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Homer und die klassische Philologie 1869.
Meiner theuren und einzigen Schwester Elisabeth als der fleissigen Mitarbeiterin auf den Stoppelfeldern der Philologie. Weihnachten 1869.
In Basel steh ich unverzagt Doch einsam da—Gott sei's geklagt. Und schrei ich laut: Homer! Homer! So macht das Jedermann Beschwer. Zur Kirche geht man und nach Haus Und lacht den lauten Schreier aus.
Jetzt kümmr' ich mich nicht mehr darum: Das allerschönste Publikum Hört mein homerisches Geschrei Und ist geduldig still dabei. Zum Lohn für diesen Ueberschwank Von Güte hier gedruckten Dank.
Über die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen
keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung.
Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt
ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst.
Die Ursache liegt in dem vielspaltigen Charakter derselben, in
dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen
Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher
Thätigkeiten, die nur durch den Namen "Philologie"
zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass
die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt
und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen
und Knochen zusammengebraut ist, ja dass sie ausserdem noch ein
künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden
imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein
wissenschaftlichen Gebaren in bedenklichem Widerstreite steht.
Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück
Naturwissenschaft als ein Stück Aesthetik: Geschichte, insofern
sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer
neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der
Erscheinungen begreifen will; Naturwissenschaft, so weit sie den
tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt, zu ergründen
trachtet; Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von
Alterthümern heraus das sogenannte "klassische"
Alterthum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine
verschüttete ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den
Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu
halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen
und aesthetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen
Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengethan haben,
wird vor allem durch die Thatsache erklart, dass die Philologie
ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik
gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine
Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente
geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe unter dem
Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene
wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.
Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun
in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem
Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade
und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und
wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die
ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als
die Centralrichtungen der Philologie zu begreifen, so dass die
Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr
abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten.
In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder
möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt
hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urtheils überhand
genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung
der Theilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher
unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung
trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen
und geheimen Feinde derselben mit viel grösserem Erfolge
arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die
Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die
Spötter, die immer bereit sind, den philologischen
"Maulwürfen" einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht,
das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal
aufgeworfene Erdscholle noch das elftemal aufwirft und zerwühlt.
Für diese Art von Gegnern ist aber doch die Philologie ein
freilich unnützer, immerhin harmloser und unschädlicher
Zeitvertreib, ein Objekt des Scherzes, nicht des Hasses. Dagegen
lebt ein ganz ingrimmiger und unbändiger Hass gegen die
Philologie überall dort, wo das Ideal als solches gefürchtet
wird, wo der moderne Mensch in glücklicher Bewunderung vor sich
selbst niederfällt, wo das Hellenenthum als ein überwundener,
daher sehr gleichgültiger Standpunkt betrachtet wird. Diesen
Feinden gegenüber müssen wir Philologen immer auf den Beistand
der Künstler und der künstlerisch gearteten Naturen rechnen, da
sie allein nachfühlen können, wie das Schwert des Barbarenthums
über dem Haupte jedes Einzelnen schwebt, der die unsagliche
Einfachheit und edle Würde des Hellenischen aus den Augen
verliert, wie kein noch so glanzender Fortschritt der Technik und
Industrie, kein noch so zeitgemässes Schulreglement, keine noch
so verbreitete politische Durchbildung der Masse uns vor dem
Fluche lächerlicher und skythischer Geschmacksverirrungen und
vor der Vernichtung durch das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des
Klassischen schützen können.
Während von den genannten beiden Klassen von Gegnern die
Philologie als Ganzes scheel angesehn wird: giebt es dagegen
zahlreiche und höchst mannigfaltige Anfeindungen bestimmter
Richtungen der Philologie, Kämpfe von Philologen gegen
Philologen ausgekämpft, Zwistigkeiten rein häuslicher Natur,
hervorgerufen durch einen unnützen Rangstreit und gegenseitige
Eifersüchteleien, vor allem aber durch die schon betonte
Verschiedenheit, ja Feindseligkeit der unter dem Namen Philologie
zusammengefassten, doch nicht verschmolzenen Grundtriebe.
