Published Works | Der Fall Wagner | The Case of Wagner | Dual Text: Teil 7 / Part 7 © The Nietzsche Channel
Der Fall Wagner
Vorwort
Teil 1Teil 2
Teil 3Teil 4
Teil 5Teil 6
Teil 7Teil 8
Teil 9Teil 10
Teil 11Teil 12
Nachschrift
Zweite Nachschrift
Epilog
 
 
The Case of Wagner
Preface
Part 1Part 2
Part 3Part 4
Part 5Part 6
Part 7Part 8
Part 9Part 10
Part 11Part 12
Postscript
Second Postscript
Epilogue
 

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Der Fall Wagner
Ein Musikanten-Problem.

1888.

The Case of Wagner
A Musician's Problem.

1888.

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Genug! Genug! Man wird, fürchte ich, zu deutlich nur unter meinen heitern Strichen die sinistre Wirklichkeit wiedererkannt haben—das Bild eines Verfalls der Kunst, eines Verfalls auch der Künstler. Der letztere, ein Charakter-Verfall, käme vielleicht mit dieser Formel zu einem vorläufigen Ausdruck: der Musiker wird jetzt zum Schauspieler, seine Kunst entwickelt sich immer mehr als ein Talent zu lügen. Ich werde eine Gelegenheit haben (in einem Capitel meines Hauptwerks, das den Titel führt "Zur Physiologie der Kunst"), des Näheren zu zeigen, wie diese Gesammtverwandlung der Kunst in's Schauspielerische eben so bestimmt ein Ausdruck physiologischer Degenerescenz (genauer, eine Form des Hysterismus) ist, wie jede einzelne Verderbniss und Gebrechlichkeit der durch Wagner inaugurirten Kunst: zum Beispiel die Unruhe ihrer Optik, die dazu nöthigt, in jedem Augenblick die Stellung vor ihr zu wechseln. Man versteht Nichts von Wagner, so lange man in ihm nur ein Naturspiel, eine Willkür und Laune, eine Zufälligkeit sieht. Er war kein "lückenhaftes," kein "verunglücktes," kein "contradiktorisches" Genie, wie man wohl gesagt hat. Wagner war etwas Vollkommnes, ein typischer décadent, bei dem jeder "freie Wille" fehlt, jeder Zug Nothwendigkeit hat. Wenn irgend Etwas interessant ist an Wagner, so ist es die Logik, mit der ein physiologischer Missstand als Praktik und Prozedur, als Neuerung in den Principien, als Krisis des Geschmacks Schluss für Schluss, Schritt für Schritt macht.

Enough! Enough! I fear that, beneath all my merry jests, you are beginning to recognize the sinister truth only too clearly—the picture of the decline of art, of the decline of the artist. The latter, which is a decline of character, might perhaps be defined provisionally in the following manner: the musician is now becoming an actor, his art is developing ever more and more into a talent for telling lies. I shall have the opportunity (in a chapter of my principal work which bears the title "Concerning the Physiology of Art") of showing more thoroughly how this transformation of art as a whole into histrionics is just as much a sign of physiological degenerescence (or more precisely a form of hysteria), as any other individual corruption, and infirmity peculiar to the art which Wagner inaugurated: for example the restlessness of its optics, which makes it necessary to change one's attitude to it every second. They understand nothing of Wagner who see in him but a sport of nature, an arbitrary mood, a chapter of accidents. He was not the "defective," "ill-fated," "contradictory" genius that people have declared him to be. Wagner was something complete, he was a typical décadent, in whom every sign of "free will" was lacking, in whom every feature was necessary. If there is anything at all of interest in Wagner, it is the consistency with which a critical physiological condition may convert itself, step by step, conclusion after conclusion, into a method, a form of procedure, a reform of all principles, a crisis in taste.

Ich halte mich dies Mal nur bei der Frage des Stils auf.— Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen—das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, "Freiheit des Individuums," moralisch geredet,—zu einer politischen Theorie erweitert "gleiche Rechte für Alle." Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. —

For the present I merely dwell on the question of style.— What is the sign of every literary décadence? That life no longer dwells in the whole. The word becomes sovereign and leaps out of the sentence, the sentence reaches out and obscures the meaning of the page, the page gains life at the expense of the whole—the whole is no longer a whole. But this is the simile of every style of décadence: every time, the anarchy of atoms, disintegration of the will, "freedom of the individual," to use moral terms,—expanded into a political theory, "equal rights for all." Life, equal vitality, the vibration and exuberance of life pushed back into the smallest forms, the rest poor in life. Everywhere paralysis, arduousness, torpidity or hostility and chaos: both more and more obvious the higher one ascends in forms of organization. The whole no longer lives at all: it is composite, calculated, artificial, an artifact. —

Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen, sondern von Gebärden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik. Will man ihn bewundern, so sehe man ihn hier an der Arbeit: wie er hier trennt, wie er kleine Einheiten gewinnt, wie er diese belebt, heraustreibt, sichtbar macht. Aber daran erschöpft sich seine Kraft: der Rest taugt Nichts. Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art zu "entwickeln," sein Versuch, Das, was nicht auseinander gewachsen ist, wenigstens durcheinander zu stecken! Seine Manieren dabei erinnern an die auch sonst für Wagner's Stil heranziehbaren fréres de Goncourt: man hat eine Art Erbarmen mit soviel Nothstand. Dass Wagner seine Unfähigkeit zum organischen Gestalten in ein Princip verkleidet hat, dass er einen "dramatischen Stil" statuirt, wo wir bloss sein Unvermögen zum Stil überhaupt statuiren, entspricht einer kühnen Gewohnheit, die Wagnern durch's ganze Leben begleitet hat: er setzt ein Princip an, wo ihm ein Vermögen fehlt (—sehr verschieden hierin, anbei gesagt, vom alten Kant, der eine andre Kühnheit liebte: nämlich überall, wo ihm ein Princip fehlte, ein "Vermögen" dafür im Menschen anzusetzen ...). Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswürdig ist Wagner nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Details,—man hat alles Recht auf seiner Seite, ihn hier als einen Meister ersten Ranges zu proklamiren, als unsern grössten Miniaturisten der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt. Sein Reichthum an Farben, an Halbschatten, an Heimlichkeiten absterbenden Lichts verwöhnt dergestalt, dass Einem hinterdrein fast alle andern Musiker zu robust vorkommen.— Will man mir glauben, so hat man den höchsten Begriff Wagner nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefällt. Das ist zur Überredung von Massen erfunden, davor springt Unsereins wie vor einem allzufrechen Affresco zurück. Was geht uns die agaçante Brutalität der Tannhäuser-Ouvertüre an? Oder der Circus Walküre? Alles, was von Wagner's Musik auch abseits vom Theater populär geworden ist, ist zweifelhaften Geschmacks und verdirbt den Geschmack. Der Tannhäuser-Marsch scheint mir der Biedermännerei verdächtig; die Ouvertüre zum fliegenden Holländer ist ein Lärm um Nichts; das Lohengrin-Vorspiel gab das erste, nur zu verfängliche, nur zu gut gerathene Beispiel dafür, wie man auch mit Musik hypnotisirt (—ich mag alle Musik nicht, deren Ehrgeiz nicht weiter geht als die Nerven zu überreden). Aber vom Magnétiseur und Affresco-Maler Wagner abgesehn giebt es noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten bei Seite legt: unsern grössten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zärtlichkeiten und Trostworten, die ihm Keiner vorweggenommen hat, den Meister in Tönen eines schwermüthigen und schläfrigen Glücks ... Ein Lexikon der intimsten Worte Wagner's, lauter kurze Sachen von fünf bis fünfzehn Takten, lauter Musik, die Niemand kennt ... Wagner hatte die Tugend der décadents, das Mitleiden — — —

Wagner begins from a hallucination: not of sounds but of gestures. Then he seeks the semiotics of sounds for them. If one would admire him, one should watch him at work at this point: how he separates, how he gains small units, how he animates these, severs them, makes them visible. But this exhausts his strength: the rest is no good. How paltry, awkward, and amateurish is his manner of "developing," his attempt at combining incompatible parts! His manner in this respect reminds one of two people who even in other ways are not unlike him in style, the brothers Goncourt: one almost feels compassion for so much impotence. That Wagner disguised as a principle his incapacity for giving organic form, that he establishes a "dramatic style" where we merely establish his incapacity for any style whatever, this is in line with a bold habit that accompanied Wagner through his whole life: he posits a principle where he lacks a capacity (—very different in this respect, incidentally, from the old Kant who preferred a different boldness: wherever he lacked a principle he posited a special human "capacity" [ein "Vermögen" dafür im Menschen anzusetzen] ...). Once more: Wagner is admirable and gracious only in the invention of what is smallest, in spinning out the details,—here one is entirely justified in proclaiming him a master of the first rank, as our greatest miniaturist in music who crowds into the smallest space an infinity of sense and sweetness. His wealth of colors, of half shadows, of the secrecies of dying light spoils one to such an extent that afterward almost all other musicians seem too robust.— If one would believe me one should have to derive the highest conception of Wagner not from what is liked about him today. That has been invented to persuade the masses, from that we recoil as from all too impudent fresco. Of what concern to us is the agaçant [provocative] brutality of the Tannhäuser Overture. Or the circus of Walküre? Whatever of Wagner's music has become popular also apart from the theater shows dubious taste and corrupts taste. The Tannhäuser March I suspect of bonhommerie [Biedermännerei]; the overture of The Flying Dutchman is noise about nothing; the Lohengrin Prelude furnished the first example, only too insidious, only too successful, how one hypnotizes with music (—I do not like whatever music has no ambition beyond persuasion of the nerves). But quite apart from the magnétiseur [hypnotist] and fresco-painter Wagner, there is another Wagner who lays aside small gems: our greatest melancholiac in music, full of glances, tendernesses and comforting words in which nobody has anticipated him, the master in tones of a lugubrious and drowsy happiness ... A lexicon of Wagner's most intimate words, all of them short things of five to fifteen measures, all of it music nobody knows ... Wagner has the virtue of décadents, pity — — —

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