COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel. Ecce Homo Wie man wird, was man ist. 1888. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.
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Um dieser Schrift gerecht
zu werden, muss man am Schicksal der
Musik wie an einer offnen Wunde leiden.—
Woran ich leide, wenn ich am
Schicksal der Musik leide? Daran, dass
die Musik um ihren weltverklärenden,
jasagenden Charakter gebracht worden ist,—dass
sie décadence-Musik und nicht
mehr die Flöte des Dionysos ist ...
Gesetzt aber, dass man dergestalt die
Sache der Musik wie seine eigene
Sache, wie seine eigene
Leidensgeschichte fühlt, so wird man
diese Schrift voller Rücksichten und
über die Maassen mild finden. In solchen
Fällen heiter sein und sich gutmüthig
mit verspotten—ridendo dicere
severum, wo das verum dicere jede Härte
rechtfertigen würde—ist die
Humanität selbst. Wer zweifelt
eigentlich daran, dass ich, als der alte
Artillerist, der ich bin, es in der Hand
habe, gegen Wagner mein schweres
Geschütz aufzufahren?—Ich hielt
alles Entscheidende in dieser Sache bei
mir zurück,—ich habe Wagner
geliebt.— Zuletzt liegt ein Angriff
auf einen feineren
"Unbekannten," den nicht leicht
ein Anderer erräth, im Sinn und Wege
meiner Aufgabe—oh ich habe noch ganz
andre "Unbekannte" aufzudecken
als einen Cagliostro der Musik—noch
mehr freilich ein Angriff auf die in
geistigen Dingen immer träger und
instinktärmer, immer ehrlicher
werdende deutsche Nation, die mit einem
beneidenswerthen Appetit fortfährt, sich
von Gegensätzen zu nähren und den
"Glauben" so gut wie die
Wissenschaftlichkeit, die
"christliche Liebe" so gut wie
den Antisemitismus, den Willen zur Macht
(zum "Reich") so gut wie das évangile
des humbles ohne
Verdauungsbeschwerden hinunterschluckt
... Dieser Mangel an Partei zwischen
Gegensätzen! diese stomachische
Neutralität und
"Selbstlosigkeit"! Dieser
gerechte Sinn des deutschen Gaumens,
der Allem gleiche Rechte giebt,—der
Alles schmackhaft findet ... Ohne allen
Zweifel, die Deutschen sind Idealisten
... Als ich das letzte Mal Deutschland
besuchte, fand ich den deutschen
Geschmack bemüht, Wagnern und dem
Trompeter von Säckingen gleiche Rechte
zuzugestehn; ich selber war eigenhändig
Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines
der echtesten und deutschesten Musiker,
im alten Sinne des Wortes deutsch, keines
blossen Reichsdeutschen, es Meister Heinrich
Schütz einen Liszt-Verein gründete,
mit dem Zweck der Pflege und Verbreitung listiger
Kirchenmusik ... Ohne allen Zweifel, die
Deutschen sind Idealisten.
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Aber hier soll mich Nichts
hindern, grob zu werden und den Deutschen
ein paar harte Wahrheiten zu sagen: wer
thut es sonst?— Ich rede von
ihrer Unzucht in historicis. Nicht nur,
dass den deutschen Historikern der grosse
Blick für den Gang, für die Werthe
der Cultur gänzlich abhanden gekommen
ist, dass sie allesammt Hanswürste der
Politik (oder der Kirche —) sind:
dieser grosse Blick ist selbst von ihnen in
Acht gethan. Man muss vorerst
"deutsch" sein,
"Rasse" sein, dann kann man
über alle Werthe und Unwerthe in
historicis entscheiden—man setzt sie
fest... "Deutsch" ist ein
Argument, "Deutschland, Deutschland
über Alles" ein Princip, die
Germanen sind die "sittliche
Weltordnung" in der Geschichte; im
Verhältniss zum imperium romanum die
Träger der Freiheit, im Verhältniss zum
achtzehnten Jahrhundert die
Wiederhersteller der Moral, des
"kategorischen Imperativs," ...
