Published Works | Mahnruf an die Deutschen | Text© The Nietzsche Channel

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Mahnruf an die Deutschen

1873.

Wir wollen gehört werden, denn wir reden als Warner, und immer ist die Stimme des Warners, wer er auch sei und wo sie auch immer erklinge, in ihrem Rechte; dafür habt Ihr, die Ihr angeredet werdet, das Recht euch zu entscheiden, ob ihr eure Warner als ehrliche und einsichtige Männer nehmen wollt, die nur laut werden, weil ihr in Gefahr seid und die erschrecken, euch so stumm, gleichgültig und ahnungslos zu finden. Dies aber dürfen wir von uns selbst bezeugen, dass wir aus reinem Herzen reden und nur soweit dabei das Unsere wollen und suchen, als es auch das Eure ist—nämlich die Wohlfahrt und die Ehre des deutschen Geistes und des deutschen Namens.

Es ist euch gemeldet worden, welches Fest im Mai des vorigen Jahres zu Bayreuth gefeiert wurde: einen gewaltigen Grundstein galt es dort zu legen, unter dem wir viele Befürchtungen auf immer begraben, durch den wir unsere edelsten Hoffnungen endgültig besiegelt glaubten—oder vielmehr, wie wir heute sagen müssen, besiegelt wähnten. Denn ach! es war viel Wahn dabei: jetzt noch leben jene Befürchtungen; und wenn wir auch keineswegs verlernt haben zu hoffen, so giebt doch unser heutiger Hülf- und Mahnruf zu verstehen, dass wir mehr fürchten als hoffen. Unsre Furcht aber richtet sich gegen euch: ihr möchtet gar nicht wissen, was geschieht und vielleicht gar aus Unwissenheit verhindern, dass etwas geschieht. Zwar ziemt es sich längst nicht mehr, so unwissend zu sein; ja fast scheint es unmöglich, dass Jemand es jetzt noch ist, nachdem der grosse, tapfere, unbeugsame und unaufhaltsame Kämpfer Richard Wagner schon Jahrzehnte lang unter dem gespannten Aufmerken fast aller Nationen für jene Gedanken einsteht, denen er in seinem Bayreuther Kunstwerk die letzte und höchste Form und eine wahrhaft siegreiche Vollendung gegeben hat. Wenn ihr ihn jetzt noch hindern würdet, den Schatz auch nur zu heben, den er Willens ist euch zu schenken: was meint ihr wohl damit für euch erreicht zu haben? Eben dies muss euch noch einmal und immer wieder öffentlich und eindringlich vorgehalten werden, damit ihr wisset, was an der Zeit sei und damit auch nicht einmal das mehr in eurem Belieben steht, die Unwissenden zu spielen. Denn von jetzt ab wird das Ausland Zeuge und Richter im Schauspiele sein, das ihr gebt; und in seinem Spiegel werdet ihr ungefähr euer eigenes Bild wiederfinden können, so wie es die gerechte Nachwelt einmal von euch malen wird.

Gesetzt es gelänge euch, durch Unwissenheit, Misstrauen, Sekretieren, Bespötteln, Verläumden den Bau auf dem Hügel von Bayreuth zur zwecklosen Ruine zu machen; gesetzt ihr liesset es in unduldsamem Misswollen nicht einmal zu, dass das vollendete Werk Wirklichkeit werde, Wirkung thue und für sich selber zeuge, so habt ihr euch vor dem Urtheile jener Nachwelt eben so zu fürchten als vor den Augen der ausserdeutschen Mitwelt zu schämen. Wenn ein Mann in Frankreich oder in England oder in Italien, nachdem er allen öffentlichen Mächten und Meinungen zum Trotz den Theatern fünf Werke eines eigenthümlich grossen und mächtigen Styles geschenkt hätte, die vom Norden bis zum Süden unablässig verlangt und bejubelt werden—wenn ein solcher Mann ausriefe: "die bestehenden Theater entsprechen nicht dem Geiste der Nation, sie sind als öffentliche Kunst eine Schande! Helft mir dem nationalen Geiste eine Stätte bereiten!" würde ihm nicht alles zu Hülfe kommen und sei es auch nur—aus Ehrgefühl? Und wahrlich! Hier thäte nicht nur Ehrgefühl, nicht nur die blinde Furcht vor der schlechten Nachrede Noth; hier könntet ihr mitfühlen, mitlernen, mitwissen, hier könntet ihr euch aus tiefstem Herzen mitfreuen, indem ihr euch entschlösset, mitzuhelfen. Alle eure Wissenschaften werden von euch freigebig mit kostspieligen Versuchs-Werkstätten ausgerüstet: und ihr wollt unthätig bei Seite stehen, wenn dem wagenden und versuchenden Geiste der deutschen Kunst eine solche Werkstatt aufgebaut werden soll? Könnt ihr irgend einen Moment aus der Geschichte unserer Kunst nennen, in dem wichtigere Probleme zur Lösung hingestellt und reicherer Anlass zu fruchtbaren Erfahrungen geboten wurde als jetzt, wo der von Richard Wagner mit dem Namen "Kunstwerk der Zukunft" bezeichnete Gedanke leibhafte und sichtbare Gegenwart werden soll? Was für eine Bewegung der Gedanken, Handlungen, Hoffnungen und Begabungen damit eingeleitet wird, dass vor den Augen mitwissender Vertreter des deutschen Volkes der viergethürmte Nibelungen-Riesenbau nach dem allein von seinem Schöpfer zu erlernenden Rhythmus sich aus dem Boden hebt, welche Bewegung in die fernste fruchtbringendste, hoffnungsreichste Weite hinaus—wer möchte kühn genug sein, hier auch nur ahnen zu wollen! Und jedenfalls würde es nicht an dem Urheber der Bewegung liegen, wenn die Welle bald wieder zurücksinken und die Fläche wieder glatt werden sollte, als ob nichts geschehen sei. Denn wenn es unsere erste Sorge sein muss, dass das Werk überhaupt gethan werde, so drückt uns doch als zweite Sorge nicht minder schwer der Zweifel, wir möchten nicht reif, vorbereitet und empfänglich genug befunden werden, um die jedenfalls ungeheure allernächste Wirkung in die Tiefe und in die Weite zu leiten.