Die Wissenschaft hat das mit der Kunst gemein, dass ihr das
Alltäglichste völlig neu und anziehend, ja wie durch die Macht
einer Verzauberung als eben geboren und jetzt zum ersten Male
erlebt erscheint. Das Leben ist werth gelebt zu werden, sagt die
Kunst, die schönste Verführerin; das Leben ist werth, erkannt
zu werden, sagt die Wissenschaft. Bei dieser Gegenüberstellung
ergiebt sich der innere und sich oft so herzzerreissend
kundgebende Widerspruch im Begriff und demnach in der
durch diesen Begriff geleiteten Thätigkeit der klassischen
Philologie. Stellen wir uns wissenschaftlich zum Alterthum,
mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu
begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die
sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke
rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische
Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar
Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Atmosphäre, wir
vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und
Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste
Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. Von hier aus soll auf eine
ganz bestimmte und zunächst sehr überraschende Gegnerschaft
aufmerksam gemacht werden, die die Philologie immer am meisten zu
bedauern hat. Eben nämlich aus denjenigen Kreisen, auf deren
Beistand wir am sichersten rechnen müssen, der künstlerischen
Freunde des Alterthums, der warmen Verehrer hellenischer
Schönheit und edler Einfalt pflegen mitunter verstimmte Töne
laut zu werden, als ob gerade die Philologen selbst die
eigentlichen Gegner und Verwüster des Alterthums und der
alterthümlichen Ideale seien. Den Philologen warf es Schiller
vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war
es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfschen
Homeransichten, seinen "Abfall" in diesen Versen
kundgab: "Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller
Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias
nur ein Flickwerk sei. Mög' unser Abfall niemand kranken; denn
Jugend weiss uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als Ganzes
denken, als Ganzes freudig ihn empfinden." Für diesen
Mangel an Pietät und Verehrungslust, meint man wohl, müsse der
Grund tiefer liegen: und viele schwanken, ob es den Philologen
überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen
fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden,
oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive
bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei. Wenn aber
selbst die Freunde des Alterthums mit derartigen Bedenklichkeiten
und Zweifeln den Gesamtcharakter der jetzigen klassischen
Philologie als etwas durchaus Fragwürdiges bezeichnen, welchen
Einfluss müssen dann die Ausbrüche der "Realisten"
und die Phrasen der Tageshelden bekommen? Letzteren zu antworten,
und an dieser Stelle, dürfte im Hinblick auf den hier
versammelten Kreis von Männern durchaus unzutreffend sein; wenn
es mir nicht ergehen soll wie jenem Sophisten, der in Sparta den
Heracles öffentlich zu loben und zu vertheidigen unternahm, aber
von dem Rufe unterbrochen wurde: "Wer hat ihn denn
getadelt?" Dagegen kann ich mich des Gedankens nicht
entschlagen, dass auch in diesem Kreise hier und dort einige
jener Bedenken nachklingen, wie sie gerade häufig aus dem Munde
edler und künstlerisch befähigter Menschen zu hören sind, ja
wie sie ein redlicher Philolog wahrhaftig nicht etwa in den
dumpfen Momenten herabgedrückter Stimmung auf das quälendste zu
empfinden hat. Für den Einzelnen giebt es auch gar keine Rettung
vor dem vorher geschilderten Zwiespalt: was wir aber behaupten
und bannerartig hochhalten, das ist die Thatsache, dass die
klassische Philologie in ihrem grossen Ganzen nichts nur diesen
Kämpfen und Betrübungen ihrer einzelnen Jünger zu thun hat.
Die gesammte wissenschaftlich-künstlerische Bewegung dieses
sonderbaren Centauren geht mit ungeheurer Wucht, aber
cyklopischer Langsamkeit darauf aus, jene Kluft zwischen dem
idealen Alterthum—das vielleicht nur die schönste Blüte
germanischer Liebessehnsucht nach dem Süden ist—und dem
realen zu überbrücken; und damit erstrebt die klassische
Philologie nichts als die endliche Vollendung ihres eigensten
Wesens, völliges Verwachsen und Einswerden der anfänglich
feindseligen und nur gewaltsam zusammengebrachten Grundtriebe.
Mag man auch von Unerreichbarkeit des Zieles reden, ja das Ziel
selbst als eine unlogische Forderung bezeichnen—das Streben,
die Bewegung auf jener Linie hin ist vorhanden, und ich möchte
es versuchen, einmal an einem Beispiel deutlich zu machen, wie
die bedeutendsten Schritte der klassischen Philologie niemals vom
idealen Alterthum weg, sondern zu ihm hin führen, und wie gerade
dort, wo man missbräuchlich vom Umsturz der Heiligthümer redet,
nur eben neuere und würdigere Altäre gebaut worden sind.
Prüfen wir also von diesem Standpunkte aus die sogenannte homerische
Frage, dieselbe, von deren wichtigstem Problem Schiller
geredet hat als von einer gelehrten Barbarei.
Mit diesem wichtigstem Problem ist gemeint die Frage nach
der Persönlichkeit Homers.
Man hört jetzt allerwarts die nachdrückliche Behauptung,
dass die Frage nach der Persönlichkeit Homers eigentlich nicht
mehr zeitgemäss sei und von der wirklichen "homerischen
Frage" ganz abseits liege. Nun darf man freilich zugeben,
dass für einen gegebenen Zeitraum, also z. B. für unsre
philologische Gegenwart, das Centrum der genannten Frage sich von
dem Persönlichkeitsproblem etwas entfernen könne: macht man
doch gerade in der Gegenwart das sorgfaltigste Experiment, die
homerischen Dichtungen ohne eigentliche Beihülfe der
Persönlichkeit, aber als das Werk vieler Personen zu
construiren. Wenn man aber das Centrum einer wissenschaftlichen
Frage mit Recht dort findet, von wo sich der volle Strom neuer
Anschauungen ergossen hat, also an dem Punkte, an dem die
wissenschaftliche Einzelforschung sich mit dem Gesammtleben der
Wissenschaft und der Cultur berührt, wenn man also nach einer
kulturhistorischen Werthbestimmung das Centrum bezeichnet, so
muss man auch in dem Bereiche homerischer Forschungen bei der
Personlichkeitsfrage stehen bleiben, als dem eigentlich
fruchtbringenden Kern eines ganzen Fragencyklus. An Homer
nämlich hat die moderne Welt einen grossen historischen
Gesichtspunkt, ich will nicht sagen gelernt, aber zuerst erprobt;
und ohne schon hier meine Meinung darüber kund zu geben, ob
diese Probe gerade an diesem Objekte mit Glück gemacht ist oder
gemacht werden konnte, war doch damit das erste Beispiel für die
Anwendung jenes fruchtbaren Gesichtspunktes gegeben. Hier hat man
gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens
verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten
Male die wunderbare Fähigkeit der Volksseele anerkannt,
Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der
Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik
sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar
konkrete Persönlichkeiten verdampfen zu lassen, ist es erlaubt,
das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der
Geschichte der Wissenschaft zu bezeichnen, ganz abgesehen davon,
ob es in diesem Falle gelungen ist.
