Published Works | Vermischte Meinungen und Sprüche 1879 | Text© The Nietzsche Channel

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Menschliches, Allzumenschliches
Ein Buch für freie Geister.

ANHANG:
Vermischte Meinungen und Sprüche.


1879.

1

An die Enttäuschten der Philosophie.— Wenn ihr bisher an den höchsten Wert des Lebens geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, müsst ihr es denn jetzt zum niedrigsten Preise losschlagen?

2

Verwöhnt.— Man kann sich auch in bezug auf die Helligkeit der Begriffe verwöhnen: wie ekelhaft wird da der Verkehr mit den Halbklaren, Dunstigen, Strebenden, Ahnenden! Wie lächerlich und doch nicht erheiternd wirkt ihr ewiges Flattern und Haschen und doch nicht Fliegen- und Fangen-können!

3

Die Freier der Wirklichkeit.— Wer endlich merkt, wie sehr und wie lange er genarrt worden ist, umarmt aus Trotz selbst die hässlichste Wirklichkeit: so dass dieser, den Verlauf der Welt im ganzen gesehen, zu allen Zeiten die allerbesten Freier zugefallen sind,—denn die Besten sind immer am besten und längsten getäuscht worden.

4

Fortschritt der Freigeisterei.— Man kann den Unterschied der früheren und der gegenwärtigen Freigeisterei nicht besser verdeutlichen, als wenn man jenes Satzes gedenkt, den zu erkennen und auszusprechen die ganze Unerschrockenheit des vorigen Jahrhunderts nötig war und der dennoch, von der jetzigen Einsicht aus bemessen, zu einer unfreiwilligen Naivität herabsinkt,—ich meine den Satz Voltaires: "croyez-moi, mon ami, l'erreur aussi a son mérite." [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Die Führung des Lebens. Leipzig: Steinacker, 1862:179.]

5

Eine Erbsünde der Philosophen.— Die Philosophen haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer (Moralisten) sich angeeignet und verdorben dadurch, dass sie dieselben unbedingt nahmen und das als notwendig beweisen wollten, was von jenen nur als ungefährer Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehnts gemeint war,—während sie gerade dadurch sich über jene zu erheben meinten. So wird man als Grundlage der berühmten Lehren Schopenhauers vom Primat des Willens vor dem Intellekt, von der Unveränderlichkeit des Charakters, von der Negativität der Lust—welche alle, so wie er sie versteht, Irrtümer sind—populäre Weisheiten finden, welche Moralisten aufgestellt haben. Schon das Wort "Wille," welches Schopenhauer zur gemeinsamen Bezeichnung vieler menschlichen Zustände umbildete und in eine Lücke der Sprache hineinstellte, zum grossen Vorteil für ihn selber, soweit er Moralist war—da es ihm nun freistand, vom "Willen" zu reden, wie Pascal von ihm geredet hatte—, schon der "Wille" Schopenhauers ist unter den Händen seines Urhebers, durch die Philosophen-Wut der Verallgemeinerung, zum Unheil für die Wissenschaft ausgeschlagen: denn dieser Wille ist zu einer poetischen Metapher gemacht, wenn behauptet wird, alle Dinge in der Natur hätten Willen; endlich ist er, zum Zwecke einer Verwendung bei allerhand mystischem Unfuge, zu einer falschen Verdinglichung gemissbraucht worden—und alle Modephilosophen sagen es nach und scheinen es ganz genau zu wissen, dass alle Dinge einen Willen hätten, ja dieser eine Wille wären (was, nach der Abschilderung, die man von diesem All-Eins-Willen macht, so viel bedeutet, als ob man durchaus den dummen Teufel zum Gotte haben wolle).

6

Wider die Phantasten.— Der Phantast verleugnet die Wahrheit vor sich, der Lügner nur vor andern.

7

Licht-Feindschaft.— Macht man jemandem klar, dass er, streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern immer nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden reden könne, so entdeckt man gewöhnlich an der unverhohlenen Freude des also Belehrten, wieviel lieber den Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist und wie sie die Wahrheit im Grunde ihrer Seele wegen ihrer Bestimmtheit hassen.— Liegt es daran, dass sie alle insgeheim selber Furcht davor haben, dass man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, was sie sind? Oder ist es nur die Scheu vor dem allzu hellen Licht, an welches ihre dämmernden, leicht zu blendenden Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so dass sie es hassen müssen.

8

Christen-Skepsis.— Pilatus, mit seiner Frage: was ist Wahrheit!, wird jetzt gern als Advokat Christi eingeführt, um alles Erkannte und Erkennbare als Schein zu verdächtigen und auf dem schauerlichen Hintergrunde des Nichts-wissen-könnens das Kreuz aufzurichten.

9

"Naturgesetz" ein Wort des Aberglaubens.— Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmässigkeit in der Natur redet, so müsst ihr doch entweder annehmen, dass aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlichen Dinge ihrem Gesetze folgen—in welchem Falle ihr also die Moralität der Natur bewundert—; oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden Wesen als Zierat daran, gemacht hat.— Die Notwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck "Gesetzmässigkeit" menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei.

10

Der Historie verfallen.— Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feineren und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, dass es mit dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer Schmerzen wegen, zu verzeihen, dass sie nach jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflat werfen: die Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeitlang schmutzig und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren.

11

Der Pessimist des Intellekts.— Der wahrhaft Freie im Geiste wird auch über den Geist selber frei denken und sich einiges Furchtbare in Hinsicht auf Quelle und Richtung desselben nicht verhehlen. Deshalb werden ihn die andern vielleicht als den ärgsten Gegner der Freigeisterei bezeichnen und mit dem Schimpf- und Schreckwort "Pessimist des Intellekts" belegen: gewohnt, wie sie sind, jemanden nicht nach seiner hervorragenden Stärke und Tugend zu nennen, sondern nach dem, was ihnen am fremdesten an ihm ist.

12

Schnappsack der Metaphysiker.— Allen denen, welche so grosstuerisch von der Wissenschaftlichkeit ihrer Metaphysik reden, soll man gar nicht antworten; es genügt, sie an dem Bündel zu zupfen, welches sie, einigermassen scheu, hinter ihrem Rücken verborgen halten; gelingt es, dasselbe zu lüpfen, so kommen die Resultate jener Wissenschaftlichkeit, zu ihrem Erröten, ans Licht: ein kleiner lieber Herrgott, eine artige Unsterblichkeit, vielleicht etwas Spiritismus und jedenfalls ein ganzer verschlungener Haufen von Armen-Sünder-Elend und Pharisäer-Hochmut.

13

Gelegentliche Schädlichkeit der Erkenntnis.— Die Nützlichkeit, welche die unbedingte Erforschung des Wahren mit sich bringt, wird fortwährend so hundertfach neu bewiesen, dass man die feinere und seltnere Schädlichkeit, an der Einzelne ihrethalben zu leiden haben, unbedingt mit in den Kauf nehmen muss. Man kann es nicht verhindern, dass der Chemiker bei seinen Versuchen sich gelegentlich vergiftet und verbrennt.— Was vom Chemiker gilt, gilt von unsrer gesamten Kultur: woraus sich, nebenbei gesagt, deutlich ergibt, wie sehr dieselbe für Heilsalben bei Verbrennungen und für das stete Vorhandensein von Gegengiften zu sorgen hat.

14

Philister-Notdurft.— Der Philister meint einen Purpurfetzen oder Turban von Metaphysik am nötigsten zu haben und will ihn durchaus nicht schlüpfen lassen: und doch würde man ihn ohne diesen Putz weniger lächerlich finden.

15

Die Schwärmer.— Mit allem, was Schwärmer zugunsten ihres Evangeliums oder ihres Meisters sagen, verteidigen sie sich selbst, so sehr sie sich auch als Richter (und nicht als Angeklagte) gebärden, weil sie unwillkürlich und fast in jedem Augenblick daran erinnert werden, dass sie Ausnahmen sind, die sich legitimieren müssen.

16

Das Gute verführt zum Leben.— Alle guten Dinge sind starke Reizmittel zum Leben, selbst jedes gute Buch, das gegen das Leben geschrieben ist.

17

Glück des Historikers.— "Wenn wir die spitzfindigen Metaphysiker und Hinterweltler reden hören, fühlen wir anderen freilich, dass wir die 'Armen im Geist' sind, aber auch, dass unser das Himmelreich des Wechsels, mit Frühling und Herbst, Winter und Sommer, und jener die Hinterwelt ist—mit ihren grauen, frostigen, unendlichen Nebeln und Schatten."— So sprach einer zu sich bei einem Gange in der Morgensonne: einer, dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatze zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht "eine unsterbliche Seele," sondern viele sterbliche Seelen in sich zu beherbergen.

18

Drei Arten von Denkern.— Es gibt strömende, fliessende, tröpfelnde Mineralquellen; und dementsprechend drei Arten von Denkern. Der Laie schätzt sie nach der Masse des Wassers, der Kenner nach dem Gehalt des Wassers ab, also nach dem, was eben nicht Wasser in ihnen ist.

19

Das Bild des Lebens.— Die Aufgabe, das Bild des Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und Philosophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig: auch unter den Händen der grössten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen aus einem Leben, nämlich aus ihrem Leben, entstanden—und nichts anderes ist auch nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein "das" spiegeln.

20

Wahrheit will keine Götter neben sich.— Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten Wahrheiten.

21

Worüber Schweigen verlangt wird.— Wenn man von der Freigeisterei wie von einer höchst gefährlichen Gletscher- und Eismeer-Wanderung redet, so sind die, welche jenen Weg nicht gehen wollen, beleidigt, als ob man ihnen Zaghaftigkeit und schwache Knie zum Vorwurf gemacht hätte. Das Schwere, dem wir uns nicht gewachsen fühlen, soll nicht einmal vor uns genannt werden.

22

Historia in nuce.— Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: "im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott!, und Gott (göttlich) war der Unsinn."

23

Unheilbar.— Ein Idealist ist unverbesserlich: wirft man ihn aus seinem Himmel, so macht er sich aus der Hölle ein Ideal zurecht. Man enttäuschte ihn und siehe!— er wird die Enttäuschung nicht minder brünstig umarmen, als er noch jüngst die Hoffnung umarmt hat. Insofern sein Hang zu den grossen unheilbaren Hängen der menschlichen Natur gehört, kann er tragische Schicksale herbeiführen und später Gegenstand von Tragödien werden: als welche es eben mit dem Unheilbaren, Unabwendbaren, Unentfliehbaren in Menschenlos und -Charakter zu tun haben.

24

Der Beifall selber als Fortsetzung des Schauspiels.— Strahlende Augen und ein wohlwollendes Lächeln ist die Art des Beifalls, welcher der ganzen grossen Welt- und Daseinskomödie gezollt wird,—aber zugleich eine Komödie in der Komödie, welche die andern Zuschauer zum "plaudite amici"* verführen soll. [*die letzten Worte des Augustus, nach Suetonius Divus Augustus 90, 1]

25

Mut zur Langweiligkeit.— Wer den Mut nicht hat, sich und sein Werk langweilig finden zu lassen, ist gewiss kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder Wissenschaften.— Ein Spötter, der ausnahmsweise auch ein Denker wäre, könnte, bei einem Blick auf Welt und Geschichte, hinzufügen: "Gott hatte diesen Mut nicht; er hat die Dinge insgesamt zu interessant machen wollen und gemacht."

26

Aus der innersten Erfahrung des Denkers.— Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache unpersönlich zu fassen: ich meine, in ihr eben eine Sache und keine Person zu sehen: ja man kann fragen, ob es ihm überhaupt möglich ist, das Uhrwerk seines personenbildenden, personendichtenden Triebes auch nur einen Augenblick auszuhängen. Verkehrt er doch selbst mit Gedanken, und seien es die abstraktesten, so, als wären es Individuen, mit denen man kämpfen, an die man sich anschliessen, welche man behüten, pflegen, aufnähren müsse. Belauern und belauschen wir uns nur selber, in jenen Minuten, wo wir einen uns neuen Satz hören oder finden. Vielleicht missfällt er uns, weil er so trotzig, so selbstherrlich dasteht: unbewusst fragen wir uns, ob wir ihm nicht einen Gegensatz als Feind zur Seite ordnen, ob wir ihm ein "Vielleicht," ein "Mitunter" anhängen können; selbst das Wörtchen "wahrscheinlich" gibt uns eine Genugtuung, weil es die persönlich lästige Tyrannei des Unbedingten bricht. Wenn dagegen jener neue Satz in milder Form einherzieht, fein duldsam und demütig und dem Widerspruche gleichsam in die Arme sinkend, so versuchen wir es mit einer andern Probe unsrer Selbstherrlichkeit: wie, können wir diesem schwachen Wesen nicht zu Hilfe kommen, es streicheln und nähren, ihm Kraft und Fülle, ja Wahrheit und selbst Unbedingtheit geben? Ist es möglich, uns elternhaft oder ritterlich oder mitleidig gegen dasselbe zu benehmen?— Dann wieder sehen wir hier ein Urteil und dort ein Urteil entfernt voneinander, ohne sich anzusehen, ohne sich aufeinander zuzubewegen: da kitzelt uns der Gedanke, ob hier nicht eine Ehe zu stiften, ein Schluss zu ziehen sei, mit dem Vorgefühle, dass im Falle sich eine Folge aus diesem Schlusse ergibt, nicht nur die beiden ehelich verbundenen Urteile, sondern auch die Ehestifter die Ehre davon haben. Kann man aber weder auf dem Wege des Trotzes und Übelwollens, noch auf dem des Wohlwollens jenem Gedanken etwas anhaben (hält man ihn für wahr—), dann unterwirft man sich und huldigt ihm als einem Führer und Herzoge, gibt ihm einen Ehrenstuhl und spricht nicht ohne Gepränge und Stolz von ihm; denn in seinem Glanze glänzt man mit. Wehe dem, der diesen verdunkeln will; es sei denn, dass er selber uns eines Tages bedenklich wird:—dann stossen wir, die unermüdlichen "Königsmacher" (king-makers) der Geschichte des Geistes, ihn vom Throne und heben flugs seinen Gegner hinauf. Dies erwäge man und denke noch ein Stück weiter: gewiss wird niemand dann von einem "Erkenntnistriebe an und für sich" reden!— Weshalb zieht also der Mensch das Wahre dem Unwahren vor, in diesem heimlichen Kampfe mit Gedanken-Personen, in dieser meist versteckt bleibenden Gedanken-Ehestiftung, Gedanken-Staatenbegründung, Gedanken-Kinderzucht, Gedanken-Armen- und Krankenpflege? Aus dem gleichen Grunde, aus dem er die Gerechtigkeit im Verkehre mit wirklichen Personen übt: jetzt aus Gewohnheit, Vererbung und Anerziehung, ursprünglich, weil das Wahre—wie auch das Billige und Gerechte—nützlicher und ehrbringender ist als das Unwahre. Denn im Reiche des Denkens sind Macht und Ruf schlecht zu behaupten, die sich auf dem Irrtum oder der Lüge aufbauen: das Gefühl, dass ein solcher Bau irgend einmal zusammenbrechen könne, ist demütigend für das Selbstbewusstsein seines Baumeisters; er schämt sich der Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, weil er sich selber wichtiger als die übrige Welt nimmt, nichts tun, was nicht dauernder als die übrige Welt wäre. Im Verlangen nach der Wahrheit umarmt er den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit, das heisst den hochmütigsten und trotzigsten Gedanken, den es gibt, verschwistert wie er ist mit dem Hintergedanken "pereat mundus, dum ego salvus sim"! [Vgl. Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik, 266; Parerga und Paralipomena 2, 236.] Sein Werk ist ihm zu seinem ego geworden, er schafft sich selber ins Unvergängliche, allem Trotz Bietende um. Sein unermesslicher Stolz ist es, der nur die besten härtesten Steine zum Werke verwenden will, Wahrheiten also oder das, was er dafür hält. Mit Recht hat man zu allen Zeiten als "das Laster des Wissenden" den Hochmut genannt—doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster erbärmlich um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt sein. Darin, dass wir uns vor unsern eigenen Gedanken, Begriffen, Worten fürchten, dass wir aber auch in ihnen uns selber ehren, ihnen unwillkürlich die Kraft zuschreiben, uns belohnen, verachten, loben und tadeln zu können, darin, dass wir also mit ihnen wie mit freien geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren, als Gleiche mit Gleichen—darin hat das seltsame Phänomen sseine Wurzel, welches ich "intellektuales Gewissen" genannt habe.— So ist auch hier etwas Moralisches höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht.

27

Die Obskuranten.— Das Wesentliche an der schwarzen Kunst des Obskurantismus ist nicht, dass er die Köpfe verdunkeln will, sondern dass er das Bild der Welt anschwärzen, unsere Vorstellung vom Dasein verdunkeln will. Dazu dient ihm zwar häufig jenes Mittel, die Aufhellung der Geister zu hintertreiben: mitunter aber gebraucht er gerade das entgegengesetzte Mittel und sucht durch die höchste Verfeinerung des Intellekts einen Überdruss an dessen Früchten zu erzeugen. Spitzfindige Metaphysiker, welche die Skepsis vorbereiten und durch ihren übermässigen Scharfsinn zum Misstrauen gegen den Scharfsinn auffordern, sind gute Werkzeuge eines feineren Obskurantismus.— Ist es möglich, dass selbst Kant in dieser Absicht verwendet werden kann? ja dass er, nach seiner eignen berüchtigten Erklärung, etwas Derartiges, wenigstens zeitweilig, gewollt hat: dem Glauben Bahn machen dadurch, dass er dem Wissen seine Schranken wies?—was ihm nun freilich nicht gelungen isst, ihm sowenig wie seinen Nachfolgern auf den Wolfs- und Fuchsgängen dieses höchst verfeinerter und gefährlichen Obskurantismus, ja des gefährlichsten: denn die schwarze Kunst erscheint hier in einer Lichthülle.

28

An welcher Art von Philosophie die Kunst verdirbt.— Wenn es den Nebeln einer metaphysisch-mystischen Philosophie gelingt, alle ästhetischen Phänomene undurchsichtbar zu machen, so folgt dann, dass sie auch untereinander unabschätzbar sind, weil jedes einzelne unerklärlich wird. Dürfen sie aber nicht einmal mehr miteinander zum Zwecke der Abschätzung verglichen werden, so entsteht zuletzt eine vollständige Unkritik, ein blindes Gewährenlassen: daraus aber wiederum eine stetige Abnahme des Genusses an der Kunst (welcher nur durch ein höchst verschärftes Schmecken und Unterscheiden sich von der rohen Stillung eines Bedürfnisses unterscheidet). Je mehr aber der Genuss abnimmt, um so mehr wandelt sich das Kunstverlangen zum gemeinen Hunger um und zurück, dem nun der Künstler durch immer gröbere Kost abzuhelfen sucht.

29

Auf Gethsemane.— Das Schmerzlichste, was der Denker zu den Künstlern sagen kann, lautet: "könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?

30

Am Webstuhle.— Den wenigen, welche eine Freude daran haben, den Knoten der Dinge zu lösen und sein Gewebe aufzutrennen, arbeiten viele entgegen (zum Beispiel alle Künstler und Frauen), ihn immer wieder neu zu knüpfen und zu verwickeln und so das Begriffne ins Unbegriffne, womöglich Unbegreifliche umzubilden. Was dabei auch sonst herauskomme—das Gewebte und Verknotete wird immer etwas unreinlich aussehen müssen, weil zu viele Hände daran arbeiten und ziehen.

31

In der Wüste der Wissenschaft.— Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man "philosophische Systeme" nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Rätsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe; das Herz schwelgt, und der Ermüdete berührt das Ziel aller wissenschaftlichen Ausdauer und Not beinahe schon mit den Lippen, so dass er wie unwillkürlich vorwärts drängt. Freilich bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie tot. Wieder andere Naturen, welche jene subjektiven Tröstungen schon öfter erfahren haben, werden wohl aufs äusserste missmutig und verfluchen den Salzgeschmack, welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und aus dem ein rasender Durst entsteht—ohne dass man nur einen Schritt damit irgend einer Quelle näher gekommen wäre.

32

Die angebliche "wirkliche Wirklichkeit."— Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen Berufsarten, z. B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des Seemanns schildert, als ob er diese Dinge von Grund aus kenne und ein Wissender sei; ja bei der Auseinandersetzung menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes zugegen gewesen sei; insofern ist er ein Betrüger. Und zwar betrügt er vor lauter Nichtwissenden—und deshalb gelingt es ihm: diese bringen ihm das Lob seines echten und tiefen Wissens entgegen und verleiten ihn endlich zu dem Wahne, er wisse die Dinge wirklich so gut wie der einzelne Kenner und Macher, ja wie die grosse Welten-Spinne selber. Zuletzt also wird der Betrüger ehrlich und glaubt an seine Wahrhaftigkeit. Ja die empfindenden Menschen sagen es ihm sogar ins Gesicht, er habe diehöhere Wahrheit und Wahrhaftigkeit,—sie sind nämlich der Wirklichkeit zeitweilig müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohltätige Ausspannung und Nacht für Kopf und Herz. Was dieser Traum ihnen zeigt, erscheint ihnen jetzt mehr wert, weil sie es, wie gesagt, wohltätiger empfinden: und immer haben die Menschen gemeint, das wertvoller Scheinende sei das Wahrere, Wirklichere. Die Dichter, die sich dieser Macht bewusst sind, gehen absichtlich darauf aus, das, was für gewöhnlich Wirklichkeit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unechten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden; sie benutzen alle Zweifel über die Grenzen der Erkenntnis, alle skeptischen Ausschreitungen, um die faltigen Schleier der Unsicherheit über die Dinge zu breiten: damit dann, nach dieser Verdunkelung, ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur "wahren Wahrheit," zur "wirklichen Wirklichkeit" verstanden werde.

33

Gerecht sein wollen und Richter sein wollen.— Schopenhauer, dessen grosse Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher Tatsachen-Sinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt worden ist (welches man ihm erst abziehen muss, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken)—Schopenhauer macht jene treffliche Untterscheidung, mit der er viel mehr recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte: "die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Grenzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den andern scheidet." [Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik, 182.] Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zuzeiten offen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurteil entgegen, welches er mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: "der letzte und wahre Aufschluss über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muss notwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns" [Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik, 109]—was eben durchaus nicht "notwendig" ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heisst der unbedingten Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den andern durch den Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen "Gebildet" und "Ungebildet," wie sie jetzt existiert, kaum einen Begriff gibt. Freilich muss noch manche Hintertüre, welche sich die "philosophischen Köpfe," gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: keine führt ins Freie, in die Luft des freien Willens;jede, durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums: wir sind im Gefängnis, frei können wir uns nur träumen, nicht machen. Dass dieser Erkenntnis nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen.— So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: "also kein Mensch verantwortlich? Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muss doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den einzelnen, die arme Welle im notwendigen Wellenspiele des Werdens anzuklagen und zu richten—nun denn: so sei das Wellenspiel selbsst, das Werden, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurteilt, gebüsst und gesühnt werden: so sei Gott der Sünder und der Mensch sein Erlöser: so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und Selbstmord; so werde der Missetäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker."— Dieses auf den Kopf gestellte Christentum—was ist es denn sonst?—ist der letztte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit—ein schauerliches Ding, wenn es mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine hässliche Gebärde des unterliegenden Gedankens—etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: "Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt."— Der Irrtum steckt nicht nur im Gefühle "ich bin verantwortlich," sondern ebenso in jenem Gegensatze "ich bin es nicht, aber irgendwer muss es doch sein."— Dies ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, "richtet nicht!," und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, dass die ersten gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.

34

Aufopferung.— Ihr meint, das Kennzeichen der moralischen Handlung sei die Aufopferung?— Denkt doch nach, ob nicht bei jeder Handlung, die mit Überlegung getan wird, Aufopferung dabei ist, bei der schlechtesten wie bei der besten.

35

Gegen die Nierenprüfer der Sittlichkeit.— Man muss das Beste und das Schlechteste kennen, dessen ein Mensch fähig ist, im Vorstellen und Ausführen, um zu beurteilen, wie stark seine sittliche Natur ist und wurde. Aber jenes zu erfahren ist unmöglich.

36

Schlangenzahn.— Ob man einen Schlangenzahn habe oder nicht, weiss man nicht eher, als bis jemand die Ferse auf uns gesetzt hat. Eine Frau oder Mutter würde sagen: bis jemand die Ferse auf unsern Liebling, unser Kind gesetzt hat.— Unser Charakter wird noch mehr durch den Mangel gewisser Erlebnisse als durch das, was man erlebt, bestimmt.

37

Der Betrug in der Liebe.— Man vergisst manches aus seiner Vergangenheit und schlägt es sich absichtlich aus dem Sinn: das heisst, man will, dass unser Bild, welches von der Vergangenheit her uns anstrahlt, uns belüge. unserm Dünkel schmeichele—wir arbeiten fortwährend an diesem Selbstbetruge.— Und nun meint ihr, die ihr so viel vom "Sichselbstvergessen in der Liebe," vom "Aufgehen des Ich in der anderen Person" redet und rühmt, dies sei etwas wesentlich anderes? Also man zerbricht den Spiegel, dichtet sich in eine Person hinein, die man bewundert, und geniesst nun das neue Bild seines Ich, ob man es schon mit dem Namen der andern Person nennt—und dieser ganze Vorgang soll nicht Selbstbetrug, nicht Selbstsucht sein, ihr—Wunderlichen!— Ich denke, die, welche etwas von sich vor sich verhehlen und die, welche sich als Ganzes vor sich verhehlen, sind darin gleich, dass sie in der Schatzkammer der Erkenntnis einen Diebstahl verüben: woraus sich ergibt, vor welchem Vergehen der Satz "erkenne dich selbst" warnt.