Wir glauben bemerkt zu haben, dass überall, wo man an Richard Wagner Anstoss genommen hat und zu nehmen pflegt, ein grosses und fruchtbares Problem unserer Cultur verborgen liegt; aber wenn man daraus immer nur einen Anstoss zum dünkelhaften Bekritteln und Bespötteln genommen hat und nur so selten einen Anstoss zum Nachdenken, so giebt dies uns bisweilen den beschämenden Argwohn ein, ob vielleicht das berühmte "Volk der Denker" bereits zu Ende gedacht und etwa den Dünkel gegen den Gedanken eingetauscht habe. Welchen missverständlichen Einreden hat man zu begegnen, nur um zu verhüten, dass das Bayreuther Ereigniss vom Mai 1872 nicht mit der Gründung eines neuen Theaters verwechselt wird, um andererseits zu erklären, warum dem Sinne jener Unternehmung kein bestehendes Theater entsprechen kann: welche Mühe kostet es, die absichtlich oder unabsichtlich Blinden darüber hellsehend zu machen, dass bei dem Worte "Bayreuth" nicht nur eine Anzahl Menschen, etwa eine Partei mit spezifischen Musikgelüsten, sondern die Nation in Betracht komme, ja dass selbst über die Grenzen der deutschen Nation hinaus alle diejenigen zu ernster und thätiger Betheiligung angerufen sind, denen die Veredlung und Reinigung der dramatischen Kunst am Herzen liegt und die Schillers wunderbare Ahnung verstanden haben, dass vielleicht einmal aus der Oper sich das Trauerspiel in einer edleren Gestalt entwickeln werde. Wer nur immer noch nicht verlernt hat nachzudenken—und sei es wiederum auch nur aus Ehrgefühl—der muss eine künstlerische Unternehmung als sittlich denkwürdiges Phänomen empfinden und begünstigen, die in diesem Grade von dein opferbereiten und uneigennützigen Willen aller Betheiligten getragen wird und mit dem ernst ausgesprochenen Bekenntniss derselben geweiht ist, dass sie von der Kunst hoch und würdig denken und zumal von der deutschen Musik und ihrer verklärenden Einwirkung auf das volksthümliche Drama die wichtigste Förderung eines originalen deutsch ausgeprägten Lebens erhoffen. Glauben wir doch sogar noch ein Höheres und Allgemeineres: ehrwürdig und heilbringend wird der Deutsche erst dann den anderen Nationen erscheinen, wenn er gezeigt hat, dass er furchtbar ist und es doch durch Anspannung seiner höchsten und edelsten Kunst- und Culturkräfte vergessen machen will, dass er furchtbar war.

An diese unsere deutsche Aufgabe in diesem Augenblick zu mahnen hielten wir für unsere Pflicht, gerade jetzt, wo wir auffordern müssen, mit allen Kräften eine grosse Kunstthat des deutschen Genius zu unterstützen. Wo nur immer Herde ernsten Nachsinnens sich in unserer aufgeregten Zeit erhalten haben, erwarten wir einen freudigen und sympathischen Zuruf zu hören; insbesondere werden die deutschen Universitäten, Akademien und Kunstschulen nicht umsonst aufgerufen sein, sich der geforderten Unterstützung gemäss, einzeln oder zusammen, zu erklären: wie ebenfalls die politischen Vertreter deutscher Wohlfahrt in Reichs- und Landtagen einen wichtigen Anlass haben zu bedenken, dass das Volk jetzt mehr wie je der Reinigung und der Weihung durch die erhabenen Zauber und Schrecken ächter deutscher Kunst bedürfe, wenn nicht die gewaltig erregten Triebe politischer und nationaler Leidenschaft und die der Physiognomie unseres Lebens aufgeschriebenen Züge der Jagd nach Glück und Genuss unsere Nachkommen zu dem Geständnisse nöthigen sollen, dass wir Deutsche uns selbst zu verlieren anfingen, als wir uns endlich wiedergefunden hatten.

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