgültiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins; erst wenn diese aufhört, beginnen die pathologischen Wirkungen, in denen der Traum nicht mehr erquickt, und die heilende Naturkraft seiner Zustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener Allverständigkeit uns vorführen: auch das Ernste, Traurige, Trübe, Finstere wird mit derselben Lust am Scheine angeschaut, nur dass eben auch hier der Schleier des Scheines in flatternder Bewegung sein muss und die Grundformen des Wirklichen nicht völlig verhüllen darf. In welchem Sinne nun konnte Apollo zum Kunstgotte gemacht werden? Nur insofern er der Gott der Traumesvorstellungen ist. Er, der "Scheinende" durch und durch, in tiefster Wurzel Sonnen- und Lichtgott, hat die Schönheit zu seinem Element und herrscht daher im Reiche der Schönen Traumwelt. Die höhere Weisheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit erheben ihn zum künstlerischen und wahrsagenden Gotte. Aber jene zarte Grenze, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, wo der Schein nicht nur täuscht, sondern betrügt, kann auch nicht im Wesen des Apollo fehlen, jene massvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene Weisheit und Ruhe eines Bildnergottes. Sein Auge muss sonnenhaft sein: auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Die dionysische Kunst dagegen beruht auf dem Spiel mit dem Rausche, mit der Verzückung. Zwei Mächte vornehmlich sind es, die den naiven Naturmenschen zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb, das "Fanget an!" der gesammten Natur, und das narkotische Getränk. Ihre Wirkungen sind in der Figur des Dionysos symbolisirt. Das principium individuationis wird in beiden Zuständen durchbrochen, das Subjective verschwindet ganz vor der hervorbrechenden Gewalt des Generell-menschlichen, ja des Allgemein-natürlichen. Die Dionysusfeste schliessen nicht nur den Bund zwischen Mensch und Mensch, sie versöhnen auch Mensch und Natur. Freiwillig bringt die Erde ihre Gaben, die wildesten Thiere nahen sich friedfertig. Von Panthern und Tigern wird der blumenbekränzte Wagen des Dionysos gezogen. Alle die kastenmässigen Abgrenzungen, die die Noth und die Willkür zwischen den Menschen festgesetzt hat, verschwinden: der Sclave ist freier Mann, der Vornehme und der Niedriggeborene vereinigen sich zu denselben bacchischen Chören. In immer wachsenden Schaaren wälzt sich das Evangelium der "Weltenharmonie" von Ort zu Ort, singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren idealen Gemeinsamkeit, er hat das Gehen und das Sprechen verlernt. Noch mehr: er fühlt sich verzaubert und er ist wirklich etwas Anderes geworden. Wie die Thiere zu ihm reden und die Erde ihm Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches. Als Gott fühlt er sich; was sonst in seiner Einbildungskraft nur lebte, jetzt empfindet er es an sich selbst. Was sind ihm jetzt Bilder und Statuen? Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden, er wandelt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Die Kunstgewalt der Natur, nicht mehr die eines Menschen, offenbart sich hier: ein edlerer Thon, ein kostbarerer Marmor wird hier geknetet und behaun, der Mensch. Wenn nun der Rausch das Spiel der Natur mit dem Menschen ist, so ist das Schaffen des dionysischen Künstlers das Spiel mit dem Rausche. Dieser Zustand lässt sich nur gleichnissweise beschreiben, es ist etwas Ähnliches, wenn man träumt und zugleich den Traum als Traum spürt. So muß der Dionysusdiener im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter gleichsam auf der Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum. Dieses Nebeneinander kennzeichnet den Höhepunct der griechischen Kunst. ursprünglich ist nur Apollo der allein herrschende Kunstgott, und seine Macht war es, die den aus Asien heranstürmenden Dionysos so weit mässigte, dass zwischen beiden der schönste Bruderbund, eben jenes Nebeneinander entstehen konnte. Hier bewundern wir den unglaublichen Idealismus des hellenischen Wesens am höchsten; aus einem Naturkult, der bei den Asiaten die wildeste Entfesselung aller rohen und niederen Triebe bedeutet, ein panhetärisches Thierleben, das für eine bestimmte Zeit alle Schranken der Menschlichkeit übersprang, wurde bei ihnen ein Welterlösungsfest. Dafür war auch das apollinische Hellenenthum niemals in