38

An den Leugner seiner Eitelkeit.— Wer die Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so brutaler Form, dass er instinktiv vor ihr das Auge schliesst, um sich nicht verachten zu müssen.

39

Weshalb die Dummen so oft boshaft werden.— Auf Einwände des Gegners, gegen welche sich unser Kopf zu schwach fühlt, antwortet unser Herz durch Verdächtigung der Motive seiner Einwände.

40

Die Kunst der moralischen Ausnahmen.— Einer Kunst, welche die Ausnahmefälle der Moral zeigt und verherrlicht—dort, wo das Gute schlecht, das Ungerechte gerecht wird—, darf man nur selten Gehör geben: wie man von Zigeunern ab und zu etwas kauft, doch mit Scheu, dass sie nicht viel mehr entwenden, als der Gewinn beim Kaufe ist.

41

Genuss und Nicht-Genuss von Giften.— Das einzige entscheidende Argument, welches zu allen Zeiten die Menschen abgehalten hat, ein Gift zu trinken, ist nicht, dass es tötete, sondern dass es schlecht schmeckte.

42

Die Welt ohne Sündengefühle.— Wenn nur solche Taten getan würden, welche kein schlechtes Gewissen erzeugen, so sähe die menschliche Welt immer noch schlecht und schurkenhaft genug aus: aber nicht so kränklich und erbärmlich wie jetzt.— Es lebten genug Böse ohne Gewissen zu allen Zeiten: und vielen Guten und Braven fehlt das Lustgefühl des guten Gewissens.

43

Die Gewissenhaften.— Seinem Gewissen folgen ist bequemer als seinem Verstande: denn es hat bei jedem Misserfolg eine Entschuldigung und Aufheiterung in sich. Darum gibt es immer noch so viele Gewissenhafte gegen so wenig Verständige.

44

Entgegengesetzte Mittel, das Bitterwerden zu verhüten.— Dem einen Temperament ist es von Nutzen, seinen Verdruss in Worten auslassen zu können: im Reden versüsst es sich. Ein anderes Temperament kommt erst durch Aussprechen zu seiner vollen Bitterkeit: ihm ist es rätlicher, etwas hinunterschlucken zu müssen: der Zwang, den Menschen solcher Art sich vor Feinden oder Vorgesetzten antun, verbessert ihren Charakter und verhütet, dass er allzu scharf und sauer wird.

45

Nicht zu schwer nehmen.— Sich wund liegen ist unangenehm, aber doch kein Beweis gegen die Güte der Kur, nach der man bestimmt wurde, sich zu Bett zu legen.— Menschen, die lange ausser sich lebten und endlich sich dem philosophischen Innen- und Binnenleben zuwandten, wissen, dass es auch ein Sich-wund-liegen von Gemüt und Geist gibt. Dies ist also kein Argument gegen die gewählte Lebensweise im ganzen, macht aber einige kleine Ausnahmen und scheinbare Rückfälligkeiten nötig.

46

Das menschliche "Ding an sich."— Das verwundbarste Ding und doch das unbesiegbarste ist die menschliche Eitelkeit: ja, durch die Verwundung wächst seine Kraft und kann zuletzt riesengross werden.

47

Die Posse vieler Arbeitsamen.— Sie erkämpfen durch ein Übermass von Anstrengung sich freie Zeit und wissen nachher nichts mit ihr anzufangen als die Stunden abzuzählen, bis sie abgelaufen sind.

48

Viel Freude haben.— Wer viel Freude hat, muss ein guter Mensch sein: aber vielleicht ist er nicht der klügste, obwohl er gerade das erreicht, was der Klügste mit aller seiner Klugheit erstrebt.

49

Im Spiegel der Natur.— Ist ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, dass er gern zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, dass er die Waldes- und Blumenfarben des abglühenden und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Schöneres hindeuten als der Natur je gelingt, dass er unter grossen fettblättrigen Nussbäumen sich ganz heimisch wie unter Blutsverwandten fühlt, dass im Gebirge seine grösste Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen zu begegnen, aus denen ihn die Einsamkeit selber mit ihren Augen anzusehen scheint, dass er jene graue Ruhe der Nebel-Dämmerung liebt, welche an Herbst- und Frühwinter-Abenden an die Fenster heranschleicht und jedes seelenlose Geräusch wie mit Samtvorhängen ausschliesst, dass er unbehauenes Gestein als übrig gebliebene, der Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfindet und von Kind an verehrt, und zuletzt, dass ihm das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und Raubtier-Schönheit fremd ist und bleibt?— Ja, etwas von diesem Menschen ist allerdings damit beschrieben: aber der Spiegel der Natur sagt nichts darüber, dass derselbe Mensch, bei aller seiner idyllischen Empfindsamkeit (und nicht einmal "trotz ihrer"), ziemlich lieblos, knauserig und eingebildet sein könnte. Horaz, der sich auf dergleichen Dinge verstand, hat das zarteste Gefühl für das Landleben einem römischen Wucherer in Mund und Seele gelegt, in dem berühmten "beatus ille qui procul negotiis." [Horaz, Epodon Liber 2, 1: Beatus ille qui procul negotiis, / ut prisca gens mortalium / paterna rura bobus exercet suis, / solutus omni fenore, / neque excitatur classico meles truci / neque horret iratum mare, / forumque vitat et superba civium / potentiorum limina.]

50

Macht ohne Siege.— Die stärkste Erkenntnis (die von der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens) ist doch die ärmste an Erfolgen: denn sie hat immer den stärksten Gegner, die menschliche Eitelkeit.

51

Lust und Irrtum.— Der eine teilt sich unwillkürlich durch sein Wesen an seine Freunde wohltätig mit, der andere willkürlich durch einzelne Handlungen. Ob gleich das erstere als das Höhere gilt, so ist doch nur das zweite mit dem guten Gewissen und der Lust verknüpft—nämlich mit der Lust der Werkheilligkeit, welche auf dem Glauben an die Willkür unsres Gut- und Schlimmtuns, das heisst auf einem Irrtum ruht.

52

Es ist töricht, Unrecht zu tun.— Eignes Unrecht, das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen als fremdes, das einem zugefügt wurde (nicht gerade aus moralischen Gründen, wohlgemerkt—); der Täter ist eigentlich immer der Leidende, wenn er nämlich entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht, dass er die Gesellschaft gegen sich durch seine Handlung bewaffnet und sich isoliert habe. Deshalb sollte man sich, schon seines inneren Glückes wegen, also um seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, ganz abgesehen von allem, was Religion und Moral gebieten, vor dem Unrecht-Tun in acht nehmen, mehr noch als vor dem Unrecht-Erfahren: denn letzteres hat den Trost des guten Gewissens, der Hoffnung auf Rache, auf Mitleiden und Beifall der Gerechten, ja der ganzen Gesellschaft, welche sich vor dem Übeltäter fürchtet.— Nicht wenige verstehen sich auf die unsaubere Selbstüberlistung, jedes eigne Unrecht in ein fremdes, ihnen zugefügtes umzumünzen und für das, was sie selber getan haben, sich das Ausnahmerecht der Notwehr zur Entschuldigung vorzubehalten: um auf diese Weise viel leichter an ihrer Last zu tragen.

53

Neid mit oder ohne Mundstück.— Der gewöhnliche Neid pflegt zu gackern, sobald das beneidete Huhn ein Ei gelegt hat: er erleichtert sich dabei und wird milder. Es gibt aber einen noch tieferen Neid: der wird in solchem Falle totenstill, und wünschend, dass jetzt jeder Mund versiegelt würde, immer wütender darüber, dass dies gerade nicht geschieht. Der schweigende Neid wächst im Schweigen.

54

Der Zorn als Spion.— Der Zorn schöpft die Seele aus und bringt selbst den Bodensatz ans Licht. Man muss deshalb, wenn man sonst sich nicht Klarheit zu schaffen weiss, seine Umgebung, seine Anhänger und Gegner in Zorn zu versetzen wissen, um zu erfahren, was im Grunde alles wider uns geschieht und gedacht wird.

55

Die Verteidigung moralisch schwieriger als der Angriff.— Das wahre Helden- und Meisterstück des guten Menschen liegt nicht darin, dass er die Sache angreift und die Person fortfährt zu lieben, sondern in dem viel schwereren, seine eigne Sache zu verteidigen, ohne dass man der angreifenden Person bitteres Herzeleid mache und machen wolle. Das Schwert des Angriffs ist ehrlich und breit, das der Verteidigung läuft gewöhnlich in eine Nadel aus.

56

Ehrlich gegen die Ehrlichkeit.— Einer, der gegen sich öffentlich ehrlich ist, bildet sich zu allerletzt etwas auf diese Ehrlichkeit ein: denn er weiss nur zu gut, warum er ehrlich ist—aus demselben Grunde, aus dem ein anderer den Schein und die Verstellung vorzieht.

57

Glühende Kohlen.— Glühende Kohlen auf des andern Haupt sammeln wird gewöhnlich missverstanden und schlägt fehl, weil der andere sich ebenfalls im Besitze des Rechts weiss und auch seinerseits an das Kohlensammeln gedacht hat.

58

Gefährliche Bücher.— Da sagt einer "ich merke es an mir selber: dies Buch ist schädlich." Aber er warte nur ab und vielleicht gesteht er sich eines Tages, dass dasselbe Buch ihm einen grossen Dienst erwies, indem es die versteckte Krankheit seines Herzens hervortrieb und in die Sichtbarkeit brachte.— Veränderte Meinungen verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz wenig); wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer andern Konstellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar geblieben waren.

59

Geheucheltes Mitleiden.— Man heuchelt Mitleiden, wenn man über das Gefühl der Feindseligkeit sich erhaben zeigen will: aber gewöhnlich umsonst. Dies bemerkt man nicht ohne ein starkes Zunehmen jener feindseligen Empfindung.

60

Offner Widerspruch oft versöhnend.— Im Augenblick, wo einer seine Differenz der Lehrmeinung in Hinsicht auf einen berühmten Parteiführer oder Lehrer öffentlich zu erkennen gibt, glaubt alle Welt, er müsse ihm gram sein. Mitunter hört er aber gerade da auf, ihm gram zu sein: er wagt es, sich selber neben ihn aufzustellen, und ist die Qual der unausgesprochenen Eifersucht los.

61

Sein Licht leuchten sehen.— Im verfinsterten Zustande von Trübsal, Krankheit, Verschuldung sehen wir es gern, wenn wir anderen noch leuchten und sie an uns die helle Mondesscheibe wahrnehmen. Auf diesem Umwege nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit zu erhellen Anteil.

62

Mitfreude.— Die Schlange, die uns sticht, meint uns wehe zu tun und freut sich dabei; das niedrigste Tier kann sich fremden Schmerz vorstellen. Aber fremde Freude sich vorstellen und sich dabei freuen ist das höchste Vorrecht der höchsten Tiere und wieder unter ihnen nur den ausgesuchtesten Exemplaren zugänglich—also ein seltenes humanum: so dass es Philosophen gegeben hat, welche die Mitfreude geleugnet haben.

63

Nachträgliche Schwangerschaft.— Die, welche zu ihren Werken und Taten gekommen sind, sie wissen nicht wie, gehen gewöhnlich hinterher um so mehr mit ihnen schwanger: wie, um nachträglich zu beweisen, dass es ihre Kinder und nicht die des Zufalls sind.

64

Aus Eitelkeit hartherzig.— Wie Gerechtigkeit so häufig der Deckmantel der Schwäche ist, so greifen billig denkende, aber schwache Menschen mitunter aus Ehrgeiz zur Verstellung und benehmen sich ersichtlich ungerecht und hart, um den Eindruck der Stärke zu hinterlassen.

65

Demütigung.— Findet jemand in einem geschenkten Sack Vorteil auch nur ein Korn Demütigung, so macht er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele.

66

Äusserstes Herostratentum.— Es könnte Herostrate geben, welche den eignen Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden.

67

Die Diminutiv-Welt.— Der Umstand, dass alles Schwache und Hilfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt die Gewohnheit mit sich, dass wir alles, was uns zu Herzen spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen—also, für unsere Empfindung schwach und hilfsbedürftig machen.

68

Üble Eigenschaft des Mitleidens.— Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert mutig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.

69

Zudringlichkeit.— Es gibt auch eine Zudringlichkeit gegen Werke; und sich als Jüngling schon nachahmend zu den erlauchtesten Werken aller Zeiten mit der Vertraulichkeit des Du und Du zu gesellen, beweist einen völligen Mangel an Scham.— Andre sind nur aus Ignoranz zudringlich: sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben—so nicht selten junge und alte Philologen im Verhältnis zu den Werken der Griechen.

70

Der Wille schämt sich des Intellektes.— Mit aller Kälte machen wir vernünftige Entwürfe gegen unsre Affekte: dann aber begehen wir die gröbsten Fehler dagegen, weil wir uns häufig im Augenblick, wo der Vorsatz ausgeführt werden sollte, jener Kälte und Besonnenheit schämen, mit der wir ihn fassten. Und so tut man dann gerade das Unvernünftige, aus jener Art trotziger Grossherzigkeit, welche jeder Affekt mit sich bringt.

71

Warum die Skeptiker der Moral missfallen.— Wer seine Moralität hoch und schwer nimmt, zürnt den Skeptikern auf dem Gebiete der Moral: denn dort, wo er alle seine Kraft aufwendet, soll man staunen, aber nicht untersuchen und zweifeln.— Dann gibt es Naturen, deren letzter Rest von Moralität eben der Glaube an Moral ist: sie benehmen sich ebenso gegen die Skeptiker, womöglich noch leidenschaftlicher.

72

Schüchternheit.— Alle Moralisten sind schüchtern, weil sie wissen, dass sie mit Spionierern und Verrätern verwechselt werden, sobald man ihren Hang ihnen anmerkt. Sodann sind sie sich überhaupt bewusst, im Handeln unkräftig zu sein: denn mitten im Werke ziehen die Motive ihres Tuns ihre Aufmerksamkeit fast vom Werke ab.

73

Eine Gefahr für die allgemeine Moralität.— Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind, bringen es zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt, zu vergöttlichen und die Waage des moralischen Urteils eine Zeitlang stillzustellen.

74

Bitterster Irrtum.— Es beleidigt unversöhnlich, zu entdecken, dass man dort, wo man überzeugt war geliebt zu sein nur als Hausgerät und Zimmerschmuck betrachtet wurde, an dem der Hausherr vor Gästen seine Eitelkeit auslassen kann.

75

Liebe und Zweiheit.— Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, dass ein andrer in andrer und entgegengesetzter Weise als wir lebt, wirkt und empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen.— Sogar die Selbsthilfe enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in einer Person als Voraussetzung.

76

Aus dem Traume deuten.— Was man mitunter im Wachen nicht genau weiss und fühlt—ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe—darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.

77

Ausschweifung. Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.

78

Strafen und belohnen.— Niemand klagt an, ohne den Hintergedanken an Strafe und Rache zu haben—selbst wenn man sein Schicksal, ja sich selber anklagt.— Alles Klagen ist Anklagen, alles Sich-freuen ist Loben: wir mögen das eine oder das andere tun, immer machen wir jemanden verantwortlich.

79

Zweimal ungerecht.— Wir fördern mitunter die Wahrheit durch eine doppelte Ungerechtigkeit, dann nämlich, wenn wir die beiden Seiten einer Sache, die wir nicht imstande sind zusammen zu sehen, hintereinander sehen und darstellen, doch so, dass wir jedesmal die andre Seite verkennen oder leugnen, im Wahne, das, was wir sehen, sei die ganze Wahrheit.

80

Misstrauen.— Das Misstrauen an sich selber geht nicht mehr unsicher und scheu daher, sondern mitunter wie tollwütig: es hat sich berauscht, um nicht zu zittern.

81

Philosophie des Parvenu.— Will man einmal eine Person sein, so muss man auch seinen Schatten in Ehren halten.

82

Sich rein zu waschen verstehen.— Man muss lernen, aus unreinlichen Verhältnissen reinlicher hervorzugehen, und sich, wenn es not tut, auch mit schmutzigem Wasser waschen.

83

Sich gehen lassen.— Je mehr sich einer gehen lässt um so weniger lassen ihn die andern gehen.

84

Der unschuldige Schuft.— Es gibt einen langsamen schrittweisen Weg zu Laster und Schurkenhaftigkeit jeder Art. Am Ende desselben haben den, welcher ihn geht, die Insekten-Schwärme des schlechten Gewissens völlig verlassen, und er wandelt, obschon ganz verrucht, doch in Unschuld.

85

Pläne machen.— Pläne machen und Vorsätze fassen bringt viel gute Empfindungen mit sich; und wer die Kraft hätte, sein ganzes Leben lang nichts als ein Pläne-Schmiedender zu sein, wäre ein sehr glücklicher Mensch; aber er wird sich gelegentlich von dieser Tätigkeit ausruhen müssen dadurch, dass er einen Plan ausführt—und da kommt der Ärger und die Errnüchterung.

86

Womit wir das Ideal sehen.— Jeder tüchtige Mensch ist verrannt in seine Tüchtigkeit und kann aus ihr nicht frei hinausblicken. Hätte er sonst nicht sein gut Teil von Unvollkommenheit, er könnte seiner Tugend halber zu keiner geistig-sittlichen Freiheit kommen. Unsre Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.

87

Unehrliches Lob.— Unehrliches Lob macht hinterdrein viel mehr Gewissensbisse als unehrlicher Tadel, wahrscheinlich nur deshalb, weil wir durch zu starkes Loben unsere Urteilsfähigkeit viel stärker blossgestellt haben als durch zu starkes, selbst ungerechtes Tadeln.

88

Wie man stirbt, ist gleichgültig.— Die ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens, seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr sprechend und zeugnisgebend für das, was man seinen Charakter nennt; aber die Stunde des Sterbens selber, seine Haltung auf dem Totenbette ist fast gleichgültig dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich wenn alte Leute sterben, die unregelmässige oder unzureichende Ernährung des Gehirns während dieser letzten Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmerzes, das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen sei und hier Brücken schauerlichster Art überschritten würden,—dies alles erlaubt es nicht, das Sterben als Zeugnis über den Lebenden zu benutzen. Auch ist es nicht wahr, dass der Sterbende im allgemeinen ehrlicher wäre als der Lebende: vielmehr wird fast jeder durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die zurückgehaltnen oder fliessenden Tränen- und Gefühlsbäche zu einer bald bewussten, bald unbewussten Komödie der Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende behandelt wird, ist gewiss gar manchem armen verachteten Teufel der feinste Genuss seines ganzen Lebens und eine Art Schadenersatz und Abschlagszahlung für viele Entbehrungen gewesen.

89

Die Sitte und ihr Opfer.— Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: "die Gemeinde ist mehr wert als der einzelne" und "der dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen"; woraus sich der Schluss ergibt, dass der dauernde Vorteil der Gemeinde unbedingt dem Vorteile des einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vorteile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmre, ihretwegen zugrunde gehe—die Sitte muss erhalten, das Opfer gebracht werden. Eine solche Gesinnung entsteht aber nur in denen, welche nicht das Opfer sind—denn dieses macht in seinem Falle geltend, dass der einzelne mehr wert sein könne als viele, ebenso dass der gegenwärtige Genuss, der Augenblick im Paradiese vielleicht höher anzuschlagen sei als eine matte Fortdauer von leidlichen oder wohlhäbigen Zuständen. Die Philosophie des Opfertiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es bei der Sitte und der Sittlichkeit: als welche eben nur die Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen wurde—und zwar erzogen nicht als einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität.— So kommt es fortwährend vor, dasss der einzelne sich selbst, vermittels seiner Sittlichkeit, majorisiert.

90

Das Gute und das gute Gewissen.— Ihr meint, alle guten Dinge hätten zu aller Zeit ein gutes Gewissen gehabt?— Die Wissenschaft, also gewisslich etwas sehr Gutes, ist ohne ein solches und ganz bar alles Pathos in die Welt getreten, vielmehr heimlich, auf Umwegen, mit verhülltem oder maskiertem Haupte einherziehend, gleich einer Verbrecherin, und immer mindestens mit dem Gefühle einer Schleichhändlerin. Das gute Gewissen hat als Vorstufe das böse Gewissen—nicht als Gegensatz: denn alles Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider die Sitte, unsittlich gewesen und nagte im Herzen des glücklichen Erfinders wie ein Wurm.

91

Der Erfolg heiligt die Absichten.— Man scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst wenn man deutlich einsieht, dass nichts als Egoismus—also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm—die dazu treibenden Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch: gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Mass und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre Beiworte lauten mögen! Erreicht man nämlich das, wozu sie rufen, so veredelt die erreichte Tugend, vermöge der reinen Luft, die sie atmen lässt, und des seelischen Wohlgefühls, das sie mitteilt, immerfort die ferneren Motive unseres Handelns, und wir tun dieselben Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröbern Motiven, welche uns früher dazu führten.— Die Erziehung soll deshalb die Tugenden, so gut es geht, erzwingen, je nach der Natur des Zöglings: die Tugend selber, als die Sonnen- und Sommerluft der Seele, mag dann ihr eigenes Werk daran tun und Reife und Süssigkeit hinzuschenken.

92

Christentümler, nicht Christen.— Das wäre also euer Christentum!— Um Menschen zu ärgern, preeist ihr "Gott und seine Heiligen," und wiederum, wenn ihr Menschen preisen wollt, so treibt ihr es so weit, dass Gott und seine Heiligen sich ärgern müssen.— Ich wollte, ihr lerntet wenigstens diee christlichen Manieren, da es euch so an der Manierlichkeit des christlichen Herzens gebricht.

93

Natureindruck der Frommen und Unfrommen.— Ein ganz frommer Mensch muss uns ein Gegenstand der Verehrung sein: aber ebenso ein ganzer aufrichtiger durchdrungener Unfrommer. Ist man bei Menschen der letzteren Art wie in der Nähe des Hochgebirges, wo die kräftigsten Ströme ihren Ursprung haben, so bei den Frommen wie unter saftvollen, breitschattigen, ruhigen Bäumen.

94

Justizmorde.— Die zwei grössten Justizmorde in der Weltgeschichte sind, ohne Umschweife gesprochen, verschleierte und gut verschleierte Selbstmorde. In beiden Fällen wollte man sterben; in beiden Fällen liess man sich das Schwert durch die Hand der menschlichen Ungerechtigkeit in die Brust stossen.

95

"Liebe."— Der feinste Kunstgriff, welchen das Christentum vor den übrigen Religionen voraushat, ist ein Wort: es redete von Liebe. So wurde es die lyrische Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitentum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist in dem Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung Sprechendes, dass auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste Mann denken dabei an die verhältnismässig uneigennützigsten Augenblicke ihres gesamten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat; und jene Zahllosen, welche Liebe vermissen, von seiten der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimierten Geschlechtlichkeit, haben im Christentum ihren Fund gemacht.

96

Das erfüllte Christentum.— Es gibt auch innerhalb des Christentums eine epikureische Gesinnung, ausgehend von dem Gedanken, dass Gott von dem Menschen, seinem Geschöpf und Ebenbilde, nur verlangen könne, was diesem zu erfüllen möglich sein müsse, dass also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der Glaube, seine Feinde zu lieben—selbst wenn es eben nur Glaube, Einbilldung und durchaus keine psychologische Wirklichkeit (also keine Liebe) ist—, unbedingt glücklich, solange er wirklich geglaubt wird (warum? darüber werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken). Und so möchte das irdische Leben durch den Glauben, ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Anspruche, seine Feinde zu lieben, sondern allen übrigen christlichen Ansprüchen zu genügen und die göttliche Vollkommenheit nach der Aufforderung "seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" wirklich sich angeeignet und einverleibt zu haben, in der Tat zu einem seligen Leben werden. Der Irrtum kann also die Verheissung Christi zur Wahrheit machen.

97

Von der Zukunft des Christentums.— Über das Verschwinden des Christentums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermutung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen Gründen und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhiess bekanntlich alles dasselbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und Üppigkeit; er verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren als die des Südens: bei diesen lebte ja im Christentum das viel mächtigere religiöse Heidentum fort, während im Norden das Christentum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und deshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang an war, eben deshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom Gedanken aus das Christentum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen—weil dort die Sinne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, dass mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirtschaftet werde als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält man die Musse (oder die halbe Faulheit) für wert, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein, dass in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Musse zu klein sei: sie nehmen die Partei der Magie, dass heisst—sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos, deus laborabit!).

98

Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen.— Es gibt kein Buch, welches das, was jedem Menschen gelegentlich wohltut,—schwärmerische, opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen seiner "Wahrheit"—so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, alles als gefunden, nichts als kommend und ungewiss hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier laufende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftige Gestirn drehen müsse.— Muss also nicht aus demselben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurteilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis zu dem, was die Religiösen von ihrem "Wissen," von ihrem "heiligen" Geiste verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft "arm im Geiste"? Kann irgend eine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich hinausziehen als die Wissenschaft?— — So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns vor den Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich, eine Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muss die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntnis hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden, Freude solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine mässige Unsterblichkeit der Person ist der persönliche Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgend einem Masse unwissenschaftliche Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in allem genommen und rund glatt und voll ausgesprochen:für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig.— Von den Frommen und Gläubigen untterscheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins; wir sind mit wenigerem zufrieden. Aber werden jene uns zurufen—so seid auch zufrieden und gebt euch auch als zufrieden!—worauf wir leicht antworten dürften: "In der Tat, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Worte, eure Handlungen sollte die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum; mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem eurem Ungenügen am Christentum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet, so klingt: "wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht misslungen sein?"

