Published Works | Jenseits von Gut und Böse | Beyond Good and Evil | Dual Text © The Nietzsche Channel

COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel.

Jenseits von Gut und Böse
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.

1886.

Beyond Good and Evil
Prelude to a Philosophy of the Future.

1886.

IX. Was ist vornehm?

IX. What is Noble?

257

257

Jede Erhöhung des Typus "Mensch" war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft—und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus "Mensch," die fortgesetzte "Selbst-Überwindung des Menschen," um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich: man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus "Mensch"—) keinen humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart. Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furcht baren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen,—es waren die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als "die ganzeren Bestien").

Every enhancement of the type "man" has so far been the work of an aristocratic society—and it will be so again and again—a society that believes in the long ladder of an order of rank and differences in value between man and man, and that needs slavery in some sense or other. Without that pathos of distance which grows out of the ingrained difference between strata—when the ruling caste constantly looks afar and looks down upon subjects and instruments and just as constantly practices obedience and command, keeping down and keeping at a distance—the other, more mysterious pathos could not have grown up either—the craving for an ever new widening of distances within the soul itself, the development of ever higher, rare, more remote, further-stretching, more comprehensive states—in brief, simply the enhancement of the type "man," the continual "self-overcoming of man," to use a moral formula in a supra-moral sense. To be sure, one should not yield to humanitarian illusions about the origins of an aristocratic society (and thus of the presupposition of this enhancement of the type "man"): truth is hard. Let us admit to ourselves, without trying to be considerate, how every higher culture on earth so far has begun. Human beings whose nature was still natural, barbarians in every terrible sense of the word, men of prey who were still in possession of unbroken strength of will and lust for power, hurled themselves upon weaker, more civilized, more peaceful races, perhaps traders or cattle raisers, or upon mellow old cultures whose last vitality was even then flaring up in splendid fireworks of spirit and corruption. In the beginning, the noble caste was always the barbarian caste: their predominance did not lie mainly in physical strength but in strength of the soul—they were more whole human beings (which also means, at every level, "more whole beasts").

258

258

Corruption, als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte Anarchie droht, und dass der Grundbau der Affekte, der "Leben" heisst, erschüttert ist: Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution, mit einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist dies Corruption:—es war eigentlich nur der Abschlussakt jener Jahrhunderte dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur Funktion des Königthums (zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück) herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt,—dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag: vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java—man nennt sie Sipo Matador—, welche mit ihren Armen einen Eichbaum so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur Schau tragen können. —

Corruption—as the indication that anarchy threatens to break out among the instincts, and that the foundation of the emotions, called "life," is convulsed—is something radically different according to the organization in which it manifests itself. When, for instance, an aristocracy like that of France at the beginning of the Revolution, flung away its privileges with sublime disgust and sacrificed itself to an excess of its moral sentiments, it was corruption:— it was really only the closing act of the corruption which had existed for centuries, by virtue of which that aristocracy had abdicated step by step its lordly prerogatives and lowered itself to a function of royalty (in the end even to its decoration and parade-dress). The essential thing, however, in a good and healthy aristocracy is that it should not regard itself as a function either of the kingship or the commonwealth, but rather as the significance and highest justification thereof—that it should therefore accept with a good conscience the sacrifice of a legion of individuals, who, for its sake, must be suppressed and reduced to imperfect men, to slaves and instruments. Its fundamental belief must be precisely that society is not allowed to exist for its own sake, but only as a foundation and scaffolding, by means of which a select class of beings may be able to elevate themselves to their higher duties, and in general to a higher existence: like those sun-seeking climbing plants in Java—they are called sipo matador—which encircle an oak so long and so often with their arms, until at last, high above it, but supported by it, they can unfold their tops in the open light, and exhibit their happiness. —

[Cf. Hermann Burmeister: Geologische Bilder zur Geschichte der Erde und ihrer Bewohner. Bd. 2. Leipzig: Wigand, 1855:238-41.]

259

259

Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Grundprincip der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das, was es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung,—aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln—es geschieht in jeder gesunden Aristokratie—, muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen,—nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen "der ausbeuterische Charakter" abgehn soll:—das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die "Ausbeutung" gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.— Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung,—als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! —

Refraining mutually from injury, violence, and exploitation and placing one's will on a par with that of someone else—this may become, in a certain rough sense, good manners among individuals if the appropriate conditions are present (namely, if these men are actually similar in strength and value standards and belong together in one body). But as soon as this principle is extended, and possibly even accepted as the fundamental principle of society, it immediately proves to be what it really is—a will to the denial of life, a principle of disintegration and decay. Here we must beware of superficiality and get to the bottom of the matter, resisting all sentimental weakness: life itself is essentially appropriation, injury, overpowering of what is alien and weaker; suppression, hardness, imposition of one's own forms, incorporation and at least, at its mildest, exploitation—but why should one always use those words in which a slanderous intent has been imprinted for ages? Even the body within which individuals treat each other as equals, as suggested before—and this happens in every healthy aristocracy—if it is a living and not a dying body, has to do to other bodies what the individuals within it refrain from doing to each other: it will have to be an incarnate will to power, it will strive to grow, spread, seize, become predominant—not from any morality or immorality but because it is living and because life simply is will to power. But there is no point on which the ordinary consciousness of Europeans resists instruction as on this: everywhere people are now raving, even under scientific disguises, about coming conditions of society in which "the exploitative aspect" will be removed—which sounds to me as if they promised to invent a way of life that would dispense with all organic functions. "Exploitation" does not belong to a corrupt or imperfect and primitive society: it belongs to the essence of what lives, as a basic organic function; it is a consequence of the will to power, which is after all the will of life.— If this should be an innovation as a theory—as a reality it is the original fact of all history: people ought to be honest with themselves at least that far! —

260

260

Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und Sklaven-Moral;—ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander—sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde,—oder unter den Beherrschten, den Sklaven und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff "gut" bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz "gut" und "schlecht" so viel bedeutet wie "vornehm" und "verächtlich":—der Gegensatz "gut" und "böse" ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner:—es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. "Wir Wahrhaftigen"—so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen. Es liegt auf der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen gelegt worden sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn Moral-Historiker von Fragen den Ausgang nehmen wie "warum ist die mitleidige Handlung gelobt worden?" Die vornehme Art Mensch fühlt sich als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt "was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich," sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte:—auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Härten hat. "Ein hartes Herz legte Wotan mir in die Brust" heisst es in einer alten skandinavischen Saga: so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum Mitleiden gemacht zu sein: weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt "wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart." Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder im Handeln für Andere oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht; der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine Grundfeindschaft und Ironie gegen "Selbstlosigkeit" gehört eben so bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem "warmen Herzen."— Die Mächtigen sind es, welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfindung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen—das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht—, der Glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn umgekehrt die Menschen der "modernen Ideen" beinahe instinktiv an den "Fortschritt" und die "Zukunft" glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme Herkunft dieser "Ideen." Am meisten ist aber eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten habe; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder "wie es das Herz will" handeln dürfe und jedenfalls "jenseits von Gut und Böse"—: hierhin mag Mitleiden und dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit und langer Rache—beides nur innerhalb seines Gleichen—, die Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth,—im Grunde, um gut freund sein zu können): Alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral der "modernen Ideen" ist und deshalb heute schwer nachzufühlen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist.— Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit des Misstrauens gegen alles "Gute," was dort geehrt wird—, er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren—, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes "gut" und "böse":—in's Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der Sklaven-Moral erregt also der "Böse" Furcht; nach der Herren Moral ist es gerade der "Gute," der Furcht erregt und erregen will, während der "schlechte" Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, zuletzt nun auch an den "Guten" dieser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt—sie mag leicht und wohlwollend sein—, weil der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der ungefährliche Mensch sein muss: er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bonhomme. überall, wo die Sklaven-Moral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte "gut" und "dumm" einander anzunähern.— Ein letzter Grundunterschied: das Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und die Feinheiten des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und -Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und Werthungsweise ist.— Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die Liebe als Passion—es ist unsre europäische Spezialität—schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des "gai saber," denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt. —