einer grösseren Gefahr als bei dem stürmischen Heranzug des neuen Gottes. Niemals wiederum zeigte sich die Weisheit des delphischen Gottes in schönerem Lichte. Zuerst widerstrebend, umspann er den gewaltigen Gegner mit dem feinsten Gespinnst, so dass dieser kaum merken konnte, wie er bald in halber Gefangenschaft einherwandele. Indem nämlich die delphische Priesterschaft die tiefe Einwirkung des neuen Cult auf sociale Regenerationen durchschaute und ihn gemäss ihrer politisch-religiösen Einsicht förderte, indem der apollinische Künstler mit bedachtsamer Mässigung aus der revolutionären Kunst der Bacchusdienste lernte, indem endlich selbst die Jahresherrschaft in der delphischen Cultordnung unter Apollo und Dionysos getheilt wurde, waren beide Götter gleichsam als Sieger und doch zugleich als Besiegte aus ihrem Wettstreite hervorgegangen und hatten auf dem Kampfplatze Versöhnung geschlossen. Wenn man recht deutlich sehen will, wie gewaltig das apollinische Element seitdem das Irrational-Übernatürliche des Dionysus niederhielt, der denke daran, dass in der älteren Musikperiode die eine Hauptgattung, die ruhige, auch den Beinamen der "dithyrambischen" hatte, zum Beweise, dass der dionysische Dithyrambus in seinen ersten kunstmässigen Nachahmungen sich zu seinem Original, der Freudenhymne der dionysischen Masse verhielt, wie die steifen ägyptisirenden Götterbilder der älteren griechischen Kunst zu der im Homerischen Epos geschauten olympischen Götterwelt. Je kräftiger aber der apollinische Kunstgeist heranwuchs, um so freier durfte auch der Brudergott Dionysos seine Glieder lösen; zur selben Zeit als der erstere zum vollen gleichsam unbeweglichen Ausdrucke der Schönheit kam, in der Zeit des Phidias, deutete der andere in der Tragödie die Welträthsel und Weltschrecken und sprach in der tragischen Musik den innersten Naturgedanken, das Weben des Willens in und über allen Wesen aus. Wenn die Musik auch apollinische Kunst war, so ist es genau genommen doch nur der Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo ist Architectur in Tönen, noch dazu in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara eigen sind. Behutsam ist gerade das Element ferngehalten, das den Character der dionysischen Musik, ja der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Macht des Tons und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Für diese hatte der Grieche die feinste Empfindung, wie wir aus der strengen Characteristik der Tonarten entnehmen müssen: wenn auch das Bedürfniss einer ausgeführten, wirklich erklingenden Harmonie bei ihnen viel geringer als in der neueren Welt ist. In der Harmonienfolge und schon in deren Abbreviatur, in der sogenannten Melodie, offenbart sich der "Wille" ganz unmittelbar, ohne vorher in eine Erscheinung eingegangen zu sein. Jedes Individuum kann als Gleichniss, als ein einzelner Fall für eine allgemeine Regel, als der Wille selbst der Betrachtung dienen; umgekehrt aber wird der dionysische Künstler das Wesen des Erscheinenden unmittelbar verständlich darlegen, da er über das Chaos des noch nicht Gestalt gewordenen Willens gebietet und aus ihm in jedem schöpferischen Momente eine neue Welt, aber auch die alte, als Erscheinung bekannte erschaffen kann. Im letzteren Sinne ist er tragischer Musiker. Im dionysischen Rausche, im ungestümen Durchrasen aller Seelen-Tonleitern bei narkotischen Erregungen oder in der Entfesselung der Frühlingstriebe äussert sich die Natur in ihrer höchsten Kraft; sie schliesst die Einzelwesen wieder aneinander und lässt sie sich als eins empfinden, so dass das principium individuationis gewissermaassen nur ein andauernder Schwächezustand des Willens ist. Je verkommener der Wille ist, desto mehr zerbröckelt er in's Einzelne; je selbstischer und je willkürlicher das Individuum entwickelt ist, um so schwächer ist der Organismus, dem es dient. In jenen Zuständen bricht daher gleichsam ein sentimentalischer Zug des Willens hervor, er kommt zum Bewußtsein seiner Zerrissenheit und seufzt nach dem Verlorenen. Aus der höchsten Lust heraus tönt der Schrei des Entsetzens, der sehnende Klagelaut eines unersetzlichen Verlustes. Die üppige Natur feiert ihre Saturnalien und ihre Todtenfeier zugleich. Die Affecte ihrer Priester sind auf das wundersamste gemischt, Schmerzen erwecken Lust, der Jubel entreisst