99

Der Dichter als Wegzeiger für die Zukunft.— So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft:—und dies nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmässige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, dass sie gegen die Luft und Glut der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Mass in den Personen und deren Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fusse Ruhe und Lust gibt: ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmassung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend:—dies alles wäre das Umschliessende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche Gemälde—das der immer wachsenden menschlichen Hoheit—machen würden.— Von Goethe aus führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor allem einer weit grössern Macht, als die jetzigen Dichter, das heisst die unbedenklichen Darsteller des Halbtiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und Unmässigkeit, besitzen.

100

Die Muse als Penthesilea.— "Lieber verwesen als ein Weib sein, das nicht reizt." Wenn die Muse erst einmal so denkt, so ist das Ende ihrer Kunst wieder in der Nähe. Aber es kann ein Tragödien- und auch ein Komödien-Ausgang sein.

101

Was der Umweg zum Schönen ist.— Wenn das Schöne gleich dem Erfreuenden ist—und so sangen es ja einmal die Musen—, so ist das Nützliche der oftmals notwendige Umweg zum Schönen und kann den kurzsichtigen Tadel der Augenblicks-Menschen, die nicht warten wollen und alles Gute ohne Umwege zu erreichen denken, mit gutem Rechte zurückweisen.

102

Zur Entschuldigung mancher Schuld.— Das unablässige Schaffen-Wollen und Nach-aussen-Spähen des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und besser zu werden, also sich selber zu schaffen—es sei denn, dass seine Ehrsucht gross genug ist, um ihn zu zwingen, dass er sich auch im Leben mit andern der wachsenden Schönheit und Grösse seiner Werke immer entsprechend gewachsen zeige. In allen Fällen hat er nur ein bestimmtes Mass von Kraft: was er davon auf sich verwendet—wie könnte dies noch seinem Werke zugute kommen?— Und umgekehrt.

103

Den Besten genug tun.— Wenn man mit seiner Kunst "den Besten seiner Zeit genug-getan," so ist dies ein Anzeichen davon, dass man den Besten der nächsten Zeit mit ihr nicht genug-tun wird: "gelebt" freilich "hat man für alle Zeiten"—der Beifall der Besten sichert den Ruhm. [Cf. Friedrich Schiller, "Wallensteins Lager," Prolog: "Denn wer den Besten seiner Zeit genug / Getan, der hat gelebt fur alle Zeiten." In: Sämmtliche Werke. Bd. 6, 7.]

104

Aus einem Stoffe.— Ist man aus einem Stoffe mit einem Buche oder Kunstwerk, so meint man ganz innerlich, es müsse vortrefflich sein, und ist beleidigt, wenn andere es hässlich, überwürzt oder grosstuerisch finden.

105

Sprache und Gefühl.— Dass die Sprache uns nicht zur Mitteilung des Gefühls gegeben ist, sieht man daraus, dass alle einfachen Menschen sich schämen, Worte für ihre tieferen Erregungen zu suchen: die Mitteilung derselben äussert sich nur in Handlungen, und selbst hier gibt es ein Erröten darüber, wenn der andere ihre Motive zu erraten scheint. Unter den Dichtern, welchen im allgemeinen die Gottheit diese Scham versagte, sind doch die edleren in der Sprache des Gefühls einsilbiger und lassen einen Zwang merken: während die eigentlichen Gefühls-Dichter im praktischen Leben meistens unverschämt sind.

106

Irrtum über eine Entbehrung.— Wer sich nicht von einer Kunst lange Zeit völlig entwöhnt hat, sondern immer in ihr zu Hause ist, kann nicht von ferne begreifen, wie wenig man entbehrt, wenn man ohne diese Kunst lebt.

107

Dreiviertelskraft.— Ein Werk, das den Eindruck des Gesunden machen soll, darf höchstens mit Dreiviertel der Kraft seines Urhebers hervorgebracht sein. Ist er dagegen bis an seine äusserste Grenze gegangen, so regt das Werk den Betrachtenden auf und ängstigt ihn durch seine Spannung. Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.

108

Den Hunger als Gast abweisen.— Weil dem Hungrigen die feinere Speise so gut und um nichts besser als die gröbste dient, so wird der anspruchvollere Künstler nicht darauf denken, den Hungrigen zu seiner Mahlzeit einzuladen.

109

Ohne Kunst und Wein leben.— Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist es, wenn man beide nicht nötig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süsse der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt.

110

Das Raub-Genie.— Das Raub-Genie in den Künsten, das selbst feine Geister zu täuschen weiss, entsteht, wenn jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches nicht geradezu vom Gesetz als Eigentum einer bestimmten Person in Schutz genommen ist, als freie Beute betrachtet. Nun liegt alles Gute vergangener Zeiten und Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende Scheu der wenigen, die es erkennen: diesen wenigen bietet jenes Genie, kraft seines Mangels an Scham, Trotz und häuft sich einen Reichtum auf, der selber wieder Verehrung und Scheu erzeugt.

111

An die Dichter der grossen Städte.— Den Gärten der heutigen Poesie merkt man es an, dass die grossstädtischen Kloaken zu nahe dabei sind: mitten in den Blütengeruch mischt sich etwas, das Ekel und Fäulnis verrät.— Mit Schmerz frage ich: habt ihr es so nötig, ihr Dichter, den Witz und den Schmutz immer zu Gevatter zu bitten, wenn irgend eine unschuldige schöne Empfindung von euch getauft werden soll? Müsst ihr durchaus eurer edlen Göttin eine Fratzen- und Teufelskappe aufsetzen? Woher aber diese Not, dieses Müssen?— Eben daher, dass ihr den Kloaken zu nahe wohnt.

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Vom Salz der Rede.— Niemand hat noch erklärt, warum die griechischen Schriftsteller von den Mitteln des Ausdrucks, welche ihnen in unerhörter Fülle und Kraft zu Gebote standen, nur so übersparsamen Gebrauch gemacht haben, dass jedes nachgriechische Buch dagegen grell, bunt und überspannt erscheint.— Man hört, dass dem Nordpol-Eise zu ebenso wie in den heissesten Ländern der Gebrauch des Salzes spärlicher werde, dass dagegen die Ebenen- und Küstenanwohner im Erdgürtel der mässigeren Sonnenwärme am reichlichsten Gebrauch von ihm machen. Sollten die Griechen aus doppelten Gründen, weil zwar ihr Intellekt kälter und klarer, ihre leidenschaftliche Grundnatur aber um vieles tropischer war als die unsrige, des Salzes und Gewürzes nicht in dem Masse nötig gehabt haben als wir?

113

Der freieste Schriftsteller.— Wie dürfte in einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat! Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleich mit welchem alle anderen steif, vierschrötig, unduldsam und bäurisch-geradezu erscheinen. An ihm dürfte nicht die geschlossene klare, sondern die "unendliche Melodie" gerühmt werden: wenn mit diesem Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt wird, so dass sie das eine und zugleich das andere bedeutet. Sterne ist der grosse Meister der Zweideutigkeit—dies Wort billigerweise viel weiter genommen als man gemeinhin tut, wenn man dabei an geschlechtliche Beziehungen denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf beides in einer Faltung seines Gesichts; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich recht und unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, teilt auch seinem Leser etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso Leser, als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublikum vor einem andern Theaterpublikum. Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben—und kann übrigens erwarten, dass sie gnädig, immer gnädig ist.— Seltsam und belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sternes gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig—und das eben ist echt Sternischer Überhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodiert?—man kann es nicht völlig herausbekommen,—und vielleicht hat gerade dies sein Autor gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem Alten und Neuen zu schämen braucht) ungerecht. Die Franzosen sind eben zum Humor—und namentlich zu diesem Humoristischnnehmen des Humors selber—zu ernsthaft.— Sollte es nötig sein hinzuzufügen, dass Sterne unter allen grossen Schriftstellern das schlechteste Muster und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und dass selbst Diderot sein Wagnis büssen musste? Das, was die guten Franzosen und vor ihnen einzelne Griechen als Prosaiker wollten und konnten, ist genau das Gegenteil von dem, was Sterne will und kann: er erhebt sich eben als meisterhafte Ausnahme über, das, was alle schriftstellerischen Künstler von sich fordern: Zucht, Geschlossenheit, Charakter, Beständigkeit der Absichten, Überschaulichkeit, Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene.— Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele sprang mit unbeständiger Unruhe von Zweig zu Zweig; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem unverschämten wässrigen Auge und dem empfindsamen Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache von einer solchen Zusammenstellung nicht erschrecken wollte, von einer hartherzigen Gutmütigkeit und hatte in den Genüssen einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die blöde Anmut der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch.

114

Gewählte Wirklichkeit.— Wie der gute Prosaschriftsteller nur Worte nimmt, welche der Umgangssprache angehören, doch lange nicht alle Worte derselben—wodurch eben der gewählte Stil entsteht—, so wird der gute Dichter der Zukunft nur Wirkliches darstellen und von allen phantastischen, abergläubischen, halbredlichen, abgeklungenen Gegenständen, an denen frühere Dichter ihre Kraft zeigten, völlig absehen. Nur Wirklichkeit, aber lange nicht jede Wirklichkeit!—sondern eine gewählte Wirklichkeit!

115

Abarten der Kunst.— Neben den echten Gattungen der Kunst, der der grossen Ruhe und der der grossen Bewegung, gibt es Abarten—die ruhesüchtige, blasierte Kunst und die aufgeregte Kunst: beide wünschen, dass man ihre Schwäche für Stärke nehme und sie mit den echten Gattungen verwechsele.

116

Zum Heros fehlt jetzt die Farbe.— Die eigentlichen Dichter und Künstler der Gegenwart lieben es, ihre Gemälde auf einen rot, grün, grau und goldig flackernden Grund aufzutragen, auf den Grund der nervösen Sinnlichkeit: auf diese verstehen sich ja die Kinder dieses Jahrhunderts. Dies hat den Nachteil—wenn man nämlich nicht mit den Augen des Jahrhunderts auf jene Gemälde sieht—, dass die grössten Gestalten, welche jene hinmalen, etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes an sich zu haben scheinen: so dass man ihnen heroische Taten eigentlich nicht zutraut, sondern höchstens herorisierende, prahlerische Untaten.

117

Stil der Überladung.— Der überladene Stil in der Kunst ist die Folge einer Verarmung der organisierenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein von Mitteln und Absichten.— In den Anfängen der Kunst findet sich mitunter das gerade Gegenstück dazu.

118

Pulchrum est paucorum hominum.— Die Historie und die Erfahrung sagt uns, dass die bedeutsame Ungeheuerlichkeit, welche die Phantasie geheimnisvoll anregt und über das Wirkliche und Alltägliche fortträgt, älter ist und reichlicher wächst als das Schöne in der Kunst und dessen Verehrung—und dass es sofort wieder in Überfülle ausschlägt, wenn der Sinn für Schönheit sich verdunkelt. Es scheint für die Mehr- und Überzahl der Menschen ein höheres Bedürfnis zu sein als das Schöne: wohl deshalb, weil es das gröbere Narcoticum enthält.

119

Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken.— Denkt man an die anfänglichen Keime des künstlerischen Sinnes und fragt sich, welche verschiedentlichen Arten der Freude durch die Erstlinge der Kunst, zum Beispiel bei wilden Völkerschaften, hervorgebracht werden, so findet man zuerst die Freude, zu verstehen, was ein andrer meint; die Kunst ist hier eine Art Rätselaufgeben, das dem Erratenden Genuss am eigenen Schnell- und Scharfsinn verschafft.— Sodann erinnert man sich beim rohesten Kunstwerk an das, was einem in der Erfahrung angenehm war und hat insofern Freude, zum Beispiel wenn der Künstler auf Jagd, Sieg, Hochzeit hingedeutet hat.— Wiederum kann man sich durch das Dargestellte erregt, gerührt, entflammt fühlen, beispielsweise bei Verherrlichung von Rache und Gefahr. Hier liegt der Genuss in der Erregung selber, im Siege über die Langeweile.— Auch die Erinnerung an das Unangenehme, insofern es überwunden ist, oder insofern es uns selber als Gegenstand der Kunst vor dem Zuhörer interessant erscheinen lässt (wie wenn der Sänger die Unfälle eines verwegenen Seefahrers beschreibt), kann grosse Freude machen, welche man dann der Kunst zugute rechnet.— Feinerer Art ist schon jene Freude, weelche beim Anblick alles Regelmässigen und Symmetrischen, in Linien, Punkten Rhythmen, entsteht; denn durch eine gewisse Ähnlichkeit wird die Empfindung für alles Geordnete und Regelmässige im Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefinden zu danken hat, wachgerufen: im Kultus des Symmetrischen verehrt man also unbewusst die Regel und das Gleichmass als Quelle seines bisherigen Glücks; die Freude ist eine Art Dankgebet. Erst bei einer gewissen Übersättigung an dieser letzterwähnten Freude entsteht das noch feinere Gefühl, dass auch im Durchbrechen des Symmetrischen und Geregelten Genuss liegen könne; wenn es zum Beispiel anreizt, Vernunft in der scheinbaren Unvernunft zu suchen: wodurch es dann, als eine Art ästhetischen Rätselratens, wie eine höhere Gattung der zuerst erwähnten Kunstfreude dasteht.— Wer dieser Betrachtung weiter nachhängt, wird wissen, auch welche Art von Hypothesen hier zur Erklärung der ästhetischen Erscheinungen grundsätzlich verzichtet wird.

120

Nicht zu nahe.— Es ist ein Nachteil für gute Gedanken, wenn sie zu rasch aufeinander folgen; sie verdecken sich gegenseitig die Aussicht.— Deshalb haben die grössten Künstler und Schriftsteller reichlichen Gebrauch vom Mittelmässigen gemacht.

121

Roheit und Schwäche.— Die Künstler aller Zeiten haben die Entdeckung gemacht, dass in der Roheit eine gewisse Kraft liegt und dass nicht jeder roh sein kann, der es wohl sein möchte; ebenso dass manche Arten von Schwäche stark auf das Gefühl wirken. Hieraus sind nicht wenig Kunstmittel-Surrogate abgeleitet worden, deren sich völlig zu enthalten selbst den grössten und gewissenhaftesten Künstlern schwer wird.

122

Das gute Gedächtnis.— Mancher wird nur deshalb kein Denker, weil sein Gedächtnis zu gut ist.

123

Hungermachen statt Hungerstillen.— Grosse Künstler wähnen, sie hätten durch ihre Kunst eine Seele völlig in Besitz genommen und ausgefüllt: in Wahrheit, und oft zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung, ist jene Seele dadurch nur um so umfänglicher und unausfüllbarer geworden, so dass zehn grössere Künstler sich nur in ihre Tiefe hinabstürzen könnten, ohne sie zu sättigen.

124

Künstler-Angst.— Die Angst, man möchte ihren Figuren nicht glauben, dass sie leben, kann Künstler des absinkenden Geschmacks verführen, diese so zu bilden, dass sie sich wie toll benehmen: wie andererseits aus derselben Angst griechische Künstler des ersten Aufgangs selbst Sterbenden und Schwerverwundeten jenes Lächeln geben, welches sie als lebhaftestes Zeichen des Lebens kannten,—unbekümmert darum, was die Natur in solchem Falle des Noch-Lebens, des Fast-nicht-mehr-Lebens bildet.

125

Der Kreis soll fertig werden.— Wer einer Philosophie oder Kunstart bis an das Ende ihrer Bahn und um das Ende herum nachgegangen ist, begreift aus einem innern Erlebnis, warum die nachfolgenden Meister und Lehrer sich von ihr, oft mit abschätziger Miene, zu einer neuen Bahn fortwandten. Der Kreis muss eben umschrieben werden—aber der Einzelne, und sei es der Grösste, sitzt auf seinem Punkte der Peripherie fest, mit einer unerbittlichen Miene der Hartnäckigkeit, als ob der Kreis nie geschlossen werden dürfe.

126

Ältere Kunst und die Seele der Gegenwart.— Weil jede Kunst zum Ausdruck seelischer Zustände, der bewegteren, zarteren, drastischeren, leidenschaftlicheren, immer befähigter wird, so empfinden die späteren Meister, durch diese Ausdrucks-Mittel verwöhnt, ein Unbehagen bei den Kunstwerken der älteren Zeit, wie als ob es den Alten eben nur an den Mitteln gefehlt habe, ihre Seele deutlich reden zu lassen, vielleicht gar an einigen technischen Vorbedingungen; und sie meinen hier nachhelfen zu müssen—denn sie glauben an die Gleichheit ja Einheit aller Seelen. In Wahrheit ist aber die Seele jener Meister selber noch eine andere gewesen, grösser vielleicht, aber kälter und dem Reizvoll-Lebendigen noch abhold: das Mass, die Symmetrie, die Geringachtung des Holden und Wonnigen, eine unbewusste Herbe und Morgenkühle, ein Ausweichen vor der Leidenschaft, wie als ob an ihr die Kunst zugrunde gehen werde,—dies macht die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus, welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern notwendig mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten.— Soll man aber, bei dieser Erkenntnis, den später Kommenden das Recht versagen, die älteren Werke nach ihrer Seele zu beseelen? Nein, denn nur dadurch, dass wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben: erst unser Blut bringt sie dazu, zu uns zu reden. Der wirklich "historische" Vortrag würde gespenstisch zu Gespenstern reden.— Man ehrt die grossen Künstler der Vergangenheit weniger durch jene unfruchtbare Scheu, welche jedes Wort, jede Note so liegen lässt, wie sie gestellt ist, als durch tätige Versuche, ihnen immer von neuem wieder zum Leben zu verhelfen.— Freilich: dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eins seiner Werke gemäss der modernsten Beseeltheit und Nerven-Verfeinerung, welche unsern Meistern des Vortrags zum Ruhme dient, vor ihm ertönend: er würde wahrscheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen: "Nun! Nun! Das ist weder Ich noch Nicht-Ich, sondern etwas Drittes—es scheint mir auch etwas Rechtes, wenn es gleich nicht das Rechte ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr's treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müsst,—und der Lebende hat recht, sagt ja unser Schiller. So habt denn recht und lasst mich wieder hinab."

127

Gegen die Tadler der Kürze.— Etwas Kurz-Gesagtes kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten sein: aber der Leser, der auf diesem Felde Neuling ist und hier noch gar nicht nachgedacht hat, sieht in allem Kurz-Gesagten etwas Embryonisches, nicht ohne einen tadelnden Wink an den Autor, dass er dergleichen Unausgewachsenes, Ungereiftes ihm zur Mahlzeit mit auf den Tisch setze.

128

Gegen die Kurzsichtigen.— Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken gibt (und geben muss)?

129

Sentenzen-Leser.— Die schlechtesten Leser von Sentenzen sind die Freunde ihres Urhebers, im Fall sie beflissen sind, aus dem Allgemeinen wieder auf das Besondere zurückzuraten, dem die Sentenz ihren Ursprung verdankt: denn durch diese Topfguckerei machen sie die ganze Mühe des Autors zunichte, so dass sie nun verdientermassen anstatt einer philosophischen Stimmung und Belehrung besten- oder schlimmstenfalls nichts als die Befriedigung der gemeinen Neugierde zum Gewinn erhalten.

130

Unarten des Lesers.— Die doppelte Unart des Lesers gegen den Autor besteht darin, das zweite Buch desselben auf Unkosten des ersten zu loben (oder umgekehrt) und dabei zu verlangen, dass der Autor ihm dankbar sei.

131

Das Aufregende in der Geschichte der Kunst.— Verfolgt man die Geschichte einer Kunst, zum Beispiel die der griechischen Beredsamkeit, so gerät man, von Meister zu Meister fortgehend, bei dem Anblick dieser immer gesteigerten Besonnenheit, um den alten und neu hinzugefügten Gesetzen und Selbstbeschränkungen insgesamt zu gehorchen, zuletzt in eine peinliche Spannung: man begreift, dass der Bogen brechen muss und dass die sogenannte unorganische Komposition, mit den wundervollsten Mitteln des Ausdrucks überhängt und maskiert—in jenem Falle der Barockstil des Asianismus—, einmal eine Notwendigkeit und fast eiine Wohltat war.

132

An die Grossen der Kunst.— Jene Begeisterung für eine Sache, welche du Grosser in die Welt hineinträgst, lässt den Verstand vieler verkrüppeln, dies zu wissen demütigt. Aber der Begeisterte trägt seinen Höcker mit Stolz und Lust: insofern hast du den Trost, dass durch dich das Glück in der Welt vermehrt ist.

133

Die ästhetisch Gewissenlosen.— Die eigentlichen Fanatiker einer künstlerischen Partei sind jene völlig unkünstlerischen Naturen, welche selbst in die Elemente der Kunstlehre und des Kunstkönnens nicht eingedrungen sind, aber auf das stärkste von allen elementarischen Wirkungen einer Kunst ergriffen werden. Für sie gibt es kein ästhetisches Gewissen—und daher nichts, was sie vom Fanatismus zurückhalten könnte.

134

Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll.— Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als "unendliche Melodie" bezeichnet wird, kann man sich dadurch klarmachen, dass man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nötige Mass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Atems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik.— Richard Wagner wollte eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist dies das wesentlichste seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepasst—die "unendliche Melodie"—bestrebt sich, alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen; und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Kristallisation, den Übergang der Musik in das Architektonische—und so stellt er dem zweitaktigen Rhythmus einen dreitaktigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentakt ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine grosse Gefahr für die Musik entstehen: immer hat neben der Überreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr gross wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt,—welche in sich kein Mass hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem allzuweiblichen Wesen der Musik, auch kein Mass mitzuteilen vermag.

135

Dichter und Wirklichkeit.— Die Muse des Dichters, der nicht in die Wirklichkeit verliebt ist, wird eben nicht die Wirklichkeit sein und ihm hohläugige und allzu zartknochichte Kinder gebären.

136

Mittel und Zweck.— In der Kunst heiligt der Zweck die Mittel nicht: aber heilige Mittel können hier den Zweck heiligen.

137

Die schlechtesten Leser.— Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze.

138

Merkmale des guten Schriftstellers.— Die guten Schriftsteller haben zweierlei gemeinsam; sie ziehen vor, lieber verstanden als angestaunt zu werden; und sie schreiben nicht für die spitzen und überscharfen Leser.

139

Die gemischten Gattungen.— Die gemischten Gattungen in den Künsten legen Zeugnis über das Misstrauen ab, welches ihre Urheber gegen ihre eigne Kraft empfanden; sie suchten Hilfsmächte, Anwälte, Verstecke—so der Dichter, der die Philosophie, der Musiker, der das Drama, der Denker, der die Rhetorik zu Hilfe ruft.

140

Mundhalten.— Der Autor hat den Mund zu halten, wenn sein Werk den Mund auftut.

141

Abzeichen des Ranges.— Alle Dichter und Schriftsteller, welche in den Superlativ verliebt sind, wollen mehr als sie können.

142

Kalte Bücher.— Der gute Denker rechnet auf Leser, welche das Glück nachempfinden, das im guten Denken liegt: so dass ein Buch, welches sich kalt und nüchtern ausnimmt, durch die rechten Augen gesehen, vom Sonnenscheine der geistigen Heiterkeit umspielt und als ein rechter Seelentrost erscheinen kann.

143

Kunstgriff der Schwerfälligen.— Der schwerfällige Denker wählt gewöhnlich die Geschwätzigkeit oder die Feierlichkeit zur Bundesgenossin: durch die erstere meint er sich Beweglichkeit und leichten Fluss anzueignen, durch die letztere erweckt er den Schein, als ob seine Eigenschaft eine Wirkung des freien Willens, der künstlerischen Absicht sei, zum Zwecke der Würde, welche Langsamkeit der Bewegung fordert.

144

Vom Barockstile.— Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiss, wird unwillkürlich nach dem Rhetorischen und Dramatischen greifen: denn zuletzt kommt es ihm darauf an, sich verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet oder unversehens überfällt—als Hirt oder als Räuber. Dies gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit einem überreichen, drängenden Formentriebe, jene Gattung des Stiles zutage fördert, welche man Barockstil nennt.— Nur die Schlechtunterrichteten und Anmassenden werden übrigens bei diesem Wort sogleich eine abschätzige Empfindung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des klassischen Ausdrucks allzu gross geworden sind, als ein Natur-Ereignis, dem man wohl mit Schwermut,—weil es der Nacht voranläuft—zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigentümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel und Hölle der Empfindung allzu nahe sind: dann die Beredsamkeit der starken Affekte und Gebärden, des Hässlich-Erhabenen, der grossen Massen, überhaupt der Quantität an sich—wie dies sich schon bei Michelangelo, dem Vater oder Grossvater der italienischen Barockkünstler, ankündigt—: die Dämmerungs-, Verklärungs- oder Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muss, das beständige unfreiwillige Überströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Grösse hat, sind in den früheren, vorklassischen und klassischen Epochen einer Kunstart nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange als verbotene Früchte am Baume.— Gerade jetzt, wo die Musik in diese letzte Epoche übergeht, kann man das Phänomen des Barockstils in einer besonderen Pracht kennenlernen und vieles durch Vergleichung daraus für frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredsamkeit, im Prosastile, in der Skulptur ebensowohl als bekanntermassen in der Architektur—und jedesmal hat dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewussten, sieghaften Vollkommenheit gebricht, auch vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohlgetan:—weshalb es, wie gesagt, anmassend ist,, ohne weiteres ihn abschätzig zu beurteilen; so sehr sich jeder glücklich preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und grösseren Stil unempfindlich gemacht wird.