Es ist der gewöhnliche Verlauf, dass einem epochemachenden
Funde eine Reihe auffälliger Vorzeichen und vorbereitender
Einzelbeobachtungen voranzugehen pflegen. Auch das genannte
Experiment hat seine anziehende Vorgeschichte, aber in einer
erstaunlich weiten zeitlichen Entfernung. Friedrich August Wolf
hat genau dort eingesetzt, wo das griechische Alterthum die Frage
aus den Händen fallen liess. Der Höhepunkt, den die
literarhistorischen Studien der Griechen und somit auch das
Centrum derselben, die Homerfrage, erreichten, war das Zeitalter
der grossen alexandrinischen Grammatiker. Bis zu diesem
Höhepunkte hat die homerische Frage die lange Kette eines
gleichformigen Entwicklungsprocesses durchlaufen, als deren
letztes Glied, zugleich als das letzte, das dem Alterthum
überhaupt erreichbar war, der Standpunkt jener Grammatiker
erscheint. Sie begriffen Ilias und Odyssee als Schöpfungen des einen
Homer: sie erklärten es für psychologisch möglich, dass Werke
so verschiedenen Gesammtcharakters einem Genius
entsprungen seien, im Gegensatz zu den Chorizonten, die die
äusserste Skepsis zufälliger einzelner Individualitäten des
Alterthums, nicht des Alterthums selbst bedeuten. Um den
verschiedenen Totaleindruck der beiden Epen bei der Annahme eines
Dichters zu erklären, nahm man die Lebensalter zu Hülfe und
verglich den Dichter der Odyssee mit der untergehenden Sonne.
Für Diversitäten des sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks
war das Auge jener Kritiker von unermüdlicher Scharfe und
Wachsamkeit; zugleich aber hatte man sich eine Geschichte der
homerischen Dichtung und ihrer Tradition zurecht gelegt, nach der
diese Diversitäten nicht Homer, sondern seinen Redaktoren und
Sängern zur Last fielen. Man dachte sich die Gedichte Homers
eine Zeitlang mündlich fortgepflanzt und den Unbilden
improvisierender, mitunter auch vergesslicher Sänger ausgesetzt.
In einem gegebenen Zeitpunkte, in der Zeit des Pisistratus,
sollten die mündlich fortlebenden Fragmente buchmässig
gesammelt sein; aber den Redaktoren erlaubte man sich Mattes und
Störendes zuzuschieben. Diese ganze Hypothese ist die
bedeutendste im Gebiete der Litteraturstudien, die das Alterthum
aufzuweisen hat; insbesondere ist die Anerkennung einer
mündlichen Verbreitung Homers, im Gegensatz zu der Wucht der
Gewohnheit eines büchergelehrten Zeitalters ein
bewunderungswerther Höhepunkt antiker Wissenschaftlichkeit. Von
jenen Zeiten bis zu denen Friedrich August Wolf's muss man einen
Sprung durch ein ungeheures Vacuum machen; jenseits dieser Grenze
finden wir aber die Forschung genau wieder auf dem Punkte, an dem
dem Alterthume die Kraft zum Weiterschreiten ausgegangen war: und
es ist gleichgültig, dass Wolf als sichere Tradition nahm, was
das Alterthum selbst als Hypothese aufgestellt hatte. Als das
Charakteristische dieser Hypothese kann man bezeichnen, dass im
strengsten Sinne Ernst gemacht werden soll mit der
Persönlichkeit Homers, dass Gesetzmässigkeit und innerer
Einklang in den Aeusserungen der Persönlichkeit überall
vorausgesetzt werden, dass man mit zwei vortrefflichen
Nebenhypothesen alles als nichthomerisch wegwischt, was dieser
Gesetzmässigkeit widerstrebt. Aber dieser selbe Grundzug, an
Stelle eines übernatürlichen Wesens eine greifbare
Persönlichkeit erkennen zu wollen, geht gleichfalls durch alle
jene Stadien, die bis zu jenem Höhepunkt führen und zwar immer
mit grosserer Energie und wachsender begrifflicher Deutlichkeit.