der Brust qualvolle Töne. Der Gott, der der "Befreier" heisst, hat alles von sich erlöst, alles verwandelt. Der Gesang und die Geberde derartig erregter Massen, in denen die Natur Stimme und Mienenspiel bekam, war für die homerisch-griechische Welt etwas ganz Neues und unerhörtes. Sie erkannten mit Schauder hier das Orientalische, das sie mit ihrer ungeheuren rhythmischen Kraft erst bezwingen mussten—das sie auch, wie gleichzeitig den ägyptischen Tempelstil, bezwungen haben. Es war das apollinische Volk, das den übermächtigen Instinkt in die Fesseln der Schönheit schlug, es hat die gefährlichsten Bestien der Natur in das Joch gespannt. Dionysische Feste sind bei allen Völkern nachweisbar; die berühmtesten waren die in Babylon, unter dem Namen der Sakaeen. Hier wurde in fünftägiger Festdauer jedes staatliche und sociale Band freventlich zerrissen, das Centrum aber lag in der geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, in der Vernichtung jedes Familienwesens durch das unumschränkte Hetärenthum. Das Gegenstück dazu bietet das Bild der griechischen Dionysos-Feier, welches Euripides in den Bacchen entwirft. Aus ihm strömt derselbe Liebreiz, derselbe musikalische Verklärungsrausch, welchen Scopas und Praxiteles zur Statue verdichteten. Ein Bote erzählt, dass er in der Mittagshitze mit den Herden auf die Bergesspitzen hinaufgezogen sei. Es ist der rechte Moment und der rechte Ort, um ungesehenes zu sehn; jetzt schläft Pan, jetzt ist der Himmel der unbewegte Hintergrund einer Glorie, jetzt blüht der Tag. Auf einer Alpentrift bemerkt der Bote drei Frauenchöre über den Boden hin zerstreut liegend und in sittsamer Haltung: alles schlummert. Plötzlich beginnt die Mutter des Pentheus zu jubeln, der Schlaf ist verscheucht, alle springen auf, ein Muster edler Sitte, vom Augenlid den tiefen Schlummer werfend schnell, noch ledige Mädchen, junge und ältere Frauen auch, die Locken lässt man auf die Schultern fallen erst, und bringt das Rehfell, wo der Bänder Schleifen sich gelöst, in Ordnung, gürtet Schlangen, die vertraut die Wangen lecken, um das scheckige Vliess herum. Die nahmen Rehe und Junge wilder Wölfe auf die Arme, reichten weisse Milch aus schwellender Brust, welche, jüngst entbunden, ihre Säuglinge verlassen hatten. Epheukränze setzt man auf und Eichenzweige und blüthenreiches Windenlaub, und Eine nahm den Thyrsus, schlug an Felsgestein, woraus ihr perlend Brunnen Wassers sprudelten, und eine stösst den Hohlstab in den Grund, und einen Weinquell sendet ihr der Gott empor. Wer aber nach schneeweissem Trank Begehren trug, der scharete mit den Fingerspitzen nur den Grund und hatte Milch hersprudelnd; süsser Honigseim troff quellend aus des Thyrsus Epheurohre, dass du sicher, wärst du Zeuge dess gewesen, fromm dem Gott gehuldigt hättest. —
Dies ist eine ganz verzauberte Welt; die Natur feiert ihr Versöhnungsfest mit dem Menschen. Der Mythus sagt, dass Apollo den zerrissenen Dionysus wieder zusammengefügt habe. Dies ist das Bild des durch Apollo neugeschaffnen, aus seiner asiatischen Zerrissenheit geretteten Dionysus. — ______ Die griechischen Götter sind in der Vollendung, in der sie bereits uns im Homer entgegengetreten, sicherlich nicht als Geburten der Noth und des Bedürfnisses zu begreifen. Solche Götter ersann kein angsterschüttertes Gemüth; nicht um sich vom Leben abzuwenden, schaute das Auge des Hellenen gläubig zu ihnen empor. Aus ihnen spricht eine Religion des Lebens, nicht der Pflicht oder der Ascese oder der Geistigkeit. Alle diese Gestalten athmen den Triumph des Daseins, ein üppiges Lebensgefühl begleitet ihren Cultus. Sie fordern nicht; in ihnen ist das Vorhandene vergöttlicht, gleichviel ob es gut oder böse ist. Gemessen an dem Ernst, der Würde und Heiligkeit anderer Religionen ist die griechische in Gefahr, als eine phantastische Spielerei unterschätzt zu werden—wenn man sich nicht einen Zug tiefster Weisheit zur Vorstellung bringt, durch den jenes epicureische Götterwesen plötzlich als Schöpfung des unvergleichlichen Künstlervolkes und fast als höchste Schöpfung erscheint. Es gieng im Volke die Sage, dass Midas den Silenus, den Begleiter des Dionysos, nachdem er lange nach ihm gejagt und ihn endlich gefangen hatte, von ihm zu wissen verlangte, was wohl für den Menschen das Bessere und was das Allervorzüglichste sei. Zuerst