145

Wert ehrlicher Bücher.— Ehrliche Bücher machen den Leser ehrlich, wenigstens indem sie seinen Hass und Widerwillen herauslocken, welchen die verschmitzte Klugheit sonst am besten zu verstecken weiss. Gegen ein Buch aber lässt man sich gehen, wenn man sich auch noch so sehr gegen Menschen zurückhält.

146

Wodurch die Kunst Partei macht.— Einzelne schöne Stellen, ein erregender Gesamtverlauf und hinreissende erschütternde Schlussstimmungen—soviel wird auch den meisten Laaien von einem Kunstwerk noch zugänglich sein: und in einer Periode der Kunst, in der man die grosse Masse der Laien auf die Seite der Künstler hinüberziehen, also eine Partei, vielleicht zur Erhaltung der Kunst überhaupt, machen will, wird der Schaffende gut tun, auch nicht mehr zu geben: damit er nicht zum Verschwender seiner Kraft werde auf Gebieten, wo niemand ihm Dank weiss. Das übrige nämlich zu leisten—die Natur in ihrem organischen Bilden und Wachsenlassen nachzuahmen—hiesse in jenem Falle: auf Wasser säen.

147

Zum Schaden der Historie gross werden.— Jeder spätere Meister, welcher den Geschmack der Kunst-Geniessenden in seine Bahn lenkt, bringt unwillkürlich eine Auswahl und Neu-Abschätzung der älteren Meister und ihrer Werke hervor: das ihm Gemässe und Verwandte, das ihn Vorschmeckende und Ankündigende in jenen gilt von jetzt ab als das eigentlich Bedeutende an ihnen und ihren Werken—eine Frucht, in der gewöhnlich eiin grosser Irrtum als Wurm verborgen steckt.

148

Wie ein Zeitalter zur Kunst geködert wird.— Man lerne mit Hilfe aller Künstler- und Denker-Zaubereien die Menschen an, vor ihren Mängeln, ihrer geistigen Armut, ihren unsinnigen Verblendungen und Leidenschaften Verehrung zu empfinden—und dies ist möglich—, man zeige vom Verbrechen und vom Wahne nur die erhabene Seite, von der Schwäche der Willenlosen und Blind-Ergebnen nur das Rührende und Zu-Herzen-Sprechende eines solchen Zustandes—auch dies ist oft genug geschehen—: so hat man das Mittel angewendet, auch einem ganz unkünstlerischen und unphilosophischen Zeitalter schwärmerische Liebe zu Philosophie und Kunst (namentlich zu den Künstlern und Denkern als Personen) einzuflössen, und, in schlimmen Umständen, vielleicht das einzige Mittel, die Existenz so zarter und gefährdeter Gebilde zu wahren.

149

Kritik und Freude.— Kritik, einseitige und ungerechte ebensogut wie verständige, macht dem, der sie übt, so viel Vergnügen, dass die Welt jedem Werk, jeder Handlung Dank schuldig ist, welche viel und viele zur Kritik auffordert: denn hinter ihr her zieht sich ein blitzender Schweif von Freude, Witz, Selbstbewunderung, Stolz, Belehrung, Vorsatz zum Bessermachen.— Der Gott der Freude schuf das Schlechte und Mittelmässige aus dem gleichen Grunde, aus dem er das Gute schuf.

150

Über seine Grenze hinaus.— Wenn ein Künstler mehr sein will als ein Künstler, zum Beispiel der moralische Erwecker seines Volkes, so verliebt er sich, zur Strafe, zuletzt in ein Ungetüm von moralischem Stoff—und die Muse lacht dazu: denn diese so gutherzige Göttin kann aus Eifersucht auch boshaft werden. Man denke an Milton und Klopstock.

151

Gläsernes Auge.— Die Richtung des Talentes auf moralische Stoffe, Personen, Motive, auf die schöne Seele des Kunstwerks ist mitunter nur das gläserne Auge, welches der Künstler, dem es an der schönen Seele gebricht, sich einsetzt: mit dem sehr seltenen Erfolge, dass dies Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blickende Natur,—aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist.

152

Schreiben und Siegen-wollen.— Schreiben sollte immer einen Sieg anzeigen, und zwar eine Überwindung seiner selbst, welche anderen zum Nutzen mitgeteilt werden muss; aber es gibt dyspeptische Autoren, welche gerade nur schreiben, wenn sie etwas nicht verdauen können, ja wenn dies ihnen schon in den Zähnen hängengeblieben ist: sie suchen unwillkürlich mit ihrem Ärger auch dem Leser Verdruss zu machen und so eine Gewalt über ihn auszuüben, das heisst: auch sie wollen siegen, aber über andere.

153

"Gut Buch will Weile haben."— Jedes gute Buch schmeckt herb, wenn es erscheint: es hat den Fehler der Neuheit. Zudem schadet ihm sein lebender Autor, falls er bekannt ist und manches von ihm verlautet: denn alle Welt pflegt den Autor und sein Werk zu verwechseln. Was in diesem an Geist, Süsse und Goldglanz ist, muss sich erst mit den Jahren entwickeln, unter der Pflege wachsender, dann alter, zuletzt überlieferter Verehrung. Manche Stunde muss darüber hinlaufen, manche Spinne ihr Netz daran gewoben haben. Gute Leser machen ein Buch immer besser und gute Gegner klären es ab.

154

Masslosigkeit als Kunstmittel.— Künstler verstehen wohl, was es sagen will: die Masslosigkeit als Kunstmittel zu benutzen, um den Eindruck des Reichtums hervorzubringen. Es gehört das zu den unschuldigen Listen der Seelenverführung, auf welche sich die Künstler verstehen müssen: denn in ihrer Welt, in der es auf Schein abgesehen ist, brauchen auch die Mittel des Scheins nicht notwendig echt zu sein.

155

Der versteckte Leierkasten.— Die Genies verstehen sich besser als die Talente darauf, den Leierkasten zu verstecken, vermöge ihres umfänglicheren Faltenwurfs; aber im Grunde können sie auch nicht mehr, als ihre alten sieben Stücke wieder spielen.

156

Der Name auf dem Titelblatt.— Dass der Name des Autors auf dem Buche steht, ist zwar jetzt Sitte und fast Pflicht; doch ist es eine Hauptursache davon, dass Bücher so wenig wirken. Sind sie nämlich gut, so sind sie mehr wert als die Personen, als deren Quintessenzen; sobald aber der Autor sich durch den Titel zu erkennen gibt, wird die Quintessenz wieder von seiten des Lesers mit dem Persönlichen, ja Persönlichsten diluiert und somit der Zweck des Buches vereitelt. Es ist der Ehrgeiz des Intellektes, nicht mehr individuell zu erscheinen.

157

Schärfste Kritik.— Man kritisiert einen Menschen, ein Buch am schärfsten, wenn man das Ideal desselben hinzeichnet.

158

Wenig und ohne Liebe.— Jedes gute Buch ist für einen bestimmten Leser und dessen Art geschrieben und wird eben deshalb von allen übrigen Lesern, der grossen Mehrzahl, ungünstig angesehn: weshalb sein Ruf auf schmaler Grundlage ruht und nur langsam aufgebaut werden kann.— Das mittelmässige und schlechte Buch ist es eben dadurch, dass es vielen zu gefallen sucht und auch gefällt.

159

Musik und Krankheit.— Die Gefahr in der neuen Musik liegt darin, dass sie uns den Becher des Wonnigen und Grossartigen so hinreissend und mit einem Anscheine von sittlicher Ekstase an die Lippen setzt, dass auch der Mässige und Edle immer einige Tropfen zu viel von ihr trinkt. Diese Minimal-Ausschweifung, fortwährend wiederholt, kann aber zuletzt eine tiefere Erschütterung und Untergrabung der geistigen Gesundheit zuwege bringen, als irgend ein grosser Exzess es vermöchte: so dass nichts übrigbleibt, als eines Tages die Nymphengrotte zu fliehen und, durch Meereswogen und Gefahren, nach dem Rauch von Ithaka und nach den Umarmungen der schlichteren und menschlicheren Gattin sich den Weg zu bahnen.

160

Vorteil für die Gegner.— Ein Buch voller Geist teilt auch an seine Gegner davon mit.

161

Jugend und Kritik.— Ein Buch kritisieren—das heisst für die Jungen nur: keinen einzigen produktiven Gedanken desselben an sich herankommen lassen und sich, mit Händen und Füssen, seiner Haut wehren. Der Jüngling lebt gegen alles Neue, das er nicht in Bausch und Bogen lieben kann, im Stande der Notwehr und begeht jedesmal dabei, so oft er nur kann, ein überflüssiges Verbrechen.

162

Wirkung der Quantität.— Die grösste Paradoxie in der Geschichte der Dichtkunst liegt darin, dass in allem, worin die alten Dichter ihre Grösse haben, einer ein Barbar, nämlich fehlerhaft und verwachsen vom Wirbel bis zur Zehe, sein kann und dennoch der grösste Dichter bleibt. So steht es ja mit Shakespeare, der, mit Sophokles zusammengehalten, einem Bergwerke voll einer Unermesslichkeit an Gold, Blei und Geröll gleicht, während jener nicht nur Gold, sondern Gold in der edelsten Gestaltung ist, die seinen Wert als Metall fast vergessen macht. Aber die Quantität, in ihren höchsten Steigerungen, wirkt als Qualität. Das kommt Shakespeare zugute.

163

Aller Anfang ist Gefahr.— Der Dichter hat die Wahl, entweder das Gefühl von einer Stufe zur andern zu heben und es so zuletzt sehr hoch zu steigern—oder es mit einem Überfalle zu versuchen und gleich von Beginn an mit aller Gewalt am Glockenstrang zu ziehn. Beides hat seine Gefahren: im ersten Falle läuft ihm vielleicht sein Zubehör vor Langerweile, im zweiten vor Schrecken davon.

164

Zugunsten der Kritiker.— Die Insekten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unseren Schmerz.

165

Erfolg von Sentenzen.— Die Unerfahrnen meinen immer, wenn ihnen eine Sentenz sofort durch ihre schlichte Wahrheit einleuchtet, sie sei alt und bekannt, und blicken dabei scheel auf den Urheber, als habe er das Gemeingut aller stehlen wollen: während sie an gewürzten Halbwahrheiten Freude haben und dies dem Autor zu erkennen geben. Dieser weiss einen solchen Wink zu würdigen und errät daraus leicht, wo es ihm gelungen und wo misslungen ist.

166

Siegen-wollen.— Ein Künstler, der in allem, was er unternimmt, über seine Kräfte hinausgeht, wird doch zuletzt, durch das Schauspiel des gewaltigen Ringens, das er gewährt, die Menge mit sich fortreissen: denn der Erfolg ist nicht immer nur beim Siege, sondern mitunter schon beim Siegen-wollen.

167

Sibi scribere.— Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heisst für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können.

168

Lob der Sentenz.— Eine gute Sentenz ist zu hart für den Zahn der Zeit und wird von allen Jahrtausenden nicht aufgezehrt, obwohl sie jeder Zeit zur Nahrung dient: dadurch ist sie das grosse Paradoxon in der Literatur, das Unvergängliche inmitten des Wechselnden, die Speise, welche immer geschätzt bleibt wie das Salz, und niemals, wie selbst dieses, dumm wird.

169

Kunstbedürfnis zweiten Ranges.— Das Volk hat wohl etwas von dem, was man Kunstbedürfnis nennen darf, aber es ist wenig und wohlfeil zu befriedigen. Im Grunde genügt hierfür der Abfall der Kunst: das soll man ehrlich sich eingestehen. Man erwäge doch nur zum Beispiel, an was für Melodien und Liedern jetzt unsere kraftvollsten, unverdorbensten, treuherzigsten Schichten der Bevölkerung ihre rechte Herzensfreude haben, man lebe unter Hirten, Sennen, Bauern, Jägern, Soldaten, Seeleuten und gebe sich die Antwort. Und wird nicht in der kleinen Stadt, gerade in den Häusern, welche der Sitz altvererbter Bürgertugend sind, jene allerschlechteste Musik geliebt, ja gehätschelt, welche überhaupt jetzt hervorgebracht wird? Wer von tieferm Bedürfnisse, von unausgefülltem Begehren nach Kunst in Beziehung auf das Volk, wie es ist, redet, der faselt oder schwindelt. Seid ehrlich! Nur bei Ausnahme-Menschen gibt es jetzt ein Kunstbedürfnis in hohem Stile—weil die Kunst überhaupt wieder einmal im Rückgange ist und die menschlichen Kräfte und Hoffnungen sich für eine Zeit auf andere Dinge geworfen haben.— Ausserdem, nämlich abseits vom Volke, besteht freilich noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürfnis, aber zweiten Ranges, in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft: hier ist etwas wie eine künstlerische Gemeinde, die es aufrichtig meint, möglich. Aber man sehe sich die Elemente an! Es sind im allgemeinen die feineren Unzufriednen, die an sich zu keiner rechten Freude kommen: der Gebildete, der nicht frei genug geworden ist, um der Tröstungen der Religion entraten zu können, und doch ihre Öle nicht wohlriechend genug findet: der Halbedle, der zu schwach ist, den einen Grundfehler seines Lebens oder den schädlichen Hang seines Charakters zu brechen, durch heroisches Umkehren oder Verzichtleisten: der Reichbegabte, der zu vornehm von sich denkt, um durch bescheidene Tätigkeit zu nützen, und zu träge zur ernsten aufopfernden Arbeit ist: das Mädchen, welches sich keinen genügenden Kreis von Pflichten zu schaffen weiss: die Frau, die durch eine leichtsinnige oder frevelhafte Ehe sich band und nicht genug gebunden weiss: der Gelehrte, Arzt, Kaufmann, Beamte, der zu zeitig in das einzelne eingekehrt und seiner ganzen Natur niemals vollen Lauf gegönnt hat, dafür aber mit einem Wurm im Herzen seine immerhin tüchtige Arbeit tut: endlich alle unvollständigen Künstler—dies sind jetzt die noch wahrhaften Kunstbedürftigen! Und was begehren sie eigentlich von der Kunst? Sie soll ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des Welten-Schicksals ins Grosse umdeuten—sehr verschieden von den Griechen, welche in ihrer Kunst das Aus- und Überströmen ihres eignen Wohl- und Gesundseins empfanden und es liebten, ihre Vollkommenheit noch einmal ausser sich zu sehen:—sie führte der Selbstgenuss zur Kunst, diese unsere Zeitgenossen—der Selbstverdruss.

170

Die Deutschen im Theater.— Das eigentliche Theatertalent der Deutschen war Kotzebue; er und seine Deutschen, die der höheren sowohl als die der mittleren Gesellschaft, gehörten notwendig zusammen, und die Zeitgenossen hätten von ihm im Ernste sagen dürfen: "in ihm leben, weben und sind wir." Hier war nichts Erzwungenes, Angebildetes, Halb- und Angeniessendes: was er wollte und konnte, wurde verstanden, ja bis jetzt ist der ehrliche Theater-Erfolg auf deutschen Bühnen im Besitze der verschämten oder unverschämten Erben Kotzebueischer Mittel und Wirkungen, namentlich soweit das Lustspiel noch in einiger Blüte steht; woraus sich ergibt, dass viel von dem damaligen Deutschtum, zumal abseits von der grossen Stadt, immer noch fortlebt. Gutmütig, in kleinen Genüssen unenthaltsam, tränenlüstern, mit dem Wunsche, wenigstens im Theater sich der eingebornen pflichtstrengen Nüchternheit entschlagen zu dürfen und hier lächelnde, ja lachende Duldung zu üben, das Gute und das Mitleid verwechselnd und in eins zusammenwerfend—wie es das Wesentliche der deutschen Sentimentalität ist—, überglücklich bei einer schönen grossmütigen Handlung, im übrigen unterwürfig nach oben, neidisch gegeneinander, und doch im Innersten sich selbst genügend—so waren sie, so war er.— Das zweite Theatertalent war Schiller: dieser entdeckte eine Klasse von Zuhörern, welche bis dahin nicht in Betracht gekommen waren; er fand sie in den unreifen Lebensaltern, im deutschen Mädchen und Jüngling. Ihren höheren, edleren, stürmischeren, wenn auch unklareren Regungen, ihrer Lust am Klingklang sittlicher Worte (welche in den dreissiger Jahren des Lebens zu verschwinden pflegt) kam er mit seinen Dichtungen entgegen und errang sich dadurch, gemäss der Leidenschaftlichkeit und Parteisucht jener Altersklasse, einen Erfolg, der allmählich auch auf die reiferen Lebensalter mit Vorteil einwirkte: Schiller hat im allgemeinen die Deutschen verjüngt.— Goethe stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören. Wie könnte auch je ein Volk der Goethischen Geistigkeit, im Wohl-Sein und Wohl-Wollen gewachsen sein! Wie Beethoven über die Deutschen weg Musik machte, wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophierte, so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die Deutschen weg. Ihm folgte eine sehr kleine Schar Höchstgebildeter, durch Altertum, Leben und Reisen Erzogener, über deutsches Wesen hinaus Gewachsener:—er selber wollte es nicht anders.— Als dann die Romantiker ihren zweckbewussten Goethe-Kultus aufrichteten, als ihre erstaunliche Kunstfertigkeit des Anschmeckens dann auf die Schüler Hegels, die eigentlichen Erzieher der Deutschen dieses Jahrhunderts, überging, als der erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme der deutschen Dichter zugute kam und der eigentliche Massstab des Volkes, ob es sich ehrlich an etwas freuen könne, unerbittlich dem Urteile der einzelnen und jenem nationalen Ehrgeize untergeordnet wurde—das heisst, als man anfing sich freuen zu müssen—, da entstand jene Verlogenheit und Uneechtheit der deutschen Bildung, welche sich Kotzebues schämte, welche Sophokles, Calderon und selbst Goethes Faust-Fortsetzung auf die Bühne brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres verschleimten Magens wegen, zuletzt nicht mehr weiss, was ihr schmeckt, was ihr langweilig ist.— Selig sind die, welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist!— Und nicht nur selig, auch weise kann man nur vermöge dieser Eigenschaft werden: weshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das den Mann des Geschmacks bedeutet, und Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu "Geschmack" (sophia) benannten.

171

Die Musik als Spätling jeder Kultur.— Die Musik kommt von allen Künsten, welche auf einem bestimmten Kultur-Boden, unter bestimmten sozialen und politischen Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen, als die letzte aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst und Abblühen der zu ihr gehörigen Kultur: während gewöhnlich die ersten Boten und Anzeichen eines neuen Frühlings schon bemerkbar sind; ja mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät. Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang: ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber echt- und ebenbürtige Schwester der Gotik. Erst in Händels Musik erklang das beste von Luthers und seiner Verwandten Seele, der grosse jüdisch-heroische Zug, welcher die ganze Reformations-Bewegung schuf. Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racines und Claude Lorrains in klingendem Golde heraus. Erst in Beethovens und Rossinis Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glücks. So möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang.— Die Musik ist eben nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-Wärme- und Zeitmass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrinas würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum—was würde Palestrina bei der Musik Rossinis hören?— Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Kultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reaktions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholizismus des Gefühls wie die Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüte kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagners Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden—welche eigentlich souveräne Raubtiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Grossherzigkeit und Lebensüberdruss—, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den Geist seiner Musik aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte: dieser Geist führt den allerletzten Kriegs- und Reaktionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, ebenso gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft.— Ist es aber nicht ersichtlich, dass die hier—bei Wagner selbst und seinem Anhange—noch zurückgedrängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst von neuem wieder Gewalt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören? so dass eines Tages jene wunderbare und hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten.— Man darf sich über diese Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaktion innerhalb der Reaktion, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten der gesamten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehnt der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der sozialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen—ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, dass sie "Zukunft habe," oder gar, dass sie die Zukunft habe.— Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Kultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntnis gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste.

172

Die Dichter keine Lehrer mehr.— So fremd es unserer Zeit klingen mag: es gab Dichter und Künstler, deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe und Entzückungen hinaus war und die deshalb an reinlicheren Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen und Lösungen ihre Freude hatten. Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Entfesseler des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene—Willens-Bändiger, Tier-Verwandeler, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens: während der Ruhm der jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag.— Die älteren Griechen verlangten vom Dichter, er solle der Lehrer der Erwachsenen sein: aber wie müsste sich jetzt ein Dichter schämen, wenn man dies von ihm verlangte,—er, der selber sich kein guter Lehrer war und daher selbst kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde wurde, sondern im günstigen Falle gleichsam der scheue, anziehende Trümmerhaufen eines Tempels, aber zugleich eine Höhle der Begierden, mit Blumen, Stechpflanzen, Giftkräutern ruinenhaft überwachsen, von Schlangen, Gewürm, Spinnen und Vögeln bewohnt und besucht—ein Gegenstand zum trauernden Nachsinnen darüber, warum jetzt das Edelste und Köstlichste sogleich als Ruine, ohne die Vergangenheit und Zukunft des Vollkommenseins, emporwachsen muss? —

173

Vor- und Rückblick.— Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe ausströmt, als Überschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung—das ist das Rechte, nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind: nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten, chaotischen Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber aus sich selber, dass für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Überspannung, der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache, Logische ein notwendiges Bedürfnis ist, welchem Künstler entsprechen müssen, damit die Seele solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderem Weg, durch allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge, wie sie meistens sind, voll, gärend, von nichts mehr als von der Langeweile gepeinigt,—so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung. Um so heftiger noch entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glück ohne Betäubung und Rausch.

174

Gegen die Kunst der Kunstwerke.— Die Kunst soll vor allem und zuerst das Leben verschönern, also uns selber den anderen erträglich, womöglich angenehm machen: mit dieser Aufgabe vor Augen mässigt sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstands, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche verbergen oder umdeuten, jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Ängste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das Bedeutende durchschimmern lassen. Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, die der Kunstwerke, nur ein Anhängsel. Ein Mensch, der einen Überschuss von solchen verschönernden, verbergenden und umdeutenden Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt noch in Kunstwerken dieses Überschusses zu entladen suchen; ebenso, unter besonderen Umständen, ein ganzes Volk.— Aber gewöhnlich fängt man jetzt die Kunst am Ende an, hängt sich an ihren Schweif und meint, die Kunst der Kunstwerke sei das Eigentliche, von ihr aus solle das Leben verbessert und umgewandelt werden—wir Toren! Wenn wir die Mahlzeit mit dem Nachtisch beginnen und Süssigkeiten über Süssigkeiten kosten, was wunders, wenn wir uns den Magen und selbst den Appetit für die gute, kräftige, nährende Mahlzeit, zu der uns die Kunst einladet, verderben!

175

Fortbestehen der Kunst.— Wodurch besteht jetzt im Grunde eine Kunst der Kunstwerke fort? Dadurch, dass die meisten, welche Mussestunden haben—und nur für diese gibt es ja eine solche Kunst—, nicht glauben, ohne Musik, Theater- und Galerien-Besuch, ohne Roman- und Gedichte-lesen mit ihrer Zeit fertig zu werden. Gesetzt, man könnte sie von dieser Befriedigung abhalten, so würden sie entweder nicht so eifrig nach Musse streben und der neiderregende Anblick der Reichen würde seltener—ein grosser Gewinn für den Bestand der Gesellschaft; oder sie hätten Musse, lernten aber nachdenken—was man lernen und verlernen kann—, über ihre Arbeit zum Beispiel, ihre Verbindungen, über Freuden, die sie erweisen könnten: le Welt, mit Ausnahme der Künstler, hätte in beiden Fällen den Vorteil davon.— Es gibt gewiss manchen kraft- und sinnvollen Leser, der hier einen guten Einwand zu machen versteht. Der Plumpen und Böswilligen halber soll es doch einmal gesagt werden, dass es hier wie so oft in diesem Buche dem Autor eben auf den Einwand ankommt, und dass manches in ihm zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben steht.

176

Das Mundstück der Götter.— Der Dichter spricht die allgemeinen höheren Meinungen aus, welche ein Volk hat, er ist deren Mundstück und Flöte—aber er spricht sie, vermöge des Metrums und aller anderen künstlerischen Mittel so aus, dass das Volk sie wie etwas ganz Neues und Wunderhaftes nimmt und es vom Dichter allen Ernstes glaubt, er sei das Mundstück der Götter. Ja, in der Umwölkung des Schaffens vergisst der Dichter selber, wo er alle seine geistige Weisheit her hat—von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Strasse und namentlich von den Priestern; ihn täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, dass ein Gott durch ihn rede, dass er im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe,—während er eben nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volks-Torheit miteinander. Also: insofern der Dichter wirklich vox populi ist, gilt er als vox dei.

177

Was alle Kunst will und nicht kann.— Die schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers ist die Darstellung des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen, Einfachen, vom Einzelreiz weit Absehenden; deshalb werden die höchsten Gestaltungen sittlicher Vollkommenheit von den schwächeren Künstlern selbst als unkünstlerische Vorwürfe abgelehnt, weil ihrem Ehrgeize der Anblick dieser Früchte gar zu peinlich ist: sie glänzen ihnen aus den äussersten Ästen der Kunst entgegen, aber es fehlt ihnen Leiter, Mut und Handgriff, um sich so hoch wagen zu dürfen. An sich ist ein Phidias als Dichter recht wohl möglich, aber, in Anbetracht der modernen Kraft, fast nur im Sinne des Wortes, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Schon der Wunsch nach einem dichterischen Claude Lorrain ist ja gegenwärtig eine Unbescheidenheit, so sehr einen das Herz danach verlangen heisst.— Der Darstellung des höchsten Menschen, das heisst des einfachsten und zugleich vollsten, war bis jetzt kein Künstler gewachsen; vielleicht aber haben die Griechen, im Ideal der Athene, am weitesten von allen bisherigen Menschen den Blick geworfen.

