COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel. Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur 1872.
Im lieben niederträchtigen Deutschland liegt jetzt die Bildung so verkommen auf den Strassen, regiert die Scheelsucht auf alles Grosse so schamlos und tönt der allgemeine Tumult der zum "Glücke" Rennenden so ohrbetäubend, dass man einen starken Glauben, fast im Sinne des credo quia absurdum est, haben muss, um hier auf eine werdende Kultur doch noch hoffen und vor allem für dieselbe—öffentlich lehrend im Gegensatze zu der "öffentlich meinenden" Presse—arbeiten können. Mit Gewalt müssen die, denen die unsterbliche Sorge um das Volk am Herzen liegt, sich von den auf sie einstürmenden Eindrücken des gerade jetzt Gegenwärtigen und Geltenden befreien und den Schein erregen, als ob sie dasselbe den gleichgültigen Dingen zurechneten. Sie müssen so scheinen, weil sie denken wollen, und weil ein widerlicher Anblick und ein verworrener, wohl gar mit den Trompetenstössen des Kriegsruhms gemischter Lärm ihr Denken stört, vor allem aber, weil sie an das Deutsche glauben wollen und mit diesem Glauben ihre Kraft verlieren würden. Verargt es diesen Gläubigen nicht, wenn sie sehr aus der Entfernung und von oben herab nach dem Lande ihrer Verheissungen hinschauen! Sie scheuen sich vor den Erfahrungen, denen der wohlwollende Ausländer sich preisgiebt, wenn er jetzt unter Deutschen lebt und sich verwundern muss, wie wenig das deutsche Leben jenen grossen Individuen Werken und Handlungen entspricht, die er, in seinem Wohlwollen, als das eigentlich Deutsche zu verehren gelernt hat. Wo sich der Deutsche nicht in's Grosse erheben kann, macht er einen weniger als mittelmässigen Eindruck. Selbst die berühmte deutsche Wissenschaft, in der eine Anzahl der nützlichen häuslichen und familienhaften Tugenden, Treue Selbstbeschränkung Fleiss Bescheidenheit Reinlichkeit, in eine freiere Luft versetzt und gleichsam verklärt erscheint, ist doch keineswegs das Resultat dieser Tugenden; aus der Nähe betrachtet sieht das zu unbeschränktem Erkennen antreibende Motiv in Deutschland einem Mangel, einem Defekte, einer Lücke viel ähnlicher als einem Überfluss von Kräften, fast wie die Folge eines dürftigen formlosen unlebendigen Lebens und selbst wie eine Flucht vor der moralischen Kleinlichkeit und Bosheit, denen der Deutsche, ohne solche Ableitungen, unterworfen ist und die auch, trotz der Wissenschaft, ja noch in der Wissenschaft des Öfteren hervorbrechen. Auf die Beschränktheit, im Leben Erkennen und Beurtheilen, verstehen sich die Deutschen als wahre Virtuosen des Philisterhaften; will sie Einer über sie hinaus ins Erhabene tragen, so machen sie sich schwer wie Blei, und als solche Bleigewichte hängen sie an ihren wahrhaft Grossen, um diese aus dem Aether zu sich und zu ihrer dürftigen Bedürftigkeit herabzuziehen. Vielleicht mag diese Philister-Gemüthlichkeit nur Entartung einer ächten deutschen Tugend sein—einer innigen Versenkung in das Einzelne Kleine Nächste und in die Mysterien des Individuums—aber diese verschimmelte Tugend ist jetzt schlimmer als das offenbarste Laster; besonders seitdem man sich nun gar dieser Eigenschaft, bis zur litterarischen Selbstglorifikation, von Herzen froh bewusst geworden ist. Jetzt schütteln sich die "Gebildeten," unter den bekanntlich so kultivirten Deutschen, und die "Philister," unter den bekanntlich so unkultivirten Deutschen, öffentlich die Hände und treffen eine Abrede mit einander, wie man fürderhin schreiben dichten malen musiciren und selbst philosophiren, ja regieren müsse, um weder der "Bildung" des Einen zu ferne zu stehen, noch der "Gemüthlichkeit" des Anderen zu nahe zu treten. Dies nennt man jetzt, "die deutsche Cultur der Jetztzeit"; wobei nur noch zu erfragen wäre, an welchen Merkmale jener "Gebildete" zu erkennen ist, nachdem wir wissen, dass sein Milchbruder, der deutsche Philister, sich jetzt selbst, ohne Verschämtheit, gleichsam nach verlorner Unschuld, aller Welt als solchen zu erkennen giebt. Der Gebildete ist jetzt vor allem historisch gebildet: durch sein historisches Bewusstsein rettet er sich vor dem Erhabenen; was