Published Works | Der Fall Wagner | The Case of Wagner | Dual Text: Epilog / Epilogue © The Nietzsche Channel
Der Fall Wagner
Vorwort
Teil 1Teil 2
Teil 3Teil 4
Teil 5Teil 6
Teil 7Teil 8
Teil 9Teil 10
Teil 11Teil 12
Nachschrift
Zweite Nachschrift
Epilog
 
 
The Case of Wagner
Preface
Part 1Part 2
Part 3Part 4
Part 5Part 6
Part 7Part 8
Part 9Part 10
Part 11Part 12
Postscript
Second Postscript
Epilogue
 

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Der Fall Wagner
Ein Musikanten-Problem.

1888.

The Case of Wagner
A Musician's Problem.

1888.

Epilog Epilogue

— Entziehen wir uns zuletzt, um aufzuathmen, für einen Augenblick der engen Welt, zu der jede Frage nach dem Werth von Personen den Geist verurtheilt. Ein Philosoph hat das Bedürfniss, sich die Hände zu waschen, nachdem er sich so lange mit dem "Fall Wagner" befasst hat.— Ich gebe meinen Begriff des Modernen.— Jede Zeit hat in ihrem Maass von Kraft ein Maass auch dafür, welche Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. Entweder hat sie die Tugenden des aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugenden des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben,—dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann hasst sie Alles, was aus der Fülle, was aus dem Überreichthum an Kräften allein sich rechtfertigt. Die Aesthetik ist unablöslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine décadence-Aesthetik, es giebt eine klassische Aesthetik,—ein "Schönes an sich" ist ein Hirngespinst, wie der ganze Idealismus.— In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werthe ist kein grösserer Gegensatz aufzufinden, als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen Werthbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (—die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche die Romane Dostoiewsky's schildern), die Herren-Moral ("römisch," "heidnisch," "klassisch," "Renaissance") umgekehrt als die Zeichensprache der Wohlgerathenheit, des aufsteigenden Lebens, des Willens zur Macht als Princips des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso instinktiv, wie die christliche verneint ("Gott," "Jenseits," "Entselbstung" lauter Negationen). Die erstere giebt aus ihrer Fülle an die Dinge ab—sie verklärt, sie verschönt, sie vernünftigt die Welt—, die letztere verarmt, verblasst, verhässlicht den Werth der Dinge, sie verneint die Welt. "Welt" ein christliches Schimpfwort.— Diese Gegensatzformen in der Optik der Werthe sind beide nothwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christenthum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Dass man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotenthums. Die Begriffe "wahr" und "unwahr" haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn.— Wogegen man sich allein zu wehten hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche diese Gegensätze nicht als Gegensätze empfinden will: wie es zum Beispiel Wagner's Wille war, der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte. Nach der Herren-Moral, der vornehmen Moral hinschielen (—die isländische Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde—) und dabei die Gegenlehre, die vom "Evangelium der Niedrigen," vom Bedürfniss der Erlösung, im Munde führen! ... Ich bewundere, anbei gesagt, die Bescheidenheit der Christen, die nach Bayreuth gehn. Ich selbst würde gewisse Worte nicht aus dem Munde eines Wagner aushalten. Es giebt Begriffe, die nicht nach Bayreuth gehören ... Wie? ein Christenthum, zurechtgemacht für Wagnerianerinnen, vielleicht von Wagnerianerinnen—denn Wagner war in alten Tagen durchaus feminini generis—? Nochmals gesagt, die Christen von heute sind mir zu bescheiden ... Wenn Wagner ein Christ war, nun dann war vielleicht Liszt ein Kirchenvater!— Das Bedürfniss nach Erlösung, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse hat mit solchen Hanswursten Nichts zu thun: es ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich loskommen. Le moi est toujours haïssable.— [Anspielung auf Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844: 197. "Le moi est haïssable. Vous, Miton, le couvrez; vous ne l'ôtez pas pour cela: vous êtes donc toujours haïssable." Vgl. Vermischte Meinungen und Sprüche, 385: Gegen-Sätze.— Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze 'das Ich ist immer hassenswert'; das Kindlichste in dem noch berühmteren 'liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.'— Bei dem einen hat die Menschenkenntnis aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen." Vgl. auch Morgenröte, 79 und 5.11.88 Brief an Malwida von Meysenbug ("Warten Sie nur ein wenig, verehrteste Freundin! Ich liefere Ihnen noch den Beweis, daß 'Nietzsche est toujours haïssable.'").] Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphirenden Ja-sagen zu sich,—sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens, sie braucht gleichfalls sublime Symbole und Praktiken, aber nur "weil ihr das Herz zu voll" ist. Die ganze schöne, die ganze grosse Kunst gehört hierher: beider Wesen ist Dankbarkeit. Andrerseits kann man von ihr nicht einen Instinkt-Widerwillen gegen die décadents, einen Hohn, ein Grauen selbst vor deren Symbolik abrechnen: dergleichen ist beinahe ihr Beweis. Der vornehme Römer empfand das Christenthum als foeda superstitio: ich erinnere daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe* das Kreuz empfand. Man sucht umsonst nach werthvolleren, nach nothwendigeren Gegensätzen ... [Anmerkung.]