Das Individuelle wird immer starker empfunden und betont, die
psychologische Möglichkeit eines Homers immer kräftiger
gefordert. Gehen wir von jenem Höhepunkte schrittweise
rückwarts, so treffen wir auf die Auffassung des homerischen
Problems durch Aristoteles. Ihm gilt Homer als der makellose und
unfehlbare Künstler, der sich seiner Zwecke und Mittel wohl
bewusst ist: dabei zeigt sich aber in der naiven Hingabe an die
Volksmeinung, die Homer auch das Urbild aller komischen Epen, den
Margites, zutheilte, noch ein Standpunkt der Unmündigkeit in
historischer Kritik. Gehen wir von Aristoteles nach rückwärts,
so nimmt die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu fassen, immer
mehr zu; immer mehr Gedichte werden auf den Namen des Homer
gehäuft, und jedes Zeitalter zeigt seinen Grad von Kritik darin,
wie viel und was es als Homerisch bestehen lässt. Man empfindet
unwillkürlich bei diesem langsamen Zurückschreiten, dass
jenseits Herodot eine Periode liege, in der eine unübersehbare
Fluth grosser Epen mit dem Namen Homers identifizirt worden sei.
Versetzen wir uns in das Zeitalter des Pisistratus: so
umschloss damals das Wort "Homer" eine Fülle des
Ungleichartigsten. Was bedeutete damals Homer? Offenbar fühlte
sich jenes Zeitalter ausser Stande, eine Persönlichkeit und die
Grenzen ihrer Aeusserungen wissenschaftlich zu umspannen. Homer
war hier fast zu einer leeren Hülse geworden. Hier tritt nun die
wichtige Frage an uns heran: was liegt vor dieser Periode. Ist
die Persönlichkeit Homers, weil man sie nicht fassen konnte,
allmählich zu einem leeren Namen verdunstet? Oder hat man damals
in naïver Volksweise die gesammte heroische Dichtung verkörpert
und sich unter der Figur Homers veranschaulicht? Ist somit aus
einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person
gemacht worden? Dies ist die eigentliche "homerische
Frage," jenes centrale Persönlichkeitsproblem.
Die Schwierigkeit, auf dieselbe zu antworten, vermehrt sich
aber, wenn man von einer andern Seite aus, nämlich vom
Standpunkte der erhaltenen Gedichte aus, eine Antwort versucht.
Wie es heutzutage schwer ist und eine ernste Anstrengung
erfordert, um die Paradoxie des Gravitationsgesetzes sich
deutlich zu machen, dass nämlich die Erde ihre Bewegungsform
ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume
wechselt, ohne dass zwischen beiden ein materielles Band besteht:
so kostet es gegenwärtig Mühe, zum vollen Eindruck jenes
wunderbaren Problems zu kommen, das aus Hand in Hand wandernd
sein ursprüngliches höchst auffälliges Gepräge immer mehr
verloren hat. Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den
grössten Genien der Muth entsinkt, in denen ewig unerreichte
Musterbilder für alle Kunstperioden gegeben sind: und doch der
Dichter derselben ein hohler Name, zerbrechlich, wo man ihn
anfasst, nirgends der sichere Kern einer waltenden
Persönlichkeit. "Denn wer wagte mit Göttern den Kampf, den
Kampf mit dem Einen?" sagte selbst Goethe, der, wenn irgend
ein Genius, mit jenem geheimnisvollen Problem der homerischen
Unerreichbarkeit gerungen hat. Ueber dasselbe hinweg schien der
Begriff der Volksdichtung als Brücke zu führen: eine
tiefere und ursprünglichere Gewalt als die jedes einzelnen
schöpferischen Individuums sollte hier thätig gewesen sein, das
glücklichste Volk in seiner glücklichsten Periode, in der
höchsten Regsamkeit der Phantasie und der poetischen
Gestaltungskraft sollte jene unausmessbaren Dichtungen erzeugt
haben. In dieser Allgemeinheit hat der Gedanke einer
Volksdichtung etwas Berauschendes; man empfindet die breite,
übermächtige Entfesselung einer volksthümlichen Eigenschaft
mit künstlerischem Behagen und freut sich dieser
Naturerscheinung, wie man sich einer unaufhaltsam hinströmenden
Wassermasse freut. Sobald man sich aber diesem Gedanken nähern
und ins Angesicht schauen wollte, so setzte man unwillkürlich an
Stelle der dichtenden Volksseele eine dichterische Volksmasse,
eine lange Reihe von Volksdichtern, an denen das Individuelle
nichts bedeutete, sondern in denen der Wogenschlag der
Volksseele, die anschauliche Kraft des Volksauges, die
ungeschwachteste Fülle der Volksphantasie mächtig war: eine
Reihe von urwüchsigen Genien, einer Zeit, einer Dichtgattung,
einem Stoffe zugehörig.
Aber eine solche Vorstellung machte mit Recht misstrauisch:
sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichsten
Erzeugnisse, dem Genius, so karg und haushälterisch umgeht,
gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune
verschwendet haben? Hier kehrte nun die bedenkliche Frage wieder;
ist nicht vielleicht auch mit einem einzigen Genius auszukommen
und der vorhandene Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit
zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene
Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in
der Anlage der Gesammtwerke, sagte die eine Partei, denn diese
ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede,
in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine
andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend,
der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die
"göttliche" Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn
dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein
Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei,
die Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebungen, durch die der
ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die
erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und
Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was
nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um
womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es
lag im Wesen der zweiten Richtung, dass sie am Begriff eines
epochemachenden Genius als des Stifters grosser kunstvoller Epen
festhielt. Dagegen schwankte die andere Richtung hin und her
zwischen der Annahme eines Genius und einer Anzahl
geringerer Nachdichter: und einer anderen Hypothese, die
überhaupt nur einer Reihe tüchtiger aber mittelmässiger
Sangerindividualitäten bedarf, aber ein geheimnissvolles
Fortströmen, einen tiefen künstlerischen Volkstrieb voraussetzt
der sich in dem einzelnen Sänger als einem fast gleichgültigen
Medium offenbart. In der Consequenz dieser Richtung liegt es, die
unvergleichlichen Vorzüge der homerischen Dichtungen als den
Ausdruck jenes geheimnissvoll hinströmenden Triebes
darzustellen.