178

Kunst und Restauration.— Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte, die sogenannten Restaurationszeiten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und denen eine kurze Toten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den Reiz gemütvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem, hastigen Umarmens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung der Stimmung finden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften Zeiten Kunst und Dichtung einen natürlichen Boden: wie an steil absinkenden Bergeshängen die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen.— So treibt es manchen guten Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkweise in Politik und Gesellschaft, für welche er sich, auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen zurechtmacht: wo er dann die menschlichen Überreste jener ihn anheimelnden Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Toten, Halbtoten und Sterbensmüden sein Saitenspiel ertönen lässt, vielleicht mit dem erwähnten Erfolge einer kurzen Toten-Erweckung.

179

Glück der Zeit.— In zwei Beziehungen ist unsere Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Vergangenheit geniessen wir alle Kulturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schosse jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können: während frühere Kulturen nur sich selber zu geniessen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang. In Hinsicht auf die Zukunft erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne Anmassung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will.— Es gibt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge immer nur das Bitterste und Ärgerlichste zu saugen verstehen;—und in der Tat, alle Dinge enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden und an ihrem Bienen-Korb des Missbehagens weiterbauen.

180

Eine Vision.— Lehr- und Betrachtungsstunden für Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte von jedermann besucht: die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunftwürde: ein neueres und volleres Auf- und Ausblühen des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und der Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen, wie deren Einzel-Tugenden als Gesamt-Tugend auch in der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen müssten,—dies ist meine Vision, die mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, dass sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat.

181

Erziehung Verdrehung.— Die ausserordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens, auf Grund deren jetzt jeder Erwachsene das Gefühl bekommt, sein einziger Erzieher sei der Zufall gewesen,—das Windfahnenhafte der erzieherischen Methoden und Absichten erklärt sich daraus, dass jetzt die ältesten und die neuesten Kulturmächte wie in einer wilden Volksversammlung mehr gehört als verstanden werden wollen und um jeden Preis durch ihre Stimme, ihr Geschrei beweisen wollen, dass sie noch existieren oder dass sie schon existieren. Die armen Lehrer und Erzieher sind bei diesem widersinnigen Lärm erst betäubt, dann still und endlich stumpf geworden und lassen alles über sich ergehen, wie sie nun wieder auch alles über ihre Zöglinge ergehen lassen. Sie selbst sind nicht erzogen: wie sollten sie erziehen? Sie selbst sind keine gerade gewachsenen, kräftigen, saftvollen Stämme: wer sich an sie anschliessen will, wird sich winden und krümmen müssen und zuletzt verdreht und verwachsen erscheinen.

182

Philosophen und Künstler der Zeit.— Wüstheit und Kaltsinn, Brand der Begierden, Abkühlung des Herzens—dies widerliche Nebeneinander findet sich im Bilde der höheren europäischen Gesellschaft der Gegenwart. Da glaubt der Künstler schon viel zu erreichen, wenn er durch seine Kunst neben dem Brande der Begierde auch einmal den Brand des Herzens aufflammen macht: und ebenso der Philosoph, wenn er bei der Kühle des Herzens, die er mit seiner Zeit gemein hat, auch die Hitze der Begierde durch sein weltverneinendes Urteilen in sich und jener Gesellschaft abkühlt.

183

Nicht ohne Not Soldat der Kultur sein.— Endlich, endlich lernt man, was nicht zu wissen einem in jüngeren Jahren so viel Einbusse macht: dass man zuerst das Vortreffliche tun, zu zweit das Vortreffliche aufsuchen müsse, wo und unter welchen Namen es auch zu finden sei: dass man dagegen allem Schlechten und Mittelmässigen sofort aus dem Wege gehe, ohne es zu bekämpfen, und dass schon der Zweifel an der Güte einer Sache—wie er bei geübterem Geschmacke schnell entsteht—uns als Argument gegen sie und als Anlass, ihr völlig auszuweichen, gelten dürfe: auf die Gefahr hin, einige Male dabei zu irren und das schwerer zugängliche Gute mit dem Schlechten und Unvollkommenen zu verwechseln. Nur wer nichts Besseres kann, soll den Schlechtigkeiten der Welt zu Leibe gehn, als der Soldat der Kultur. Aber der Nähr- und Lehrstand derselben richtet sich zugrunde, wenn er in Waffen einhergehen will und den Frieden seines Berufs und Hauses durch Vorsorge, Nachtwachen und böse Träume in unheimliche Friedlosigkeit umkehrt.

184

Wie Naturgeschichte zu erzählen ist.— Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegesgeschichte der sittlich-geistigen Kraft im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trägheit, Aberglaube, Narrheit, sollte so erzählt werden, dass jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blüte, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfnis unaufhaltsam fortgerissen würde. Bis jetzt hat sie ihre rechte Sprache noch nicht gefunden, weil die spracherfinderischen und beredten Künstler—denn deren bedarf es hierzu—gegen sie ein verstocktes Misstrauen nicht loswerden und vor allem nicht gründlich von ihr lernen wollen. Immerhin ist den Engländern zuzugestehen, dass sie in ihren naturwissenschaftlichen Lehrbüchern für die niederen Volksschichten bewunderungswürdige Schritte nach jenem Ideale hin gemacht haben: dafür werden diese auch von ihren ausgezeichnetsten Gelehrten—ganzen, vollen und füllenden Naturen—gemacht, nicht, wie bei uns, von den Mittelmässigkeiten der Forschung.

185

Genialität der Menschheit.— Wenn Genialität, nach Schopenhauers Beobachtung, in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntnis des gesamten historischen Gewordenseins—welches immer mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Tier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat—ein Streben nach Genialität der Menschheit im ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein.

186

Kultus der Kultur.— Grossen Geistern ist das abschreckende Allzumenschliche ihres Wesens, ihrer Blindheiten, Verkrümmungen, Masslosigkeiten beigegeben, damit ihr mächtiger, leicht allzumächtiger Einfluss fortwährend durch das Misstrauen, welches jene Eigenschaften einflössen, in Schranken gehalten werde. Denn das System alles dessen, was die Menschheit zu ihrem Fortbestehen nötig hat, ist so umfassend und nimmt so verschiedenartige und zahlreiche Kräfte in Anspruch, dass für jede einseitige Bevorzugung, sei es der Wissenschaft oder des Staates oder der Kunst oder des Handels, wozu jene Einzelnen treiben, die Menschheit als Ganzes harte Busse zahlen muss. Es ist immer das grösste Verhängnis der Kultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden: in welchem Sinn man sogar mit dem Spruche des mosaischen Gesetzes zusammenfühlen darf, welcher verbietet, neben Gott andere Götter zu haben.— Dem Kultus des Genius und der Gewalt muss man, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Kultus der Kultur zur Seite stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommnen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren eine verständnisvolle Würdigung und das Zugeständnis, dass dies alles nötig sei, zu schenken weiss; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menschlichen, durch erstaunliche Arbeiten und Glücksfälle erreicht, und ebenso sehr das Werk von Zyklopen und Ameisen als von Genies, soll nicht wieder verloren gehen: wie dürften wir da des gemeinsamen tiefen, oft unheimlichen Grundbasses entraten können, ohne den ja Melodie nicht Melodie zu sein vermag?

187

Die alte Welt und die Freude.— Die Menschen der alten Welt wussten sich besser zu freuen: wir, uns weniger zu betrüben; jene machten immerfort neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu feiern, ausfindig, mit allem ihrem Reichtum von Scharfsinn und Nachdenken: während wir unsern Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit, die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In betreff des leidenden Daseins suchten die Alten zu vergessen oder die Empfindung ins Angenehme irgendwie umzubiegen: so dass sie hierin palliativisch zu helfen suchten, während wir den Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im ganzen lieber prophylaktisch wirken.— Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen auch wieder den Tempel der Freude errichten.

188

Die Musen als Lügnerinnen.— "Wir verstehen uns darauf, viele Lügen zu sagen"—so sangen einstmals die Musen, als sie sich vor Hesiod offenbarten [Hesiod: Theogonia, 22-28].— Es führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler einmal als Betrüger fasst.

189

Wie paradox Homer sein kann.— Gibt es etwas Verwegeneres, Schauerlicheres, Unglaublicheres, das über Menschenschicksal, gleich der Wintersonne, so hinleuchtet, wie jener Gedanke, der sich bei Homer findet:

das ja fügte der Götter Beschluss und verhängte den Menschen
Untergang, dass es wär' ein Gesang auch späten Geschlechtern.
[Homer: Odyssee 8, 579-580.]

Also: wir leiden und gehen zugrunde, damit es den Dichtern nicht an Stoff fehle—und dies ordnen geradeso die Götter Homers an, welchen an der Lustbarkeit der kommenden Geschlechter sehr viel gelegen scheint, aber allzu wenig an uns, den Gegenwärtigen.— Dass je solche Gedanken in den Kopf eines Griechen gekommen sind!

190

Nachträgliche Rechtfertigung des Daseins.— Manche Gedanken sind als Irrtümer und Phantasmen in die Welt getreten, aber zu Wahrheiten geworden, weil die Menschen ihnen hinterdrein ein wirkliches Substrat untergeschoben haben.

191

Pro und Contra nötig.— Wer nicht begriffen hat, dass jeder grosse Mann nicht nur gefördert, sondern auch, der allgemeinen Wohlfahrt wegen, bekämpft werden muss, ist gewiss noch ein grosses Kind—oder selber ein grosser Mann.

192

Ungerechtigkeit des Genies.— Das Genie ist am ungerechtesten gegen die Genies, falls sie seine Zeitgenossen sind: einmal glaubt es sie nicht nötig zu haben und hält sie deshalb überhaupt für überflüssig—denn es ist ohne sie, was es ist—, sodann kreuzt ihr Einfluss die Wirkung seines elektrischen Stroms: weshalb es sie sogar schädlich nennt.

193

Schlimmstes Schicksal eines Propheten.— Er arbeitete zwanzig Jahre daran, seine Zeitgenossen von sich zu überzeugen—es gelingt ihm endlich; aber inzwischen war es seinen Gegnern auch gelungen: er war nicht mehr von sich überzeugt.

194

Drei Denker gleich einer Spinne.— In jeder philosophischen Sekte folgen drei Denker in diesem Verhältnisse aufeinander: der erste erzeugt aus sich den Saft und Samen, der zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches Netz, der dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen—und sucht von der Philosophie zu leben.

195

Aus dem Verkehre mit Autoren.— Es ist eine ebenso schlechte Manier, mit einem Autor umzugehn, wenn man ihn an der Nase fasst, wie wenn man ihn an seinem Horne fasst—und jeder Autor hat sein Horn.

196

Zweigespann.— Unklarheit des Denkens und Gefühlsschwärmerei sind ebenso häufig mit dem rücksichtslosen Willen, sich selber mit allen Mitteln durchzusetzen, sich allein gelten zu lassen, verbunden wie herzhaftes Helfen, Gönnen und Wohlwollen mit dem Triebe nach Helle und Reinlichkeit des Denkens, nach Mässigung und Ansichhalten des Gefühls.

197

Das Bindende und das Trennende.— Liegt nicht im Kopfe das, was die Menschen verbindet—das Verständnis für gemeinsamen Nutzen und Nachteil—, und im Herzen das, was sie trennt—das blinde Auswählen und Zutappen in Liebe und Hass, die Hinwendung zu einem auf Unkosten aller und die daraus entspringende Verachtung des allgemeinen Nutzens?

198

Schützen und Denker.— Es gibt kuriose Schützen, welche zwar das Ziel verfehlen, aber mit dem heimlichen Stolz vom Schiessstande abtreten, dass ihre Kugel jedenfalls sehr weit (allerdings über das Ziel hinaus) geflogen ist, oder dass sie zwar nicht das Ziel, aber etwas anderes getroffen haben. Und ebensolche Denker gibt es.

199

Von zwei Seiten aus.— Man feindet eine geistige Richtung und Bewegung an, wenn man ihr überlegen ist und ihr Ziel missbilligt, oder wenn ihr Ziel zu hoch und unserem Auge unerkennbar, also wenn sie uns überlegen ist. So kann dieselbe Partei von zwei Seiten aus, von oben und von unten her, bekämpft werden; und nicht selten schliessen die Angreifenden aus gemeinsamem Hass ein Bündnis miteinander, das widerlicher ist als alles, was sie hassen.

200

Original.— Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von jedermann Gesehene und Übersehene wie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus. Der erste Entdecker ist gemeinhin jener ganz gewöhnliche und geistlose Phantast—der Zufall.

201

Irrtum der Philosophen.— Der Philosoph glaubt, der Wert seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird: also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Wert hat.

202

Witz.— Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls.

203

Im Augenblicke vor der Lösung.— In der Wissenschaft kommt es alle Tage und Stunden vor, dass einer unmittelbar vor der Lösung stehen bleibt, überzeugt, jetzt sei sein Bemühen völlig umsonst gewesen,—gleich einem, der, eine Schleife aufziehend, im Augenblicke, wo sie der Lösung am nächsten ist, zögert: denn da gerade sieht sie einem Knoten am ähnlichsten.

204

Unter die Schwärmergehen.— Der besonnene und seines Verstandes sichere Mensch kann mit Gewinnst ein Jahrzehnt unter die Phantasten gehen und sich in dieser heissen Zone einer bescheidenen Tollheit überlassen. Damit hat er ein gutes Stück Wegs gemacht, um zuletzt zu jenem Kosmopolitismus des Geistes zu gelangen, welcher ohne Anmassung sagen darf: "nichts Geistiges ist mir mehr fremd."

205

Scharfe Luft.— Das Beste und Gesündeste in der Wissenschaft wie im Gebirge ist die scharfe Luft, die in ihnen weht.— Die Geistig-Weichlichen (wie die Künstler) scheuen und verlästern dieser Luft halber die Wissenschaft.

206

Warum Gelehrte edler als Künstler sind.— Die Wissenschaft bedarf edlerer Naturen als die Dichtkunst: sie müssen einfacher, weniger ehrgeizig, enthaltsamer, stiller, nicht so auf Nachruhm bedacht sein und sich über Sachen vergessen, welche selten dem Auge vieler eines solchen Opfers der Persönlichkeit würdig erscheinen. Dazu kommt eine andre Einbusse, deren sie sich bewusst sind: die Art ihrer Beschäftigung, die fortwährende Aufforderung zur grössten Nüchternheit schwächt ihren Willen, das Feuer wird nicht so stark unterhalten wie auf dem Herde der dichterischen Naturen: und deshalb verlieren sie häufig in früheren Lebensjahren als jene ihre höchste Kraft und Blüte—und, wie gesagt, sie wissen um diese Gefahr. Unter allen Umständen erscheinen sie unbegabter, weil sie weniger glänzen, und werden für weniger gelten, als sie sind.

207

Inwiefern die Pietät verdunkelt.— Dem grossen Manne macht man, in späteren Jahrhunderten, alle grossen Eigenschaften und Tugenden seines Jahrhunderts zum Geschenk—und so wird alles Beste fortwährend durch die Pietät verdunkelt, welche es als ein heiliges Bild ansieht, an dem man Weihgeschenke aller Art aufhängt und aufstellt—bis es endlich ganz durch dieselben verdeckt und umhüllt wird und fürderhin mehr ein Gegenstand des Glaubens als des Schauens ist.

208

Auf dem Kopfe stehen.— Wenn wir die Wahrheit auf den Kopf stellen, bemerken wir gewöhnlich nicht, dass auch unser Kopf nicht dort steht, wo er stehen sollte.

209

Ursprung und Nutzen der Mode.— Die ersichtliche Selbstzufriedenheit des einzelnen mit seiner Form macht die Nachahmung rege und erschafft allmählich die Form der Vielen, das heisst die Mode: diese Vielen wollen durch die Mode eben jene so wohltuende Selbstzufriedenheit mit der Form und erlangen sie auch.— Wenn man erwägt, wie viel Gründe zur Ängstlichkeit und schüchternem Sichverstecken jeder Mensch hat und wie Dreiviertel seiner Energie und seines guten Willens durch jene Gründe gelähmt und unfruchtbar werden können, so muss man der Mode vielen Dank zollen, insofern sie jenes Dreiviertel entfesselt und Selbstvertrauen und gegenseitiges heiteres Entgegenkommen denen mitteilt, welche sich untereinander an ihr Gesetz gebunden wissen. Auch törichte Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüts, sofern sich nur viele ihnen unterworfen haben.

210

Zungenlöser.— Der Wert mancher Menschen und Bücher beruht allein in der Eigenschaft, jedermann zum Aussprechen des Verborgensten, Innersten zu nötigen: es sind Zungenlöser und Brecheisen für die verbissensten Zähne. Auch manche Ereignisse und Übeltaten, welche scheinbar nur zum Fluche der Menschheit da sind, haben jenen Wert und Nutzen.

211

Freizügige Geister.— Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen, wenn er nicht auf seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als Schimpf anhängt, eine Huldigung darbringen möchte, indem er etwas von jener Last der öffentlichen Missgunst und Beschimpfung auf seine Schultern ladet? Wohl aber dürften wir uns "freizügige Geister" in allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder grossmütigen Trotz) nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellekten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadentum sehen—um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.

212

Ja die Gunst der Musen!— Was Homer darüber sagt, greift ins Herz, so wahr, so schrecklich ist es: "herzlich liebt' ihn die Muse und gab ihm Gutes und Böses; denn die Augen entnahm sie und gab ihm süssen Gesang ein." [Homer: Odyssee 8, 63-64.]— Dies ist ein Text ohne Ende für den Denkenden: Gutes und Böses gibt sie, das ist ihre Art von herzlicher Liebe! Und jeder wird es sich besonders auslegen, warum wir Denker und Dichter unsre Augen darangeben müssen.

213

Gegen die Pflege der Musik.— Die künstlerische Ausbildung des Auges von Kindheit an, durch Zeichnen und Malen, durch Skizzieren von Landschaften, Personen, Vorgängen, bringt nebenbei den für das Leben unschätzbaren Gewinn mit sich, das Auge zum Beobachten von Menschen und Lagen scharf, ruhig und ausdauernd zu machen. Ein ähnlicher Neben-Vorteil erwächst aus der künstlerischen Pflege des Ohres nicht: weshalb Volksschulen im allgemeinen gut tun werden, der Kunst des Auges von der des Ohres den Vorzug zu geben.

214

Die Entdecker von Trivialitäten.— Subtile Geister, denen nichts ferner liegt als eine Trivialität, entdecken oft nach allerlei Umschweifen und Gebirgspfaden eine solche und haben grosse Freude daran, zur Verwunderung der Nicht-Subtilen.

215

Moral der Gelehrten.— Ein regelmässiger und schneller Fortschritt der Wissenschaften ist nur möglich, wenn der einzelne nicht zu misstrauisch sein muss, um jede Rechnung und Behauptung anderer nachzuprüfen, auf Gebieten, die ihm ferner liegen: dazu aber ist die Bedingung, dass jeder auf seinem eigenen Felde Mitbewerber hat, die äusserst misstrauisch sind und ihm scharf auf die Finger sehen. Aus diesem Nebeneinander von "nicht zu misstrauisch" und "äusserst misstrauisch" entsteht die Rechtschaffenheit in der Gelehrten-Republik.

216

Grund der Unfruchtbarkeit.— Es gibt höchst begabte Geister, welche nur deshalb immer unfruchtbar sind, weil sie, aus einer Schwäche des Temperamentes, zu ungeduldig sind, ihre Schwangerschaft abzuwarten.

217

Verkehrte Welt der Tränen.— Das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Kultur dem Menschen machen, verkehrt endlich die Natur so weit, dass er für gewöhnlich starr und stoisch sich hält und nur noch für die seltenen Anfälle des Glücks die Tränen übrig hat, ja dass mancher schon bei dem Genusse der Schmerzlosigkeit weinen muss:—nur im Glücke schlägt sein Herz noch.

218

Die Griechen als Dolmetscher.— Wenn wir von den Griechen reden, reden wir unwillkürlich zugleich von heute und gestern: ihre allbekannte Geschichte ist ein blanker Spiegel, der immer etwas widerstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist. Wir benutzen die Freiheit, von ihnen zu reden, um von anderen schweigen zu dürfen—damit jene nun selber dem sinnenden Leser etwas ins Ohr sagen. So erleichtern die Griechen dem modernen Menschen das Mitteilen von mancherlei schwer Mitteilbarem und Bedenklichem.

219

Vom erworbenen Charakter der Griechen.— Wir lassen uns leicht durch die berühmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, durch das Kristallhaft-Natürliche und zugleich Kristallhaft-Künstliche griechischer Werke verführen zu glauben, das sei alles den Griechen geschenkt: sie hätten zum Beispiel gar nicht anders gekonnt als gut schreiben, wie dies Lichtenberg einmal ausspricht [Lichtenberg: Vermischte Schriften I, 278.]. Aber nichts ist voreiliger und unhaltbarer. Die Geschichte der Prosa von Gorgias bis Demosthenes zeigt ein Arbeiten und Ringen aus dem Dunklen, Überladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte hin, dass man an die Mühsal der Heroen erinnert wird, welche die ersten Wege durch Wald und Sümpfe zu bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche Tat der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit, bei einer Volksanlage, welche im Symbolischen und Andeutenden schwelgte und durch die grosse chorische Lyrik dazu noch eigens erzogen war: wie es die Tat Homers ist, die Griechen von dem asiatischen Pomp und dem dumpfen Wesen befreit und die Helle der Architektur, im grossen und einzelnen, errungen zu haben. Es galt auch keineswegs für leicht, etwas recht rein und leuchtend zu sagen; woher sonst die hohe Bewunderung für das Epigramm des Simonides, das ja so schlicht sich gibt, ohne vergoldete Spitzen, ohne Arabesken des Witzes—aber es sagt, was es zu sagen hat, deutlich, mit der Ruhe der Sonne, nicht mit der Effekthascherei eines Blitzes. Weil das Zustreben zum Lichte aus einer gleichsam eingeborenen Dämmerung griechisch ist, so geht ein Frohlocken durch das Volk beim Hören einer lakonischen Sentenz, bei der Sprache der Elegie, den Sprüchen der sieben Weisen.— Deshalb wurde das Vorschriftengeben in Versen, das uns anstössig ist, so geliebt, als eigentliche apollinische Aufgabe für den hellenischen Geist, um über die Gefahren des Metrons, über die Dunkelheit, welche der Poesie sonst eigen ist, Sieger zu werden. Die Schlichtheit, die Geschmeidigkeit, die Nüchternheit sind der Volksanlage angerungen, nicht mitgegeben—die Gefahr eines Rückfalls ins Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsternis. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa gleichsam weggespült, überflutet—denn Europa war damals sehr klein—, aber immer kommen sie auch wieder ans Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk des Odysseus.

220

Das eigentlich Heidnische.— Vielleicht gibt es nichts Befremdenderes für den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, dass die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen einrichteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christentume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das härteste bekämpft und verachtet.— Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: ja alles, was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmassregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluss geben zu können. Dies ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altertums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Tierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfasste der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften hin konstruiert war. In seinem Bau zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Tatsächliche, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes priesterliches oder kastenmässiges Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Kultus zu entscheiden hatte: sondern die umfänglichste Rücksicht auf die Wirklichkeit alles Menschlichen.— Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden jeder Art und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, dass es sich mässige und nicht alles totschlage oder innerlich giftig mache—das heisst, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen.

221

Ausnahme-Griechen.— In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die Ausnahme: der Instinkt des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche als eine Art von Verzerrung zu empfinden. Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden—das ist griechisch: nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen Täuschung, über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern, verflachen—so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Aussenseite, pomphaftes Wort, begeisterte Gebärde sind und sich an lauter ausgehöhlte schein-, klang- und effektlüsterne Seelen wenden.— Und nun würdige man die Grösse jener Ausnahme-Griechen, welche die Wissenschaft schufen! Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen Geistes!

222

Das Einfache nicht das erste, noch das letzte der Zeit nach.— In die Geschichte der religiösen Vorstellungen wird viel falsche Entwicklung und Allmählichkeit hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache viel zu sehr noch im Rufe, das Älteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig Menschliches entsteht durch Subtraktion und Division und gerade nicht durch Verdopplung, Zusatz, Zusammenbildung.— Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche Entwicklung der Götterdarstellung von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade so, dass, solange die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Tiere hinein verlegt und empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom Kultus und dem Banne der religiösen Scham, die innere Phantasie der Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen; überwogen aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende Einfluss der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach wie vor auf Seite des Ungetümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen. Selbst aber vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde doch noch, in äussere leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich wirken: das innere Auge ist um vieles kühner und weniger schamhaft als das äussere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und teilweise Unmöglichkeit ergibt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie will lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem Bilde glauben: das Bild soll das numen der Gottheit in irgend einer geheimnisvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise hier als tätig, als örtlich gebannt erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und zugleich verbergen—ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der Veranschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Überzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte. In dem Unvollständigen Andeutenden oder Übervollständigen liegt eine grausenhafte Heiligkeit, welche abwehren soll, an Menschliches, Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so etwas bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte deutlicher reden, sinnfälliger darstellen können. Vielmehr scheut man gerade eines: das direkte Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche numen der Gottheit birgt und in geheimnisvolles Halbdunkel versteckt, doch nicht ganz; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt, gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt, aber nicht ganz: so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der Gottheit.— Erst als ausserhalb des Kultus, in der profanen Welt des Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, dass die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfindungen hinüberschlugen, erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick menschlicher Schönheit und Überkraft gewöhnen musste, so dass, bei der räumlichen und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung ineinander überklangen: da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der grosse Tummelplatz für die grosse Plastik wird aufgetan: auch jetzt noch mit der Beschränkung, dass überall, wo angebetet werden soll, die uralte Form und Hässlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der weihende und schenkende Hellene darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.