— Let us recover our breath in the end by getting away for a moment from the narrow world to which every question about the worth of persons condemns the spirit. A philosopher feels the need to wash his hands after having dealt so long with "The Case of Wagner."— I offer my conception of what is modern.— In its measure of strength every age also possesses a measure for what virtues are permitted and forbidden to it. Either it has the virtues of ascending life: then it will resist from the profoundest depths the virtues of declining life. Or it itself represents declining life,—then it also requires the virtues of decline, then it hates everything that justifies itself solely out of abundance, out of the overflowing riches of strength. Aesthetics is tied indissolubly to these biological presuppositions: there is an aesthetics of décadence , there is a classical aesthetics,—the "beautiful in itself" is a figment of the imagination, like all of idealism.— In the narrower sphere of so-called moral values one cannot find a greater contrast than that between a master morality and the morality of Christian value concepts: the latter developed on soil that was morbid through and through (—the Gospels present us with precisely the same physiological types that Dostoevsky's novels describe), master morality ("Roman," "pagan," "classical," "Renaissance") is, conversely, the sign language of what has turned out well, of ascending life, of the will to power as the principle of life. Master morality affirms as instinctively as Christian morality negates ("God," "beyond," "self-denial" all of them negations). The former gives to things out of its own abundance—it transfigures, it beautifies the world and makes it more rational—, the latter impoverishes, pales and makes uglier the value of things, it negates the world. "World" is a Christian term of abuse.— These opposite forms in the optics of value are both necessary: they are ways of seeing, immune to reasons and refutations. One cannot refute Christianity; one cannot refute a disease of the eye. That pessimism was fought like a philosophy, was the height of scholarly idiocy. The concepts "true" and "untrue" have, as it seems to me, no meaning in optics.— What alone should be resisted is that falseness, that deceitfulness of instinct which refuses to experience these opposites as opposites—as Wagner, for example, refused, being no mean master of such falsehoods. To make eyes at master morality, at noble morality (—Icelandic saga is almost its most important document—) while mouthing the counterdoctrine, that of the "gospel of the lowly," of the need for redemption! ... I admire, incidentally, the modesty of the Christians who go to Bayreuth. I myself would not be able to endure certain words out of the mouth of a Wagner. There are concepts which do not belong in Bayreuth ... What? Christianity adjusted for female Wagnerians, perhaps by female Wagnerians—for, in his latter days Wagner was thoroughly feminini generis—? Again I say, the Christians of today are too modest for me ... If Wagner were a Christian, then Liszt was perhaps a father of the Church!— The need of redemption, the quintessence of all Christian needs, has nothing in common with such clowns: it is the most straightforward expression of décadence, it is the most convincing and most painful affirmation of décadence in sublime symbols and practices. The Christian wishes to be rid of himself. Le moi est toujours haïssable. [The ego is always hateful. An allusion to Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844: 197. "Le moi est haïssable. Vous, Miton, le couvrez; vous ne l'ôtez pas pour cela: vous êtes donc toujours haïssable." (The ego is hateful. You, Miton [Damien Mitton: a worldly gambler and friend of Pascal], cover it up; but that does not mean that you take it away: thus, you are always hateful.) Cf. Mixed Opinions and Maxims, 385: "Anti-theses.— The most senile thing ever thought about man is contained in the celebrated saying 'the ego is hateful'; the most childish in that even more celebrated 'love thy neighbor as thyself.'— In the former knowledge of human nature has ceased, in the latter it has not yet even begun." Cf. Dawn, 79 and 11-05-1888 letter to Malwida von Meysenbug ("Just wait a little while, esteemed friend! I shall yet furnish you the proof that 'Nietzsche est toujours haissable.'").]— Noble morality, master morality, conversely, is rooted in a triumphant Yes said to oneself,it is self-affirmation, self-glorification of life, it also requires sublime symbols and practices, but only "because its heart is too full." All of beautiful, all of great art belongs here: the essence of both is gratitude. On the other hand, one cannot dissociate from it an instinctive aversion against décadents, scorn for their symbolism, even horror: such feelings almost prove it. Noble Romans experienced Christianity as foeda superstitio [abominable superstition]: I recall how the last German of noble taste, how Goethe* experienced the cross. One looks in vain for more valuable, more necessary opposites ... [Note.]