Wandering through the many subtler and coarser moralities which have so far been prevalent on earth, or still are prevalent, I found that certain features recurred regularly together and were closely associated—until I finally discovered two basic types and one basic difference. There are master morality and slave morality—I add immediately that in all the higher and more mixed cultures there also appears attempts at mediation between these two moralities, and yet more often the interpenetration and mutual misunderstanding of both, and at times they occur directly alongside each other—even in the same human being, within a single soul. The moral discrimination of value has originated either among a ruling group whose consciousness of its difference from the ruled group was accompanied by delight—or among the ruled, the slaves and dependents of every degree. In the first case, when the ruling group determines what is "good," the exalted, proud states of the soul are experienced as conferring distinction and determining the order of rank. The noble human being separates from himself those in whom the opposite of such exalted, proud states find expression: he despises them. It should be noted immediately that in this first type of morality the opposition of "good" and "bad" means approximately the same as "noble" and "contemptible." (The opposition of "good" and "evil " has a different origin.) One feels contempt for the cowardly, the anxious, the petty, those intent on narrow utility; also for the suspicious with their unfree glances, those who humble themselves, the doglike people who allow themselves to be maltreated, the begging flatterers, above all the liars: it is part of the fundamental faith of all aristocrats that the common people lie. "We truthful ones"—thus the nobility of ancient Greece referred to itself. It is obvious that moral designations were everywhere first applied to human beings and only later, derivatively, to actions. Therefore it is a gross mistake when historians of morality start from such questions as: why was the compassionate act praised? The noble type of man experiences it does not need approval; it judges, "what is harmful to itself as determining values; me is harmful in itself"; it knows itself to be that which first accords honor to things; it is value-creatingitself it honors: such a morality is. Everything it knows as part of self-glorification. In the foreground there is the feeling of fullness, of power that seeks to overflow, the happiness of high tension, the consciousness of wealth that would give and bestow: the noble human being, too, helps the unfortunate, but not, or almost not, from pity, but prompted more by an urge begotten by excess of power. The noble human being honors himself as one who is powerful, also as one who has power over himself, who knows how to speak and be silent, who delights in being severe and hard with himself and respects all severity and hardness. "A hard heart Wotan put into my breast," says an old Scandinavian saga: a fitting poetic expression, seeing that it comes from the soul of a proud Viking. Such a type of man is actually proud of the fact that he is hero of the saga therefore adds as not made for pity, and the a warning: "If the heart is not hard in youth it will never harden." Noble and courageous human beings who think that way are furthest removed from that morality which finds the distinction of morality precisely in pity, or in acting for others, or désintéressement [disinterestedness] in faith in oneself, pride in oneself, a fundamental hostility and irony against "selflessness" belong just as definitely to noble morality as does a slight disdain and caution regarding compassionate feelings and a "warm heart."— It is the powerful who understand how to honor; this is their art, their realm of invention. The profound reverence for age and tradition—all law rests on this double reverence—the faith and prejudice in favor of ancestors and disfavor of those yet to come are typical of the morality of the powerful; and when the men of "modern ideas," conversely, believe almost instinctively in "progress" and "the future" and more and more lack respect for age, this in itself would sufficiently betray the ignoble origin of these "ideas." A morality of the ruling group, however, is most alien and embarrassing to the present taste in the severity of its principle that one has duties only to one's peers; that against beings of a lower rank, against everything alien, one may behave as one pleases or "as the heart desires," and in any case "beyond good and evil"—here pity and like feelings may find their place. The capacity for, and the duty of, long gratitude and long revenge—both only among one's peers—refinement in repaying, the sophisticated concept of friendship, a certain necessity for having enemies (as it were, as drainage ditches for the affects of envy, quarrelsomeness, exuberance—at bottom, in order to be capable of being good friends): all these are typical characteristics of noble morality which, as suggested, is not the morality of "modern ideas" and therefore is hard to empathize with today, also hard to dig up and uncover.— It is different with the second type of morality, slave morality. Suppose the violated, oppressed, suffering, unfree, who are uncertain of themselves and weary, moralize: what will their moral valuations have in common? Probably, a pessimistic suspicion about the whole condition of man will find expression, perhaps a condemnation of man along with his condition. The slave's eye is not favorable to the virtues of the powerful: he is skeptical and suspicious, subtly suspicious, of all the "good" that is honored there—he would like to persuade himself that even their happiness is not genuine. Conversely, those qualities are brought out and flooded with light to serve to ease existence for those who suffer: here pity, the complaisant and obliging hand, the warm heart, patience, industry, humility and friendliness are honored—for here these are the most useful qualities and almost the only means for enduring the pressure of existence. Slave morality is essentially a morality of utility. Here is the place for the origin of that famous opposition of "good" and "evil ": into evil one's feelings project power and dangerousness, a certain terribleness, subtlety, and strength that does not permit contempt to develop. According to slave morality, those who are "evil" thus inspire fear; according to master morality it is precisely those who are "good" that inspire, and wish to inspire, fear, while the "bad" ate felt to be contemptible. The opposition reaches its climax when, as a logical consequence of slave morality, a touch of disdain is associated also with the "good" of this morality—this may be slight and benevolent—because the good human being has to be undangerous in the slave's way of thinking: he is good-natured, easy to deceive, a little stupid perhaps, un bonhomme [a simple man]. Wherever slave morality becomes preponderant, language tends to bring the words "good" and "stupid" closer together.— One last fundamental difference: the longing for freedom, the instinct for happiness and the subtleties of the feeling of freedom belong just as necessarily to slave morality and morals as artful and enthusiastic reverence and devotion are the regular symptoms of an aristocratic way of thinking and evaluating.— This makes plain why love as passion—which is our European specialty—simply must be of noble origin: as is well known, its invention must be credited to the Provençal knight-poets, those magnificent and inventive human beings of the "gai saber" ["joyful science"] to whom Europe owes so many things and almost owes itself. —

261

261

Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben—und also auch nicht "verdienen"—, und die doch hinterdrein an diese gute Meinung selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen: "ich kann mich über meinen Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde,—aber das ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, Das, was 'Demuth,' auch 'Bescheidenheit' genannt wird)." Oder auch: "ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt, vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht,—aber das ist Alles nicht Eitelkeit." Der vornehme Mensch muss es sich erst mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt:—gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich dann derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer "guten" Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und von sich "gut zu denken," mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und gründlicher einverleibten Hang gegen sich,—und im Phänomene der "Eitelkeit" wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet: denn er unterwirft sich beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht.— Es ist "der Sklave" im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven—und wie viel "Sklave" ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig! welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen hätte.— Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.

Vanity is one of the things which are perhaps most difficult for a noble man to understand: he will be tempted to deny it, where another kind of man thinks he sees it self-evidently. The problem for him is to represent to his mind beings who seek to arouse a good opinion of themselves which they themselves do not possess—and consequently also do not "deserve,"—and who yet believe in this good opinion afterwards. This seems to him on the one hand such bad taste and so self-disrespectful, and on the other hand so grotesquely unreasonable, that he would like to consider vanity an exception, and is doubtful about it in most cases when it is spoken of. He will say, for instance: "I may be mistaken about my value, and on the other hand may nevertheless demand that my value should be acknowledged by others precisely as I rate it:—that, however, is not vanity (but self-conceit, or, in most cases, that which is called 'humility,' and also 'modesty')." Or he will even say: "For many reasons I can delight in the good opinion of others, perhaps because I love and honor them, and rejoice in all their joys, perhaps also because their good opinion endorses and strengthens my belief in my own good opinion, perhaps because the good opinion of others, even in cases where I do not share it, is useful to me, or gives promise of usefulness:—all this, however, is not vanity." The man of noble character must first bring it home forcibly to his mind, especially with the aid of history, that, from time immemorial, in all social strata in any way dependent, the ordinary man was only that which he passed for:—not being at all accustomed to fix values, he did not assign even to himself any other value than that which his master assigned to him (it is the peculiar right of masters to create values). It may be looked upon as the result of an extraordinary atavism, that the ordinary man, even at present, is still always waiting for an opinion about himself and then instinctively submitting himself to it; yet by no means only to a "good" opinion, but also to a bad and unjust one (think, for instance, of the greater part of the self-appreciations and self-depreciations which believing women learn from their confessors, and which in general the believing Christian learns from his Church). In fact, conformably to the slow rise of the democratic social order (and its cause, the blending of the blood of masters and slaves), the originally noble and rare impulse of the masters to assign a value to themselves and to "think well" of themselves, will now be more and more encouraged and extended; but it has at all times an older, ampler, and more radically ingrained propensity opposed to it—and in the phenomenon of "vanity" this older propensity overmasters the younger. The vain person rejoices over every good opinion which he hears about himself (quite apart from the point of view of its usefulness, and equally regardless of its truth or falsehood), just as he suffers from every bad opinion: for he subjects himself to both, he feels himself subjected to both, by that oldest instinct of subjection which breaks forth in him.— It is "the slave" in the vain man's blood, the remains of the slave's craftiness—and how much of the "slave" is still left in woman, for instance!—which seeks to seduce to good opinions of itself; it is the slave, too, who immediately afterwards falls prostrate himself before these opinions, as though he had not called them forth.— And to repeat it again: vanity is an atavism.

