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Jenseits von Gut und Böse
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.1886.
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Beyond
Good and Evil
Prelude to a Philosophy of the Future.1886.
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V. Zur Naturgeschichte der Moral.
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V. On the Natural History of Morality.
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Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige "Wissenschaft der Moral" noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist:—ein anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort "Wissenschaft der Moral" ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn,—und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen,—als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden. Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten: sie wollten die Begründung der Moral,—und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als "gegeben." Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima's und Erdstriches,—gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte:—als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen "Wissenschaft der Moral" fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen "Begründung der Moral" nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe:—und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer "Wissenschaft," deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden:—"das Princip," sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), "der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva [Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst.*]—das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen .... das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht."— Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein—bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit nicht geglückt—; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist—, der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich—die Flöte blies .... Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, der vor der Moral Halt macht,—der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich—ein Pessimist? [*Schopenhauer schreibt in Über die Grundlage der Moral §6, "Vom Fundament der Kantischen Ethik": Nun aber das Gesetzt, dieser letzte Grundstein der Kantischen Ethik! Was ist sein Inhalt? Und wo steht es geschrieben? Dies ist die Hauptfrage. Ich bemerke zunächst, daß es zwei Fragen sind: Die eine geht auf das Princip, die andere auf das Fundament der Ethik, zwie ganz verschiedene Dinge, obwohl sie meistens und bisweiten wohl absichtlich vermischt werden.
Das Princip oder der oberste Grundsatz einer Ethik ist der kürzeste und bündigste Ausdruck für die Handlungsweise, die sie vorschreibt, oder, wenn sie keine imperative Form hätte, die Handlungsweise, welcher sie eigentlichen moralischen Werth zuerkennt. Es ist mithin ihre, durch einen Satz ausgedrückte Anweisung zur Tugend überhaupt, also das ő, τι der Tugend.— Das Fundament einer Ethik hingegen ist das διοτι der Tugend, der Grund jener Verpflichtung oder Anempfehlung oder Belobung, er mag nun in der Natur des Menschen, oder in äußeren Weltverhältnissen, oder worin sonst gesucht werden. Wie in allen Wissenschaften sollte man auch in der Ethik das ő, τι von διοτι deutlich unterscheiden. Die meisten Ethiker verwischen hingegen geflissentlich diesen Unterschied: wahrscheinlich weis das ő, τι so leicht, das διοτι hingegen so entsetzlich schwer anzugeben ist; daher man gern die Armuth auf der einen Seite durch den Reichthum auf der andern zu kompensiren und, mittelst Zusammenfassung beider in einen Satz, eine glückliche Vermählung der Πενια mit dem Πορος zu Stande zu bringen sucht. Meistens geschicht dies dadurch, daß Jedem wohlbekannte ő, τι nicht in seiner Einfachheit ausspricht, sondern es in eine künstliche Formel zwängt, aus der es erst als Konklusion gegebener Prämissen geschlossen werden muß; wobei dann dem Leser zu Muthe wird, als hätte er nicht bloß die Sache, sondern auch den Grund der Sache erfahren. Hievon kann man sich an den meisten alsbekannten Moralprincipien leicht überzeugen. Da nun aber ich, im folgenden Theil, dergleichen Kunststücke nicht auch vorhabe, sondern ehrlich zu verfahren und nicht das Princip der Ethik zugleich als ihr Fundament geltend zu machen, vielmehr beide ganz deutlich zu sondern gedeute; so will ich jenes ő, τι, also das Princip, den Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind, in so verschiedene Formen sie ihn auch Kleiden, gleich hier auf den Ausdruck zurückführen, den ich für den allereinfachsten und reinsten halte: Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva. Dies ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen, das gemeinsame Resultat ihrer so verschiedenartigen Deductionen: es ist das ő, τι, zu welchem das διοτι nach immer gesucht wird, die Folge, zu der man den Grund verlangt, folglich selbst erst das Datum, zu welchem das Quaesitum das Problem jeder Ethik, wie auch der vorliegenden Preisfrage ist. Die Lösung dieses Problems wird das eigentliche Fundament der Ethik liefern, welches man, wie den Stein der Weisen, seit Jahrtausenden sucht.]