223

Wohin man reisen muss.— Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklits Satz: man steigt nicht zweimal in denselben Fluss.— Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem ebenso kräftig und nahrhaft geblieben ist, wie sie es je war: ebenso wie jene, dass, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Überreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse—dass man reisen müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen—diese sind ja nur festgewordene ältere Kulturstufen, auf die man sich stellen kann—, zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften namentlich, dorthin, wo der Mensch das Kleid Europas ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. Nun gibt es aber noch eine feinere Kunst und Absicht des Reisens, welche es nicht immer nötig macht, von Ort zu Ort und über Tausende von Meilen hin den Fuss zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei Jahrhunderte in allen ihren Kulturfärbungen und -Strahlenbrechungen auch in unsrer Nähe noch fort: sie wollen nur entdeckt werden. In manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und übersichtlich noch übereinander: anderswo gibt es schwieriger zu verstehende Verwerfungen des Gesteins. Gewiss hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger bekannten Gebirgstälern, umschlossenern Gemeinwesen ein ehrwürdiges Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten können und muss hier aufgespürt werden: während es zum Beispiel unwahrscheinlich ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche Entdeckungen zu machen. Wer, nach langer Übung in dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Jo—ich meine sein ego—endlich überall hinbegleiten und in Ägypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken.— So wird Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach einer anderen, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung, in Hinsicht auf alles zukünftige Menschentum, werden könnte.

224

Balsam und Gift.— Man kann es nicht gründlich genug erwägen: das Christentum ist die Religion des altgewordenen Altertums, seine Voraussetzung sind entartete alte Kulturvölker; auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die Ohren und Augen "voller Schlamm" sind, so dass sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen: da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die "Posaune des jüngsten Gerichts" wirken, um solche Völker noch zu einem anständigen Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenals, an diese Giftkröte mit den Augen der Venus:—da lernt man, was es heisst, ein Kreuz vor der "Welt" schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar für ihr Überwuchern des griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohltat, jenen Wesen zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das "bessere Leben" und dadurch so anspruchslos, so still-verachtend, so stolz-geduldig geworden!— Dies Christentum als Abendläuten des guten Altertums, mit zersprungener müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muss es für jene Menschen selber gewesen sein!— Dagegen ist das Christentum für junge, frische Barbarenvölker Gift; in die Helden-, Kinder- und Tierseele des alten Deutschen zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammnis hineinpflanzen, heisst nichts anderes als sie vergiften; eine ganz ungeheuerliche chemische Gärung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urteilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten musste die Folge sein und also im weiteren Verlaufe eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker.— Freilich: was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der griechischen Kultur! was von der ganzen Kultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts!—denn die vom Christentume unangetasteten Barbaren verstanden gründlich mit alten Kulturen aufzuräumen: wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisierten Britannien mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben. Das Christentum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike "Welt" unsterblich zu machen.— Nun bleibt auch hier wieder eine Gegenfrage und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, imstande gewesen, allmählich von selber eine höhere Kultur zu finden, eine eigene, neue?—von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verloren gegangen wäre?— So steht es auch hier wie überall: man weiss nicht, christlich zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig ist, dass alles so gekommen ist, wie es ist.

225

Glaube macht selig und verdammt.— Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge gerät, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nötig, dass es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich gibt, wenn schon der Glaube an das Dasein dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen? Sind es nicht überflüssige Wesen, falls sie doch existieren sollten? Denn alles Wohltuende, Tröstliche, Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die christliche Religion der menschlichen Seele gibt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen jenes Glaubens. Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind dieselben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet—weil es keinen Gott gibt, ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion.— Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon dies ich weiss nicht wer behauptet hat, aber er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind.

226

Tragikomödie von Regensburg.— Hier und da kann man mit einer erschreckenden Deutlichkeit das Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an einen Ort, an die Zustände und Meinungen eines Kopfes das Seil der nächsten Jahrhunderte anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängnis der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg: der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege, Gegenreformation schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen Nation; der tiefe milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italienischen Frömmigkeit, welche die Morgenröte der geistigen Freiheit auf ihren Schwingen widerstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luthers, voller Verdächtigungen und unheimlicher Ängste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung durch die Gnade ihm als sein grösster Fund und Wahlspruch erschien, glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italienern: während diese ihn, wie es bekannt ist, schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Übereinstimmung die Tücken des Teufels und verhinderte das Friedenswerk, so gut er konnte: wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts brachte.— Und nun nehme man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften noch mehr zu haben, hinzu, dass keiner der Sätze, über welche man sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben, irgendwie wahr ist, oder auch nur mit der Wahrheit zu tun hat, dass sie alle jetzt als undiskutierbar erkannt sind:—und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen; während in betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls, doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren.— Zuletzt bleibt nichts übrig zu sagen, als dass damals allerdings Kraftquellen entsprungen sind, so mächtig, dass ohne sie alle Mühlen der modernen Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit, oder auch dann noch lange nicht —nicht wahr, meine lieben Zeitgemässen?

227

Goethes Irrungen.— Goethe ist darin die grosse Ausnahme unter den grossen Künstlern, dass er nicht in der Borniertheit seines wirklichen Vermögens lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das Wesentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres zu besitzen, als er wirklich besass—und irrte sich, in der zweiten Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der Überzeugung erscheint, einer der grössten wissenschaftlichen Entdecker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der ersten Hälfte seines Lebens: er wollte von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst ihm schien—und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bildenden Künstler machen wollen—das war sein innerlich glühendes und versengendes Geheimnis, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene, allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der grössten Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und Abschied nehmen müsse. Die schmerzlich schneidende und wühlende Überzeugung, es sei nötig, Abschied zu nehmen, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem "gesteigerten Werther," liegt das Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich einer sagt: "nun ist es aus—nach diesem Abschiede; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden!"— Diese beiden Grundirrtümer seines Lebens gaben Goethe angesichts einer rein literarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehn von der Zeit, wo Schiller—der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine Zeit liess—ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem literarischen Wesen und Handwerk heraustrieb, erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an: die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten—und er meinte vielleicht immer nur den Verwandlungen einer Göttin auf der Spur zu sein—wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne die Umschweife des Irrtums wäre er nicht Goethe geworden: das heisst, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist—weil er ebensowenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.

228

Reisende und ihre Grade.— Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei gesehen werden—sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt; die dritten erleben etwas infolge des Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort; endlich gibt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, endlich auch notwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind.— Diesen fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen Überhaupt alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens, die niedrigsten als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden und Auslebenden ohne allen Rest zurückbleibender innerer Vorgänge.

229

Im Höher-Steigen.— Sobald man höher steigt als die, welche einen bisher bewunderten, so erscheint man eben denen als gesunken und herabgefallen: denn sie vermeinten unter allen Umständen, bisher mit uns (sei es auch durch uns) auf der Höhe zu sein.

230

Mass und Mitte.— Von zwei ganz hohen Dingen: Mass und Mitte, redet man am besten nie. Einige wenige kennen ihre Kräfte und Anzeichen, aus den Mysterien-Pfaden innerer Erlebnisse und Umkehrungen: sie verehren in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute Wort. Alle übrigen hören kaum zu, wenn davon gesprochen wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile und Mittelmässigkeit: jene etwa noch ausgenommen, welche einen anmahnenden Klang aus jenem Reiche einmal vernommen, aber gegen ihn sich die Ohren verstopft haben. Die Erinnerung daran macht sie nun böse und aufgebracht.

231

Humanität der Freund- und Meisterschaft.— "Gehe du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen"—so zu empfinden ist das hohe Merkmal von Humanität im engeren Verkehre: ohne diese Empfindung wird jede Freundschaft, jede Jünger- und Schülerschaft irgendwann einmal zur Heuchelei.

232

Die Tiefen.— Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit anderen als Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen.

233

Für die Verächter der "Herden-Menschheit."— Wer die Menschen als Herde betrachtet und vor ihnen so schnell er kann flieht, den werden sie gewiss einholen und mit ihren Hörnern stossen.

234

Hauptvergehen gegen den Eitlen.— Wer einem anderen in der Gesellschaft Gelegenheiten macht, sein Wissen, Fühlen, Erfahren glücklich darzulegen, stellt sich über ihn und begeht also, falls er nicht als Höherstehender von jenem ohne Einschränkung empfunden wird, ein Attentat auf dessen Eitelkeit—während er gerade derselben Befriedigung zu geben glaubte.

235

Enttäuschung.— Wenn ein langes Leben und Tun samt Reden und Schriften von einer Person öffentlich Zeugnis ablegt, so pflegt der Umgang mit ihr zu enttäuschen, aus doppeltem Grunde: einmal weil man zuviel von einer kurzen Zeitspanne Verkehrs erwartet—nämlich alles das, was erst die tausend Gelegenheiten des Lebens sichtbar werden liessen—, und sodann weil jeder Anerkannte sich keine Mühe gibt, im einzelnen noch um Anerkennung zu buhlen. Er ist zu nachlässig—und wir sind zu gespannt.

236

Zwei Quellen der Güte.— Alle Menschen mit gleichmässigem Wohlwollen behandeln und ohne Unterschied der Person gütig sein kann ebenso sehr der Ausfluss tiefer Menschenverachtung als gründlicher Menschenliebe sein.

237

Der Wanderer im Gebirge zu sich selber.— Es gibt sichere Anzeichen dafür, dass du vorwärts und höher hinauf gekommen bist: es ist jetzt freier und aussichtsreicher um dich als vordem, die Luft weht dich kühler, aber auch milder an—du hast ja die Torheit verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln—, dein Gang ist lebhafter und fester geworden, Mut und Besonnenheit sind zusammen gewachsen:—aus allen diesen Gründen wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls gefährlicher sein als dein früherer, wenn auch gewiss nicht in dem Masse, als die glauben, welche dich Wanderer vom dunstigen Tale aus auf dem Gebirge schreiten sehen.

238

Ausgenommen der Nächste.— Offenbar steht mein Kopf nur auf meinem eigenen Halse nicht recht; denn jeder andere weiss bekanntlich besser, was ich zu tun und zu lassen habe: nur mir selber weiss ich armer Schelm nicht zu helfen. Sind wir nicht alle wie Bildsäulen, denen falsche Köpfe aufgesetzt wurden? Nicht wahr, mein geliebter Nachbar?— Doch nein, du gerade bist die Ausnahme.

239

Vorsicht.— Mit Personen, denen die Scheu vor dem Persönlichen fehlt, muss man nicht umgehen oder unerbittlich ihnen vorher die Handschellen der Konvenienz anlegen.

240

Eitel erscheinen wollen.— Im Gespräche mit Unbekannten oder Halbbekannten nur ausgewählte Gedanken äussern, von seinen berühmten Bekanntschaften, bedeutenden Erlebnissen und Reisen reden, ist ein Anzeichen davon, dass man nicht stolz ist, mindestens dass man nicht so scheinen möchte. Die Eitelkeit ist die Höflichkeits-Maske des Stolzen.

241

Die gute Freundschaft.— Die gute Freundschaft entsteht, wenn man den anderen sehr achtet, und zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt, jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur Erleichterung des Verkehrs, den zarten Anstrich und Flaum der Intimität hinzuzutun versteht, zugleich aber sich der wirklichen und eigentlichen Intimität und der Verwechslung von Ich und Du weislich enthält.

242

Die Freunde als Gespenster.— Wenn wir uns stark verwandeln, dann werden unsere Freunde, die nicht verwandelten, zu Gespenstern unserer eignen Vergangenheit: ihre Stimme tönt schattenhaft-schauerlich zu uns heran—als ob wir uns selber hörten, aber jünger, härter, ungereifter.

243

Ein Auge und zwei Blicke.— Dieselben Personen, welche das Naturspiel des gunst- und gönnersuchenden Blicks haben, haben gewöhnlich auch, infolge ihrer häufigen Demütigungen und Rachegefühle, den unverschämten Blick.

244

Die blaue Ferne.— Zeitlebens ein Kind—das klingt sehr rührend, ist aber nur das Urteil aus der Ferne; in der Nähe gesehen und erlebt, heisst es immer: zeitlebens knabenhaft.

245

Vorteil und Nachteil im gleichen Missverständnis.— Die verstummende Verlegenheit des feinen Kopfes wird gewöhnlich von seiten der Unfeinen als schweigende Überlegenheit gedeutet und sehr gefürchtet: während die Wahrnehmung von Verlegenheit Wohlwollen erzeugen würde.

246

Der Weise sich als Narren gebend.— Die Menschenfreundlichkeit des Weisen bestimmt ihn mitunter sich erregt, erzürnt, erfreut zu stellen, um seiner Umgebung durch die Kälte und Besonnenheit seines wahren Wesens nicht weh zu tun.

247

Sich zur Aufmerksamkeit zwingen.— Sobald wir merken, dass jemand im Umgange und Gespräche mit uns sich zur Aufmerksamkeit zwingen muss, haben wir einen vollgültigen Beweis dafür, dass er uns nicht oder nicht mehr liebt.

248

Weg zu einer christlichen Tugend.— Von seinen Feinden zu lernen ist der beste Weg dazu, sie zu lieben: denn es stimmt uns dankbar gegen sie.

249

Kriegslist des Zudringlichen.— Der Zudringliche gibt auf unsre Konventionsmünze in Goldmünze heraus und will uns dadurch nachträglich nötigen, unsre Konvention als Versehen und ihn als Ausnahme zu behandeln.

250

Grund der Abneigung.— Wir werden manchem Künstler oder Schriftsteller feindlich, nicht weil wir endlich merken, dass er uns hintergangen hat, sondern weil er nicht feinere Mittel für nötig befand, um uns zu fangen.

251

Im Scheiden.— Nicht darin, wie eine Seele sich der andern nähert, sondern wie sie sich von ihr entfernt, erkenne ich ihre Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit mit der andern.

252

Silentium.— Man darf über seine Freunde nicht reden: sonst verredet man sich das Gefühl der Freundschaft.

253

Unhöflichkeit.— Unhöflichkeit ist häufig das Merkmal einer ungeschickten Bescheidenheit, welche bei einer Überraschung den Kopf verliert und durch Grobheit dies verbergen möchte.

254

Verrechnung in der Ehrlichkeit.— Das bisher von uns Verschwiegene erfahren mitunter gerade unsere neuesten Bekannten zuerst: wir meinen dabei törichterweise, es sei unser Vertrauens-Beweis die stärkste Fessel, mit welcher wir sie festhalten könnten,—aber sie wissen nicht genug von uns, um das Opfer unseres Aussprechens so stark zu empfinden, und verraten unsere Geheimnisse an andere, ohne an Verrat zu denken: so dass wir vielleicht darüber unsere alten Bekannten verlieren.

255

Im Vorzimmer der Gunst.— Alle Menschen, die man lange im Vorzimmer seiner Gunst stehen lässt, geraten in Gärung und werden sauer.

256

Warnung an die Verachteten.— Wenn man unverkennbar in der Achtung der Menschen gesunken ist, so halte man mit den Zähnen an der Scham im Verkehre fest: sonst verrät man den andern, dass man auch in seiner eigenen Achtung gesunken ist. Der Zynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt.

257

Manche Unkenntnis adelt.— In Hinsicht auf die Achtung der Achtung-Gebenden ist es vorteilhafter, gewisse Dinge ersichtlich nicht zu verstehen. Auch die Unwissenheit gibt Vorrechte.

258

Der Widersacher der Grazie.— Der Unduldsame und Hochmütige mag die Grazie nicht und empfindet sie wie einen leibhaft sichtbaren Vorwurf gegen sich; denn sie ist Toleranz des Herzens in Bewegung und Gebärde.

259

Beim Wiedersehen.— Wenn alte Freunde nach langer Trennung einander wiedersehen, ereignet es sich oft, dass sie sich bei Erwähnung von Dingen teilnahmsvoll stellen, die für sie ganz gleichgültig geworden sind: und mitunter merken es beide, wagen aber nicht den Schleier zu heben—aus einem traurigen Zweifel. So entstehen Gespräche wie im Totenreiche.

260

Nur Arbeitsame sich zu Freunden machen.— Der Müssige ist seinen Freunden gefährlich: denn weil er nicht genug zu tun hat, redet er davon, was seine Freunde tun und nicht tun, mischt sich endlich hinein und macht sich beschwerlich: weshalb man klugerweise nur mit Arbeitsamen Freundschaft schliessen soll.

261

Eine Waffe doppelt soviel als zwei.— Es ist ein ungleicher Kampf, wenn der eine mit Kopf und Herz, der andre nur mit dem Kopfe für seine Sache spricht: der erstere hat gleichsam Sonne und Wind gegen sich und seine beiden Waffen stören sich gegenseitig: er verliert den Preis—in den Augen der Wahrheit. Dafür ist freilich der Sieg des zweiten mit seiner einen Waffe selten ein Sieg nach dem Herzen aller andern Zuschauer und macht bei ihnen unbeliebt.

262

Tiefe und Trübe.— Das Publikum verwechselt leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus der Tiefe schöpft.

263

An Freund und Feind seine Eitelkeit demonstrieren.— Mancher misshandelt aus Eitelkeit selbst seine Freunde, wenn Zeugen zugegen sind, denen er sein Übergewicht deutlich machen will: und andere übertreiben den Wert ihrer Feinde, um mit Stolz darauf hinzuweisen, dass sie solcher Feinde wert sind.

264

Abkühlung.— Die Erhitzung des Herzens ist gewöhnlich mit der Krankheit von Kopf und Urteil verbunden. Wem für einige Zeit an der Gesundheit des letzteren gelegen ist, der muss also wissen, was er abzukühlen hat: unbesorgt für die Zukunft seines Herzens! Denn ist man überhaupt der Erwärmung fähig, so wird man auch wieder warm werden und seinen Sommer haben müssen.

265

Zur Mischung der Gefühle.— Gegen die Wissenschaft empfinden Frauen und selbstsüchtige Künstler etwas, das aus Neid und Sentimentalität zusammengesetzt ist.

266

Wenn die Gefahr am grössten ist.— Man bricht das Bein selten, solange man im Leben mühsam aufwärts steigt—aber wenn man anfängt, es sich leicht zu machen und die bequemen Wege zu wählen.

267

Nicht zu zeitig.— Man muss sich in acht nehmen, nicht zu zeitig scharf zu werden,—weil man zugleich damit zu zeitig dünn wird.

268

Freude am Widerspenstigen.— Der gute Erzieher kennt Fälle, wo er stolz darauf ist, dass sein Zögling wider ihn sich selber treu bleibt: da nämlich, wo der Jüngling den Mann nicht verstehen darf oder zu seinem Schaden verstehen würde.

269

Versuch der Ehrlichkeit.— Jünglinge, die ehrlicher werden wollen als sie waren, suchen sich einen anerkannt Ehrlichen zum Opfer, das sie zuerst anfallen, indem sie sich zu seiner Höhe hinaufzuschimpfen suchen—mit dem Hintergedanken, dass dieser erste Versuch jedenfalls ungefährlich sei; denn gerade jener dürfe die Unverschämtheit des Ehrlichen nicht züchtigen.

270

Das ewige Kind.— Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir meinen's und empfinden's freilich anders, aber gerade dies spricht dafür, dass es dasselbe ist—denn auch das Kind empfindet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren—als ob jedes etwas Neues brächte—, und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert Jahren, den, der wirklich ohne Märchen und Spiel lebt, vorführen.

271

Jede Philosophie ist Philosophie eines Lebensalters.— Das Lebensalter, in dem ein Philosoph seine Lehre fand, klingt aus ihr heraus, er kann es nicht verhüten, so erhaben er sich auch über Zeit und Stunde fühlen mag. So bleibt Schopenhauers Philosophie das Spiegelbild der hitzigen und schwermütigen Jugend—es ist keine Denkweise für ältere Menschen; so erinnert Platos Philosophie an die mittlern dreissiger Jahre, wo ein kalter und ein heisser Strom aufeinander zuzubrausen pflegen, so dass Staub und zarte Wölkchen und, unter günstigen Umständen und Sonnenblicken, ein bezauberndes Regenbogenbild entsteht.

272

Vom Geiste der Frauen.— Die geistige Kraft einer Frau wird am besten dadurch bewiesen, dass sie aus Liebe zu einem Manne und dessen Geiste ihren eigenen zum Opfer bringt und dass trotzdem ihr auf dem neuen, ihrer Natur ursprünglich fremden Gebiete, wohin die Sinnesart des Mannes sie drängt, sofort ein zweiter Geist nachwächst.

273

Erhöhung und Erniedrigung im Geschlechtlichen.— Der Sturm der Begierde reisst den Mann mitunter in eine Höhe hinauf, wo alle Begierde schweigt: dort wo er wirklich liebt und noch mehr in einem besseren Sein als besserem Wollen lebt. Und wiederum steigt ein gutes Weib häufig aus wahrer Liebe bis hinab zur Begierde und erniedrigt sich dabei vor sich selber. Namentlich das letztere gehört zu dem herzbewegendsten, was die Vorstellung einer guten Ehe mit sich zu bringen vermag.

274

Das Weib erfüllt, der Mann verheisst.— Durch das Weib zeigt die Natur, womit sie bis jetzt bei ihrer Arbeit am Menschenbilde fertig wurde; durch den Mann zeigt sie, was sie dabei zu überwinden hatte, aber auch, was sie noch alles mit dem Menschen vorhat.— Das vollkommene Weib jeder Zeit ist der Müssiggang des Schöpfers an jedem siebenten Tage der Kultur, das Ausruhen des Künstlers in seinem Werke.

275

Umpflanzung.— Hat man seinen Geist verwendet, um über die Masslosigkeit der Affekte Herr zu werden, so geschieht es vielleicht mit dem leidigen Erfolge, dass man die Masslosigkeit auf den Geist überträgt und fürderhin im Denken und Erkennen-wollen ausschweift.

276

Das Lachen als Verräterei.— Wie und wann eine Frau lacht, das ist ein Merkmal ihrer Bildung: aber im Klange des Lachens enthüllt sich ihre Natur, bei sehr gebildeten Frauen vielleicht sogar der letzte unlösbare Rest ihrer Natur,—Deshalb wird der Menschenprüfer sagen wie Horaz aber aus verschiedenem Grunde: ridete puellae [Horaz: Carmina, I 9, 22; zitiert von Schopenhauer: Parerga und Paralipomena 2, 454].

277

Aus der Seele der Jünglinge.— Jünglinge wechseln in bezug auf dieselbe Person mit Hingebung und Unverschämtheit, ab: weil sie im Grunde nur sich in dem andern verehren und verachten, und zwischen beiden Empfindungen in bezug auf sich selber hin und her taumeln müssen, solange sie noch nicht in der Erfahrung das Mass ihres Wollens und Könnens gefunden haben.

278

Zur Verbesserung der Welt.— Wenn man den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung verwehrte, so könnte man schon die Erde in einen Garten des Glücks verzaubern.— Dieser Satz gehört in eine praktische Philosophie für das weibliche Geschlecht.

279

Seinem Gefühle nicht misstrauen.— Die frauenhafte Wendung, man solle seinem Gefühle nicht misstrauen, bedeutet nicht viel mehr als: man solle essen, was einem gut schmeckt. Dies mag auch, namentlich für massvolle Naturen, eine gute Alltagsregel sein. Andere Naturen müssen aber nach einem anderen Satze leben: "du musst nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit dem Kopfe essen, damit dich nicht die Naschhaftigkeit des Mundes zugrunde richte."

280

Grausamer Einfall der Liebe.— Jede grosse Liebe bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand der Liebe zu töten, damit er ein für allemal dem frevelhaften Spiele des Wechsels entrückt sei: denn vor dem Wechsel graut der Liebe mehr als vor der Vernichtung.

281

Türen.— Das Kind sieht ebenso wie der Mann in allem, was erlebt, erlernt wird, Türen: aber jenem sind es Zugänge, diesem immer nur Durchgänge.

282

Mitleidige Frauen.— Das Mitleiden der Frauen, welches geschwätzig ist, trägt das Bett des Kranken auf offnen Markt.

283

Frühzeitiges Verdienst.— Wer jung schon sich ein Verdienst erwirbt, verlernt gewöhnlich dabei die Scheu vor dem Alter und dem Älteren, und schliesst sich damit, zu seinem grössten Nachteile, von der Gesellschaft der Reifen, Reife Gebenden aus: so dass er trotz frühzeitigerem Verdienste länger als andre grün, zudringlich und knabenhaft bleibt.

284

Bausch- und Bogen-Seelen.— Die Frauen und die Künstler meinen, dass, wo man ihnen nicht widerspreche, man nicht widersprechen könne; Verehrung in zehn Punkten und stillschweigende Nichtbilligung in anderen zehn scheint ihnen nebeneinander unmöglich, weil sie Bausch- und Bogen-Seelen haben.

285

Junge Talente.— In Hinsicht auf junge Talente muss man streng nach der Goetheschen Maxime [Goethe: Maximen und Reflexionen, 149.] verfahren, dass man oft dem Irrtume nicht schaden dürfe, um der Wahrheit nicht zu schaden. Ihr Zustand ist gleich den Krankheiten der Schwangerschaft und bringt seltsame Gelüste mit sich: welche man ihnen, so gut es gehen will, befriedigen und nachsehen sollte, um der Frucht willen, die man von ihnen hofft. Freilich muss man, als Krankenwärter dieser wunderlichen Kranken, die schwere Kunst der freiwilligen SeIbst-Demütigung verstehen.

