— Entziehen wir uns zuletzt, um aufzuathmen, für einen Augenblick der engen Welt, zu der jede Frage nach dem Werth von Personen den Geist verurtheilt. Ein Philosoph hat das Bedürfniss, sich die Hände zu waschen, nachdem er sich so lange mit dem "Fall Wagner" befasst hat.— Ich gebe meinen Begriff des Modernen.— Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. Entweder hat sie die Tugenden des aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugenden des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben,—dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann hasst sie Alles, was aus der Fülle, was aus dem Überreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt. Die Aesthetik ist unablöslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine décadence-Aesthetik, es giebt eine klassische Aesthetik,—ein "Schönes an sich" ist ein Hirngespinst, wie der ganze Idealismus.— In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werthe ist kein grösserer Gegensatz aufzufinden, als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen Werthbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (—die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche die Romane Dostoiewsky's schildern), die Herren-Moral ("römisch," "heidnisch," "klassisch," "Renaissance") umgekehrt als die Zeichensprache der Wohlgerathenheit, des aufsteigenden Lebens, des Willens zur Macht als Princips des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso instinktiv, wie die christliche verneint ("Gott," "Jenseits," "Entselbstung" lauter Negationen). Die erstere giebt aus ihrer Fülle an die Dinge ab—sie verklärt, sie verschönt, sie vernünftigt die Welt—, die letztere verarmt, verblasst, verhässlicht den Werth der Dinge, sie verneint die Welt. "Welt" ein christliches Schimpfwort.— Diese Gegensatzformen in der Optik der Werthe sind beide nothwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christenthum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Dass man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotenthums. Die Begriffe "wahr" und "unwahr" haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn.— Wogegen man sich allein zu wehten hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche diese Gegensätze nicht als Gegensätze empfinden will: wie es zum Beispiel Wagner's Wille war, der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte. Nach der Herren-Moral, der vornehmen Moral hinschielen (—die isländische Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde—) und dabei die Gegenlehre, die vom "Evangelium der Niedrigen," vom Bedürfniss der Erlösung, im Munde führen! ... Ich bewundere, anbei gesagt, die Bescheidenheit der Christen, die nach Bayreuth gehn. Ich selbst würde gewisse Worte nicht aus dem Munde eines Wagner aushalten. Es giebt Begriffe, die nicht nach Bayreuth gehören ... Wie? ein Christenthum, zurechtgemacht für Wagnerianerinnen, vielleicht von Wagnerianerinnen—denn Wagner war in alten Tagen durchaus feminini generis—? Nochmals gesagt, die Christen von heute sind mir zu bescheiden ... Wenn Wagner ein Christ war, nun dann war vielleicht Liszt ein Kirchenvater!— Das Bedürfniss nach Erlösung, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse hat mit solchen Hanswursten Nichts zu thun: es ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich loskommen. Le moi est toujours haïssable.— [Anspielung auf Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844: 197. "Le moi est haïssable. Vous, Miton, le couvrez; vous ne l'ôtez pas pour cela: vous êtes donc toujours haïssable." Vgl. Vermischte Meinungen und Sprüche, 385: Gegen-Sätze.— Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze 'das Ich ist immer hassenswert'; das Kindlichste in dem noch berühmteren 'liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.'— Bei dem einen hat die Menschenkenntnis aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen." Vgl. auch Morgenröte, 79 und 5.11.88 Brief an Malwida von Meysenbug ("Warten Sie nur ein wenig, verehrteste Freundin! Ich liefere Ihnen noch den Beweis, daß 'Nietzsche est toujours haïssable.'").] Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphirenden Ja-sagen zu sich,—sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens, sie braucht gleichfalls sublime Symbole und Praktiken, aber nur "weil ihr das Herz zu voll" ist. Die ganze schöne, die ganze grosse Kunst gehört hierher: beider Wesen ist Dankbarkeit. Andrerseits kann man von ihr nicht einen Instinkt-Widerwillen gegen die décadents, einen Hohn, ein Grauen selbst vor deren Symbolik abrechnen: dergleichen ist beinahe ihr Beweis. Der vornehme Römer empfand das Christenthum als foeda superstitio: ich erinnere daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe* das Kreuz empfand. Man sucht umsonst nach werthvolleren, nach nothwendigeren Gegensätzen ... [Anmerkung.] | — Let us recover our breath
in the end by getting away for a moment from the narrow
world to which every question about the worth of persons
condemns the spirit. A philosopher feels the need to wash
his hands after having dealt so long with "The Case
of Wagner."— I offer my conception of what is modern.—
In its measure of strength every age also possesses a
measure for what virtues are permitted and forbidden to
it. Either it has the virtues of ascending
life: then it will resist from the profoundest depths the
virtues of declining life. Or it itself represents
declining life,—then it also requires the virtues of
decline, then it hates everything that justifies itself
solely out of abundance, out of the overflowing riches of
strength. Aesthetics is tied indissolubly to these
biological presuppositions: there is an aesthetics of décadence ,
there is a classical aesthetics,—the
"beautiful in itself" is a figment of the
imagination, like all of idealism.— In the narrower
sphere of so-called moral values one cannot find a
greater contrast than that between a master morality
and the morality of Christian value
concepts: the latter developed on soil that was morbid
through and through (—the Gospels present us with
precisely the same physiological types that
Dostoevsky's novels describe), master morality
("Roman," "pagan,"
"classical," "Renaissance") is,
conversely, the sign language of what has turned out
well, of ascending life, of the will to
power as the principle of life. Master morality affirms
as instinctively as Christian morality negates ("God,"
"beyond," "self-denial" all of them
negations). The former gives to things out of its own
abundance—it transfigures, it beautifies the world
and makes it more rational—, the latter
impoverishes, pales and makes uglier the value of things,
it negates the world. "World" is a
Christian term of abuse.— These opposite forms in
the optics of value are both necessary: they
are ways of seeing, immune to reasons and refutations.