262

262

Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen, ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist; die Art hat sich als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten. Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat: diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von Alt und jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden in's Auge fassen):—sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die Tugenden, unter dem Namen "Gerechtigkeit." Ein Typus mit wenigen, aber sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen ist, wie gesagt, die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend,—wollte sie fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Luxus, als archaisirender Geschmack. Die Variation, sei es als Abartung (in's Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander und oft in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und Sich-zu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodirenden Egoismen, welche "um Sonne und Licht" mit einander ringen und keine Grenze, keine Zügelung, keine Schonung mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war es, welche die Kraft in's Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat:—jetzt ist, jetzt wird sie "überlebt." Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das "Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die, der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Kind, in's eigne Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: was werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit heraufkommen? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch ausgenommen, die unheilbar Mittelmässigen. Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen,—sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden; "seid wie sie! werdet mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat, die noch Ohren findet.— Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit!—sie darf es ja niemals eingestehn, was sie ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und Pflicht und Nächstenliebe reden,—sie wird noth haben, die Ironie zu verbergen! —

A species originates, and a type becomes established and strong in the long struggle with essentially constant unfavorable conditions. On the other hand, it is known by the experience of breeders that species which receive super-abundant nourishment, and in general a surplus of protection and care, immediately tend in the most marked way to develop variations, and are fertile in prodigies and monstrosities (also in monstrous vices). Now let us look at an aristocratic commonwealth, say an ancient Greek polis, or Venice, as an organization, whether voluntary or involuntary, for the purpose of breeding: there are men living there together, and relying on one another, who want to make their species prevail, chiefly because they must prevail, or else run the terrible danger of being exterminated. The favor, the superabundance, the protection are there lacking under which variations are fostered; the species needs itself as species, as something which, precisely by virtue of its hardness, its uniformity, and simplicity of structure, can in general prevail and make itself permanent in constant struggle with its neighbors, or with rebellious or rebellion-threatening vassals. The most varied experience teaches it what are the qualities to which it principally owes the fact that it still exists, in spite of all Gods and men, and has hitherto been victorious: these qualities it calls virtues, and these virtues alone it develops to maturity. It does so with severity, indeed it desires severity; every aristocratic morality is intolerant in the education of youth, in the control of women, in the marriage customs, in the relations of old and young, in the penal laws (which have an eye only for the degenerating): it counts intolerance itself among the virtues, under the name of "justice." A type with few, but very marked features, a species of severe, warlike, wisely silent, reserved, and reticent men (and as such, with the most delicate sensibility for the charm and nuances of society) is thus established, unaffected by the vicissitudes of generations; the constant struggle with uniform unfavorable conditions is, as already remarked, the cause of a type becoming stable and hard. Finally, however, a happy state of things results, the enormous tension is relaxed; there are perhaps no more enemies among the neighboring peoples, and the means of life, even of the enjoyment of life, are present in super abundance. With one stroke the bond and constraint of the old discipline severs: it is no longer regarded as necessary, as a condition of existence—if it would continue, it can only do so as a form of luxury, as an archaizing taste. Variations, whether they be deviations (into the higher, finer, and rarer), or deteriorations and monstrosities, appear suddenly on the scene in the greatest exuberance and splendor; the individual dares to be individual and detach himself. At this turning-point of history there manifest themselves, side by side, and often mixed and entangled together, a magnificent, manifold, virgin-forest-like up-growth and up-striving, a kind of tropical tempo in the rivalry of growth, and an extraordinary decay and self-destruction, owing to the savagely opposing and seemingly exploding egoisms, which strive with one an other "for sun and light," and can no longer assign any limit, restraint, or forbearance for themselves by means of the hitherto existing morality. It was this morality itself which piled up the strength so enormously, which bent the bow in so threatening a manner:—it is now "out of date," it is getting "out of date." The dangerous and disquieting point has been reached when the greater, more manifold, more comprehensive life is lived beyond the old morality; the "individual" stands out, and is obliged to have recourse to his own law-giving, his own arts and artifices for self-preservation, self-elevation, and self-deliverance. Nothing but new "Whys," nothing but new "Hows," no common formulas any longer, misunderstanding and disregard in league with each other, decay, deterioration, and the loftiest desires frightfully entangled, the genius of the race overflowing from all the cornucopias of good and bad, a portentous simultaneousness of Spring and Autumn, full of new charms and mysteries peculiar to the fresh, still inexhausted, still unwearied corruption. Danger is again present, the mother of morality, great danger; this time shifted into the individual, into the neighbor and friend, into the street, into their own child, into their own heart, into all the most personal and secret recesses of their desires and volitions. What will the moral philosophers who appear at this time have to preach? They discover, these sharp onlookers and loafers, that the end is quickly approaching, that everything around them decays and produces decay, that nothing will endure until the day after tomorrow, except one species of man, the incurably mediocre. The mediocre alone have a prospect of continuing and propagating themselves—they will be the men of the future, the sole survivors; "be like them! become mediocre!" is now the only morality which has still a significance, which still obtains a hearing.— But it is difficult to preach this morality of mediocrity! it can never avow what it is and what it desires! it has to talk of moderation and dignity and duty and brotherly love—it will have difficulty concealing its irony! —

263

263

Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines hohen Ranges ist; es giebt eine Lust an den Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird: Etwas, das, unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren Instinkt der Ehrfurcht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine: die Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen. Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass sie nicht an Alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten hat,—es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit. Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der "modernen Ideen," vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird; und es ist möglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten.

There is an instinct for rank, which more than anything else is already the sign of a high rank; there is a delight in the nuances of reverence which leads one to infer noble origin and habits. The refinement, goodness, and loftiness of a soul are put to a perilous test when something passes by that is of the highest rank, but is not yet protected by the awe of authority from obtrusive touches and incivilities: something that goes its way like a living touchstone, undistinguished, undiscovered, and tentative, perhaps voluntarily veiled and disguised. He whose task and practice it is to investigate souls, will avail himself of many varieties of this very art to determine the ultimate value of a soul, the unalterable, innate order of rank to which it belongs: he will test it by its instinct for reverence. Différence engendre haine [Difference engenders hatred]: the vulgarity of many a nature spurts up suddenly like dirty water, when any holy vessel, any jewel from closed shrines, any book bearing the marks of great destiny, is brought before it; while on the other hand, there is an involuntary silence, a hesitation of the eye, a cessation of all gestures, by which it is indicated that a soul feels the nearness of what is worthiest of respect. The way in which, on the whole, the reverence for the Bible has hitherto been maintained in Europe, is perhaps the best example of discipline and refinement of manners which Europe owes to Christianity: books of such profoundness and supreme significance require for their protection an external tyranny of authority, in order to acquire the period of thousands of years which is necessary to exhaust and unriddle them. Much has been achieved when the sentiment has been at last instilled into the masses (the shallow-pates and the boobies of every kind) that they are not allowed to touch everything, that there are holy experiences before which they must take off their shoes and keep away the unclean hand—it is almost their highest advance towards humanity. On the contrary, in the so-called cultured classes, the believers in "modern ideas," nothing is perhaps so repulsive as their lack of shame, the easy insolence of eye and hand with which they touch, taste, and finger everything; and it is possible that even yet there is more relative nobility of taste, and more tact for reverence among the people, among the lower classes of the people, especially among peasants, than among the newspaper-reading demimonde [Halbwelt] of intellect, the cultured class.