286

Ekel an der Wahrheit.— Die Frauen sind so geartet, dass alle Wahrheit (in bezug auf Mann, Liebe, Kind, Gesellschaft, Lebensziel) ihnen Ekel macht—und dass sie sich an jedem zu rächen suchen, welcher ihnen das Auge öffnet.

287

Die Quelle der grossen Liebe.— Woher die plötzlichen Leidenschaften eines Mannes für ein Weib entstehen, die tiefen, innerlichen? Aus Sinnlichkeit allein am wenigsten: aber wenn der Mann Schwäche, Hilfsbedürftigkeit und zugleich Übermut in einem Wesen zusammen findet, so geht etwas in ihm vor, wie wenn seine Seele überwallen wollte: er ist im selben Augenblick gerührt und beleidigt. Auf diesem Punkte entspringt die Quelle der grossen Liebe.

288

Reinlichkeit.— Man soll den Sinn für Reinlichkeit im Kinde bis zur Leidenschaft entfachen: später erhebt er sich, in immer neuen Verwandlungen, fast zu jeder Tugend hinauf und erscheint zuletzt, als Kompensation alles Talents, wie eine Lichtfülle von Reinheit, Mässigkeit, Milde, Charakter—Glück in sich tragend, Glück um sich verbreitend.

289

Von eitlen alten Männern.— Der Tiefsinn gehört der Jugend, der Klarsinn dem Alter zu: wenn trotzdem alte Männer mitunter in der Art der Tiefsinnigen reden und schreiben, so tun sie es aus Eitelkeit, in dem Glauben, dass sie damit den Reiz des Jugendlichen, Schwärmerischen, Werdenden, Ahnungs- und Hoffnungsvollen annehmen.

290

Benutzung des Neuen.— Männer benutzen Neu-Erlerntes oder -Erlebtes fürderhin als Pflugschar, vielleicht auch als Waffe: aber Weiber machen sofort daraus einen Putz für sich zurecht.

291

Recht haben bei den zwei Geschlechtern.— Gibt man einem Weibe zu, dass es recht habe, so kann es sich nicht versagen, erst noch die Ferse triumphierend auf den Nacken des Unterworfenen zu setzen,—es muss den Sieg auskosten; während Mann gegen Mann sich in solchem Falle gewöhnlich des Rechthabens schämt. Dafür ist der Mann an das Siegen gewöhnt, das Weib erlebt damit eine Ausnahme.

292

Entsagung im Willen zur Schönheit.— Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch gelten wollen: das heisst, es muss in neunundneunzig Fällen, wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben zu gefallen, um einmal das Entzücken dessen einzuernten, dessen Seelenpforte gross genug ist, um Grosses aufzunehmen.

293

Unbegreiflich, unausstehlich.— Ein Jüngling kann nicht begreifen, dass ein Älterer seine Entzückungen, Gefühls-Morgenröten, Gedanken-Wendungen, und -Aufschwünge auch einmal durchlebt habe: es beleidigt ihn schon zu denken, dass sie zweimal existiert hätten,—aber ganz feindselig stimmt es ihn zu hören, dass, um fruchtbar zu werden, er jene Blüten verlieren, ihren Duft entbehren müsse.

294

Partei mit der Miene der Dulderin.— Jede Partei, die sich die Miene der Dulderin zu geben weiss, zieht die Herzen der Gutmütigen zu sich hinüber und gewinnt dadurch selber die Miene der Gutmütigkeit—zu ihrem grössten Vorteil.

295

Behaupten sicherer als beweisen.— Eine Behauptung wirkt stärker als ein Argument, wenigstens bei der Mehrzahl der Menschen: denn das Argument weckt Misstrauen. Deshalb suchen die Volksredner die Argumente ihrer Partei durch Behauptungen zu sichern.

296

Die besten Hehler.— Alle regelmässig Erfolgreichen besitzen eine tiefe Verschlagenheit darin, ihre Fehler und Schwächen immer nur als anscheinende Stärken zum Vorschein zu bringen; weshalb sie dieselben ungewöhnlich gut und deutlich kennen müssen.

297

Von Zeit zu Zeit.— Er setzte sich in das Stadttor und sagte zu einem, der hindurchging, dies eben sei das Stadttor. Jener entgegnete, es sei das eine Wahrheit, aber man dürfe nicht zuviel recht haben, wenn man Dank dafür haben wolle. O, antwortete er, ich will auch keinen Dank; aber von Zeit zu Zeit ist es doch sehr angenehm, nicht nur recht zu haben, sondern auch recht zu behalten.

298

Die Tugend ist nicht von den Deutschen erfunden.— Goethes Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethovens edle einsiedlerische Resignation, Mozarts Anmut und Grazie des Herzens, Händels unbeugsame Männlichkeit und Freiheit unter dem Gesetz, Bachs getrostes und verklärtes Innenleben, welches nicht einmal nötig hat, auf Glanz und Erfolg zu verzichten,—sind denn dies deutsche Eigenschaften?— Wenn aber nicht, so zeigt es wenigstens, wonach Deutsche streben sollen und was sie erreichen können.

299

Pia fraus oder etwas anderes.— Möchte ich mich irren: aber mich dünkt, im gegenwärtigen Deutschland werde eine doppelte Art von Heuchelei für jedermann zur Pflicht des Augenblicks gemacht: man fordert ein Deutschtum aus reichspolitischer Besorgnis und ein Christentum aus sozialer Angst, beides aber nur in Worten und Gebärden und namentlich im Schweigen-können. Der Anstrich ist es, der jetzt so viel kostet, so hoch bezahlt wird: die Zuschauer sind es, derentwegen die Nation ihr Gesicht in deutsch- und christentümelnde Falten legt.

300

Inwiefern auch im Guten das Halbe mehr sein kann als das Ganze.— Bei allen Dingen, die auf Bestand eingerichtet werden und immer den Dienst vieler Personen erfordern, muss manches weniger Gute zur Regel gemacht werden, obschon der Organisator das Bessere und Schwerere sehr gut kennt: aber er wird darauf rechnen, dass es nie an Personen fehle, welche der Regel entsprechen können,—und er weiss, dass das Mittelgut der Kräfte die Regel ist.— Dies sieht ein Jüngling selten ein und glaubt dann, als Neuerer, Wunder wie sehr er im Rechte, und wie seltsam die Blindheit der anderen sei.

301

Der Parteimann.— Der echte Parteimann lernt nicht mehr, er erfährt und richtet nur noch: während Solon, der nie Parteimann war, sondern neben und über den Parteien oder gegen sie sein Ziel verfolgte, bezeichnenderweise der Vater jenes schlichten Wortes ist, in welchem die Gesundheit und Unausschöpflichkeit Athens beschlossen liegt: "alt werd' ich und immer lern' ich fort." [Solon: Fragment 22, 7.]

302

Was, nach Goethe, deutsch ist.— Es sind die wahrhaft Unerträglichen, von denen man selbst das Gute nicht annehmen mag, welche Freiheit der Gesinnung haben, aber nicht merken, dass es ihnen an Geschmacks- und Geistes-Freiheit fehlt. Gerade dies ist aber, nach Goethes wohlerwogenem Urteil [Goethe: Maximen und Reflexionen, 978.], deutsch.— Seine Stimme und sein Beispiel weisen darauf hin, dass der Deutsche mehr sein müsse als ein Deutscher, wenn er den andern Nationen nützlich, ja nur erträglich werden wolle—und in welcher Richtung er bestrebt sein solle, über sich und ausser sich hinauszugehen.

303

Wann es not tut, stehen zu bleiben.— Wenn die Massen zu wüten beginnen und die Vernunft sich verdunkelt, tut man gut, sofern man der Gesundheit seiner Seele nicht ganz sicher ist, unter einen Torweg unterzutreten und nach dem Wetter auszuschauen.

304

Umsturzgeister und Besitzgeister.— Das einzige Mittel gegen den Sozialismus, das noch in eurer Macht steht, ist: ihn nicht herauszufordern, das heisst selber mässig und genügsam leben, die Schaustellung jeder Üppigkeit nach Kräften verhindern und dem Staate zu Hilfe kommen, wenn er alles Überflüssige und Luxusähnliche empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt dies Mittel nicht? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch "liberal" nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigne Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Sozialisten so furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten lasst, wie als ob sie dort etwas anderes wäre. Hättet ihr, so wie ihr seid, euer Vermögen und die Sorge um dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung würde euch zu Sozialisten machen: nur der Besitz unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müsst ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt.— Und wäre jener Wohlstand nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so äusserlich und neidherausfordernd, er wäre mitteilender, wohlwollender, ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unechte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (dass andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen—eure Wohnungen, Kleider, Wagen, Schauläden, Gaumen- und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend:—das sind die giftträgerischen Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als sozialistische Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mitteilt, aber in euch ihren ersten Sitz und Brüteherd hat. Und wer hielte diese Pest jetzt noch auf? —

305

Taktik der Parteien.— Wenn eine Partei merkt, dass ein bisher Zugehöriger aus einem unbedingten Anhänger ein bedingter geworden ist, so erträgt sie dies so wenig, dass sie durch allerlei Aufreizungen und Kränkungen versucht, jenen zum entschiedenen Abfall zu bringen und zum Gegner zu machen: denn sie hat den Argwohn, dass die Absicht, in ihrem Glauben etwas Relativ-Wertvolles zu sehen, das ein Für und Wider, ein Abwägen und Ausscheiden zulässt, ihr gefährlicher sei als ein Gegnertum in Bausch und Bogen.

306

Zur Stärkung von Parteien.— Wer eine Partei innerlich stärken will, biete ihr Gelegentlich, um ersichtlich ungerecht behandelt werden zu müssen; dadurch sammelt sie ein Kapital guten Gewissens, das ihr vielleicht bis dahin fehlte.

307

Für seine Vergangenheit sorgen.— Weil die Menschen eigentlich nur alles Alt-Begründete, Langsam-Gewordene achten, so muss der, welcher nach seinem Tode fortleben will, nicht nur für Nachkommenschaft, sondern noch mehr für eine Vergangenheit sorgen: weshalb Tyrannen jeder Art (auch tyrannenhafte Künstler und Politiker) der Geschichte gern Gewalt antun, damit diese als Vorbereitung und Stufenleiter zu ihnen hin erscheine.

308

Partei-Schriftsteller.— Der Paukenschlag, mit welchem sich junge Schriftsteller im Dienste einer Partei so wohl gefallen klingt dem, welcher nicht zur Partei gehört, wie Kettengerassel und erweckt eher Mitleiden als Bewunderung.

309

Gegen sich Partei ergreifen.— Unsere Anhänger vergeben es uns nie, wenn wir gegen uns selbst Partei ergreifen: denn dies heisst, in ihren Augen, nicht nur ihre Liebe zurückweisen, sondern auch ihren Verstand blossstellen.

310

Gefahr im Reichtum.— Nur wer Geist hat, sollte Besitz haben: sonst ist der Besitz gemeingefährlich. Der Besitzende nämlich, der von der freien Zeit, welche der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch zu machen versteht, wird immer fortfahren, nach Besitz zu streben: dieses Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist im Kampf mit der Langeweile sein. So entsteht zuletzt, aus mässigem Besitz, welcher dem Geistigen genügen würde, der eigentliche Reichtum: und zwar als das gleissende Ergebnis geistiger Unselbständigkeit und Armut. Nur erscheint er eben ganz anders, als seine armselige Abkunft erwarten lässt, weil er sich mit Bildung und Kunst maskieren kann: er kann eben die Maske kaufen. Dadurch erweckt er Neid bei den Ärmeren und Ungebildeten—welche im Grunde immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die Maske sehen—und bereitet allmählich eine soziale Umwälzung vor: denn vergoldete Roheit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen "Genusse der Kultur" gibt jenen den Gedanken ein "es liegt nur am Gelde,"—während allerdings etwas am Gelde liegt, aber viel mehr am Geiste.

311

Freude im Gebieten und Gehorchen.— Das Gebieten macht Freude wie das Gehorchen, ersteres wenn es noch nicht zur Gewohnheit geworden ist, letzteres aber, wenn es zur Gewohnheit geworden ist. Alte Diener unter neuen Gebietenden fördern sich gegenseitig im Freude-machen.

312

Ehrgeiz des verlornen Postens.— Es gibt einen Ehrgeiz des verlornen Postens, welcher eine Partei dahin drängt, sich in eine äusserste Gefahr zu begeben.

313

Wann Esel not tun.— Man wird die Menge nicht eher zum Hosianna-rufen bringen, bis man auf einem Esel in die Stadt einreitet.

314

Partei-Sitte.— Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das ausser ihr gewachsen ist, als unbedeutend darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es um so bitterer an, je vortrefflicher es ist.

315

Leer-werden.— Von dem, der sich den Ereignissen hingibt, bleibt immer weniger übrig. Grosse Politiker können deshalb ganz leere Menschen werden und doch einmal voll und reich gewesen sein.

316

Erwünschte Feinde.— Die sozialistischen Regungen sind den dynastischen Regierungen jetzt immer noch eher angenehm als furchteinflössend, weil sie durch dieselben Recht und Schwert zu Ausnahme-Massregeln in die Hände bekommen, mit denen sie ihre eigentlichen Schreckgestalten, die Demokraten und Anti-Dynasten, treffen können.— Zu allem, was solche Regierungen öffentlich hassen, haben sie jetzt eine heimliche Zuneigung und Innigkeit: sie müssen ihre Seele verschleiern.

317

Der Besitz besitzt.— Nur bis zu einem gewissen Grade macht der Besitz den Menschen unabhängig, freier; eine Stufe weiter—und der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum Sklaven: als welcher ihm seine Zeit, sein Nachdenken zum Opfer bringen muss und sich fürderhin zu einem Verkehr verpflichtet, an einen Ort angenagelt, einem Staate einverleibt fühlt—alles vielleicht wider sein innerlichstes und wesentlichstes Bedürfnis.

318

Von der Herrschaft der Wissenden.— Es ist leicht, zum Spotten leicht, das Muster zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung und Anerkennung: aus ihnen wiederum müssten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müssten endlich, für jeden einzelnen Fall, nur die Stimmen und Urteile der speziellsten Sachverständigen entscheiden und die Ehrenhaftigkeit aller übrigen gross genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur jenen zu überlassen: so dass im strengsten Sinne das Gesetz aus dem Verstande der Verständigsten hervorginge.— Jetzt stimmen Parteien ab: und bei jeder Abstimmung muss es Hunderte von beschämten Gewissen geben—die der Schlecht-Unterrichteten, Urteils-Unfähigen, die der Nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses anklebende Schamrot der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so etwas aufzustellen: keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen,—es sei denn, dass der Glaube an die höchste Nützlichkeit der Wissenschaft und der Wissenden endlich auch dem Böswilligsten einleuchte und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser Zukunft sei unsere Losung: "Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!"

319

Vom "Volke der Denker" (oder des schlechten Denkens).— Das Undeutliche, Schwebende, Ahnungsvolle, Elementarische, Intuitive—um für unklare Dinge auch unklare Namen zu wählen—, was man dem deutschen Wesen nachsagt, wäre, wenn es tatsächlich noch bestünde, ein Beweis, dass seine Kultur um viele Schritte zurückgeblieben und noch immer von Bann und Luft des Mittelalters umschlossen wäre.— Freilich liegen in einer solchen Zurückgebliebenheit auch einige Vorteile: die Deutschen wären mit diesen Eigenschaften—wenn sie dieselben, nochmals gesagt, jetzt noch besitzen sollten—zu einigen Dingen, und namentlich zum Verständnis einiger Dinge befähigt, zu welchen andere Nationen alle Kraft verloren haben. Und sicher geht viel verloren, wenn der Mangel an Vernunft—das heisst eben das Gemeinsame in jenen Eigenschaften—verloren geht; aber hier gibt es auch keine Einbusse ohne den höchsten Gegengewinn, so dass jeder Grund zum Jammern fehlt, vorausgesetzt, dass man nicht wie Kinder und Leckerhafte die Früchte aller Jahreszeiten zugleich geniessen will.

320

Eulen nach Athen.— Die Regierungen der grossen Staaten haben zwei Mittel in den Händen, das Volk von sich abhängig zu erhalten, in Furcht und Gehorsam: ein gröberes, das Heer, ein feineres, die Schule. Mit Hilfe des ersteren bringen sie den Ehrgeiz der höheren und die Kraft der niederen Schichten, soweit beide tätigen und rüstigen Männern mittlerer und minderer Begabung zu eigen zu sein pflegen, auf ihre Seite; mit Hilfe des andern Mittels gewinnen sie die begabte Armut, namentlich die geistig-anspruchsvolle Halbarmut der mittleren Stände für sich. Sie machen vor allem aus den Lehrern allen Grades einen unwillkürlich nach "oben" hin blickenden geistigen Hofstaat: indem sie der Privatschule und gar der ganz und gar missliebigen Einzelerziehung Stein über Stein in den Weg legen, sichern sie sich die Verfügung über eine sehr bedeutende Anzahl von Lehrstellen, auf welche sich nun fortwährend eine gewiss fünfmal grössere Anzahl von hungrig und unterwürfig blickenden Augen richten, als je Befriedigung finden können. Diese Stellungen dürfen ihren Mann aber nur kärglich nähren: dann unterhält sich in ihm der Fieberdurst nach Beförderung und schliesst ihn noch enger an die Absichten der Regierung an. Denn eine mässige Unzufriedenheit zu pflegen ist immer vorteilhafter als Zufriedenheit, die Mutter des Mutes, die Grossmutter des Freisinns und des Übermutes. Vermittels dieses leiblich und geistig im Zaume gehaltenen Lehrertums wird nun, so gut es gehen will, alle Jugend des Landes auf eine gewisse, dem Staate nützliche und zweckmässig abgestufte Bildungshöhe gehoben: vor allem aber wird jene Gesinnung fast unvermerkt auf die unreifen und ehrsüchtigen Geister aller Stände übertragen, dass nur eine vom Staate anerkannte und; abgestempelte Lebensrichtung sofort gesellschaftliche Auszeichnung mit sich führt. Die Wirkung dieses Glaubens an Staats-Prüfungen und -Titel geht so weit, dass selbst unabhängig gebliebenen, durch Handel oder Handwerk emporgestiegenen Männern so lange ein Stachel der Unbefriedigung in der Brust bleibt, bis auch ihre Stellung durch eine begnadigende Verleihung von Rang und Orden von oben her bemerkt und anerkannt ist,—bis man "sich sehen lassen kann." Endlich verknüpft der Staat alle jene hundert und aber hundert ihm zugehörigen Beamtungen und Erwerbsposten mit der Verpflichtung, durch die Staatsschulen sich bilden und abzeichnen zu lassen, wenn man je in diese Pforten eingehen wolle: Ehre bei der Gesellschaft, Brot für sich, Ermöglichung einer Familie, Schutz von oben her, Gemeingefühl der gemeinsam Gebildeten—dies alles bildet ein Netz von Hoffnungen, in welches jeder junge Mann hineinläuft: woher sollte ihm denn das Misstrauen angeweht sein! Ist zu guter Letzt gar noch bei jedermann die Verpflichtung, einige Jahre Soldat zu sein, nach Ablauf weniger Generationen, zu einer gedankenlosen Gewohnheit und Voraussetzung geworden, auf welche hin man frühzeitig den Plan seines Lebens zurechtschneidet: so kann der Staat auch noch den Meistergriff wagen, Schule und Heer, Begabung, Ehrgeiz und Kraft durch Vorteile ineinander zu flechten, das heisst den höher Begabten und Gebildeten durch günstigere Bedingungen zum Heere zu locken und mit dem Soldatengeiste des freudigen Gehorsams zu erfüllen: so dass er vielleicht dauernd zur Fahne schwört und durch seine Begabung ihr einen neuen, immer glänzenderen Ruf verschafft.— Dann fehlt nichts weiter als Gelegenheit zu grossen Kriegen: und dafür sorgen, von Berufs wegen, also in aller Unschuld, die Diplomaten, samt Zeitungen und Börsen: denn das "Volk," als Soldatenvolk, hat bei Kriegen immer ein gutes Gewissen, man braucht es ihm nicht erst zu machen.

321

Die Presse.— Erwägt man, wie auch jetzt noch alle grossen politischen Vorgänge sich heimlich und verhüllt auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden Ereignissen verdeckt werden und in ihrer Nähe klein erscheinen, wie sie erst lange nach ihrem Geschehen ihre tiefen Einwirkungen zeigen und den Boden nachzittern lassen,—welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehn, wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen Aufwand von Lunge, um zu schreien, zu übertäuben, zu erregen, zu erschrecken,—ist sie mehr als der permanente blinde Lärm, der die Ohren und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt?

322

Nach einem grossen Ereignis.— Ein Volk und Mensch, dessen Seele bei einem grossen Ereignis zutage gekommen ist, fühlt gewöhnlich darauf das Bedürfnis nach einer Kinderei oder Roheit, ebenso aus Scham als um sich zu erholen.

323

Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen.— Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener Kulturstufen und zum geringsten Teile etwas Bleibendes (und auch dies nicht in einem strengen Sinne). Deshalb ist alles Argumentieren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für den, welcher an der Umschaffung der Überzeugungen, das heisst an der Kultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel, was alles schon deutsch gewesen ist, so wird man die theoretische Frage: was ist deutsch? sofort durch die Gegenfrage verbessern: "was ist jetzt deutsch?"—und jeder gute Deutsche wird sie praktisch, gerade durch Überwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab; bleibt es stehen, verkümmert es, so schliesst sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängnis herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist dies ein Beweis, dass es versteinern will und ganz und gar Monument werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpunkte an das Ägyptertum war. Der also, welcher den Deutschen wohlwill, mag für seinen Teil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.

324

Ausländereien.— Ein Ausländer, der in Deutschland reiste, missfiel und gefiel durch einige Behauptungen, je nach den Gegenden, in denen er sich aufhielt. Alle Schwaben, die Geist haben,—pflegte er zu sagen—sind kokett.— Die anderen Schwaben aber meinten noch immer, Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch gewesen.— Das Beste an den deutschen Romanen, welche jetzt berühmt würden, sei, dass man sie nicht zu lesen brauche: man kenne sie schon.— Der Berliner erscheine gutmütiger als der Süddeutsche, denn er sei allzusehr spottlustig und vertrage deshalb Spott: was Süddeutschen nicht begegne.— Der Geist der Deutschen werde durch ihr Bier und ihre Zeitungen niedergehalten: er empfehle ihnen Tee und Pamphlete, zur Kur natürlich.— Man sehe sich, so riet er, doch die verschiedenen Völker des altgewordenen Europa daraufhin an, wie ein jedes eine bestimmte Eigenschaft des Alters besonders gut zur Schau trägt, zum Vergnügen für die, welche vor dieser grossen Bühne sitzen: wie die Franzosen das Kluge und Liebenswürdige des Alters, die Engländer das Erfahrene und Zurückhaltende, die Italiener das Unschuldige und Unbefangene mit Glück vertreten. Sollten denn die anderen Masken des Alters fehlen? Wo ist der hochmütige Alte? Wo der herrschsüchtige Alte? Wo der habsüchtige Alte?— Die gefährlichste Gegend in Deutschland sei Sachsen und Thüringen: nirgends gäbe es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntnis, nebst Freigeisterei, und alles sei so bescheiden durch die hässliche Sprache und die eifrige Dienstbeflissenheit dieser Bevölkerung versteckt, dass man kaum merke, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in Gutem und Schlimmem zu tun zu haben.— Der Hochmut der Norddeutschen werde durch ihren Hang, zu gehorchen, der der Süddeutschen durch ihren Hang, sich's bequem zu machen, in Schranken gehalten.— Es schiene ihm, dass die deutschen Männer in ihren Frauen ungeschickte, aber sehr von sich überzeugte Hausfrauen hätten: sie redeten so beharrlich gut von sich, dass sie fast die Welt und jedenfalls ihre Männer von der eigens deutschen Hausfrauen-Tugend überzeugt hätten.— Wenn sich dann das Gespräch auf Deutschlands Politik nach aussen und innen wendete, so pflegte er zu erzählen—er nannte es: verraten—, das Deutschlands grösster Staatsmann nicht an grosse Staatsmänner glaube.— Die Zukunft der Deutschen fand er bedroht und bedrohlich: denn sie hätten verlernt, sich zu freuen (was die Italiener so gut verstünden), aber sich durch das grosse Hazardspiel von Kriegen und dynastischen Revolutionen an die Emotion gewöhnt, folglich würden sie eines Tages die Emeute haben. Denn dies sei die stärkste Emotion, welche ein Volk sich verschaffen könne.— Der deutsche Sozialist sei eben deshalb am gefährlichsten, weil ihn keine bestimmte Not treibe; sein Leiden sei, nicht zu wissen, was er wolle, so werde er, wenn er auch viel erreiche, doch noch im Genusse vor Begierde verschmachten, ganz wie Faust, aber vermutlich wie ein sehr pöbelhafter Faust. "Den Faust-Teufel nämlich," rief er zuletzt, "von dem die gebildeten Deutschen so geplagt wurden, hat Bismarck ihnen ausgetrieben: nun ist der Teufel aber in die Säue gefahren und schlimmer als je vorher!"

325

Meinungen.— Die meisten Menschen sind nichts und gelten nichts, bis sie sich in allgemeine Überzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben—nach der Schneider-Philosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Menschen aber muss es heissen: erst der Träger macht die Tracht; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas anderes als Masken, Putz und Verkleidung.

