COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel. Ecce Homo Wie man wird, was man ist. 1888. Morgenröthe. Gedanken über die Moral als Vorurtheil. 1
Mit diesem Buche beginnt
mein Feldzug gegen die Moral.
Nicht dass es den geringsten Pulvergeruch
an sich hätte:—man wird ganz andre
und viel lieblichere Gerüche an ihm
wahrnehmen, gesetzt, dass man einige
Feinheit in den Nüstern hat. Weder
grosses, noch auch kleines Geschütz: ist
die Wirkung des Buchs negativ, so sind es
seine Mittel um so weniger, diese Mittel,
aus denen die Wirkung wie ein Schluss, nicht
wie ein Kanonenschuss folgt. Dass man von
dem Buche Abschied nimmt mit einer
scheuen Vorsicht vor Allem, was bisher
unter dem Namen Moral zu Ehren und selbst
zur Anbetung gekommen ist, steht nicht im
Widerspruch damit, dass im ganzen Buch
kein negatives Wort vorkommt, kein
Angriff, keine Bosheit,—dass es
vielmehr in der Sonne liegt, rund,
glücklich, einem Seegethier gleich, das
zwischen Felsen sich sonnt. Zuletzt war
ich's selbst, dieses Seegethier: fast
jeder Satz des Buchs ist erdacht, erschlüpft
in jenem Felsen-Wirrwarr nahe bei Genua,
wo ich allein war und noch mit dem Meere
Heimlichkeiten hatte. Noch jetzt wird
mir, bei einer zufälligen Berührung
dieses Buchs, fast jeder Satz zum Zipfel,
an dem ich irgend etwas Unvergleichliches
wieder aus der Tiefe ziehe: seine ganze
Haut zittert von zarten Schaudern der
Erinnerung. Die Kunst, die es voraus hat,
ist keine kleine darin, Dinge, die leicht
und ohne Geräusch vorbeihuschen,
Augenblicke, die ich göttliche Eidechsen
nenne, ein wenig fest zu machen—nicht
etwa mit der Grausamkeit jenes jungen
Griechengottes, der das arme Eidechslein
einfach anspiesste, aber immerhin doch
mit etwas Spitzem, mit der Feder ...
"Es giebt so viele Morgenröthen,
die noch nicht geleuchtet haben"—diese
indische Inschrift steht auf der
Thür zu diesem Buche. Wo sucht
sein Urheber jenen neuen Morgen, jenes
bisher noch unentdeckte zarte Roth, mit
dem wieder ein Tag—ah, eine ganze
Reihe, eine ganze Welt neuer Tage!—anhebt?
In einer Umwerthung aller Werthe,
in einem Loskommen von allen
Moralwerthen, in einem Jasagen und
Vertrauen-haben zu Alledem, was bisher
verboten, verachtet, verflucht worden
ist. Dies jasagende Buch strömt
sein Licht, seine Liebe, seine
Zärtlichkeit auf lauter schlimme Dinge
aus, es giebt ihnen "die
Seele," das gute Gewissen, das hohe
Recht und Vorrecht auf Dasein
wieder zurück. Die Moral wird nicht
angegriffen, sie kommt nur nicht mehr in
Betracht ... Dies Buch schliesst mit
einem "Oder?,"—es ist das
einzige Buch, das mit einem
"Oder?" schliesst ...
2
Meine Aufgabe, einen
Augenblick höchster Selbstbesinnung der
Menschheit vorzubereiten, einen grossen
Mittag, wo sie zurückschaut und
hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft
des Zufalls und der Priester heraustritt
und die Frage des warum?, des wozu? zum
ersten Male als Ganzes stellt—,
diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit
aus der Einsicht, dass die Menschheit nicht
von selber auf dem rechten Wege ist, dass
sie durchaus nicht göttlich
regiert wird, dass vielmehr gerade unter
ihren heiligsten Werthbegriffen der
Instinkt der Verneinung, der Verderbniss,
der décadence-Instinkt
verführerisch gewaltet hat. Die Frage
nach der Herkunft der moralischen Werthe
ist deshalb für mich eine Frage ersten
Ranges, weil sie die Zukunft der
Menschheit bedingt. Die Forderung, man
solle glauben, dass Alles im
Grunde in den besten Händen ist, dass
ein Buch, die Bibel, eine endgültige
Beruhigung über die göttliche Lenkung
und Weisheit im Geschick der Menschheit
giebt, ist, zurückübersetzt in die
Realität, der Wille, die Wahrheit über
das erbarmungswürdige Gegentheil davon
nicht aufkommen zu lassen, nämlich, dass
die Menschheit bisher schlechtesten
Händen war, dass sie von den
Schlechtweggekommenen, den
Arglistig-Rachsüchtigen, den sogenannten
"Heiligen," diesen
Weltverleumdern und Menschenschändern,
regiert worden ist. Das entscheidende
Zeichen, an dem sich ergiebt, dass der
Priester (—eingerechnet die versteckten
Priester, die Philosophen) nicht nur
innerhalb einer bestimmten religiösen
Gemeinschaft, sondern überhaupt Herr
geworden ist, dass die décadence-Moral,
der Wille zum Ende, als Moral an sich
gilt, ist der unbedingte Werth, der dem
Unegoistischen und die Feindschaft, die
dem Egoistischen überall zu Theil wird.
Wer über diesen Punkt mit mir uneins
ist, den halte ich für inficirt
... Aber alle Welt ist mit mir uneins ...
Für einen Physiologen lässt ein solcher
Werth-Gegensatz gar keinen Zweifel. Wenn
innerhalb des Organismus das geringste
Organ in noch so kleinem Maasse
nachlässt, seine Selbsterhaltung, seinen
Kraftersatz, seinen, "Egoismus"
mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen,
so entartet das Ganze. Der Physiologe
verlangt Ausschneidung des
entartenden Theils, er verneint jede
Solidarität mit dem Entartenden, er ist
am fernsten vom Mitleiden mit ihm. Aber
der Priester will gerade die
Entartung des Ganzen, der Menschheit:
darum conservirt er das Entartende—um
diesen Preis beherrscht er sie ...
Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe,
die Hülfsbegriffe der Moral,
"Seele," "Geist,"
"freier Wille,"
"Gott," wenn nicht den, die
Menschheit physiologisch zu ruiniren? ...
Wenn man den Ernst von der
Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des
Leibes, das heisst des Lebens
ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein
Ideal, aus der Verachtung des Leibes
"das Heil der Seele"
construirt, was ist das Anderes, als ein Recept
zur décadence?— Der Verlust
an Schwergewicht, der Widerstand gegen
die natürlichen Instinkte, die
"Selbstlosigkeit" mit Einem
Worte—das hiess bisher Moral
... Mit der "Morgenröthe" nahm
ich zuerst den Kampf gegen die
Entselbstungs-Moral auf. — |