264

264

Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben: ob sie etwa emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, bescheiden auch in ihren Tugenden; oder ob sie an's Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten, rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben—ihrem "Gotte"—zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten Gewissens, welches vor jeder Vermittlung erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei—wie diese Drei zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen Pöbel-Typus ausgemacht haben—dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben nur erreichen, über eine solche Vererbung zu täuschen.— Und was will heute Erziehung und Bildung Anderes! In unsrem sehr volksthümlichen, will sagen pöbelhaften Zeitalter muss "Erziehung" und "Bildung" wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein,—über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher, der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen beständig zuriefe "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr seid!"—selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam expellere: mit welchem Erfolge? "Pöbel" usque recurret. — [Horaz Episteln, I. 10, 24.]

It cannot be effaced from a man's soul what his ancestors have preferably and most constantly done: whether they were perhaps diligent economizers attached to a desk and a cash-box, modest and citizen-like in their desires, modest also in their virtues; or whether they were accustomed to commanding from morning till night, fond of rude pleasures and probably of still ruder duties and responsibilities; or whether, finally, at one time or another, they have sacrificed old privileges of birth and possession, in order to live wholly for their faith—for their "God,"—as men of an inexorable and sensitive conscience, which blushes at every compromise. It is quite impossible for a man not to have the qualities and predilections of his parents and ancestors in his constitution, whatever appearances. may suggest to the contrary. This is the problem of race. Granted that one knows something of the parents, it is admissible to draw a conclusion about the child: any kind of offensive incontinence, any kind of sordid envy; or of clumsy self-vaunting—the three things which together have constituted the genuine plebeian type in all times—such must pass over to the child, as surely as bad blood; and with the help of the best education and culture one will only succeed in deceiving with regard to such heredity.— And what else does education and culture try to do nowadays! In our very democratic, or rather, very plebeian age, "education" and "culture" must be essentially the art of deceiving—deceiving with regard to origin, with regard to the inherited plebeianism in body and soul. An educator who nowadays preached truthfulness above everything else, and called out constantly to his pupils: "Be true! Be natural! Show yourselves as you are!"—even such a virtuous and sincere ass would learn in a short time to have recourse to the furca of Horace, naturam expellere: with what results? "Plebeianism" usque recurret. — [Horace's Epistles, I. 10, 24: "Try with a pitchfork [furca] to drive out nature [naturam expellere], she always returns [usque recurret]."]

265

265

Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle ich hin: der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie "wir sind," andre Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte Zwang, Willkür darin, vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag:—suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen "es ist die Gerechtigkeit selbst." Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt; sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit sich selbst hat,—gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus mehr, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres Gleichen—jeder Stern ist ein solcher Egoist—: sie ehrt sich in ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als Wesen alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört. Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem Grunde liegt. Der Begriff "Gnade" hat inter pares keinen Sinn und Wohlgeruch; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her gleichsam über sich ergehen zu lassen und wie Tropfen durstig aufzutrinken: aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier: sie blickt ungern überhaupt nach "Oben,"—sondern entweder vor sich, horizontal und langsam, oder hinab:—sie weiss sich in der Höhe. —

At the risk of displeasing innocent ears, I submit that egoism belongs to the essence of a noble soul, I mean the unalterable belief that to a being such as "we," other beings must naturally be in subjection, and have to sacrifice themselves. The noble soul accepts the fact of his egoism without question, and also without consciousness of harshness, constraint, or arbitrariness therein, but rather as something that may have its basis in the primary law of things:—if he sought a designation for it he would say: "It is justice itself." He acknowledges under certain circumstances, which made him hesitate at first, that there are other equally privileged ones; as soon as he has settled this question of rank, he moves among those equals and equally privileged ones with the same assurance, as regards modesty and delicate respect, which he enjoys in intercourse with himself—in accordance with an innate heavenly mechanism which all the stars understand. It is an additional instance of his egoism, this artfulness and self-limitation in intercourse with his equals—every star is a similar egoist, he honors himself in them, and in the rights which he concedes to them, he has no doubt that the exchange of honors and rights, as the essence of all intercourse, belongs also to the natural condition of things. The noble soul gives as he takes, prompted by the passionate and sensitive instinct of requital, which is at the root of his nature. The concept "mercy" has, inter pares [among equals], neither significance nor good repute; there may be a sublime way of letting gifts as it were light upon one from above, and of drinking them thirstily like dew-drops; but for those arts and displays the noble soul has no aptitude. His egoism hinders him here: in general, he looks "aloft" unwillingly—he looks either forward, horizontally and deliberately, or downwards—he knows that he is on a height. —

266

266

"Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst sucht."— Goethe an Rath Schlosser.

"One can only truly esteem one who is not seeking himself."— Goethe to Councillor Schlosser.

267

267

Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon ihre Kinder lehren: siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der eigentliche Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht, dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserkennen würde,—damit allein schon giengen wir ihm "wider den Geschmack." — [Vgl. Hippolyte Taine, "La Révolution. Le Gouvernement révolutionnaire." In: Les origines de la France contemporaine. Paris: Hachette, 1885, 128: "En Chine, le principe de la morale est tout opposé: 'Au milieu des embarras et des difficultés, les Chinois disent toujours "siao-sin, c'est-à-dire rapetisse ton coeur.'"]

The Chinese have a proverb which mothers even teach their children: siao-sin ("make your heart small"). [A proverb Nietzsche read in Hippolyte Taine's "La Révolution. Le Gouvernement révolutionnaire." In: Les origines de la France contemporaine. Paris: Hachette, 1885, 128: "En Chine, le principe de la morale est tout opposé: 'Au milieu des embarras et des difficultés, les Chinois disent toujours "siao-sin, c'est-à-dire rapetisse ton coeur.'" ("In China, the moral principle is just the opposite. The Chinese, amidst embarrassments and difficulties, always say 'siao-sin,' which means, "make your heart small.")] This is the essentially fundamental tendency in latter-day civilizations. I have no doubt that an ancient Greek, also, would first of all remark the self-dwarfing in us Europeans of today—in this respect alone we should immediately be "distasteful" to him. —

268

268

Was ist zuletzt die Gemeinheit?— Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht daraus Etwas, das "sich versteht," ein Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und immer schneller—die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses—; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth thut, übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese Probe: Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem "ewigen Missverständniss": das ist jener wohlwollende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen abhält, zu denen Sinne und Herz rathen—und nicht irgend ein Schopenhauerischer "Genius der Gattung"—!) Welche Gruppen von Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in's Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte—in's Gemeine!—zu kreuzen.

What, after all, is ignobleness?— Words are vocal symbols for ideas; ideas, however, are more or less definite mental symbols for frequently returning and concurring sensations, for groups of sensations. It is not sufficient to use the same words in order to understand one another: we must also employ the same words for the same kind of internal experiences, we must in the end have experiences in common. On this account the people of one nation understand one another better than those belonging to different nations, even when they use the same language; or rather, when people have lived long together under similar conditions (of climate, soil, danger, requirement, toil) there originates therefrom an entity that "understands itself "—namely, a nation. In all souls a like number of frequently recurring experiences have gained the upper hand over those occurring more rarely: about these matters people understand one another rapidly and always more rapidly—the history of language is the history of a process of abbreviation; on the basis of this quick comprehension people always unite closer and closer. The greater the danger, the greater is the need of agreeing quickly and readily about what is necessary; not to misunderstand one another in danger—that is what cannot at all be dispensed with in intercourse. Also in all loves and friendships one has the experience that nothing of the kind continues when the discovery has been made that in using the same words, one of the two parties has feelings, thoughts, intuitions, wishes, or fears different from those of the other. (The fear of the "eternal misunderstanding": that is the good genius which so often keeps persons of different sexes from too hasty attachments, to which sense and heart prompt them—and not some Schopenhauerian "genius of the species"!) Whichever groups of sensations within a soul awaken most readily, begin to speak, and give the word of command—these decide as to the general order of rank of its values, and determine ultimately its list of desirable things. A man's estimates of value betray something of the structure of his soul, and wherein it sees its conditions of life, its intrinsic needs. Supposing now that necessity has from all time drawn together only such men as could express similar requirements and similar experiences by similar symbols, it results on the whole that the easy communicability of need, which implies ultimately the undergoing only of average and common experiences, must have been the most potent of all the forces which have hitherto operated upon mankind. The more similar, the more ordinary people, have always had and are still having the advantage; the more select, more refined, more unique, and difficult to comprehend, are liable to stand alone; they succumb to accidents in their isolation, and seldom propagate themselves. One must appeal to immense opposing forces, in order to thwart this natural, all-too-natural progressus in simile [continuation of the same thing], the evolution of man to the similar, the ordinary, the average, the gregarious—to the common!