Es giebt eine reichsdeutsche
Geschichtsschreibung, es giebt, fürchte
ich, selbst eine antisemitische,—es
giebt eine Hof-Geschichtsschreibung
und Herr von Treitschke schämt sich
nicht ... Jüngst machte ein
Idioten-Urtheil in historicis, ein Satz
des zum Glück verblichenen ästhetischen
Schwaben Vischer, die Runde durch die
deutschen Zeitungen als eine
"Wahrheit," zu der jeder
Deutsche Ja sagen müsse:
"Die Renaissance und die
Reformation, Beide zusammen machen erst
ein Ganzes—die aesthetische
Wiedergeburt und die sittliche
Wiedergeburt."—Bei solchen
Sätzen geht es mit meiner Geduld zu
Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es
selbst als Pflicht, den Deutschen einmal
zu sagen, was sie Alles schon auf
dem Gewissen haben. Alle grossen
Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten
haben sie auf dem Gewissen! ... Und
immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer
innerlichsten Feigheit vor der
Realität, die auch die Feigheit vor der
Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen
Instinkt gewordnen Unwahrhaftigkeit, aus
"Idealismus."... Die Deutschen
haben Europa um die Ernte, um den Sinn
der letzten grossen Zeit, der
Renaissance-Zeit, gebracht, in einem
Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der
Werthe, wo die vornehmen, die zum Leben
jasagenden, die Zukunft-verbürgenden
Werthe am Sitz der entgegengesetzten, der
Niedergangs-Werthe zum Sieg
gelangt waren—und bis in die
Instinkte der dort Sitzenden hinein!
Luther, dies Verhängniss von Mönch, hat
die Kirche, und, was tausend Mal
schlimmer ist, das Christenthum
wiederhergestellt, im Augenblick, wo
es unterlag ... Das Christenthum,
diese Religion gewordne Verneinung des
Willens zum Leben! ... Luther, ein
unmöglicher Mönch, der, aus Gründen
seiner "Unmöglichkeit," die
Kirche angriff und sie—folglich!—wiederherstellte
... Die Katholiken hätten Gründe,
Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu
dichten ... Luther—und die
"sittliche Wiedergeburt"! Zum
Teufel mit aller Psychologie! Ohne
Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.
Die Deutschen haben zwei Mal, als eben
mit ungeheurer Tapferkeit und
Selbstüberwindung eine rechtschaffne,
eine unzweideutige, eine vollkommen
wissenschaftliche Denkweise erreicht war,
Schleichwege zum alten "Ideal,"
Versöhnungen zwischen Wahrheit und
"Ideal," im Grunde Formeln für
ein Recht auf Ablehnung der Wissenschaft,
für ein Recht auf Lüge zu finden
gewusst. Leibniz und Kant—diese zwei
grössten Hemmschuhe der intellektuellen
Rechtschaffenheit Europa's!— Die
Deutschen haben endlich, als auf der
Brücke zwischen zwei décadence-Jahrhunderten
eine force majeure von Genie und
Wille sichtbar wurde, stark genug, aus
Europa eine Einheit, eine politische und
wirtschaftliche Einheit, zum Zweck
der Erdregierung zu schaffen, mit ihren
"Freiheits-Kriegen" Europa um
den Sinn, um das Wunder von Sinn in der
Existenz Napoleon's gebracht,—sie
haben damit Alles, was kam, was heute da
ist, auf dem Gewissen, diese culturwidrigste
Krankheit und Unvernunft, die es giebt,
den Nationalismus, diese névrose
nationale, an der Europa krank
ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei
Europas, der kleinen Politik: sie
haben Europa selbst um seinen Sinn, um
seine Vernunft—sie haben es
in eine Sackgasse gebracht.— Weiss
jemand ausser mir einen Weg aus dieser
Sackgasse? ... Eine Aufgabe gross genug,
die Völker wieder zu binden?
