Unpublished Works | Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern | Vorrede 2© The Nietzsche Channel

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Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

1872.

Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben. Er muß ruhig sein und ohne Hast lesen. Er muß nicht immer sich selbst und seine “Bildung” dazwischen bringen. Er darf endlich nicht, am Schlusse, etwa als Resultat, neue Tabellen erwarten. Tabellen und neue Stundenpläne für Gymnasien und andere Schulen verspreche ich nicht, bewundere vielmehr die überkräftige Natur jener, welche im Stande sind, den ganzen Weg, von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Kulturprobleme und wieder von da hinab die Niederungen der dürrsten Reglements und des zierlichsten Tabellenwerks, zu durchmessen; sondern zufrieden, wenn ich, unter Keuchen, einen ziemlichen Berg erklommen habe und mich oben des freieren Blicks erfreuen darf, werde ich eben in diesem Buche die Tabellenfreunde nie zufrieden stellen können. Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste Menschen, im Dienste einer völlig erneuten und gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung—der Erziehung zu eben jener Bildung—werden; wahrscheinlich müßen sie dann wiederum Tabellen machen; aber wie fern ist die Zeit! Und was wird nicht alles inzwischen geschehen sein! Vielleicht liegt zwischen ihr und der Gegenwart die Vernichtung des Gymnasiums, vielleicht selbst die Vernichtung der Universität, oder wenigstens eine so totale Umgestaltung der ebengenannten Bildungsanstalten, daß deren alte Tabellen sich späteren Augen wie Überreste aus der Pfahlbautenzeit darbieten möchten.

Für die ruhigen Leser ist das Buch bestimmt, für Menschen welche noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind, und noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen daran empfinden, wenn sie sich unter seine Räder werfen, für Menschen also, die noch nicht den Werth jedes Dinges nach der Zeitersparniß oder Zeitversäumniß abzuschätzen sich gewöhnt haben. Das heißt—für sehr wenige Menschen. Diese aber “haben noch Zeit,” diese dürfen, ohne vor sich selbst zu erröthen, die fruchtbarsten und kräftigsten Momente ihres Tages zusammen suchen, um über die Zukunft unserer Bildung nachzudenken, diese dürfen selbst glauben, auf eine recht nutzbringende und würdige Art bis zum Abend zu kommen, nämlich in der meditatio generis futuri. Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene nachdenkt—vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht, um eine Recension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Leichtsinniger Verschwender! Du bist mein Leser, denn du wirst ruhig genug sein, um mit dem Autor einen langen Weg anzutreten, dessen Ziele er nicht sehen kann, an dessen Ziele er ehrlich glauben muß, damit eine spätere, vielleicht ferne Generation mit Augen sehe, wonach wir, blind und nur vom Instinkt geführt, tasten. Wenn der Leser dagegen meinen sollte, es bedürfe nur eines geschwinden Sprungs, einer frohmüthigen That, wenn er etwa mit einer neuen von Staats wegen eingeführten “Organisation” alles Wesentliche für erreicht hielte, so müßen wir fürchten, daß er weder den Autor noch das eigentliche Problem verstanden hat.

Endlich ergeht die dritte und wichtigste Forderung an ihn, daß er auf keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich selbst und seine “Bildung” unausgesetzt, etwa als Maßstab, dazwischen bringe, als ob er damit ein Kriterium aller Dinge besäße. Wir wünschen er möge gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken. Dann dürfte er wohl am zutraulichsten sich der Führung des Verfassers hingeben, der es gerade nur von dem Nichtwissen und von dem Wissen des Nichtwissens aus wagen durfte, zu ihm zu reden. Nichts Anderes will er vor den Übrigen für sich in Anspruch nehmen, als ein stark erregtes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen Barberei, für das, was uns als die Barberen des neunzehnten Jahrhunderts vor anderen Barbaren auszeichnet. Nun sucht er, mit diesem Buch in der Hand, nach Solchen, die von einem ähnlichen Gefühle hin und hergetrieben werden. Laßt euch finden, ihr Vereinzelten, an deren Dasein ich glaube! Ihr Selbstlosen, die ihr die Leiden der Verderbnisse des deutschen Geistes an euch selbst erleidet! Ihr Beschaulichen, deren Auge unvermögend ist, mit hastigem Spähen von einer Oberfläche zur anderen zu gleiten! Ihr Hochsinnigen, denen Aristoteles nachrühmt, daß ihr zögernd und thatenlos durch’s Leben geht, außer wo eine große Ehre und ein großes Werk nach euch verlangen! Euch rufe ich auf. Verkreicht euch nur diesmal nicht in die Höhle eurer Abgeschiedenheit und eures Mißtrauens. Denkt euch, dies Buch sei bestimmt, euer Herold zu sein. Wenn ihr erst selbst, in eurer eignen Rüstung, auf dem Kampfplatze erscheint, wen möchte es dann noch gelüsten, nach dem Herolde, der euch rief, zurückzuschauen.—