269

269

Je mehr ein Psycholog—ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather—sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: er hat Härte und Heiterkeit nöthig, mehr als ein andrer Mensch. Die Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist schrecklich, eine solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte innere "Heillosigkeit" des höheren Menschen, dieses ewige "Zu spät!" in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch die ganze Geschichte hindurch,—kann vielleicht eines Tages zur Ursache davon werden, dass er mit Erbitterung sich gegen sein eignes Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht,—dass er selbst "verdirbt." Man wird fast bei jedem Psychologen eine verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und wohlgeordneten Menschen wahrnehmen: daran verräth sich, dass er immer einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht, weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm sein "Handwerk" auf's Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht zum Verstummen: er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er gesehen hat,—oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die Paradoxie seiner Lage so weit in's Schauerliche, dass die Menge, die Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse Verehrung lernen,—die Verehrung für "grosse Männer" und Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man die Jugend hinweist, hinerzieht .... Und wer weiss, ob sich nicht bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die Menge einen Gott anbetete,—und dass der "Gott" nur ein armes Opferthier war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, und das "Werk" selbst ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das "Werk," das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die "grossen Männer," wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der Welt der geschichtlichen Werthe herrscht die Falschmünzerei. Diese grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol,—so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen: Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich; mit Seelen, an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen—das Volk nennt sie dann wohl Idealisten—, oft mit einem langen Ekel kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den "Glauben an sich" aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen:—welche Marter sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen für Den, der sie einmal errathen hat! Es ist so begreiflich, dass sie gerade vom Weibe—welches hellseherisch ist in der Welt des Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und rettungssüchtig—so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten Mitleids erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge, nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft; das Weib möchte glauben, dass Liebe Alles vermag,—es ist sein eigentlicher Glaube. Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm, dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als rettend auch die beste tiefste Liebe ist!— Es ist möglich, dass unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und Nichts ausserdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben wollten,—und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- können ist,—der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiss—, sucht den Tod.— Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen? Gesetzt, dass man es nicht muss. —

The more a psychologist—a born, an unavoidable psychologist and soul-diviner—turns his attention to the more select cases and individuals, the greater is his danger of being suffocated by sympathy: he needs sternness and cheerfulness more than any other man. For the corruption, the ruination of higher men, of the more unusually constituted souls, is in fact, the rule: it is dreadful to have such a rule always before one's eyes. The manifold torment of the psychologist who has discovered this ruination, who discovers once, and then discovers almost repeatedly throughout all history, this universal inner "desperateness" of higher men, this eternal "too late!" in every sense—may perhaps one day be the cause of his turning with bitterness against his own lot, and of his making an attempt at self-destruction—of his "going to ruin" himself. One may perceive in almost every psychologist a tell-tale inclination for delightful intercourse with commonplace and well-ordered men; the fact is thereby disclosed that he always requires healing, that he needs a sort of flight and forgetfulness, away from what his insight and incisiveness—from what his "business"—has laid upon his conscience. The fear of his memory is peculiar to him. He is easily silenced by the judgment of others; he hears with unmoved countenance how people honor, admire, love, and glorify, where he has perceived—or he even conceals his silence by expressly assenting to some plausible opinion. Perhaps the paradox of his situation becomes so dreadful that, precisely where he has learnt great sympathy, together with great contempt, the multitude, the educated, and the visionaries, have on their part learnt great reverence—reverence for "great men" and marvelous animals, for the sake of whom one blesses and honors the fatherland, the earth, the dignity of mankind, and one's own self, to whom one points the young, and in view of whom one educates them .... And who knows but in all great instances hitherto just the same happened: that the multitude worshipped a God, and that the "God" was only a poor sacrificial animal! Success has always been the greatest liar—and the "work" itself is a success; the great statesman, the conqueror, the discoverer, are disguised in their creations until they are unrecognizable; the "work" of the artist, of the philosopher, only invents him who has created it, is reputed to have created it; the "great men," as they are reverenced, are poor little fictions composed afterwards; in the world of historical values spurious coinage prevails. Those great poets, for example, such as Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol (I do not venture to mention much greater names, but I have them in my mind), as they now appear, and were perhaps obliged to be: men of the moment, enthusiastic, sensuous, and childish, light-minded and impulsive in their trust and distrust; with souls in which usually some flaw has to be concealed; often taking revenge with their works for an internal defilement, often seeking forgetfulness in their soaring from a too true memory, often lost in the mud and almost in love with it, until they become like the Will-o'-the-Wisps around the swamps, and pretend to be stars—the people then call them idealists—often struggling with protracted disgust, with an ever-reappearing phantom of disbelief, which makes them cold, and obliges them to languish for gloria and devour "faith as it is" out of the hands of intoxicated adulators:—what a torment these great artists are and the so-called higher men in general, to him who has once found them out! It is thus conceivable that it is just from woman—who is clairvoyant in the world of suffering, and also unfortunately eager to help and save to an extent far beyond her powers—that they have learnt so readily those outbreaks of boundless devoted sympathy, which the multitude, above all the reverent multitude, do not understand, and overwhelm with prying and self-gratifying interpretations. This sympathizing invariably deceives itself as to its power; woman would like to believe that love can do everything—that's a belief particular to her. Alas, he who knows the heart finds out how poor, helpless, pretentious, and blundering even the best and deepest love is—he finds that it rather destroys than saves!— It is possible that under the holy fable and travesty of the life of Jesus there is hidden one of the most painful cases of the martyrdom of knowledge about love: the martyrdom of the most innocent and most craving heart, that never had enough of any human love, that demanded love, that demanded inexorably and frantically to be loved and nothing else, with terrible outbursts against those who refused him their love; the story of a poor soul insatiated and insatiable in love, that had to invent hell to send there those who did not want to love him—and that at last, enlightened about human love, had to invent a God who is all love, all capacity for love—who takes pity on human love, because it is so paltry, so ignorant! He who has such sentiments, he who has such knowledge about love—seeks death!— But why should one deal with such painful matters? Provided, of course, that one is not obliged to do so. —

270

270

Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat—es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können—, seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und gefärbt ist, vermöge seines Leidens mehr zu wissen, als die Klügsten und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten bekannt und einmal "zu Hause" gewesen zu sein, von denen "ihr nichts wisst!" ... dieser geistige schweigende Hochmuth des Leidenden, dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des "Eingeweihten," des beinahe Geopferten findet alle Formen von Verkleidung nöthig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der feinsten Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre setzt. Es giebt "heitere Menschen," welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden:—sie wollen missverstanden sein. Es giebt "wissenschaftliche Menschen," welche sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass der Mensch oberflächlich ist:—sie wollen zu einem falschen Schlusse verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen.— Woraus sich ergiebt, dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht "vor der Maske" zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.

The intellectual haughtiness and loathing of every man who has suffered deeply—it almost determines the order of rank how deeply men can suffer—the chilling certainty, with which he is thoroughly imbued and colored, that by virtue of his suffering he knows more than the shrewdest and wisest can ever know, that he has been familiar with, and "at home" in, many distant, dreadful worlds of which "you know nothing!" ... this silent intellectual haughtiness of the sufferer, this pride of the elect of knowledge, of the "initiated," of the almost sacrificed, finds all forms of disguise necessary to protect itself from contact with officious and sympathizing hands, and in general from all that is not its equal in suffering. Profound suffering makes noble: it separates.— One of the most refined forms of disguise is Epicurism, along with a certain ostentatious boldness of taste, which takes suffering lightly, and puts itself on the defensive against all that is sorrowful and profound. They are "gay men" who make use of gaiety, because they are misunderstood on account of it—they wish to be misunderstood. There are "scientific minds" who make use of science, because it gives a gay appearance, and because scientificness leads to the conclusion that a person is superficial—they wish to mislead to a false conclusion. There are free insolent minds which would fain conceal and deny that they are broken, proud, incurable hearts (the cynicism of Hamlet—the case of Galiani); and occasionally folly itself is the mask of an unfortunate over-assured knowledge.— From which it follows that it is the part of a more refined humanity to have reverence "for the mask," and not to make use of psychology and curiosity in the wrong place.