3
— Und zuletzt, warum
sollte ich meinem Verdacht nicht Worte
geben? Die Deutschen werden auch in
meinem Falle wieder Alles versuchen, um
aus einem ungeheuren Schicksal eine Maus
zu gebären. Sie haben sich bis jetzt an
mir compromittirt, ich zweifle, dass sie
es in Zukunft besser machen.— Ah was
es mich verlangt, hier ein schlechter
Prophet zu sein! ... Meine natürlichen
Leser und Hörer sind jetzt schon Russen,
Skandinavier und Franzosen,—werden
sie es immer mehr sein?—Die
Deutschen sind in die Geschichte der
Erkenntniss mit lauter zweideutigen Namen
eingeschrieben, sie haben immer nur
"unbewusste" Falschmünzer
hervorgebracht (— Fichte, Schelling,
Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher
gebührt dies Wort so gut wie Kant und
Leibniz, es sind Alles blosse
Schleiermacher —): sie sollen nie
die Ehre haben, dass der erste rechtschaffne
Geist in der Geschichte des Geistes, der
Geist, in dem die Wahrheit zu Gericht
kommt über die Falschmünzerei von vier
Jahrtausenden, mit dem deutschen Geiste
in Eins gerechnet wird. Der
"deutsche Geist" ist meine
schlechte Luft: ich athme schwer in der
Nähe dieser Instinkt gewordnen
Unsauberkeit in psychologicis, die
jedes Wort, jede Miene eines Deutschen
verräth. Sie haben nie ein siebzehntes
Jahrhundert harter Selbstprüfung
durchgemacht wie die Franzosen, ein La
Rochefoucauld, ein Descartes sind hundert
Mal in Rechtschaffenheit den ersten
Deutschen überlegen,—sie haben bis
heute keinen Psychologen gehabt. Aber
Psychologie ist beinahe der Maassstab der
Reinlichkeit oder Unreinlichkeit
einer Rasse ... Und wenn man nicht einmal
reinlich ist, wie sollte man Tiefe
haben? Man kommt beim Deutschen, beinahe
wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er
hat keinen: das ist Alles. Aber damit
ist man noch nicht einmal flach.—
Das, was in Deutschland "tief"
heisst, ist genau diese
Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der
ich eben rede: man will über sich
nicht im Klaren sein. Dürfte ich das
Wort "deutsch" nicht als
internationale Münze für diese
psychologische Verkommenheit in Vorschlag
bringen?—In diesem Augenblick zum
Beispiel nennt es der deutsche Kaiser
seine "christliche Pflicht,"
die Sklaven in Afrika zu befreien: unter
uns andren Europäern hiesse das
dann einfach "deutsch" ...
Haben die Deutschen auch nur Ein Buch
hervorgebracht, das Tiefe hätte? Selbst
der Begriff dafür, was tief an einem
Buch ist, geht ihnen ab. Ich habe
Gelehrte kennen gelernt, die Kant für
tief hielten; am preussischen Hofe,
fürchte ich, hält man Herrn von
Treitschke für tief. Und wenn ich
Stendhal gelegentlich als tiefen
Psychologen rühme, ist es mir mit
deutschen Universitätsprofessoren
begegnet, dass sie mich den Namen
buchstabieren liessen ...
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— Und warum sollte
ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe
es, reinen Tisch zu machen. Es gehört
selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter
der Deutschen par excellence zu
gelten. Mein Misstrauen gegen den
deutschen Charakter habe ich schon mit
sechsundzwanzig Jahren ausgedrückt
(dritte Unzeitgemässe S. 71 [§6])—die
Deutschen sind für mich unmöglich. Wenn
ich mir eine Art Mensch ausdenke, die
allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so
wird immer ein Deutscher daraus. Das
Erste, worauf hin ich mir einen Menschen
"nierenprüfe," ist, ob er ein
Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er
überall Rang, Grad, Ordnung zwischen
Mensch und Mensch sieht, ob er distinguirt
damit ist man gentilhomme; in
jedem andren Fall gehört man rettungslos
unter den weitherzigen, ach! so
gutmüthigen Begriff der canaille.