habe Silen—so erzählt Aristoteles—gar nicht reden wollen; erst auf alle Art gequält habe er unter Hohnlachen den Mund zu solcher Rede aufgethan: "Elende Eintagsbrut der Mühsal und der Noth, was thut ihr mir Gewalt an, dass ich sage, was nicht zu erfahren, euch dienlicher ist. Denn in Unkenntniss des eignen Elends verstreicht euer Leben am leidlosesten. Wer einmal ein Mensch ist, der kann überhaupt nicht das Allervortrefflichste werden, und er kann gar keinen Antheil haben am Wesen des Besten. Das Allervorzüglichste wäre also für euch sammt und sonders, Männer wie Weiber, gar nicht geboren zu werden. Das Nächstbeste jedoch—nachdem ihr geboren worden, möglichst bald zu sterben." Die Philosophie des Volkes ist es, die der gefesselte Waldgott den Sterblichen enthüllt; dieselbe Philosophie ist es, die den Hintergrund jener olympischen Götterwelt bildet. Der Grieche kannte die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins, aber er verhüllte sie, um leben zu können, wie ein Kreuz unter Rosen, nach dem Goetheschen Symbol. Jenes leuchtende Olympierthum ist nur deshalb zur Herrschaft gekommen, weil das finstere Walten einer furchtbaren älteren Götterordnung, die dem Achill den frühen Tod und dem Oedipus die Greuelehe bestimmt, versteckt werden sollte, nämlich durch die glänzenden Gestalten des Zeus des Apollo der Athene usw. Hätte jemand den künstlerischen Schein jener Mittelwelt weggenommen, man hätte der Weisheit des Waldgottes, des dionysischen Begleiters, folgen müssen. Diese Noth war es, aus der der künstlerische Genius dieses Volkes solche Götter geschaffen hat. Eine Theodicee war darum niemals ein hellenisches Problem; man hütete sich, die Existenz der Welt und somit die Verantwortlichkeit für deren Beschaffenheit den Göttern zuzumuthen. "Auch die Götter sind der Ananke unterworfen" dies ist ein Bekenntniss von tiefster Weisheit. Sein Dasein, wie es nun einmal ist, in einem verklärenden Spiegel zu sehn und sich mit diesem Spiegel gegen die Meduse zu schützen—das war die Strategie des hellenischen Willens, um überhaupt leben zu können. Denn wie anders hätte jenes unendlich sensible, für das Leiden so ausgezeichnet befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern offenbart worden wäre! Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Götterwelt entstehen, eine Welt der Schönheit, der Ruhe, des Genusses. Das Leben wird aus der Wirkung einer solchen Religion heraus als das an sich Erstrebenswerthe in der homerischen Welt begriffen, das Leben nämlich unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter. Der Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus solchem Dasein, vor allem auf das baldige Abscheiden. Wenn die Klage überhaupt ertönt, so klingt sie wieder vom "kurzlebenden Achilles," von dem schnellen Wechsel des Menschengeschlechts, von dem Untergange der Heroenzeit. Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. Niemals hat der Wille sich offner über seine unersättliche Gier um jeden Preis dazusein ausgesprochen als im Hellenenthum, dessen Klage selbst noch sein Preislied ist. Deshalb verlangt der moderne Mensch nach jener Zeit, in der er den vollen Einklang zwischen Natur und Mensch zu hören wähnt. Deshalb ist das Hellenische das Losungswort für alle, die für ihre bewußte Willensbejahung sich nach glänzenden Vorbildern umzusehn haben. In diesen, vom Edelsten in das Gemeinste sich verirrenden Vorstellungen ist das Hellenenthum zu roh und einfach genommen und gewissermassen nach dem Bilde unzweideutiger gleichsam einseitiger Nationen (z.B. der Römer) geformt worden. Man sollte doch das Bedürfniss nach künstlerischem Schein auch in der Weltanschauung eines Volkes vermuthen, das woran es rührt in Kunstwerke zu verwandeln pflegt. Wirklich begegnen wir auch, wie schon angedeutet, in dieser Weltanschauung einer ungeheuren Illusion, derselben Illusion, deren sich die Natur zur Erreichung ihrer Zwecke so regelmässig bedient. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt; nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch diese Täuschung. In den Griechen wollte der Wille sich selbst zum Kunstwerke verklärt anschauen: um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre, gleichsam ins Ideale emporgehoben, wiedersehen, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympier, erblicken. Mit dieser Waffe kämpfte der hellenische Wille gegen das dem künstlerischen correlative Talent, das zum Leiden und zur Weisheit des Leidens. Aus diesem Kampfe und als Denkmal seines Sieges ist die Tragoedie geboren. Der Rausch des Leidens und der schöne Traum haben ihre verschiedenen Götterwelten. Der erste dringt in der Allmacht seines Wesens in die innersten Gedanken der Natur, er erkennt den furchtbaren Trieb zum Dasein und zugleich den fortwährenden Tod alles ins Dasein Getretenen; die Götter, die er schafft, sind gut und böse, ähneln dem Zufall, erschrecken durch plötzlich auftauchende Planmässigkeit, sind mitleidslos und ohne die Lust am Schönen. Sie sind der Wahrheit verwandt und nähern sich dem Begriff; selten und schwer verdichten sie sich zu Gestalten. Sie anzuschaun macht zu Stein; wie soll man mit ihnen leben? Aber man soll es auch nicht: dies ist ihre Lehre. Von dieser Götterwelt—wenn sie nicht ganz wie ein sträfliches Geheimniss verhüllt werden kann—muss der Blick durch die daneben gestellte glänzende Traumgeburt der olympischen Welt abgezogen werden; darum steigert sich die Sinnlichkeit ihrer Gestalten, die Brunst ihrer Farben um so höher, je stärker die Wahrheit oder das Symbol der Wahrheit sich geltend macht. Nie war aber der Kampf zwischen Wahrheit und Schönheit grösser als bei der Invasion des Dionysusdienstes. In ihm enthüllte sich die Natur und sprach von ihrem Geheimniss mit entsetzlicher Deutlichkeit, mit dem Ton, dem gegenüber der verführerische Schein seine Macht verliert. Aus Asien kam dieser Quell: aber er musste in Griechenland zum Strome werden, weil er hier zum ersten Male fand, was ihm Asien nicht geboten hatte, die reizbarste Sensibilität und Leidensfähigkeit, gepaart mit der lichtesten Besonnenheit und Scharfsichtigkeit. Wie rettete Apollo sein Hellenenthum? — Der neue Ankömmling wurde in die Welt des schönen Scheins, in die Olympierwelt hinübergezogen. Es wurde ihm ein grosser Teil von den Ehren der angesehensten Gottheiten, des Zeus z.B. und des Apollo, zum Opfer gebracht. Man hat nie mit einem Fremdling mehr Umstände gemacht. Dafür war er auch ein furchtbarer Fremdling—hostis in jedem Sinne—mächtig genug, das gastliche Haus zu zertrümmern. Eine grosse Revolution begann jetzt in allen Lebensformen; überall hin drang Dionysus, auch in die Kunst. Der Schein ist das Bereich der apollinischen Kunst, es ist die verklärte Welt des Auges, das im Traum, bei geschlossenen Augenlidern, künstlerisch schafft. In diesen Traumzustand will uns das Epos versetzen: wir sollen mit offenen Augen nichts sehen und uns an den inneren Bildern weiden, zu deren Erzeugung uns der Rhapsode durch Begriffe zu reizen sucht. Die Wirkung der bildenden Künste wird hier auf einem Umwege erreicht: während der Bildner uns durch den behauenen Marmor zu dem von ihm traumhaft geschauten lebendigen Gotte führt, so dass die eigentlich als Ziel vorschwebende Gestalt sowohl dem Bildner als dem Zuschauer deutlich wird, und der Erstere den Letzeren durch die Mittelgestalt der Statue zum Nachschauen veranlasst—so sieht der epische Dichter die gleiche lebendige Gestalt und will sie auch anderen zum Anschauen vorführen. Aber er stellt keine Statue mehr zwischen sich und den Menschen, er erzählt vielmehr, wie jene Gestalt ihr Leben beweist, in Bewegung, Ton, Wort, Handlung, er zwingt uns eine Menge Wirkungen zur Ursache zurückzuführen, er nöthigt uns selbst zu einer künstlerischen Composition. Er hat sein Ziel erreicht, wenn wir die Gestalt oder die Gruppe oder das Bild deutlich vor uns sehen, wenn er uns jenen traumhaften Zustand mittheilt, in dem er selbst zuerst jene Vorstellungen erzeugte. Die Aufforderung des Epos zum plastischen Schaffen beweist, wie absolut verschieden die Lyrik vom Epos ist, da jene niemals das Formen von Bildern zum Ziel hat. Das Gemeinsame zwischen beiden ist nur etwas Stoffliches, das Wort, noch allgemeiner der Begriff. Wenn wir von Poesie reden, so haben wir damit keine Kategorie, die mit der bildenden Kunst und der Musik coordiniert wäre sondern eine Conglutination von zwei in sich total verschiedenen Kunstmitteln, von denen das Eine einen Weg zur bildenden Kunst, das Andere einen Weg zur Musik bedeutet. Beide aber sind nur Wege zum Kunstschaffen, nicht Künste selbst. In diesem Sinne sind natürlich auch Malerei und Sculptur