Alle diese Richtungen gehen davon aus, dass das Problem des
gegenwärtigen Bestandes jener Epen zu lösen sei vom Standpunkte
eines aesthetischen Urtheils aus: man erwartet die Entscheidung
von der richtigen Festsetzung der Grenzlinie zwischen dem
genialen Individuum und der dichterischen Volksseele. Giebt es
charakteristische Unterschiede zwischen den Aeusserungen des genialen
Individuums und der dichterischen Volksseele?
Aber diese ganze Gegenüberstellung ist eine unberechtigte und
führt in die Irre. Dieses lehrt folgende Erwägung. Es giebt in
der modernen Aesthetik keinen gefährlicheren Gegensatz als den
von Volksdichtung und Individualdichtung oder, wie
man zu sagen pflegt, Kunstdichtung. Es ist dies der
Rückschlag oder wenn man will, der Aberglaube, den die
folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen
Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele.
Mit ihr nämlich war erst der Boden geschaffen für eine
annähernd wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte, die bis
dahin und in vielen Formen bis jetzt eine einfache Stoffsammlung
war, mit der Aussicht, dass dieser Stoff sich ins Unendliche
häufe, und es nie gelingen werde Gesetz und Regel dieses ewig
neuen Wellenschlags zu entdecken. Jetzt begriff man zum ersten
Male die längst empfundene Macht grösserer Individualitäten
und Willenserscheinungen, als es das verschwindende Minimum des
einzelnen Menschen ist; jetzt erkannte man, wie alles wahrhaft
Grosse und Weithintreffende im Reiche des Willens seine am
tiefsten eingesenkte Wurzel nicht in der so kurzlebigen und
unkräftigen Einzelgestalt des Willens haben könne; jetzt
endlich fühlte man die grossen Masseninstinkte, die unbewussten
Völkertriebe heraus als die eigentlichen Träger und Hebel der
sogenannten Weltgeschichte. Aber die neu aufleuchtende Flamme
warf auch ihren Schatten: und dieser ist eben jener vorhin
bezeichnete Aberglaube, der die Volksdichtung der
Individualdichtung entgegenstellt und dabei in bedenklichster Art
den unklar gefassten Begriff der Volksseele zu dem des
Volksgeistes erweitert. Durch den Missbrauch eines allerdings
verführerischen Schlusses nach der Analogie war man dazu
gekommen, auch auf das Reich des Intellektes und der
künstlerischen Ideen jenen Satz von der grösseren
Individualität anzuwenden, der seinen Werth nur im Reiche des
Willens hat. Niemals ist der so unschönen und unphilosophischen
Masse etwas Schmeichelhafteres angethan worden als hier, wo man
ihr den Kranz des Genie's auf das kahle Haupt setzte. Man stellte
sich ungefähr vor als ob um einen kleinen Kern herum immer neue
Rinden sich ansetzen, man dachte sich jene Massendichtungen etwa
entstanden, wie die Lawinen entstehen, nämlich im Laufe, im
Fluss der Tradition. Jenen kleinen Kern aber war man geneigt,
möglichst klein anzunehmen, so dass man ihn auch gelegentlich
abrechnen konnte, ohne von der gesammten Masse etwas zu
verlieren. Dieser Anschauung ist also Ueberlieferung und
Ueberliefertes geradezu dasselbe.
Nun aber existiert in der Wirklichkeit ein solcher Gegensatz
von Volksdichtung und Individualdichtung gar nicht: vielmehr
braucht alle Dichtung, und natürlich auch die Volksdichtung, ein
vermittelndes Einzelindividuum. Jene meist missbräuchliche
Gegenüberstellung hat nur dann einen Sinn, wenn man unter
Individualdichtung eine Dichtung versteht, die nicht auf dem
Boden volksthümlicher Empfindungen erwachsen ist, sondern auf
einen unvolksthümlichen Schöpfer zurückgeht, und in
unvolksthümlicher Athmosphaere, etwa in der Studirstube des
Gelehrten gezeitigt worden ist.
Mit dem Aberglauben, der eine dichtende Masse annimmt, hängt
der andere zusammen, dass die Volksdichtung auf einen gegebenen
Zeitraum bei jedem Volke beschränkt sei und nachher aussterbe:
wie es allerdings in der Konsequenz jenes ersten Aberglaubens
liegt. An die Stelle dieser allmählich aussterbenden
Volksdichtung tritt nach dieser Vorstellung die Kunstdichtung,
das Werk einzelner Köpfe, nicht mehr ganzer Massen. Aber
dieselben Kräfte, die einstmals thätig waren, sind es auch
jetzt noch; und die Form, in der sie wirken, ist genau noch
dieselbe geblieben. Der grosse Dichter eines litterarischen
Zeitalters ist immer noch Volksdichter und in keinem Sinne
weniger als es irgend ein alter Volksdichter in einer
illitteraten Periode war. Der einzige Unterschied zwischen beiden
betrifft etwas ganz anderes als die Entstehungsart ihrer
Dichtungen, nämlich die Fortpflanzung und Verbreitung, kurz die Tradition.