den Philister durch seine "Gemüthlichkeit" gelingt. Nicht mehr der Enthusiasmus, den die Geschichte erregt—wie doch Goethe [Maximen und Reflexionen, 495] vermeinen durfte—sondern gerade die Abstumpfung alles Enthusiasmus ist jetzt das Ziel dieser Bewunderer des nil admirari, wenn sie alles historisch zu begreifen suchen; ihnen müsste man aber zurufen: "Ihr seid die Narren aller Jahrhunderte! Die Geschichte wird euch nur die Bekenntnisse machen, die eurer würdig sind! Die Welt ist zu allen Zeiten voll von Trivialitäten und Nichtigkeiten gewesen: eurem historischen Gelüste entschleiern sich eben diese und gerade nur diese. Ihr könnt zu Tausenden über eine Epoche herfallen—ihr werdet nachher hungern wie zuvor und euch eurer Art angehungerter Gesundheit rühmen dürfen. Illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur. Dial. de orator. c. 23. [Tacitus, Dialogus de Oratibus, 23.3: "... eben jene Gesundheit, deren sie sich rühmen, nicht auf Grund einer gesunden Kraft, sondern durch Enthaltsamkeit."] Alles Wesentliche hat euch die Geschichte nicht sagen mögen, sondern höhnend und unsichtbar stand sie neben euch, dem eine Staatsaktion, jenem einen Gesandtschaftsbericht, einem Andern eine Jahreszahl oder eine Etymologie oder ein pragmatisches Spinnengewebe in die Hand drückend. Glaubt ihr wirklich die Geschichte zusammenrechnen zu können wie ein Additionsexempel und haltet ihr dafür euren gemeinen Verstan und eure mathematische Bildung für gut genug? Wie muss es euch verdriessen zu hören, dass Andere von Dingen erzählen, aus den allerbekanntesten Zeiten heraus, die ihr nie und nimmer begreifen werdet!" Wenn nun zu dieser historisch sich nennenden, der Begeisterung baren Bildung und zu der gegen alles Grosse feindseligen und geifernden Philisterhaftigkeit noch jene dritte brutale und aufgeregte Genossenschaft kommt—derer die zum "Glücke" rennen—, so giebt das in summa ein so verwirrtes Geschrei und ein so gliederverrenkendes Getümmel, dass der Denker mit verstopften Ohren und verbundenen Augen in, die einsamste Wildniss flüchtet—dorthin wo er sehen darf, was jene nie sehen werden, wo er hören muss, was aus allen Tiefen der Natur und von den Sternen her zu ihm tönt. Hier beredet er sich mit den an ihn heranschwebenden grossen Problemen, deren Stimmen freilich ebenso ungemüthlich-furchtbar, als unhistorisch-ewig erklingen. Der Weichliche flieht vor ihrem kalten Athem zurück, und der Rechnende läuft durch sie hindurch, ohne sie zu spüren. Am schlimmsten aber ergeht es mit ihnen dem "Gebildeten," der sich mitunter in seiner Art ernstliche Mühe um sie giebt. Für ihn verwandeln sich diese Gespenster in Begriffsgespinnste und hohle Klangfiguren. Nach ihnen greifend wähnt er die Philosophie zu haben, nach ihnen zu suchen klettert er an der sogenannten Geschichte der Philosophie herum—und wenn er sich endlich eine ganze Wolke von solchen Abstraktionen und Schablonen zusammengesucht und aufgethürmt hat—so mag es ihm begegen, dass ein wahrer Denker ihm in den Weg tritt und sie—wegbläst. Verzweifelte Ungelegenheit, sich als "Gebildeter" mit Philosophie zu befassen! Von Zeit zu Zeit scheint es ihm zwar, als ob die unmögliche Verbindung der Philosophie mit dem, was sich jetzt als "deutsche Kultur" brüstet, möglich geworden sei; irgendein Zwittergeschöpf tändelt und liebäugelt zwischen beiden Sphären herum und verwirrt hüben und drüben die Phantasie. Einstweilen ist aber den Deutschen, wenn sie sich nicht verwirren lassen wollen, ein Rath zu geben. Sie mögen bei allem, was sie jetzt "Bildung" nennen, sich fragen: ist dies die erhoffte deutsche Kultur, so ernst und schöpferisch, so erlösend für den deutschen Geist, so reinigend für die deutschen Tugenden, dass sich ihr einziger Philosoph in diesem Jahrhundert, Arthur Schopenhauer, zu ihr bekennen müsste? Hier habt ihr den Philosophen—nun sicht die zu ihm gehörige Kultur! Und wenn ihr ahnen könnt, was das für eine Kultur sein müsse, die einem solchen Philosophen entspräche, nun, so habt ihr, in dieser Ahnung, bereits über alle eure Bildung und über euch selbst—gerichtet!—
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