271

271

Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt es dabei—sie "können sich nicht riechen!" Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist Heiligkeit—die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der "Trübsal," in's Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt—: eben so sehr als ein solcher Hang auszeichnet—es ist ein vornehmer Hang—, trennt er auch.— Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird .....

That which separates two men most profoundly is a different sense and grade of purity. What does it matter about all their honesty and reciprocal usefulness, what does if matter about all their mutual good-will: the fact still remains—they "cannot smell each other!" The highest instinct for purity places him who is affected with it in the most extraordinary and dangerous isolation, as a saint: for it is just holiness—the highest spiritualization of the instinct in question. Any kind of cognizance of an indescribable excess in the joy of the bath, any kind of ardor or thirst which perpetually impels the soul out of night into the morning, and out of gloom, out of "affliction" into clearness, brightness, depth, and refinement:—just as much as such a tendency distinguishes—it is a noble tendency—it also separates.— The pity of the saint is pity for the filth of the human, all-to-human. And there are grades and heights where pity itself is regarded by him as impurity, as filth .....

272

272

Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.

Signs of nobility: never to think of lowering our duties to the rank of duties for everybody; to be unwilling to renounce or to share our responsibilities; to count our prerogatives, and the exercise of them, among our duties.

273

273

Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmniss—oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein—denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt—, verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat.

A man who strives after great things, looks upon everyone whom he encounters on his way either as a means of advance, or a delay and hindrance—or as a temporary resting-place. His particular lofty kindness to his fellow-men is only possible when he attains his elevation and dominates. Impatience, and the consciousness of being always condemned to comedy up to that time—for even strife is a comedy, and conceals the end, as every means does—spoil all intercourse for him; this kind of man is acquainted with solitude, and what is most poisonous in it.

274

274

Das Problem der Wartenden.— Es sind Glücksfälle dazu nöthig und vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt—"zum Ausbruch," wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht, und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die "Erlaubniss" zum Handeln giebt,—dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie Mancher fand, eben als er "aufsprang," mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! "Es ist zu spät"—sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz.—Sollte, im Reiche des Genie's, der "Raffael ohne Hände," das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein?— [Vgl. Lessing, Emilia Galotti, I, 3.] Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den , "die rechte Zeit"—zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!

The problem of those who wait.— Happy chances are necessary, and many incalculable elements, in order that a higher man in whom the solution of a problem is dormant, may yet take action, or "break forth," as one might say—at the right moment. On an average it does not happen; and in all corners of the earth there are waiting ones sitting who hardly know to what extent they are waiting, and still less that they wait in vain. Occasionally, too, the waking call comes too late—the chance which gives "permission" to take action—when their best youth, and strength for action have been used up in sitting still; and how many a one, just as he "sprang up," has found with horror that his limbs are benumbed and his spirits are now too heavy! "It is too late," he has said to himself—and has become self-distrustful and henceforth for ever useless.— In the domain of genius, may not the "Raphael without hands," taking the expression in its widest sense [a reference to Lessing's Emilia Galotti, Act I, Scene 3, in which an artist is identified not by his productions, but by his vision], perhaps not be the exception, but the rule?— Perhaps genius is by no means so rare: but rather the five hundred hands which it requires in order to tyrannize over the "the right time"—in order to seize the moment!

275

275

Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist—und verräth sich selbst damit.

He who does not want to see the height of a man, looks all the more sharply at what is low in him, and in the foreground—and thereby betrays himself.

276

276

Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer.— Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. —

In all kinds of injury and loss the lower and coarser soul is better off than the nobler soul: the dangers of the latter must be greater, the probability that it will come to grief and perish is in fact immense, considering the multiplicity of the conditions of its existence.— In a lizard a finger grows again which has been lost; not so in man. —

277

277

— Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen—anfieng. Das ewige leidige "Zu spät!"— Die Melancholie alles Fertigen! .....

— It is too bad! Always the old story! When a man has finished building his house, he finds that he has learnt unawares something which he absolutely should have known before he—began to build. The eternal, fatal "Too late!" The melancholia of everything completed! .....

278

278

— Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an's Licht gekommen—was suchte es da unten?—, mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich hier aus: diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann,—erhole dich! Und wer du auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung? Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an!— "Zur Erholung? Zur Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich bitte— —" Was? Was? sprich es aus!— "Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!" .....

— Wanderer, who art thou? I see thee follow thy path without scorn, without love, with unfathomable eyes, wet and sad as a plummet which has returned to the light unsated out of every depth—what did it seek down there?—with a bosom that never sighs, with lips that conceal their loathing, with a hand which only slowly grasps: who art thou? what hast thou done? Rest thee here: this place has hospitality for every one—refresh thyself! And whoever thou art, what is it that now pleases thee? What will serve to refresh thee? Only name it, whatever I have I offer thee! "To refresh me? To refresh me? Oh, thou prying one, what sayest thou! But give me, I pray thee—" What? What? Speak out! "Another mask! A second mask!" .....

279

279

Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht,—ach, sie wissen zu gut, dass es ihnen davonläuft!

Men of profound sadness betray themselves when they are happy: they have a mode of seizing upon happiness as though they would choke and strangle it, out of jealousy—ah, they know only too well that it will flee from them!

280

280

"Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht—zurück?"— Ja! Aber ihr versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie jeder, der einen grossen Sprung thun will. — —

"Bad! Bad! What? Does he not—go back?"— Yes! But you misunderstand him when you complain about it. He goes back like every one who is about to make a great spring. — —

281

281

— "Wird man es mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt: ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust 'zur Sache,' bereit, von 'Mir' abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss, Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff 'unmittelbare Erkenntniss,' welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in adjecto zu empfinden:—diese ganze Thatsache ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben.— Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne.— Vielleicht verräth es die species, zu der ich gehöre?— Aber nicht mir: wie es mir selbst erwünscht genug ist."

— "Will people believe it of me? But I insist that they believe it of me: I have always thought very unsatisfactorily of myself and about myself, only in very rare cases, only compulsorily, always without delight in 'the subject,' ready to digress from 'myself,' and always without faith in the result, owing to an unconquerable distrust of the possibility of self-knowledge, which has led me so far as to feel a contradictio in adjecto [contradiction in terms] even in the idea of 'direct knowledge' which theorists allow themselves:—this matter of fact is almost the most certain thing I know about myself. There must be a sort of repugnance in me to believe anything definite about myself.— Is there perhaps some enigma therein? Probably; but fortunately nothing for my own teeth.— Perhaps it betrays the species to which I belong?—but not to myself as is sufficiently agreeable to me."

282

282

"Aber was ist dir begegnet?"— "Ich weiss es nicht, sagte er zögernd; vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen."— Es kommt heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, schreit, tobt, alle Welt beleidigt—und endlich bei Seite geht, beschämt, wüthend über sich,—wohin? wozu? Um abseits zu verhungern? Um an seiner Erinnerung zu ersticken?— Wer die Begierden einer hohen wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein: heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch "zugreift"—vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn.— Wir haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht,—den Nachtisch-Ekel.

"But what has happened to you?"— "I do not know," he said, hesitatingly; "perhaps the Harpies have flown over my table."— It some times happens nowadays that a gentle, sober, retiring man becomes suddenly mad, breaks the plates, upsets the table, shrieks, raves, and shocks everybody—and finally withdraws, ashamed, and raging at himself—hither? for what purpose? To famish apart? To suffocate with his memories? To him who has the desires of a lofty and dainty soul, and only seldom finds his table laid and his food prepared, the danger will always be great—nowadays, however, it is extraordinarily so. Thrown into the midst of a noisy and plebeian age, with which he does not like to eat out of the same dish, he may readily perish of hunger and thirst—or, should he nevertheless finally "fall to," of sudden nausea.— We have probably all sat at tables to which we did not belong; and precisely the most spiritual of us, who are most difficult to nourish, know the dangerous dyspepsia which originates from a sudden insight and disillusionment about our food and our messmates—the after-dinner nausea.