Diese ist nämlich ohne Hülfe der fesselnden Buchstaben in
ewigem Flusse und der Gefahr ausgesetzt, fremde Elemente, Rene
jener Individualitäten in sich aufzunehmen, durch die der Weg
der Tradition führt.
Wenden wir alle diese Sätze auf die homerischen Dichtungen
an, so ergiebt sich, dass wir mit der Theorie von der dichtenden
Volksseele nichts gewinnen, dass wir unter allen Umständen
verwiesen werden auf das dichterische Individuum. Es entsteht
also die Aufgabe, das individuelle zu fassen und es wohl zu
unterscheiden von dem, was im Flusse der mündlichen Tradition
gewissermassen angeschwemmt worden ist—ein als höchst
beträchtlich geltender Bestandtheil der homerischen Dichtungen.
Seitdem die Litteraturgeschichte aufgehört hat, ein Register
zu sein oder sein zu dürfen: macht man Versuche die
Individualitäten der Dichter einzufangen und zu formulieren. Die
Methode bringt einen gewissen Mechanismus mit sich; es soll
erklärt werden, es soll folglich aus Gründen abgeleitet werden,
warum diese und jene Individualität sich so und nicht anders
zeigt. Jetzt benutzt man die biographischen Daten, die Umgebung,
die Bekanntschaften, die Zeitereignisse und glaubt aus der
Mischung aller dieser Ingredienzien die verlangte Individualität
gebraut zu haben. Leider vergisst man, dass man eben den
bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als
Resultat herausbekommen kann. Je weniger nun über Zeit und Leben
feststeht, um so weniger anwendbar ist jener Mechanismus. Hat man
aber gar nur die Werke und den Namen, dann steht es schlimm um
den Nachweis der Individualität, wenigstens für die Freunde
jenes erwähnten Mechanismus; ganz besonders schlimm, wenn die
Werke recht vollkommen sind, wenn sie Volksdichtungen sind. Denn
woran jene Mechaniker am ersten noch das Individuelle fassen
können, das sind die Abweichungen vom Volksgenius, die
Auswüchse und verbogenen Linien: je weniger somit eine Dichtung
Auswüchse hat, um so blasser wird die Zeichnung ihres
Dichterindividuums ausfallen.
Alle jene Auswüchse, alles Matte oder Masslose, das man in
den homerischen Gedichten zu finden glaubte, war man sofort
bereit, der leidigen Tradition beizumessen. Was blieb nun als das
Individuell-Homerische zurück? Nichts als eine nach subjektiver
Geschmacksrichtung ausgewählte Reihe besonders schöner und
hervortretender Stellen. Den Inbegriff von ästhetischer
Singularität, die der Einzelne nach seiner künstlerischen
Fähigkeit anerkannte, nannte er jetzt Homer.
Dies ist der Mittelpunkt der homerischen Irrthümer. Der Name
Homer hat nämlich von Anfang an weder zu dem Begriff
aesthetischer Vollkommenheit, noch auch zu Ilias und Odyssee eine
nothwendige Beziehung. Homer als der Dichter der Ilias und
Odyssee ist nicht eine historische Ueberlieferung, sondern ein aesthetisches
Urtheil.
Der einzige Weg, der uns hinter die Zeit des Pisistratus
zurückführt und über die Bedeutung des Namens Homer vorwärts
bringt, geht einerseits durch die homerischen Stadtsagen: aus
denen auf das Unzweideutigste erhellt, wie überall epische
Heroendichtung und Homer identificirt werden, er dagegen nirgends
in einem andern Sinne als Dichter der Ilias und Odyssee gilt, als
etwa der Thebais oder eines andern cyklischen Epos. Anderntheils
lehrt die uralte Fabel von einem Wettkampfe Homers und Hesiods,
dass man zwei epische Richtungen, die heroische und die
didaktische beim Nennen dieser Namen herausfühlte, dass somit in
das Stoffliche, nicht in das Formale die Bedeutung Homers gesetzt
wurde. Jener fingirte Wettkampf mit Hesiod zeigt noch nicht
einmal ein dämmerndes Vorgefühl des Individuellen. Von der Zeit
des Pisistratus aber an, bei dem erstaunlich schnellen
Entwicklungsgange des griechischen Schönheitsgefühls wurden die
aesthetischen Werthunterschiede jener Epen immer deutlicher
empfunden: Ilias und Odyssee tauchten aus der Fluth empor und
blieben seitdem immer auf der Oberfläche. Bei diesem
aesthetischen Ausscheidungsprozess engte sich der Begriff Homers
immer mehr ein: die alte stoffliche Bedeutung von Homer dem Vater
der epischen Heroendichtung wandelte sich in die aesthetische
Bedeutung von Homer dem Vater der Dichtkunst überhaupt und
zugleich ihrem unerreichbaren Prototyp. Dieser Umbildung gieng
eine rationalistische Kritik zur Seite, die den Wundermann Homer
sich übersetzte in einen möglichen Dichter, die die stofflichen
und formalen Widersprüche jener zahlreichen Epen gegen die
Einheit des Dichters geltend machte und den Schultern Homers
allmählich jenes schwere Bündel cyklischer Epen abnahm.