nur Kunstmittel; die eigentliche Kunst ist das Erschaffenkönnen von Bildern, gleichgültig ob dies das Vor-Schaffen oder Nach-Schaffen ist. Auf dieser Eigenschaft—einer allgemein menschlichen—beruht die Culturbedeutung der Kunst. Der Künstler—als der durch Kunstmittel zur Kunst nöthigende—kann nicht zugleich das aufsaugende Organ aller Kunstbethätigung sein. Der Bilderdienst der apollinischen Kultur, ob diese sich nun im Tempel, in der Statue oder im homerischen Epos äusserte, hatte ihr erhabenes Ziel in der ethischen Forderung des Maasses, welche der aesthetischen Forderung der Schönheit parallel läuft. Das Mass als Forderung hingestellt ist nur dann möglich, wo das Mass, die Grenze als erkennbar gilt. um seine Grenzen einhalten zu können, muss man sie kennen: daher die apollinische Ur-mahnung: "Erkenne dich selbst." Der Spiegel aber, in dem sich der apollinische Grieche allein sehen d.h. erkennen konnte, war die olympische Götterwelt: hier aber sah er sein eigenstes Wesen, umgrenzt vom schönen Scheine des Traumes. Das Mass, unter dessen Joch sich die neue Götterwelt des Zeus—im Gegensatz zu einer gestürzten Titanenwelt—beugte, war das der Schönheit: die Grenze, die der Grieche innezuhalten hatte, war die des schönen Scheins. Der innerste Zweck einer auf den Schein und das Mass hingewendeten Cultur kann ja nur die Verschleierung der Wahrheit sein: dem un[er]müdlichen Forscher im Dienste der Wahrheit wurde ebenso wie dem übermächtigen Titanen das warnende Mhden agan [Meden agan] zugerufen. In Prometheus wird dem Griechen gezeigt, wie die übergrosse Förderung menschlicher Cultur für den Förderer und den Geförderten gleich verderblich wirkt. Wer mit seiner Weisheit vor dem Gotte bestehen will, der muß wie Hesiod "das Mass der Weisheit" haben (metron ecein sojihV [metron echein sophies]). In eine derartig aufgebaute und künstlich geschützte Welt drang nun der ekstatische Ton der Dionysusfeier, in dem das ganze Übermass der Natur in Lust und Leid und Erkenntniss zugleich sich offenbarte. Alles was bis jetzt als Grenze, als Massbestimmung galt, erwies sich hier als ein künstlicher Schein: das "Übermass" enthüllte sich als Wahrheit. Zum ersten Male erbrauste der dämonisch fortreissende Volksgesang in aller Trunkenheit eines übermächtigen Gefühls: was bedeutete dagegen der psalmodirende Künstler des Apoll mit den nur ängstlich andeutenden Tönen seiner Kithara? Was früher in poetisch-musikalischen Innungen kastenmässig fortgepflanzt und zugleich von aller profaner Betheiligung entfernt gehalten wurde, was mit der Gewalt des apollinischen Genius auf der Stufe einer einfachen Architectonik verharren musste—das musikalische Element, das warf hier alle Schranken von sich. Die früher nur im einfachsten Zickzack sich bewegende Rhythmik löste ihre Glieder zum bacchantischen Tanz: der Ton erklang, nicht mehr wie früher in gespensterhafter Verdünnung, sondern in der tausendfachen Steigerung der Masse und in der Begleitung volltönender Blasinstrumente. und das Geheimnissvollste geschah: die Harmonie kam hier zur Welt, die in ihrer Bewegung den Willen der Natur zum unmittelbaren Verständniss bringt. Jetzt wurden Dinge in der Umgebung des Dionysus laut, die in der apollinischen Welt künstlich verborgen lagen; der ganze Schimmer der olympischen Götter erblasste vor der Weisheit des Silen. Eine Kunst, die in ihrem ekstatischen Rausche die Wahrheit sprach, verscheuchte die Musen der scheinenden Künste. In der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände gieng das Individuum mit seinen Grenzen und Maassen unter. Eine Götterdämmerung brach herein. Welches war die Absicht des Willens, der doch zuletzt einer ist—seiner eignen apollinischen Schöpfung zuwider den dionysischen Elementen Einlass zu gestatten? — Es galt einem neuen und höheren Mittel zum Dasein—der Geburt des tragischen Gedankens ______ Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und die der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder in's Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine ascetische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. Im Gedanken wird das Dionysische als eine höhere Ordnung einer gemeinen und schlechten gegenüber gestellt. Der Grieche wollte jetzt absolute Flucht aus dieser Welt der Schuld und des Schicksals: er vertröstete sich kaum