326

Zwei Arten der Nüchternheit.— Um Nüchternheit aus Erschöpfung des Geistes nicht mit Nüchternheit aus Mässigung zu verwechseln, muss man darauf acht haben, dass die erstere übellaunig, die andere frohmütig ist.

327

Verfälschung der Freude.— Keinen Tag länger eine Sache gut heissen, als sie uns gut scheint, und vor allem: keinen Tag früher—das ist das einzige Mittel, sich die Freude echt zu erhalten: die sonst allzu leicht fade und faul im Geschmacke wird und jetzt für ganze Schichten des Volkes zu den verfälschten Lebensmitteln gehört.

328

Der Tugend-Bock.— Beim Allerbesten, was einer tut, suchen die, welche ihm wohlwollen, aber seiner Tat nicht gewachsen sind, schleunigst einen Bock, um ihn zu schlachten, wähnend, es sei der Sündenbock—aber es ist der Tugend-Bock.

329

Souveränität.— Auch das Schlechte ehren und sich zu ihm bekennen, wenn es einem gefällt, und keinen Begriff davon haben, wie man sich seines Gefallens schämen könne, ist das Merkmal der Souveränität, im grossen und kleinen.

330

Der Wirkende ein Phantom, keine Wirklichkeit.— Der bedeutende Mensch lernt allmählich, dass er, sofern er wirkt, ein Phantom in den Köpfen anderer ist, und gerät vielleicht in die feine Seelenqual, sich zu fragen, ob er das Phantom von sich zum Besten seiner Mitmenschen nicht aufrechterhalten müsse.

331

Nehmen und geben.— Wenn man einem das Geringste weg (oder vorweg) genommen hat, so ist er blind dafür, dass man ihm viel Grösseres, ja das Grösste gegeben hat.

332

Der gute Acker.— Alles Abweisen und Negieren zeigt einen Mangel an Fruchtbarkeit an: im Grunde, wenn wir nur gutes Ackerland wären, dürften wir nichts unbenutzt umkommen lassen und in jedem Dinge, Ereignisse und Menschen willkommenen Dünger, Regen oder Sonnenschein sehen.

333

Verkehr als Genuss.— Hält sich einer, mit entsagendem Sinne, absichtlich in der Einsamkeit, so kann er sich dadurch den Verkehr mit Menschen, selten genossen, zum Leckerbissen machen.

334

Öffentlich zu leiden verstehen.— Man muss sein Unglück affichieren und von Zeit zu Zeit hörbar seufzen, sichtbar ungeduldig sein: denn liesse man die andern merken, wie sicher und glücklich in sich man trotz Schmerz und Entbehrung ist, wie neidisch und böswillig würde man sie machen!— Aber wir müssen Sorge dafür tragen, dass wir unsre Mitmenschen nicht verschlechtern; überdies würden sie uns in jenem Falle harte Steuern auferlegen, und unser öffentliches Leiden ist jedenfalls auch unser privater Vorteil.

335

Wärme in den Höhen.— Auf den Höhen ist es wärmer, als man in den Tälern meint, namentlich im Winter. Der Denker weiss, was alles dies Gleichnis besagt.

336

Das Gute wollen, das Schöne können.— Es genügt nicht, das Gute zu üben, man muss es gewollt haben und, nach dem Wort des Dichters, die Gottheit in seinen Willen aufnehmen [Schiller, "Das Ideal und das Leben": "Nehmt die Gottheit auf in euren Willen."]. Aber das Schöne darf man nicht wollen, man muss es können, in Unschuld und Blindheit, ohne alle Neubegier der Psyche. Wer seine Laterne anzündet, um vollkommene Menschen zu finden, der achte auf dies Merkmal: es sind die, welche immer um des Guten willen handeln und immer dabei das Schöne erreichen, ohne daran zu denken. Viele der Besseren und Edleren bleiben nämlich, aus Unvermögen und Mangel der schönen Seele, mit allem ihrem guten Willen und ihren guten Werken, unerquicklich und hässlich anzusehen; sie stossen zurück und schaden selbst der Tugend durch das widrige Gewand, welches ihr schlechter Geschmack derselben anlegt.

337

Gefahr der Entsagenden.— Man muss sich hüten, sein Leben auf einen zu schmalen Grund von Begehrlichkeit zu gründen: denn wenn man den Freuden entsagt, welche Stellungen, Ehren, Genossenschaften, Wolllüste, Bequemlichkeiten, Künste mit sich bringen, so kann ein Tag kommen, wo man merkt, statt der Weisheit, durch diese Verzichtleistung den Lebens-Überdruss zum Nachbarn erlangt zu haben.

338

Letzte Meinung über Meinungen.— Entweder verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke sich hinter seine Meinungen. Wer es anders macht, der kennt den Lauf der Welt nicht oder gehört zum Orden der heiligen Tollkühnheit.

339

"Gaudeamus igitur."— Die Freude muss auch für die sittliche Natur des Menschen auferbauende und ausheilende Kräfte enthalten: wie käme es sonst, dass unsere Seele, sobald sie im Sonnenschein der Freude ruht, sich unwillkürlich gelobt "gut sein!" "Vollkommen werden!" und dass dabei ein Vorgefühl der Vollkommenheit, gleich einem seligen Schauder, sie erfasst?

340

An einen Gelobten.— Solange man dich lobt, glaube nur immer, dass du noch nicht auf deiner eignen Bahn, sondern auf der eines andern bist.

341

Den Meister lieben.— Anders liebt der Gesell, anders der Meister den Meister.

342

Allzuschönes und Menschliches.— "Die Natur ist zu schön für dich armen Sterblichen"—so empfindet man nicht selten, aber ein paarmal, bei einem innigen Anschauen alles Menschlichen, seiner Fülle, Kraft, Zartheit, Verflochtenheit, war es mir zumute, als ob ich sagen müsste, in aller Demut: "auch der Mensch ist zu schön für den betrachtenden Menschen!"—und zwar nicht etwa nur der moralische Mensch, sondern jeder.

343

Bewegliche Habe und Grundbesitz.— Wenn einen das Leben einmal recht räuberhaft behandelt hat, und an Ehren, Freuden, Anhang, Gesundheit, Besitz aller Art nahm, was es nehmen konnte, so entdeckt man vielleicht hinterdrein, nach dem ersten Schrecken, dass man reicher ist als zuvor. Denn jetzt erst weiss man, was einem so zu eigen ist, dass keine Räuberhand daran zu rühren vermag; so geht man vielleicht aus aller Plünderung und Verwirrung mit der Vornehmheit eines grossen Grundbesitzers hervor.

344

Unfreiwillige Idealfiguren.— Das peinlichste Gefühl, das es gibt, ist, zu entdecken, dass man immer für etwas Höheres genommen wird, als man ist. Denn man muss sich dabei eingestehen: irgend etwas an dir ist Lug und Trug, dein Wort, dein Ausdruck, dein Auge, deine Handlung—und dieses trügerische Etwas ist so notwendig wie deine sonstige Ehrlichkeit, hebt aber deren Wirkung und Wert fortwährend auf.

345

Idealist und Lügner.— Man soll sich von dem schönsten Vermögen—dem, die Dinge ins Ideal zu heben—nicht tyrannisieren lassen: sonst trennt sich eines Tages die Wahrheit von uns mit dem bösen Wort "du Lügner von Grund aus, was habe ich mit dir zu schaffen?"

346

Missverstanden werden.— Wenn man als Ganzes missverstanden wird, so ist es unmöglich, ein einzelnes Missverstandenwerden von Grund aus zu heben. Dies muss man einsehen, um nicht überflüssige Kraft in seiner Verteidigung zu verschwenden.

347

Der Wassertrinker spricht.— Trinke deinen Wein nur weiter, der dich dein Leben lang gelabt hat,—was geht es dich an, dass ich ein Wassertrinker sein muss? Sind Wein und Wasser nicht friedfertige brüderliche Elemente, die ohne Vorwurf beieinander wohnen?

348

Aus dem Lande der Menschenfresser.— In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die vielen. Nun wähle.

349

Im Gefrierpunkt des Willens.— "Endlich einmal kommt sie doch, jene Stunde, die dich in die goldene Wolke der Schmerzlosigkeit einhüllen wird: wo die Seele ihre eigene Müdigkeit geniesst und glücklich im geduldigen Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines Sees gleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Widerglanze eines buntgefärbten Abendhimmels, am Ufer schlürfen, schlürfen und wieder stille sind—ohne Ende, ohne Zweck, ohne Sättigung, ohne Bedürfnis,—ganz Ruhe, die sich am Wechsel freut, ganz Zurückebben und Einfluten in den Pulsschlag der Natur." Dies ist Empfindung und Rede aller Kranken: erreichen sie aber jene Stunden, so kommt, nach kurzem Genusse, die Langeweile. Diese aber ist der Tauwind für den eingefrornen Willen: er erwacht, bewegt sich und zeugt wieder Wunsch auf Wunsch.— Wünschen ist ein Anzeichen von Genesung oder Besserung.

350

Das verleugnete Ideal.— Ausnahmsweise kommt es vor, dass einer das Höchste erst dann erreicht, wenn er sein Ideal verleugnet: denn dies Ideal trieb ihn bisher zu heftig an, so dass er in der Mitte der jedesmaligen Bahn ausser Atem kam und stehenbleiben musste.

351

Verräterische Neigung.— Man beachte es als Merkmal eines neidischen, aber höher strebenden Menschen, wenn er sich von dem Gedanken angezogen fühlt, dass es dem Vortrefflichen gegenüber nur eine Rettung gibt: Liebe.

352

Treppen-Glück.— Wie der Witz mancher Menschen nicht mit der Gelegenheit gleichen Schritt hält, so dass die Gelegenheit schon durch die Türe hindurch ist, während der Witz noch auf der Treppe steht: so gibt es bei anderen eine Art von Treppen-Glück, welches zu langsam läuft, um der schnellfüssigen Zeit immer zur Seite zu sein: das Beste, was sie von einem Erlebnis, einer ganzen Lebensstrecke zu geniessen bekommen, fällt ihnen erst lange Zeit hinterher zu, oft nur als ein schwacher, gewürzter Duft, welcher Sehnsucht erweckt und Trauer—als ob es möglich gewesen wäre—irgendwann—in diesem Element sich recht satt zu trinken: nun aber ist es zu spät.

353

Würmer.— Es spricht nicht gegen die Reife eines Geistes, dass er einige Würmer hat.

354

Der siegreiche Sitz.— Eine gute Haltung zu Pferd stiehlt dem Gegner den Mut, dem Zuschauer das Herz,—wozu erst noch angreifen? Sitze wie einer, der gesiegt hat!

355

Gefahr in der Bewunderung.— Man kann aus allzu grosser Bewunderung für fremde Tugenden den Sinn für seine eignen und, durch Mangel an Übung, zuletzt diese selbst verlieren, ohne die fremden dafür zum Ersatz zu erhalten.

356

Nutzen der Kränklichkeit.— Wer oft krank ist, hat nicht nur einen viel grösseren Genuss am Gesundsein, wegen seines häufigen Gesundwerdens: sondern auch einen höchst geschärften Sinn für Gesundes und Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen und fremden: so dass zum Beispiel gerade die kränklichen Schriftsteller—und darunter sind leider fast alle grossen—in ihren Schriften einen viel sichreren und gleichmässigeren Ton der Gesundheit zu haben pflegen, weil sie besser als die körperlich Robusten sich auf die Philosophie der seelischen Gesundheit und Genesung und ihre Lehrmeister: Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle, verstehen.

357

Untreue, Bedingung der Meisterschaft.— Es hilft nichts: jeder Meister hat nur einen Schüler—und der wird ihm untreu—denn er ist zur Meisterschaft auch bestimmt.

358

Nie umsonst.— Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können.

359

Vor grauen Fensterscheiben.— Ist denn das, was ihr durch dies Fenster von der Welt seht, so schön, dass ihr durchaus durch kein anderes Fenster mehr blicken wollt—ja selbst andere davon abzuhalten den Versuch macht?

360

Anzeichen starker Wandlungen.— Es ist ein Zeichen, wenn man von lange Vergessenen oder Toten träumt, dass man eine starke Wandlung in sich durchlebt hat und dass der Boden, auf dem man lebt, völlig umgegraben worden ist: da stehen die Toten auf, und unser Altertum wird Neutum.

361

Arznei der Seele.— Still-liegen und Wenig-denken ist das wohlfeilste Arzneimittel für alle Krankheiten der Seele und wird, bei gutem Willen, von Stunde zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer.

362

Zur Rangordnung der Geister.— Es ordnet dich tief unter jenen, dass du die Ausnahmen festzustellen suchst, jener aber die Regel.

363

Der Fatalist.— Du musst an das Fatum glauben,—dazu kann die Wissenschaft dich zwingen. Was dann aus diesem Glauben bei dir herauswächst—Feigheit, Ergebung oder Grossartigkeit und Freimut—, das legt Zeugnis von dem Erdreich ab, in welches jenes Samenkorn gestreut wurde, nicht aber vom Samenkorn selbst—denn aus ihm kann alles und jedes werden.

364

Grund vieler Verdriesslichkeit.— Wer im Leben das Schöne dem Nützlichen vorzieht, wird sich gewiss zuletzt, wie das Kind, welches Zuckerwerk dem Brote vorzieht, den Magen verderben und sehr verdriesslich in die Welt sehen.

365

Übermass als Heilmittel.— Man kann sich seine eigne Begabung dadurch wieder schmackhaft machen, dass man längere Zeit die entgegengesetzte übermässig verehrt und geniesst.— Das Übermass als Heilmittel zu gebrauchen ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst.

366

"Wolle ein Selbst."— Die tätigen, erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruche "kenne dich selbst," sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst.— Das Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die Untätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes eine Mal, beim Eintritt ins Leben, gewählt haben.

367

Womöglich ohne Anhang leben.— Wie wenig Anhänger zu bedeuten haben, begreift man erst, wenn man aufgehört hat, der Anhänger seiner Anhänger zu sein.

368

Sich verdunkeln.— Man muss sich zu verdunkeln verstehen, um die Mückenschwärme allzu lästiger Bewunderer loszuwerden.

369

Langeweile.— Es gibt eine Langeweile der feinsten und gebildetsten Köpfe, denen das Beste, was die Erde bietet, schal geworden ist: gewöhnt daran, ausgesuchte und immer ausgesuchtere Kost zu essen und vor der gröberen sich zu ekeln, sind sie in Gefahr Hungers zu sterben—denn des Allerbesten ist nur wenig da, und mitunter ist es unzugänglich oder steinhart geworden, so dass es auch gute Zähne nicht mehr beissen können.

370

Die Gefahr in der Bewunderung.— Die Bewunderung einer Eigenschaft oder Kunst kann so stark sein, dass sie uns abhält, nach ihrem Besitz zu streben.

371

Was man von der Kunst will.— Der eine will vermittels der Kunst sich seines Wesens freuen, der andere will mit ihrer Hilfe zeitweilig über sein Wesen hinaus, von ihm weg. Nach beiden Bedürfnissen gibt es eine doppelte Art von Kunst und Künstlern.

372

Abfall.— Wer von uns abfällt, beleidigt damit vielleicht nicht uns, aber sicherlich unsere Anhänger.

373

Nach dem Tode.— Wir finden es gewöhnlich erst lange nach dem Tode eines Menschen unbegreiflich, dass er fehlt: bei ganz grossen Menschen oft erst nach Jahrzehnten. Wer ehrlich ist, meint bei einem Todesfalle gewöhnlich, dass eigentlich nicht viel fehle und dass der feierliche Leichenredner ein Heuchler sei. Erst die Not lehrt das Nötig-sein eines einzelnen, und das rechte Epitaph ist ein später Seufzer.

374

Im Hades lassen.— Viele Dinge muss man im Hades halbbewussten Fühlens lassen und nicht aus ihrem Schatten-Dasein erlösen wollen, sonst werden sie, als Gedanke und Wort, unsere dämonischen Herren und verlangen grausam nach unsrem Blut.

375

Nähe des Bettlertums.— Auch der reichste Geist hat gelegentlich den Schlüssel zu der Kammer verloren, in der seine aufgespeicherten Schätze ruhen, und ist dann dem Ärmsten gleich, der betteln muss, um nur zu leben.

376

Ketten-Denker.— Einem, der viel gedacht hat, erscheint jeder neue Gedanke, den er hört oder liest, sofort in Gestalt einer Kette.

377

Mitleid.— In der vergoldeten Scheide des Mitleidens steckt mitunter der Dolch des Neides.

378

Was ist Genie?— Ein hohes Ziel und die Mittel dazu wollen.

379

Eitelkeit der Kämpfer.— Wer keine Hoffnung hat, in einem Kampfe zu siegen, oder ersichtlich unterlegen ist, will um so mehr, dass die Art seines Kämpfens bewundert werde.

380

Das philosophische Leben wird missgedeutet.— In dem Augenblicke, wo jemand anfängt mit der Philosophie Ernst zu machen, glaubt alle Welt das Gegenteil davon.

381

Nachahmung.— Das Schlechte gewinnt durch die Nachahmung an Ansehen, das Gute verliert dabei—namentlich in der Kunst.

382

Letzte Lehre der Historie.— "Ach, dass ich damals gelebt hätte!"—das ist die Rede törichter und spielerischer Menschen. Vielmehr wird man, bei jedem Stück Geschichte, das man ernstlich betrachtet hat, und sei es das gelobteste Land der Vergangenheit, zuletzt ausrufen: "nur nicht dahin wieder zurück! Der Geist jener Zeit würde mit der Last von hundert Atmosphären auf dich drücken, des Guten und Schönen an ihr würdest du dich nicht erfreuen, ihr Schlimmes nicht verdauen können."— Zuverlässig wird die Nachwelt ebenso über unsere Zeit urteilen: sie sei unausstehlich, das Leben in ihr unlebebar gewesen.— Und doch hält es jeder in seiner Zeit aus?— Ja, und zwar deshalb, weil der Geist seiner Zeit nicht nur auf ihm liegt, sondern auch in ihm ist. Der Geist der Zeit leistet sich selber Widerstand, trägt sich selber.

383

Grossheit als Maske.— Mit Grossheit des Benehmens erbittert man seine Feinde, mit Neid, den man merken lässt, versöhnt man sie sich beinahe: denn der Neid vergleicht, setzt gleich, er ist eine unfreiwillige und stöhnende Art von Bescheidenheit.— Ob wohl hier und da, des erwähnten Vorteils halber, der Neid als Maske vorgenommen worden ist, von solchen, welche nicht neidisch waren? Vielleicht; sicherlich aber wird Grossheit des Benehmens oft als Maske des Neides gebraucht, von Ehrgeizigen, welche lieber Nachteile erleiden und ihre Feinde erbittern wollen als merken lassen, dass sie sich innerlich ihnen gleichsetzen.

384

Unverzeihlich.— Du hast ihm eine Gelegenheit gegeben, Grösse des Charakters zu zeigen, und er hat sie nicht benutzt. Das wird er dir nie verzeihen.

385

Gegen-Sätze.— Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze "das Ich ist immer hassenswert" [Vgl. Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres, publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844, 197. (Also in Nietzsche's German edition, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. Deutsch von C. F. Schwartz. Zweite Auflage. In zwei Theilen. Erster Theil. Leipzig: Wigand, 1865, 190f.)]; das Kindlichste in dem noch berühmteren "liebe deinen Nächsten, wie dich selbst."— Bei dem einen hat die Menschenkenntnis aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen.

386

Das fehlende Ohr.— "Man gehört noch zum Pöbel, solange man immer auf andere die Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich selber verantwortlich macht; aber der Weise findet niemanden schuldig, weder sich noch andere."— Wer sagt dies?— Epiktet, vor achtzehnhundert Jahren.— Man hat es gehört, aber vergessen.— Nein, man hat es nicht gehört und nicht vergessen: nicht jedes Ding vergisst sich. Aber man hatte das Ohr nicht dafür, das Ohr Epiktets.— So hat er es also sich selber ins Ohr gesagt?— So ist es: Weisheit ist das Gezischel des Einsamen mit sich auf vollem Markte.

387

Fehler des Standpunktes, nicht des Auges.— Man steht sich selber immer einige Schritte zu nah; und dem Nächsten immer einige Schritte zu fern. So kommt es, dass man ihn zu sehr in Bausch und Bogen beurteilt und sich selber zu sehr nach einzelnen gelegentlichen unbeträchtlichen Zügen und Vorkommnissen.

388

Die Ignoranz in Waffen.— Wie leicht nehmen wir es, ob ein andrer von einer Sache weiss oder nicht weiss,—während er vielleicht schon bei der Vorstellung Blut schwitzt, dass man ihn hierin für unwissend halte. Ja, es gibt ausgesuchte Narren, welche immer mit einem vollen Köcher von Bannflüchen und Machtsprüchen einhergehen, bereit, jeden niederzuschiessen, der merken lässt, es gebe Dinge, worin ihr Urteil nicht in Betracht komme.

389

Am Trinktisch der Erfahrung.— Personen, welche aus angeborner Mässigkeit jedes Glas halb ausgetrunken stehen lassen, wollen nicht zugeben, dass jedes Ding in der Welt seine Neige und Hefe habe.

390

Singvögel.— Die Anhänger eines grossen Mannes pflegen sich zu blenden, um sein Lob besser singen zu können.

391

Nicht gewachsen.— Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.

392

Die Regel als Mutter oder als Kind.— Ein anderer Zustand ist der, welcher die Regel gebiert, ein andrer der, welchen die Regel gebiert.

393

Komödie.— Wir ernten mitunter Liebe und Ehre für Taten oder Werke, welche wir längst wie eine Haut von uns abgestreift haben: da werden wir leicht verführt, die Komödianten unserer eigenen Vergangenheit zu machen und das alte Fell noch einmal über die Schultern zu werfen—und nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch aus Wohlwollen gegen unsere Bewunderer.

394

Fehler der Biographen.— Die kleine Kraft, welche not tut, einen Kahn in den Strom hineinzustossen, soll nicht mit der Kraft dieses Stromes, der ihn fürderhin trägt, verwechselt werden: aber es geschieht fast in allen Biographien.

395

Nicht zu teuer kaufen.— Was man zu teuer kauft, verwendet man gewöhnlich auch noch schlecht, weil ohne Liebe und mit peinlicher Erinnerung—und so hat man einen doppelten Nachteil davon.

396

Welche Philosophie immer der Gesellschaft not tut.— Der Pfeiler der gesellschaftlichen Ordnung ruht auf dem Grunde, dass ein jeder auf das, was er ist, tut und erstrebt, auf seine Gesundheit oder Krankheit, seine Armut oder Wohlstand, seine Ehre oder Unansehnlichkeit, mit Heiterkeit hinblickt und dabei empfindet "ich tausche doch mit keinem."— Wer an der Ordnung der Gesellschaft bauen will, möge nur immer diese Philosophie der heiteren Tauschablehnung und Neidlosigkeit in die Herzen einpflanzen.

397

Anzeichen der vornehmen Seele.— Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Aufschwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig fällt, aber immer in einer freieren durchleuchteten Luft und Höhe wohnt.

398

Das Grosse und sein Betrachter.— Die beste Wirkung des Grossen ist, dass es dem Betrachter ein vergrösserndes und abrundendes Auge einsetzt.

399

Sich genügen lassen.— Die erlangte Reife des Verstandes bekundet sich darin, dass man dorthin, wo seltene Blumen unter den spitzigsten Dornenhecken der Erkenntnis stehen, nicht mehr geht und sich an Garten, Wald, Wiese und Ackerfeld genügen lässt, in Anbetracht, wie das Leben für das Seltene und Aussergewöhnliche zu kurz ist.

400

Vorteil in der Entbehrung.— Wer immerdar in der Wärme und Fülle des Herzens und gleichsam in der Sommerluft der Seele lebt, kann sich jenes schauerliche Entzücken nicht vorstellen, welches winterlichere Naturen ergreift, die ausnahmsweise von den Strahlen der Liebe und dem lauen Anhauche eines sonnigen Februartages berührt werden.

401

Rezept für den Dulder.— Dir wird die Last des Lebens zu schwer?— So musst du die Last deines Lebens vermehren. Wenn der Dulder endlich nach dem Flusse Lethe dürstet und sucht,—so muss er zum Helden werden, um ihn gewiss zu finden.

402

Der Richter.— Wer jemandes Ideal geschaut hat, ist dessen unerbittlicher Richter und gleichsam sein böses Gewissen.

403

Nutzen der grossen Entsagung.— Das Nützlichste an der grossen Entsagung ist, dass sie uns jenen Tugendstolz mitteilt, vermöge dessen wir von da an leicht viele kleine Entsagungen von uns erlangen.

404

Wie die Pflicht Glanz bekommt.— Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von jedermann in Gold zu verwandeln, heisst: halte immer etwas mehr als du versprichst.

405

Gebet zu Menschen.— "Vergib uns unsere Tugenden"—so soll man zu Menschen beten.

406

Schaffende und Geniessende.— Jeder Geniessende meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen; aber ihm lag am Samen.— Hierin besteht der Unterschied zwischen allen Schaffenden und Geniessenden.

407

Der Ruhm aller Grossen.— Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer solche Freiheit und Höhe des Gefühls mitteilt, dass er des Genies nicht mehr bedarf!— Sich überflüssig machen—das ist der Ruhm aller Grossen.

408

Die Hadesfahrt.— Auch ich bin in der Unterwelt gewesen wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Toten reden zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden, nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander recht und unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, für mich und andere ausdenke: auf jene acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.— Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am "ewigen Leben" und überhaupt am Leben gelegen!

Published Works | Vermischte Meinungen und Sprüche 1879 | Text© The Nietzsche Channel