Nachlass, Winter 1870-71—Herbst 1872 8[82]:

I.Einleitung.Der Leser muß ruhig sein
er darf nicht gleich sich selbst dazwischenbringen
er darf nicht Tabellen erwarten.
Denn unsere Bildung ist nur berechnet für die Ruhigen, die Selbstlosen und die welche ausdauernd warten können.
Schilderung der entgegengesetzten Bildung: die der Hast.
Die Ziele und die Quellen dieser Bildung.
II.Der “historische” Sinn der Gegenwart.
III.Das in Reih und Glied Marschiren.
IV.Die falsche Stellung des Genius (selbst in der Verehrung des Genius: es wird die Verpflichtung gegen den Genius nicht begriffen).
V.Der Bildungswerth der Naturwissenschaft.
VI.Die Philosophie in der Gegenwart.
VII.Der Gelehrte.
VIII.Der Gymnasiallehrer.
IX.Die Religiösen (am meisten vorbereitet zur Schätzung des Genius, am wenigsten zur Schätzung der Bildung).
X.Der Journalist.
XI.Der deutsche Unterricht.
XII.Die Universität.
XIII.Die Kunst, der Laie.
XIV.Rathschläge und Hoffnungen.

Nachlass, Winter 1870-71—Herbst 1872 8[83]:

Jetzt, da es nun einmal auf den Markt gebracht ist und jeder es, zum Ärger seines Verfassers, in die Hand nehmen, betrachten und abschätzen kann, nun muß ich wünschen, mit Aristoteles von dieser Schrift sagen zu können: sie sei herausgegeben und auch wieder nicht herausgegeben: weshalb ich mit aller Ehrlichkeit als Zweck der einleitenden nächsten Abschnitte bezeichne, die vielen Leser abzuschrecken und davonzuscheuchen und die Wenigen anzuziehen. Also hört es, ihr Vielen! Odi profanum vulgus et arceo. Werft das Buch weg! es ist nicht für euch und ihr seid nicht für dies Buch. Lebt wohl!

Nachlass, Winter 1870-71—Herbst 1872 8[84]:

Ein ernsthafter Schriftsteller, der über Bildung und Bildungsschulen zu seinem Volke redet, hofft gemeinhin auf eine grenzenlose Wirkung in die Ferne und dieser Wirkung halber wiederum auf eine ebenso in’s Grenzenlose sich verlierende Leserzahl. Bei diesem Buche aber verhält es sich anders, und von vornherein mag sich hierin der eigenthümliche Charakter seiner Darstellung des Bildungsproblems verrathen. Denn soll es jene nachhaltige und breite Wirkung nicht verfehlen, so braucht es gerade wenig Leser und zwar Leser von einer seltenen und sofort näher zu beschreibenden Art. Je mehr dagegen eine unausgelesene Öffentlichkeit sich dieses Buches bemächtigt, um so bedenklicher möchte der Autor sich berathen fühlen: er würde vielmehr ernstlich bedauern, nicht seiner ursprünglichen Vorsorge nachgegeben zu haben: als welche gerade darauf gerichtet war, überhaupt die Öffentlichkeit von diesem Buche fernzuhalten, und seine Wirkung allein von einer privaten Versendung an gute und würdige Leser jener noch zu beschreibenden Art abhängig zu machen gedachte.

Nachlass, Winter 1870-71—Herbst 1872 8[85]:

Gedanken über die
Zukunft
unserer Bildungsanstalten
.

Von
Dr. Friedrich Nietzsche
ord. Prof. an der Universität Basel.


Umgeschrieben als “Über die Zukunft unserer Bildungsantstalten, Vorrede”

Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben.: eEr muß ruhig sein und ohne Hast lesen., eEr muß nicht immer sich selbst und seine “Bildung” dazwischen bringen., eEr darf endlich nicht, am Schlusse, etwa als Resultat, neue Tabellen erwarten. Tabellen und neue Stundenpläne für Gymnasien und andere RealsSchulen verspreche ich nicht, bewundere vielmehr die überkräftige Natur jener, welche im Stande sind, den die ganzen Weg Bahn, von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Kulturprobleme, und wieder von da dort hinab die Niederungen der dürrsten Reglements und des zierlichsten Tabellenwerks, zu durchmessen; sondern zufrieden, wenn ich, unter Keuchen, einen ziemlichen Berg erklommen habe und mich oben des freieren Blicks erfreuen darf, werde ich eben in diesem Buche die Tabellenfreunde nie zufrieden stellen können. Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste Menschen, im Dienste einer völlig gänzlich erneuten und gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung—der Erziehung zu eben jener neuen Bildungwerden; wahrscheinlich müßen werden sie dann wiederum Tabellen machen;aber wie fern ist die Zeit! Und was wird nicht alles muß inzwischen geschehen sein! Vielleicht liegt zwischen ihr und der Gegenwart die Vernichtung des Gymnasiums, vielleicht selbst die Vernichtung der Universität, oder wenigstens mindestens eine so totale Umgestaltung der eben genannten Bildungsanstalten, daß deren alte Tabellen sich späteren Augen wie Überreste aus der Pfahlbautenzeit darbieten darstellen möchten.