283

283

Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht übereinstimmt:—im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht—freilich eine Selbstbeherrschung, die einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig missverstanden zu werden. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben, vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe noch durch ihre Feinheit belustigen,—oder man wird es theuer büssen müssen!— "Er lobt mich: also giebt er mir Recht"—diese Eselei von Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft.

If one wishes to praise at all, it is a delicate and at the same time a noble self-control, to praise only where one does not agree—otherwise in fact one would praise oneself, which is contrary to good taste:—a self-control, to be sure, which offers excellent opportunity and provocation to constant misunderstanding. To be able to allow oneself this veritable luxury of taste and morality, one must not live among intellectual imbeciles, but rather among men whose misunderstandings and mistakes amuse by their refinement—or one will have to pay dearly for it!— "He praises me, therefore he acknowledges me to be right"—this asinine method of inference spoils half of the life of us recluses, for it brings the asses into our neighborhood and friendship.

284

284

Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits—. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel:—man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre "Gründe" sehn darf. Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch—"in Gesellschaft"—unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann—"gemein."

To live with tremendous and proud composure; always beyond—. To have and have not one's affects, one's pro and con, at will; to condescend to them, for a few hours; to seat oneself on them as on a horse, often as on an ass—for one must know how to make use of their stupidity as much as of their fire. To reserve one's three hundred foregrounds; also the dark glasses; for there are cases when nobody may look into our eyes, still less into our "grounds." And to choose for company that impish and cheerful vice, courtesy. And to remain master of one's four virtues: of courage, insight, sympathy, and solitude. For solitude is a virtue for us, as a sublime bent and urge for cleanliness which guesses how all contact between man and man—"in society"—involves inevitable uncleanliness. All community makes men somehow, somewhere, sometime—"common."

285

285

Die grössten Ereignisse und Gedanken—aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse—werden am spätesten begriffen: die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche Ereignisse nicht,—sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der Mensch, dass es dort—Sterne giebt. "Wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden?"—das ist auch ein Maassstab, damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut: für Geist und Stern. —

The greatest events and thoughts—but the greatest thoughts are the greatest events—are comprehended last: the generations that are contemporaneous with them do not experience such events—they live right past them. What happens is a little like what happens in the realm of stars. The light of the remotest stars comes last to men; and until it has arrived man denies that there are—stars there. "How many centuries does a spirit require to be comprehended?"—that is a standard, too; with that, too, one creates an order of rank and etiquette that is still needed—for spirit and star. —

286

286

"Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben."— [Goethe: Faust, 11990-91.] Es giebt aber eine umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat—aber hinab blickt.

"Here the vision is free, the spirit exalted." — [Goethe: Faust, 11990-91.] But there is a reverse kind of man, who is also upon a height, and has also a free prospect—but looks downwards.

287

287

— Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort "vornehm"? Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles undurchsichtig und bleiern wird, den vornehmen Menschen?— Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen,—Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich—; es sind auch die "Werke" nicht. Man findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfniss nach dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt.— Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. —

— What is noble? What does the word "noble" still mean to us today? What betrays, what allows one to recognize the noble human being, under this heavy, overcast sky of the beginning rule of the plebes that makes everything opaque and leaden?— It is not actions that prove him—actions are always open to many interpretations, always unfathomable—nor is it "works." Among artists and scholars today one finds enough of those who betray by their works how they are impelled by a profound desire for what is noble; but just this need for what is noble is fundamentally different from the needs of the noble soul itself and actually the eloquent and dangerous mark of its lack. It is not the works, it is the faith that is decisive here, that determines the order of rank—to take up again an ancient religious formula in a new and more profound sense: some fundamental certainty that a noble soul has about itself, something that cannot be sought, nor found, nor perhaps lost.— The noble soul has reverence for itself. —

288

288

Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor die verrätherischen Augen halten (—als ob die Hand kein Verräther wäre!—): schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben, das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer zu stellen als man ist—was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth ist wie ein Regenschirm—, heisst Begeisterung: hinzugerechnet, was hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es wissen musste—: vertu est enthousiasme. [Galiani: Lettres à Madame d'Epinay ... Paris: G. Charpentier, 1882, 2, 276.]

There are men who are unavoidably intellectual, let them turn and twist themselves as they will, and hold their hands before their treacherous eyes—as though the hand were not a betrayer; it always comes out at last that they have something which they hide—namely, intellect. One of the subtlest means of deceiving, at least as long as possible, and of successfully representing oneself to be stupider than one really is—which in everyday life is often as desirable as an umbrella—is called enthusiasm, including what belongs to it, for instance, virtue. For as Galiani said, who was obliged to know it: vertu est enthousiasme. [Virtue is enthusiasm. Galiani: Lettres à Madame d'Epinay ... Paris: G. Charpentier, 1882, 2, 276.]

289

289

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle—sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein—zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph—gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war—seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?—ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph "letzte und eigentliche" Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse—eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder "Begründung." Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie—das ist ein Einsiedler-Urtheil: "es ist etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte,—es ist auch etwas Misstrauisches daran." Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.

In the writings of a hermit one always hears something of the echo of the wilderness, something of the murmuring tones and timid vigilance of solitude; in his strongest words, even in his cry itself, there sounds a new and more dangerous kind of silence, of concealment. He who has sat day and night, from year's end to year's end, alone with his soul in familiar discord and discourse, he who has become a cave-bear, or a treasure-seeker, or a treasure-guardian and dragon in his cave—it may be a labyrinth, but can also be a gold-mine—his ideas themselves eventually acquire a twilight-colour of their own, and an odor, as much of the depth as of the mold, something uncommunicative and repulsive, which blows chilly upon every passerby. The recluse does not believe that a philosopher—supposing that a philosopher has always in the first place been a recluse—ever expressed his actual and ultimate opinions in books: are not books written precisely to hide what is in us?—indeed, he will doubt whether a philosopher can have "ultimate and actual" opinions at all; whether behind every cave in him there is not, and must necessarily be, a still deeper cave: an ampler, stranger, richer world beyond the surface, an abyss [Abgrund] behind every ground [Grunde], beneath every "foundation [Begründung]." Every philosophy is a foreground philosophy—this is a recluse's verdict: "There is something arbitrary in the fact that he [the philosopher] came to a stand here, took a retrospect, and looked around; that he here laid his spade aside and did not dig any deeper—there is also something suspicious in it." Every philosophy also conceals a philosophy; every opinion is also a lurking-place, every word is also a mask.

290

290

Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht: "ach, warum wollt ihr es auch so schwer haben, wie ich?"

Every profound thinker is more afraid of being understood than of being misunderstood. The latter may hurt his vanity, but the former his heart, his sympathy, which always says: "Alas, why do you want to have as hard a time as I did?"

291

291

Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als einfach zu geniessen; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört vielleicht viel Mehr in den Begriff "Kunst" hinein, als man gemeinhin glaubt.

Man, a complex, mendacious, artful, and inscrutable animal, uncanny to the other animals by his artifice and sagacity, rather than by his strength, has invented the good conscience in order finally to enjoy his soul as something simple; and the whole of morality is a long, audacious falsification, by virtue of which generally enjoyment at the sight of the soul becomes possible. From this point of view there is perhaps much more in the conception of "art" than is generally believed.

292

292

Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph: ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat,—aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder zu "sich zu kommen" ......

A philosopher—is a human being who constantly experiences, sees, hears, suspects, hopes, and dreams extraordinary things; who is struck by his own thoughts as from outside, as from above and below, as by his type of experiences and lightning bolts; who is perhaps himself a storm pregnant with new lightnings; a fatal human being around whom there are constant rumblings and growlings, crevices, and uncanny doings. A philosopher—alas, a being that often runs away from himself, often is afraid of himself—but too inquisitive not to "come to himself" eventually ......

293

293

Ein Mann, der sagt: "das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen und gegen Jedermann vertheidigen"; ein Mann, der eine Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist,—wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! Aber was liegt am Mitleiden Derer, welche leiden! Oder Derer, welche gar Mitleiden predigen! Es giebt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte,—es giebt einen förmlichen Cultus des Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen "Mitleid" getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die Augen.— Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig und gründlich in den Bann thun; und ich wünsche endlich, dass man das gute Amulet "gai saber" sich dagegen um Herz und Hals lege,—"fröhliche Wissenschaft," um es den Deutschen zu verdeutlichen.