[*Goethe: Venezianischen Epigrammen, 67.

Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
   Duld' ich mit ruhigen Mut, wie esein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider,
   Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †.]

[*Goethe: Venetian Epigrams, 67.

Much there is I can stand. Most things not easy to suffer
   I bear with quiet resolve, just as a God commands it.
Only a few things I find as repugnant as snakes and poison,
   These four: tobacco smoke, bedbugs and garlic and †.**

**Goethe's manuscript reads Christ, for which a cross has always been substituted in the editions. Christ may here be the rhetorical singular for Christen (Christians) but it could also mean "Christ."]

— Aber eine solche Falschheit, wie die der Bayreuther, ist heute keine Ausnahme. Wir kennen alle den unästhetischen Begriff des christlichen Junkers. Diese Unschuld zwischen Gegensätzen, dies "gute Gewissen" in der Lüge ist vielmehr modern par excellence, man definirt beinahe damit die Modernität. Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werthe dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in Einem Athem Ja und Nein. Was Wunder, dass gerade in unsern Zeiten die Falschheit selber Fleisch und sogar Genie wurde? dass Wagner "unter uns wohnte"? Nicht ohne Grund nannte ich Wagner den Cagliostro der Modernität ... Aber wir Alle haben, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe,—wir sind, physiologisch betrachtet, falsch ... Eine Diagnostik der modernen Seele—womit begönne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werthe, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall.— Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall,—diese Schrift ist, man hört es, von der Dankbarkeit inspirirt ...

— But such falseness as that of Bayreuth is no exception today. We are all familiar with the unaesthetic concept of the Christian Junker. Such innocence among opposites, such a "good conscience" in a lie is actually modern par excellence, it almost defines modernity. Biologically, modern man represents a contradiction of values, he sits between two chairs, he says Yes and No in the same breath. Is it any wonder that precisely in our times falsehood itself has become flesh and even genius? that Wagner "dwelled among us"? It was not without reason that I called Wagner the Cagliostro of modernity ... But all of us have, unconsciously, involuntarily in our bodies values, words, formulas, moralities of opposite descent,—we are, physiologically considered, false ... A diagnosis of the modern soul—where would it begin? With a resolute incision into this instinctive contradiction, with the isolation of its opposite values, with the vivisection of the most instructive case.— The case of Wagner is for the philosopher a windfall,this essay is inspired, as you hear, by gratitude ...

Anmerkung. Über den Gegensatz "vornehme Moral" und "christliche Moral" unterrichtete zuerst meine "Genealogie der Moral": es giebt vielleicht keine entscheidendere Wendung in der Geschichte der religiösen und moralischen Erkenntniss. Dies Buch, mein Prüfstein für Das, was zu mir gehört, hat das Glück, nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugänglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafür. Man muss seine Leidenschaft in Dingen haben, wo sie heute Niemand hat ...

Note. The opposition between "noble morality" and "Christian morality" was first explained in my "Genealogy of Morality": perhaps there is no more decisive turning point in the history of our understanding of religion and morality. This book, my touchstone for what belongs to me, has the good fortune of being accessible only to the most high-minded and severe spirits: the rest lack ears for it. One must have one's passion in things where nobody else today has it ...

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