auf eine Welt nach dem Tode, seine Sehnsucht gieng höher, über die Götter hinaus, er verneinte das Dasein sammt seiner verführerischen Götterspiegelung. In der Bewusstheit des Erwachens vom Rausche sieht er überall das Entsetzliche oder Absurde des Menschenseins; es ekelt ihn. Jetzt versteht er die Weisheit des Waldgottes. Hier ist die gefährliche Grenze erreicht, die der hellenische Wille mit seinem apollinisch-optimistischen Grundprincip gestatten konnte. Hier wirkte er sofort mit seiner Naturheilkraft, um jene verneinende Stimmung wieder umzubiegen. Sein Mittel ist das tragische Kunstwerk und der tragische Gedanke. Vor allem galt es jene Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins in Vorstellungen umzuwandeln, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Lächerliche als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Diese mit einander verflochtenen Elemente treten jetzt in einem Kunstwerk auf, das den dionysischen Zustand bricht, indem es ihn künstlerisch nachahmt. Das Erhabene und das Lächerliche ist ein Schritt über die Welt des schönen Scheins hinaus, denn in beiden Empfindungen liegt das Gefühl eines Widerspruchs eingeschlossen. Andererseits decken sie sich keineswegs mit der Wahrheit: sie sind eine Umschleierung der Wahrheit, die zwar durchsichtiger ist als das festgewobene Gespinnst der Schönheit, aber doch noch eine Umschleierung ist. Wir haben in ihnen also eine Mittelwelt zwischen Wahrheit und Schönheit, in der eine Vereinigung von Dionysus und Apollo möglich ist. Diese Welt offenbart sich jetzt in einem Spiel mit dem Rausche, nicht in einem völligen Verschlungensein durch denselben. Im Schauspieler erkennen wir den dionysischen Menschen wieder, den instinctiven Dichter Sänger Tänzer, aber als gespielten dionysischen Menschen. Er sucht dessen Vorbild zu erreichen, entweder in dem Schauder der Erhabenheit oder in der Erschütterung des Gelächters. Er geht über die Schönheit hinaus und sucht doch die Wahrheit nicht. In der Mitte zwischen beiden hängt er schwebend.— Der Schauspieler war zuerst kein Einzelner, es sollte ja die dionysische Masse, das Volk dargestellt werden: daher der dithyrambische Chor. Durch das Spiel mit dem Rausche sollte er selbst, wie auch der ihn umgebende Chor der Zuschauer, vom Rausche gleichsam entladen werden. Vom Standpuncte der apollinischen Welt war das Hellenenthum zu heilen und zu sühnen. Apollo der rechte Heil- und Sühngott rettete den Griechen von der hellsehenden Ekstase und dem Ekel am Dasein—durch das Kunstwerk des tragisch-komischen Gedankens. Die neue Kunst, die des Erhabenen und des Lächerlichen ruhte auf einer anderen Götter- und Weltanschaung als die ältere des schönen Scheins. Die Erkenntniss der Schrecken und Absurditäten des Daseins, der gestörten Ordnung und der unvernünftigen Planmässigkeit, überhaupt des ungeheuersten Leidens in der ganzen Natur hatte die so künstlich verhüllten Gestalten der Erinnyen, der Medusen und Moiren entschleiert: die olympischen Götter waren in höchster Gefahr. Im tragisch-komischen Kunstwerke wurden sie gerettet, indem auch sie in das Meer des Erhabenen und Lächerlichen getaucht wurden, sie hörten auf, nur "schön" zu sein, sie saugten gleichsam jene ältere schreckliche Götterordnung und ihre Erhabenheit in sich auf. Jetzt schieden sie sich in zwei Gruppen; nur wenige schwebten inmitten, als bald erhabene, bald lächerliche Gottheiten. Vor allem empfieng Dionysus selbst jenes zwiespältige Wesen. An zwei Typen zeigt sich am besten, wie man jetzt, in der tragischen Periode des Griechenthums, wieder leben konnte, an Aeschylus und Sophocles. Das Erhabene erscheint dem Ersten als einem Denker am meisten in der grossartigen Gerechtigkeit. Mensch und Gott stehen bei ihm in engster Gemeinsamkeit: das Göttliche Gerechte Sittliche und das Glückliche sind für ihn einheitlich in einander verschlungen. Nach dieser Wage wird das Einzelwesen, Mensch oder Titan, gemessen. Die Götter werden nach dieser Gerechtigkeitsnorm reconstruirt. So wird z.B. der Volksglaube an den verblendenden, zur Schuld verführenden Dämon—ein Rest jener uralten durch die Olympier entthronten Götterordnung—corrigiert, indem dieser Dämon zum Werkzeuge in der Hand des gerecht richtenden Zeus gemacht wird. Der ebenfalls uralte—gleichfalls den Olympiern fremde—Gedanke des Geschlechtsfluches