A man who says: "I like that, I take it for my own, and mean to guard and protect it from every one"; a man who can conduct a case, carry out a resolution, remain true to an opinion, keep hold of a woman, punish and overthrow insolence; a man who has his indignation and his sword, and to whom the weak, the suffering, the oppressed, and even the animals willingly submit and naturally belong; in short, a man who is a master by nature—when such a man has sympathy, well! that sympathy has value! But of what account is the sympathy of those who suffer! Or of those even who preach sympathy! There is nowadays, throughout almost the whole of Europe, a sickly irritability and sensitiveness towards pain, and also a repulsive irrestrainableness in complaining, an effeminizing, which, with the aid of religion and philosophical nonsense, seeks to deck itself out as something superior—there is a regular cult of suffering. The unmanliness of that which is called "sympathy" by such groups of visionaries, is always, I believe, the first thing that strikes the eye.— One must resolutely and radically banish this newest form of bad taste; and finally I wish people to place the good amulet, "gai saber" around their hearts and necks—"joyful science," to clarify it for the Germans.

294

294

Das olympische Laster.— Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu schaffen suchte—"das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird" (Hobbes)—, würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens—bis hinauf zu denen, die des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat—, so zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen—und auf Unkosten aller ernsten Dinge! Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen.

The Olympian vice.— Despite the philosopher who, as a genuine Englishman, tried to bring laughter into bad repute in all thinking minds—"Laughing is a bad infirmity of human nature, which every thinking mind will strive to overcome" (Hobbes)—I would even allow myself to rank philosophers according to the quality of their laughing—up to those who are capable of golden laughter. And supposing that Gods also philosophize, which I am strongly inclined to believe, owing to many reasons—I have no doubt that they also know how to laugh thereby in an overman-like and new fashion—and at the expense of all serious things! Gods are fond of ridicule: it seems that they cannot refrain from laughter even in holy matters.

295

295

Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht—und nicht Das, was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen:—das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt,—still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele—; das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen Berührung jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens ...... aber was thue ich, meine Freunde? Von wem rede ich zu euch? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen nannte? es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst erriethet, wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher Weise gelobt sein will. Wie es nämlich einem jeden ergeht, der von Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser immer wieder, kein Geringerer nämlich, als der Gott Dionysos, jener grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge [d.h., Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik] dargebracht habe—als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein Opfer dargebracht hat: denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund,—ich, der letzte jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos: und ich dürfte wohl endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so weit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben? Mit halber Stimme, wie billig: denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches. Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen möchte,—unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, es sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt: denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist? Gewisslich gieng der genannte Gott bei dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele Schritt mir voraus .... ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner gewagten Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiss ein solcher Gott nichts anzufangen. "Behalte dies, würde er sagen, für dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat! Ich—habe keinen Grund, meine Blösse zu decken!"— Man erräth: es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham?— So sagte er einmal: "unter Umständen liebe ich den Menschen—und dabei spielte er auf Ariadne an, die zugegen war—: der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist."— "Stärker, böser und tiefer?" fragte ich erschreckt. "Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer; auch schöner"—und dazu lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham—; und es giebt überhaupt gute Gründe dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stücken die Götter insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen sind—menschlicher ...

The genius of the heart, as that great concealed one possesses it, the tempter god ["Versucher-Gott" could also mean "god of experimenters"] and born pied piper of consciences whose voice knows how to descend into the netherworld of every soul; who does not say a word or cast a glance in which there is no consideration and ulterior enticement; whose mastery includes the knowledge of how to seem—not what he is but what is to those who follow him one more constraint to press ever closer to him in order to follow him ever more inwardly and thoroughly—the genius of the heart who silences all that is loud and self-satisfied, teaching it to listen; who smooths rough souls and lets them taste a new desire—to lie still as a mirror, that the deep sky may mirror itself in them—the genius of the heart who teaches the doltish and rash hand to hesitate and reach out more delicately; who guesses the concealed and forgotten treasure, the drop of graciousness and sweet spirituality under dim and thick ice, and is a divining rod for every grain of gold that has long lain buried in the dungeon of much mud and sand; the genius of the heart from whose touch everyone walks away richer, not having received grace and surprised, not as blessed and oppressed by alien goods, but richer in himself, newer to himself than before, broken open, blown at and sounded out by a thawing wind, perhaps more unsure, tenderer, more fragile, more broken, but full of hopes that as yet have no name, full of new will and currents, full of new dissatisfaction and undertows ...... but what am I doing, my friends? Of whom am I speaking to you? Have I forgotten myself so far that I have not even told you his name? Unless you have guessed by yourselves who this questionable spirit and god is who wants to be praised in such a fashion. For just as happens to everyone who from childhood has always been on his way and in foreign parts, many strange and not undangerous spirits have crossed my path, too, but above all he of whom I was speaking just now, and he again and again—namely, no less a one than the god Dionysus, that great ambiguous one and tempter god to whom I once offered, as you know, in all secrecy and reverence, my first-born [i.e., The Birth of Tragedy]—as the last, it seems to me, who offered him a sacrifice: for I have found no one who understood what I was doing then. Meanwhile I have learned much, all too much, more about the philosophy of this god, and, as I said, from mouth to mouth—I, the last disciple and initiate of the god Dionysus—and I suppose I might begin at long last to offer you, my friends, a few tastes of this philosophy, insofar as this is permitted to me? In an undertone, as is fair, for it concerns much that is secret, new, strange, odd, uncanny. Even that Dionysus is a philosopher, and that gods, too, thus do philosophy, seems to me to be a novelty that is far from innocuous and might arouse suspicion precisely among philosophers. Among you, my friends, it will not seem so offensive, unless it comes too late and not at the right moment; for today, as I have been told, you no longer like to believe in God and gods. Perhaps I shall also have to carry frankness further in my tale than will always be pleasing to the strict habits of your ears? Certainly the god in question went further, very much further, in dialogues of this sort and was always many steps ahead of me .... Indeed, if it were permitted to follow human custom in according to him many solemn pomp-and-virtue names, I should have to give abundant praise to his explorer and discoverer courage, his daring honesty, truthfulness, and love of wisdom. But such a god has no use whatever for all such venerable junk and pomp. "Keep that," he would say, "for yourself and your likes and whoever else has need of it! I—have no reason for covering my nakedness."— One guesses: this type of deity and philosopher is perhaps lacking in shame?— Thus he once said: "Under certain circumstances I love what is human"—and with this he alluded to Ariadne who was present—"man is to my mind an agreeable, courageous, inventive animal that has no equal on earth; it finds its way in any labyrinth. I am well disposed towards him: I often reflect how I might yet advance him and make him stronger, more evil, and more profound than he is."— "Stronger, more evil, and more profound?" I asked startled. "Yes," he said once more; "stronger, more evil, and more profound; also more beautiful"—and at that the tempter god smiled with his halcyon smile as though he had just paid an enchanting compliment. Here we also see: what this divinity lacks is not only a sense of shame—and there are also other good reasons for conjecturing that in several respects all of the gods could learn from us humans. We humans are—more humane ...

296

296

Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen machtet—und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden: so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so langweilig! Und war es jemals anders? Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chnesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel, die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen,—mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths:—aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten— —schlimmen Gedanken!

Alas, what are you after all, my written and painted thoughts! It was not long ago that you were still so colorful, young, and malicious, full of thorns and secret spices—you made me sneeze and laugh—and now? You have already taken off your novelty, and some of you are ready, I fear, to become truths: they already look so immortal, so pathetically decent, so dull! And has it ever been different? What things do we copy, writing and painting, we mandarins with Chinese brushes, we immortalizers of things that can be written—what are the only things we are able to paint? Alas, always only what is on the verge of withering and losing its fragrance! Alas, always only storms that are passing, exhausted, and feelings that are autumnal and yellow! Alas, always only birds that grew weary of flying and flew astray and now can be caught by hand—by our hand! We immortalize what cannot live and fly much longer—only weary and mellow things! And it is only your afternoon, you, my written and painted thoughts, for which alone I have colors, many colors perhaps, many motley caresses and fifty yellows and browns and greens and reds: but nobody will guess from that how you looked in your morning, you sudden sparks and wonders of my solitude, you my old beloved— —wicked thoughts!

Published Works | Jenseits von Gut und Böse | Beyond Good and Evil | Dual Text © The Nietzsche Channel