Vgl. Nietzsches Nachlass: Sommer-Herbst 1884 26[85]; April—Juni 1885 34[239].] |
Moral sensibility is as subtle, late, manifold, sensitive and refined in Europe today as the "science of morality" pertaining to it is still young, inept, clumsy and coarse-fingered—an interesting contrast which sometimes even becomes visible and incarnate in the person of a moralist. Even the expression "science of morality" is, considering what is designated by it, far too proud, and contrary to good taste: which is always accustomed to choose the more modest expressions. One should, in all strictness, admit what will be needful here for a long time to come, what alone is provisionally justified here: assembly of material, conceptual comprehension and arrangement of a vast domain of delicate value-feelings and value-distinctions which live, grow, beget and perish—and perhaps attempts to display the more frequent and recurring forms of these living crystallizations—as preparation of a typology of morality. To be sure: one has not been so modest hitherto. Philosophers one and all have, with a strait-laced seriousness that provokes laughter, demanded something much higher, more pretentious, more solemn of themselves as soon as they have concerned themselves with morality as a science: they wanted to furnish the rational ground of morality—and every philosopher hitherto has believed he has furnished this rational ground; morality itself, however, was taken as "given." How far from their clumsy pride was that apparently insignificant task left in dust and mildew, the task of description, although the most delicate hands and senses could hardly be delicate enough for it! It was precisely because moral philosophers knew moral facta [facts] only somewhat vaguely in an arbitrary extract or as a chance abridgment, as morality of their environment, their class, their church, the spirit of their times, their climate and zone of the earth, for instance—it was precisely because they were ill informed and not even very inquisitive about other peoples, ages and former times, that they did not so much as catch sight of the real problems of morality—for these come into view only if we compare many moralities. Strange though it may sound, in all "science of morality" hitherto the problem of morality itself has been lacking: the suspicion was lacking that there was anything problematic here. What philosophers called "the rational ground of morality" and sought to furnish was, viewed in the proper light, only a scholarly form of faith in the prevailing morality, a new way of expressing it, and thus itself a fact within a certain morality, indeed even in the last resort a kind of denial that this morality might be conceived of as a problem—and in any event the opposite of a testing, analysis, doubting and vivisection of this faith. Hear, for example, with what almost venerable innocence Schopenhauer still presented his task, and draw your own conclusions as to how scientific a "science" is whose greatest masters still talk like children and old women:—"The principle," he says (The Fundamental Problems of Morality, p. 136 [Die beiden Grundprobleme der Ethic, which contains the essays "On the Freedom of the Will," and "On the Basis of Morality."]), "the fundamental proposition concerning whose purport all teachers of ethics are really in agreement: neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva [Injure no one; on the contrary, help everyone as much as you can.*]—that is really the proposition whose establishment is the constant endeavor of all teachers of morality .... the real foundation of ethics, one which, like the philosophers' stone, has been sought for thousands of years."— The difficulty of establishing the quoted proposition may indeed by great—it is well-known even Schopenhauer did not succeed in doing so—; and he who has ever been certain how insipidly false and sentimental this proposition is in a world whose essence is will to power may like to recall that Schopenhauer, although a pessimist, really—played the flute .... Every day, after dinner: read his biographers on this subject. And by the way: a pessimist, a world-denier and God-denier, who comes to a halt before morality—who affirms morality and plays the flute, affirms laede-neminem morality: what? is that actually—a pessimist? [*Schopenhauer writes in On the Basis of Morality §6, "Of the Foundation of Kantian Ethics" (trans. by E. F. J. Payne in On the Basis of Morality §6, "Criticism of Kant's Basis of Ethics." Berghahn Books, 1995:68-9):
"But now as regards the law, this ultimate foundation stone of the Kantian ethics: What is its purport? And where is it written down? That is the principal question. In the first place, I observe that there are two questions, one dealing with the principle, the other with the foundation of ethics—two entirely different questions, although they are often confused, indeed sometimes intentionally.
