"Verehrtestes Fräulein, es ist nicht zu ändern: ich muß allen meinen Freunden Noth machen—eben dadurch daß ich endlich ausspreche, wodurch ich mir selber aus der Noth geholfen habe. Jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft, welcher in Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen will—dazu eine ganz entsprechende Barockkunst der Überspannung und der verherrlichten Maßlosigkeit—ich meine die Kunst Wagner's—dies Beides war es, was mich endlich krank und kränker machte und mich fast meinem guten Temperamente und meiner Begabung entfremdet hätte. Könnten Sie mir nachfühlen, in welcher reinen Höhenluft, in welcher milden Stimmung gegen die Menschen die noch im Dunst der Thäler wohnen ich jetzt hinlebe, mehr als je entschlossen zu allem Guten und Tüchtigen, den Griechen um hundert Schritt näher als vordem: wie ich jetzt selber, bis in's Kleinste, nach Weisheit strebend lebe, während ich früher nur die Weisen verehrte und anschwärmte—kurz wenn Sie diese Wandelung und Krisis mir nachempfinden können, oh so müßten Sie wünschen, etwas Ähnliches zu erleben!
Im Bayreuther Sommer [1876] wurde ich mir dessen völlig bewußt: ich flüchtete nach den ersten Aufführungen denen ich beiwohnte, fort in's Gebirge, und dort, in einem kleinen Walddorfe, entstand die erste Skizze, ungefähr ein Drittel meines Buches [Menschliches, Allzumenschliches], damals unter dem Titel 'die Pflugschaar.' Dann kehrte ich, dem Wunsche meiner Schwester folgend, nach Bayreuth zurück und hatte jetzt die innere Fassung, um das Schwer-Erträgliche doch zu ertragen—und schweigend, vor Jedermann!— Jetzt schüttele ich ab, was nicht zu mir gehört, Menschen, als Freunde und Feinde, Gewohnheiten Bequemlichkeiten Bücher; ich lebe in Einsamkeit auf Jahre hinaus, bis ich wieder, als Philosoph des Lebens, ausgereift und fertig verkehren darf (und dann wahrscheinlich muß)
Wollen Sie mir, trotz alledem, so gut bleiben, wie Sie mir waren oder vielmehr, werden Sie es können? Sie sehen, ich bin auf einen Grad der Ehrlichkeit angelangt, wo ich nur die allerreinlichsten menschlichen Beziehungen ertrage. Halben Freundschaften und gar Parteischaften weiche ich aus, Anhänger will ich nicht. Möge Jeder (und Jede) nur sein eigner wirklicher Anhänger sein!"
— 15. Juli 1878: Brief von Friedrich Nietzsche an Mathilde Maier. |