Also Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist ein
aesthetisches Urtheil. Damit ist jedoch gegen den Dichter der
genannten Epen durchaus noch nicht ausgesagt, dass auch er nur
eine Einbildung, in Wahrheit eine aesthetische Unmöglichkeit
sei: was die Meinung nur weniger Philologen sein wird. Die
Meisten vielmehr behaupten, dass zum Gesammtentwurfe einer
Dichtung, wie die Ilias ist ein Individuum gehöre, und gerade
dies sei Homer. Man wird das erste zugeben müssen, aber das
zweite muss ich nach dem Gesagten leugnen. Auch zweifle ich, ob
die Meisten zur Anerkennung des ersten Punktes von folgender
Erwägung aus gekommen sind.
Der Plan eines solchen Epos wie der der Ilias ist kein Ganzes,
kein Organismus, sondern eine Auffädelung, ein Produkt der nach
aesthetischen Regeln verfahrenden Reflexion. Es ist gewiss der
Massstab der Grösse eines Künstlers, wie viel er zugleich mit
einem Gesammtblick überschauen und sich rhythmisch gestalten
kann. Der unendliche Reichthum eines homerischen Epos an Bildern
und Scenen macht einen solchen Gesammtblick wohl unmöglich. Wo
man aber nicht künstlerisch überschauen kann, pflegt man
Begriffe an Begriffe zu reihen und sich eine Anordnung nach einem
begrifflichen Schema auszudenken.
Dies wird um so vollkommner gelingen, je bewusster der
anordnende Künstler die aesthetischen Grundgesetze handhabt: ja
er wird selbst die Täuschung erregen können als ob das Ganze in
einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm
vorgeschwebt habe.
Die Ilias ist kein Kranz, aber ein Blumengewinde. Es sind
möglichst viel Bilder in einen Rahmen gesteckt, aber der
Zusammensteller war unbekümmert darum, ob auch die Gruppirung
der zusammengestellten Bilder immer eine gefällige und
rhythmisch schöne sei. Er wusste nämlich, dass das Ganze für
Niemand in Betracht kam, sondern nur das Einzelne. Jene
Auffädelung als die Kundgebung eines noch wenig entwickelten,
noch weniger begriffenen und allgemein geschätzten Kunstverstandes
kann aber unmöglich die eigentliche homerische That, das
epochemachende Ereigniss gewesen sein. Vielmehr ist der Plan
gerade das jüngste Produkt und weit jünger als die Berühmtheit
Homers. Diejenigen also, welche nach dem "ursprünglichen
und vollkommnen Plane suchen," suchen nach einem Phantom;
denn der gefährliche Weg der mündlichen Tradition war eben
vollendet als die Planmässigkeit hinzukam; die Verunstaltungen,
die jener Weg mit sich brachte, können nicht den Plan getroffen
haben, der in der überlieferten Masse nicht mitenthalten war.
Die relative Unvollkommenheit des Planes aber darf durchaus
nicht geltend gemacht werden, um in dem Planmacher eine von dem
eigentlichen Dichter verschiedene Persönlichkeit hinzustellen.
Es ist nicht nur wahrscheinlich, dass alles, was mit bewusster
aesthetischer Einsicht in jenen Zeiten geschaffen wurde gegen die
mit instinktiver Kraft hervorquellenden Lieder unendlich
zurückstand. Ja man kann noch einen Schritt weiter gehen. Zieht
man die grossen sogenannten cyklischen Dichtungen zur
Vergleichung herbei, so ergiebt sich für den Planmacher von
Ilias und Odyssee das unbestreitbare Verdienst, in dieser
bewussten Technik des Componierens das relativ Höchste geleistet
zu haben; ein Verdienst, das wir von vorn herein geneigt sein
möchten, an demselben anzuerkennen, der uns als der Erste im
Reiche des instinktiven Schaffens gilt. Vielleicht wird man sogar
eine weittragende Andeutung in dieser Verknüpfung willkommen
heissen. Alle jene als so erheblich geltenden, im Ganzen aber
höchst subjektiv abgeschätzten Schwächen und Schäden, die man
gewohnt ist, als die versteinerten Ueberreste der
Traditionsperiode anzusehen—sind sie nicht vielleicht nur
die fast nothwendigen Uebel, denen der geniale Dichter bei dem so
grossartig intentionirten, fast vorbildlosen und unberechenbar
schwierigen Componieren des Ganzen anheimfallen musste?
Man merkt wohl, dass die Einsicht in die durchaus
verschiedenartigen Werkstätten des Instinktiven und des
Bewussten auch die Fragestellung des homerischen Problems
verrückt: und wie ich meine, dem Lichte zu.
Wir glauben an den einen grossen Dichter von Ilias und Odyssee—doch
nicht an Homer als diesen Dichter.