Aber die Deutschen sind canaille—ach!
sie sind so gutmüthig ... Man erniedrigt
sich durch den Verkehr mit Deutschen: der
Deutsche stellt gleich ... Rechne
ich meinen Verkehr mit einigen
Künstlern, vor Allem mit Richard Wagner
ab, so habe ich keine gute Stunde mit
Deutschen verlebt ... Gesetzt, dass der
tiefste Geist aller Jahrtausende unter
Deutschen erschiene, irgend eine Retterin
des Capitols würde wähnen, ihre sehr
unschöne Seele käme zum Mindesten
ebenso in Betracht ... Ich halte diese
Rasse nicht aus, mit der man immer in
schlechter Gesellschaft ist, die keine
Finger für nuances hat—wehe mir!
ich bin eine nuance —, die keinen esprit
in den Füssen hat und nicht einmal gehen
kann ... Die Deutschen haben zuletzt gar
keine Füsse, sie haben bloss Beine ...
Den Deutschen geht jeder Begriff davon
ab, wie gemein sie sind, aber das ist der
Superlativ der Gemeinheit,—sie schämen
sich nicht einmal, bloss Deutsche zu sein
... Sie reden über Alles mit, sie halten
sich selbst für entscheidend, ich
fürchte, sie haben selbst über mich
entschieden ... — Mein ganzes Leben
ist der Beweis de rigueur für
diese Sätze. Umsonst, dass ich in ihm
nach einem Zeichen von Takt, von délicatesse
gegen mich suche. Von Juden ja, noch nie
von Deutschen. Meine Art will es, dass
ich gegen Jedermann mild und wohlwollend
bin ich habe ein Recht dazu, keine
Unterschiede zu machen dies hindert
nicht, dass ich die Augen offen habe. Ich
nehme Niemanden aus, am wenigsten meine
Freunde,—ich hoffe zuletzt, dass
dies meiner Humanität gegen sie keinen
Abbruch gethan hat! Es giebt fünf, sechs
Dinge, aus denen ich mir immer eine
Ehrensache gemacht habe.— Trotzdem
bleibt wahr, dass ich fast jeden Brief,
der mich seit Jahren erreicht, als einen
Cynismus empfinde: es liegt mehr Cynismus
im Wohlwollen gegen mich als in irgend
welchem Hass ... Ich sage es jedem meiner
Freunde ins Gesicht, dass er es nie der
Mühe für werth genug hielt, irgend eine
meiner Schriften zu studieren; ich
errathe aus den kleinsten Zeichen, dass
sie nicht einmal wissen, was drin steht.
Was gar meinen Zarathustra anbetrifft,
wer von meinen Freunden hätte mehr darin
gesehn als eine unerlaubte, zum Glück
vollkommen gleichgültige Anmaassung? ...
Zehn Jahre: und Niemand in Deutschland
hat sich eine Gewissensschuld daraus
gemacht, meinen Namen gegen das absurde
Stillschweigen zu vertheidigen, unter dem
er vergraben lag: ein Ausländer, ein
Däne war es, der zuerst dazu genug
Feinheit des Instinkts und Muth
hatte, der sich über meine angeblichen
Freunde empörte ... An welcher deutschen
Universität wären heute Vorlesungen
über meine Philosophie möglich, wie sie
letztes Frühjahr der damit noch einmal
mehr bewiesene Psycholog Dr. Georg
Brandes in Kopenhagen gehalten hat?—Ich
selber habe nie an Alledem gelitten; das Nothwendige
verletzt mich nicht; amor fati ist meine
innerste Natur. Dies schliesst aber nicht
aus, dass ich die Ironie liebe, sogar die
welthistorische Ironie. Und so habe ich,
zwei Jahre ungefähr vor dem
zerschmetternden Blitzschlag der Umwerthung,
der die Erde in Convulsionen versetzen
wird, den "Fall Wagner" in die
Welt geschickt: die Deutschen sollten
sich noch einmal unsterblich an mir
vergreifen und verewigen! es ist
gerade noch Zeit dazu!— Ist das
erreicht?— Zum Entzücken, meine
Herrn Germanen! Ich mache Ihnen mein
Compliment ... Soeben schreibt mir noch,
damit auch die Freunde nicht fehlen, eine
alte Freundin, sie lache jetzt
über mich ... Und dies in einem
Augenblicke, wo eine unsägliche
Verantwortlichkeit auf mir liegt,—wo
kein Wort zu zart, kein Blick
ehrfurchtsvoll genug gegen mich sein
kann. Denn ich trage das Schicksal der
Menschheit auf der Schulter. —
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