One cannot refute Christianity; one cannot refute a
disease of the eye. That pessimism was fought like a
philosophy, was the height of scholarly idiocy. The
concepts "true" and "untrue" have, as
it seems to me, no meaning in optics.— What alone
should be resisted is that falseness, that deceitfulness
of instinct which refuses to experience
these opposites as opposites—as Wagner, for example,
refused, being no mean master of such falsehoods. To make
eyes at master morality, at noble morality
(—Icelandic saga is almost its most important
document—) while mouthing the counterdoctrine, that
of the "gospel of the lowly," of the need
for redemption! ... I admire, incidentally, the modesty
of the Christians who go to Bayreuth. I myself would not
be able to endure certain words out of the mouth of a
Wagner. There are concepts which do not
belong in Bayreuth ... What? Christianity adjusted
for female Wagnerians, perhaps by female
Wagnerians—for, in his latter days Wagner was
thoroughly feminini generis—? Again I say,
the Christians of today are too modest for me ... If
Wagner were a Christian, then Liszt was perhaps a father
of the Church!— The need of redemption, the
quintessence of all Christian needs, has nothing in
common with such clowns: it is the most straightforward
expression of décadence, it is the most
convincing and most painful affirmation of décadence in
sublime symbols and practices. The Christian wishes to
be rid of himself. Le moi est toujours haïssable.
[The ego is always hateful. An allusion to Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844: 197. "Le moi est haïssable. Vous, Miton, le couvrez; vous ne l'ôtez pas pour cela: vous êtes donc toujours haïssable." (The ego is hateful. You, Miton [Damien Mitton: a worldly gambler and friend of Pascal], cover it up; but that does not mean that you take it away: thus, you are always hateful.) Cf. Mixed Opinions and Maxims, 385: "Anti-theses.— The most senile thing ever thought about man is contained in the celebrated saying 'the ego is hateful'; the most childish in that even more celebrated 'love thy neighbor as thyself.'— In the former knowledge of human nature has ceased, in the latter it has not yet even begun." Cf. Dawn, 79 and 11-05-1888 letter to Malwida von Meysenbug ("Just wait a little while, esteemed friend! I shall yet furnish you the proof that 'Nietzsche est toujours haissable.'").]— Noble morality, master morality,
conversely, is rooted in a triumphant Yes said to oneself,—it
is self-affirmation, self-glorification of life, it also
requires sublime symbols and practices, but only
"because its heart is too full." All of beautiful,
all of great art belongs here: the essence
of both is gratitude. On the other hand, one cannot
dissociate from it an instinctive aversion against
décadents, scorn for their symbolism, even
horror: such feelings almost prove it. Noble Romans
experienced Christianity as foeda superstitio [abominable
superstition]: I
recall how the last German of noble taste, how Goethe* experienced the cross. One looks in vain for more valuable, more
necessary opposites ... [Note.] |
— Aber eine solche Falschheit, wie die der Bayreuther, ist heute keine Ausnahme. Wir kennen alle den unästhetischen Begriff des christlichen Junkers. Diese Unschuld zwischen Gegensätzen, dies "gute Gewissen" in der Lüge ist vielmehr modern par excellence, man definirt beinahe damit die Modernität. Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werthe dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in Einem Athem Ja und Nein. Was Wunder, dass gerade in unsern Zeiten die Falschheit selber Fleisch und sogar Genie wurde? dass Wagner "unter uns wohnte"? Nicht ohne Grund nannte ich Wagner den Cagliostro der Modernität ... Aber wir Alle haben, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe,—wir sind, physiologisch betrachtet, falsch ... Eine Diagnostik der modernen Seele—womit begönne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werthe, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall.— Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall,—diese Schrift ist, man hört es, von der Dankbarkeit inspirirt ... | — But such falseness as
that of Bayreuth is no exception today. We are all
familiar with the unaesthetic concept of the Christian
Junker. Such innocence among opposites, such
a "good conscience" in a lie is actually modern
par excellence, it almost defines modernity.
Biologically, modern man represents a contradiction of
values, he sits between two chairs, he says Yes and
No in the same breath. Is it any wonder that precisely in
our times falsehood itself has become flesh and even
genius? that Wagner "dwelled among
us"? It was not without reason that I called Wagner
the Cagliostro of modernity ... But all of us have,
unconsciously, involuntarily in our bodies values, words,
formulas, moralities of opposite
descent,—we are, physiologically considered, false
... A diagnosis of the modern soul—where
would it begin? With a resolute incision into this
instinctive contradiction, with the isolation of its
opposite values, with the vivisection of the most
instructive case.— The case of Wagner is
for the philosopher a windfall,—this
essay is inspired, as you hear, by gratitude ... |