Published Works | Briefe an Der Kunstwart 1888 © The Nietzsche Channel
Briefe
an
Der Kunstwart
von
Friedrich Nietzsche.
1888

Der Kunstwart.
Rundschau
über alle Gebiete des Schönen.

6. Stück, 2. Jahrg. 16. Dez. 1888:89.


Der Herausgeber d. Bl. enthält sich jeder Bemerkung sachlicher Art und bemerkt persönlich nur Eines. Er hat den Umstand, daß Nietzsches "Sinnesänderung" "nicht von gestern ist," in der That nicht für eine, geschweige denn für die Hauptsache in der behandelten Frage halten können (noch kann er das jetzt) und deshalb zu seiner Hervorhebung auch keinen Anlaß gesehen. Nicht über Nietzsche, den Wagnerkritiker überhaupt, sondern allein über ihn als Verfasser des "Falles Wagner" glaubte er sprechen zu sollen. Unzweifelhaft wäre sonst noch Vieles und manches auf andre Weise zu erörtern gewesen. [Ferdinand Avenarius.]


[An Ferdinand Avenarius in Dresden (Turin, 10. Dezember 1888).]

... Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihre Kritik, mehr noch als für die ausgezeichneten Worte des Herrn Gasts, — ich las sie mit Entzücken, Sie habe, ohne es zu wissen, mir das Angenehmste gesagt, was mir jetzt gesagt werden konnte. In diesem Jahre, wo eine ungeheure Aufgabe, die Umwertung aller Werte, auf mir liegt und ich, wörtlich gesagt, das Schicksal der Menschen zu tragen habe, gehört es zu meinen Beweisen der Kraft, in dem Grade Hanswurst, Satyr oder, wenn Sie es vorziehen, "Feuilletonist" zu sein, — sein zu können, wie ich es im "Fall Wagner" gewesen bin. Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie: es könnte sein, daß ich mich schon über ganz andere "Größen" auf eine unwahrscheinliche Weise erheitert habe ... Zuletzt thut das meiner persönlichsten Pietät gegen Wagner am wenigsten Abbruch; noch im vorigen Monat habe ich jener unvergeßlichen Zeit der Intimität zwischen uns ein Denkmal gesetzt, das dauern wird: in einem Werke, das jetzt im Druck ist und das jeden Zweifel über mich wegnehmen wird. Auch Ihnen Zweifel, sehr werter und lieber Herr! Der "jüngere" Nietzsche ist niemals über den Punkt-Wagner mit dem "älteren" Nietzsche in Widerspruch gewesen: es bliebe wohl zu beweisen, daß jenes x von Wesen, dessen Psychologie in der vierten Unzeitgemäße gegeben wird, wirklich etwas mit dem Gatten von Frau Cosima zu thun hat oder ... — daß ,— Vollkommene können?— Die Musiker, unter uns, finden, ich hätte alles bewiesen, nur zu sehr ... Man schreibt mir Briefe über Briefe ...


[An Ferdinand Avenarius in Dresden (Turin, 10. Dezember 1888).]

... Vergeben Sie mir, in aller Heiterkeit, ein Nachschrift: es scheint, es geht beim Fall Wagner nicht ohne Nachschrift ab.— Warum haben Sie eigentlich Ihren Lesern die Hauptsache vorenthalten? Daß meine "Sinnesänderung," wie Sie es nennen, nicht von gestern ist? Ich führe nunmehr seit 10 Jahren Krieg gegen die Verderbnis von Bayreuth, — Wagner hielt mich seit 1876 für seinen eigentlichen und einzigen Gegner, die Spuren davon sind überreich in seinen späteren Schriften. Der Gegensatz eines décadent und einer aus der Überfülle der Kraft herausschaffenden, das heißt dionysischen Natur, der das Schwerste Spiel ist, ist ja zwischen uns handgreiflich (ein Gegensatz, der vielleicht in fünfzig Stellen meiner Bücher ausgedrückt ist, z. B. in der "fröhl. Wissenschaft" S. 312 ff). Wir sind verschieden wie arm und reich. Unter Musikern ist ja über die Armut Wagners gar kein Zweifel; vor mir, vor dem auch die Verstocktesten ehrlich werden, sind auch die extremen Parteigänger seiner Sache über diesen Punkt ehrlich geworden. Wagner war mit als Typus unschätzbar; ich habe an unzähligen Stellen den biologischen Gegensatz des verarmten und, folglich, raffinirten und brutalen Kunstinstinkts zum reichen, leichten, im Spiele sich echt bejahenden dargestellt — vergeben Sie mir! sogar mit der von Ihnen gewünschten "ruhig sachlichen Entwickelung der Gründe." Eine kleine Hand voll Stellen:

Menschl. Allzumenschl. (— vor mehr als 10 Jahren geschrieben)
2,62 ff. décadence und Berninismus im Stil W.'s.
2,51 seine
2,60 Verwilderung im Rhythmischen,
2,76 Katholizismus der Gefühle, seine "Helden" physiologisch unmöglich.
Wanderer u. Schatten 93 gegen das espressivo um jeden Preis.
Morgenröte 225 die Kunst W.s, den Laien in der Musik zu täuschen.
Fröhl. Wissenschaft 309 W. Schauspieler durch und durch, auch als Musiker. 110 Bewunderungswürdig im Raffinement des sinnlichen Schmerzes.

Jenseits von Gut und Böse 221 Wagner zum kranken Paris gehörig, eigentlich ein französischer Spät-Romantiker, wie Delacroix, wie Berlioz, alle mit einem fond von Unheilbarkeit auf dem Grunde und, folglich, Fanatiker des Ausdrucks.

— Warum ich das Alles Ihnen schreibe? Weil man in St. Petersburg und in Paris mich ebenso ernst nimmt und liest, wie nachlässig im "Vaterlande" ... Nachlässig — was für ein Euphemismus ...


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