wird aller seiner Herbigkeit bei Aeschylus entkleidet, da es bei Aeschylus keine Nothwendigkeit zum Frevel für den Einzelnen giebt, und jeder dem Bann entrinnen kann; wie dies z.B. Orest thut. Während Aeschylus das Erhabene in der Erhabenheit der olympischen Rechtspflege findet, sieht es Sophocles—wunderbarer Weise—in der Erhabenheit der Undurchdringbarkeit der olympischen Rechtspflege. Er stellt in allen Puncten den Volksglauben wieder her. Die Unverdientheit eines entsetzlichen Schicksals schien ihm erhaben, die wahrhaft unlösbaren Räthsel der Daseinssphinx waren seine tragische Muse. Das Leiden gewinnt bei ihm seine Verklärung, es wird als etwas Heiligendes betrachtet. Der Abstand zwischen dem Göttlichen und Menschlichen gilt ihm als unermesslich; daher fordert er tiefste Resignation und Ergebung. Seine eigentliche Tugend ist die Sophrosyne, eigentlich eine negative Tugend. Die heroische Menschheit, die bei Sophocles die Bühne betritt, ist die edelste Menschheit, die aber jener Tugend ermangelt. Ihr Schicksal demonstrirt jene unendliche Kluft: eine Schuld dagegen giebt es kaum, sondern nur einen Mangel an Erkenntniss über Werth und Grenzen des Menschlichen. Dieser Standpunct ist jedenfalls tiefer und innerlicher als der aeschyleische, er nähert sich der dionysischen Wahrheit bedeutend und spricht sie ohne viel Symbole aus—und trotzdem! erkennen wir hier das ethische Princip des Apollo, hineingeflochten in die dionysische Weltanschauung. Bei Aeschylus ist der Ekel in den erhabenen Schauder vor der Weisheit der Weltordnung aufgelöst, als welche nur bei der Schwäche des Menschen schwer erkennbar ist. Bei Sophocles ist dieser Schauder noch grösser, weil diese Weisheit ganz unergründlich ist. Es ist die lautere Stimmung der Frömmigkeit, die ohne Kampf ist, während die aeschyleische fortwährend die Aufgabe hat die göttliche Rechtspflege zu rechtfertigen und deshalb unbefriedigt immer vor neuen Problemen stehen bleibt. Die "Grenze des Menschen," nach der Apollo zu forschen befiehlt, ist für Sophocles erkennbar, aber sie ist enger und beschränkter als sie in der vordionysischen Zeit von Apollo gemeint war. Der Mangel an Erkenntniss im Menschen über sich ist das sophocleische [Problem], der Mangel an Erkenntniss im Menschen über die Götter das aeschyleische. Frömmigkeit, wundersamste Maske des Lebenstriebes! Hingabe an eine vollendete Traumwelt, der die höchste sittliche Weisheit verliehen wird! Flucht vor der Wahrheit, um sie aus der Ferne, in Wolken gehüllt anbeten zu können! Versöhnung mit der Wirklichkeit, weil sie räthselhaft ist! Abneigung gegen die Enträthselung, weil wir keine Götter sind! Lustvolles Niedersinken in den Staub, Glücksruhe im Unglück! Höchste Selbstentäusserung des Menschen in seiner höchsten Äusserung! Verherrlichung und Verklärung der Schreckmittel und Furchtbarkeiten des Daseins als der Rettungsmittel vom Dasein! Freudevolles Leben in der Verachtung des Lebens! Triumph des Willens in seiner Verneinung! Auf dieser Stufe der Erkenntniss giebt es nur zwei Wege, den des Heiligen und den des tragischen Künstlers: beide haben gemein, dass sie bei der hellsten Erkenntniss von der Nichtigkeit des Daseins doch fortleben können, ohne in ihrer Weltbetrachtung einen Riss zu spüren. Der Ekel am Weiterleben wird als Mittel zum Schaffen empfunden, sei dies nun ein heiligendes oder ein künstlerisches. Das Schreckliche oder das Absurde ist erhebend, weil es vom Schrecken und vom Ekel befreit, weil es also nur scheinbar schrecklich oder absurd ist. Die dionysische Kraft der Verzauberung bewährt sich hier noch auf der höchsten Spitze dieser Weltanschauung, alles Wirkliche löst sich in Schein auf, und hinter ihm thut sich die einheitliche Willensnatur kund, jetzt ganz in den blendenden Mantel der Wahrheit, in die Glorie der Weisheit gehüllt. Die Illusion, der Wahn ist auf seiner Höhe. Jetzt wird es nicht mehr unbegreiflich dünken, dass derselbe Wille, der als apollinischer die hellenische Welt ordnete, seine andre Erscheinungsform, den dionysischen Willen in sich aufnahm. Der Kampf beider Erscheinungsformen des Willens hatte ein ausserordentliches Ziel, ein höhere Möglichkeit des Daseins zu schaffen und auch in dieser zu einer noch höheren Verherrlichung—durch die Kunst—zu kommen.
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