Für die ruhigen Leser ist das Buch bestimmt, für Menschen, welche noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind, und welche noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen daran empfinden, wenn sie sich unter von seinen Räder zermalmt zu werfen,—das heißt für wenige Menschen! für Menschen also, die noch nicht Diese aber können sich nicht daran gewöhnen den Werth jedes Dinges nach der Zeitersparniß oder Zeitversäumniß Zeitvergeudung abzuschätzen, sich gewöhnt haben. Das heißt—für sehr wenige Menschen. Ddiese aber “haben noch Zeit,; diese dürfen ihnen ist es noch erlaubt, ohne vor sich selbst Vorwürfe zu erröthen empfinden, die guten Stunden des Tages und ihre fruchtbarsten und kräftigsten Momente ihres Tages zusammen suchen auszuwählen und zusammenzusuchen, um über die Zukunft unserer Bildung nachzudenken, diese dürfen selbst glauben, auf eine recht nutzbringende und würdige Art bis zum Abend zu kommen ihren Tag verlebt zu haben, nämlich in der meditatio generis futuri. Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene nachdenkt, vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht, um eine Recension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Leichtsinniger Strafwürdiger Verschwender! Du bist mein Leser, denn du wirst Er, der ruhig und unbesorgt genug sein ist, um mit dem Autor zusammen einen langen weiten Weg anzutreten, dessen Ziele er nicht sehen kann, an dessen Ziele er ehrlich glauben muß, damit eine spätere, vielleicht ferne erst eine viel spätere Generation mit Augen sehe, wonach wir, blind und nur vom Instinkt geführt, tasten. in voller Deutlichkeit schauen wird! Wenn der Leser dagegen meinen sollte, es bedürfe nur eines geschwinden Sprungs, einer frohmüthigen That, wenn er etwa mit einer neuen von Staats wegen eingeführten “Organisation” alles Wesentliche für erreicht hielte heftig erregt, sofort zur That emporspringt, wenn er vom Augenblick die Früchte pflücken will, die sich ganze Geschlechter kaum erkämpfen möchten, so müßen wir fürchten, daß er weder den Autor noch das eigentliche Problem nicht verstanden hat.

Endlich ergeht dDie dritte und wichtigste Forderung an ihn endlich ist, daß er auf keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich selbst und seine Bildung unausgesetzt, etwa als Maßstab, dazwischen bringen darf, gleichsam als ob er damit ein ein sicheres Maaß und Kriterium aller Dinge besäße. Wir wünschen vielmehr, er möge gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken. Dann; dann dürfte er wohl am zutraulichsten sich der Führung des Verfassers hingeben überlassen, der es nur gerade nur von dem Nichtwissen und von dem Wissen des Nichtwissens aus wagen durfte, so zu ihm zu reden. Nichts Aanderes will er vor den Übrigen eben für sich in Anspruch nehmen, als ein stark erregtes entzündetes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barberei, für das, was uns als die Barberen des neunzehnten Jahrhunderts vor anderen so merkwürdig von den Barbaren auszeichnet anderer Zeiten unterscheidet. Nun sucht er, mit diesem Buche in der Hand, nach Solchen, die von einem ähnlichen Gefühle hin- und hergetrieben werden. Laßt euch finden, ihr Vereinzelten, an deren Dasein ich glaube! Ihr Selbstlosen, die ihr die Leiden der und Verderbnisse des deutschen Geistes an euch selbst erleidet!, Iihr Beschaulichen, deren Auge unvermögend ist, nicht etwa mit hastigem Spähen von einer Oberfläche zur anderen zu gleiten! an dem Äußeren der Dinge herumtastet, sondern den Zugang zum Kern ihres Wesens zu finden weiß, Iihr Hochsinnigen, denen Aristoteles nachrühmt, daß ihr zögernd und thatenlos durch’s Leben geht, außer wo eine große Ehre und ein großes Werk nach euch verlangen! Euch rufe ich auf.! Vverkreicht euch nur diesmal nicht in dieen Höhlen eurer Abgeschiedenheit und eures Mißtrauens.! Seid wenigstens Leser dieses Buchs, um es nachher, durch eure That, zu vernichten und vergessen zu machen! Denkt euch, dies Buch sei bestimmt, euer Herold zu sein.: Wwenn ihr erst selbst, in eurer eignen Rüstung, auf dem Kampfplatze erscheint, wen möchte es dann noch gelüsten, nach dem Herolde, der euch rief, zurückzuschauen.

Unpublished Works | Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern | Vorrede 2© The Nietzsche Channel