Die Entscheidung hierüber ist bereits gegeben. Jenes
Zeitalter, das die zahllosen Homerfabeln erfand, das den Mythus
vom homerisch-hesiodischen Wettkampf dichtete, das die
sämmtlichen Gedichte des Cyklos als homerische betrachtete,
fühlte nicht eine aesthetische sondern eine stoffliche
Singularität heraus, wenn es den Namen "Homer"
aussprach. Homer gehört für dies Zeitalter in die Reihe von
Künstlernamen wie Orpheus Eumolpus Daedalus Olympus, in die
Reihe der mythischen Entdecker eines neuen Kunstzweiges, denen
daher alle späteren Früchte, die auf dem neuen Zweige gewachsen
sind, dankbarlich gewidmet werden.
Und zwar gehört auch jener wunderbarste Genius, dem wir Ilias
und Odyssee verdanken, zu dieser dankbaren Nachwelt; auch er
opferte seinen Namen auf dem Altare des uralten Vaters der
epischen Heroendichtung, des Homeros.
Bis zu diesem Punkte und in strengem Fernhalten aller
Einzelheiten habe ich Ihnen, hochverehrte Anwesende, die
philosophischen und aesthetischen Grundzüge des homerischen
Persönlichkeitsproblems vorzuführen gedacht: in der
Voraussetzung, dass die Grundformationen jenes weitverzweigten
und tief zerklüfteten Gebirgs, welches als die homerische Frage
bekannt ist, sich am schärfsten und deutlichsten in möglichst
weiter Entfernung und von der Höhe herab aufzeigen lassen.
Zugleich aber bilde ich mir ein, jenen Freunden des Alterthums,
die uns Philologen so gern Mangel an Pietät gegen grosse
Begriffe und eine unproductive Zerstörungslust vorwerfen, an
einem Beispiel zwei Thatsachen ins Gedächtniss gerufen zu haben.
Erstens nämlich waren jene "grossen" Begriffe wie z.
B. der vom unantastbaren einen und ungetheilten Dichtergenius
Homer in der Vor-Wolfschen Periode, thatsächlich nur zu grosse
und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen
zerbrechliche Begriffe; wenn die klassische Philologie jetzt
wieder auf dieselben Begriffe zurückkommt, so sind es nur
scheinbar noch die alten Schläuche; in Wahrheit ist alles neu
geworden, Schlauch und Geist, Wein und Wort. Ueberall spürt man
es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern,
Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass
jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische
Alterthum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges
Ackerland geworden ist.
Und noch ein Zweites möchte ich jenen Freunden des Alterthums
zurufen, die von der klassischen Philologie sich missvergnügt
abwenden. Ihr verehrt ja die unsterblichen Meisterwerke des
hellenischen Geistes in Wort und Bild und wähnt euch um vieles
reicher und beglückter als jede Generation, die sie entbehren
musste: nun, so vergesst nicht, dass diese ganze zauberische Welt
einstmals vergraben lag, überschüttet von berghohen
Vorurtheilen, vergesst nicht, dass Blut und Schweiss und die
mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger unserer Wissenschaft
nöthig war, um jene Welt aus ihrer Versenkung empor steigen zu
lassen. Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt,
sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber
sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur
Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten mal wieder ertönen zu
lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel
lag? Wer war denn Homer vor der muthigen Geistesthat Wolfs? Ein
guter Alter, im besten Falle unter der Signatur
"Naturgenie" bekannt, jedenfalls das Kind eines
barbarischen Zeitalters, voller Verstösse gegen den guten
Geschmack und die guten Sitten. Hören wir doch, wie noch 1783
ein vortrefflicher Gelehrter über Homer schreibt: "Wo hält
sich doch der liebe Mann auf? Warum blieb er denn so lange
incognito? A propos, wissen Sie mir nicht eine Silhouette von ihm
zu bekommen?"
Dankbarkeit fordern wir, durchaus nicht in unserem
Namen, denn wir sind Atome—aber im Namen den Philologie
selbst, die zwar weder eine Muse noch eine Grazie, aber eine
Götterbotin ist; und wie die Musen zu den trüben, geplagten
böotischen Bauern niederstiegen, so kommt sie in eine Welt voll
düsterer Farben und Bilder, voll von allertiefsten und
unheilbarsten Schmerzen und erzählt tröstend von den schönen,
lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen
Zauberlandes.
Soviel. Und doch müssen noch ein Paar Worte gesagt werden,
noch dazu der allerpersönlichsten Art. Aber der Anlass dieser
Rede wird mich rechtfertigen.
Auch einem Philologen steht es wohl an, das Ziel seines
Strebens und den Weg dahin in die kurze Formel eines
Glaubensbekenntnisses zu drängen; und so sei dies gethan, indem
ich einen Satz des Seneca also umkehre
"philosophia facta est quae philologia fuit."
Damit soll ausgesprochen sein, dass alle und jede
philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von
einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und
Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze
und Einheitliche bestehen bleibt. Und so lassen Sie mich hoffen,
dass ich mit dieser Richtung kein Fremdling unter Ihnen sein
werde, geben Sie mir die Zuversicht, dass ich, in dieser
Gesinnung mit Ihnen arbeitend, im Stande sein werde, insbesondere
auch dem ausgezeichneten Vertrauen, das mir die hohen Behörden
dieses Gemeinwesens erwiesen haben; in wurdiger Weise zu
entsprechen.—
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