The principle or the main fundamental proposition of an ethical system is the shortest and concisest expression for the line of conduct prescribed by it, or, if it should have no imperative form, the line of conduct to which it attributes real moral worth. Consequently, this is its guide to virtue in general, an instruction expressed in one proposition and thus the ő, τι ["The what" of a thing, its principle or essence.] of virtue. The foundation of an ethical system, on the other hand, is the διοτι ["The why or wherefore" of a thing.] of virtue, the ground or reason for that obligation, recommendation, or praise, whether such ground be now sought in the nature of man, in the external circumstances of the world, or in anything else. As in all sciences, so in ethics, the ő, τι should be clearly distinguished from the διοτι. Most teachers of ethics, however, deliberately efface this difference, probably because the ő, τι is so easy to state, whereas the διοτι is so very difficult. Therefore compensation for the poverty on the one hand is gladly sought by the wealth on the other, and the attempt is made to effect a happy marriage between Πενια and Πορος ["Poverty" and "abundance." Cf. Plato's Symposium, 203b-204c.] by putting both together in one proposition. This is generally done not by expressing in its simplicity the well-known ő, τι, but by forcing it into an artificial formula from which it must be inferred only as the conclusion of given premises. The reader then feels as if he had come to know not merely the matter, but also the reason or ground of it. We can easily convince ourselves of this in most of the well-known principles of morals. But as I have no intention of using such tricks in the part that follows, I propose to proceed honestly, and not to admit the principle of ethics as, at the same time, its foundation; on the contrary, I intend to keep the two quite separate. Consequently, that ő, τι, and thus the principle, the fundamental proposition, concerning whose purport all teachers of ethics are really in agreement, however much they may clothe it in different forms, will here be reduced at once to that expression which I regard as the simplest and purest of all, thus: Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva. This is really the proposition whose establishment is the constant endeavor of all teachers of morals; this is the common result of their many different deductions. It is the ő, τι for which the διοτι is still always sought, the consequent for which the ground is required; thus it is itself only the datum to which the quaesitum is the problem of every ethical system, just as it is of the present prize essay. The solution to this problem will furnish the real foundation of ethics, one which, like the philosophers' stone, has been sought for thousands of years."
See also Nietzsche's notebooks: Summer-Fall 1884 26[85]; April—June 1885 34[239].] |
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Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie "es giebt in uns einen kategorischen Imperativ," kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: "was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann,—und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!"—kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte. |
Even apart from the value of such claims as "there is a categorical imperative in us," one can still always ask: what does such a claim tell us about the man who makes it? There are moralities which are meant to justify their creator before others. Other moralities are meant to calm him and lead him to be satisfied with himself. With yet others he wants to crucify himself and humiliate himself. With others he wants to wreak revenge, with others conceal himself, with others transfigure himself and place himself way up, at a distance. This morality is used by its creator to forget, that one to have others forget him or something about him. Some moralists want to vent their power and creative whims on humanity; some others, perhaps including Kant, suggest with their morality: "What deserves respect in me is that I can obey—and you ought not to be different from me."— In short, moralities are also merely a sign language of the affects. |
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Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die "Natur," auch gegen die "Vernunft": das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht,—des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht!—einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt—"um einer Thorheit willen," wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken,—"aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze," wie die Anarchisten sagen, die sich damit "frei," selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der "Tyrannei solcher Willkür-Gesetze" entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies "Natur" und "natürlich" sei—und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein "natürlichster" Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der "Inspiration,"—und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges—). Das Wesentliche, "im Himmel und auf Erden," wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit,—irgend etwas Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen,—all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich "die Natur," wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen—heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der "Etwas beweisen will"—, dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte , etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse "zu Ehren Gottes" und "zum Heil der Seele":—diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die "Natur" in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt,—welche die Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. "Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst"—dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder "kategorisch" ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das "sonst"—), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier "Mensch," an den Menschen. |
Every morality is, as opposed to laisser aller [letting things go], a bit of tyranny against "nature"; also against "reason"; but this in itself is no objection, as long as we do not have some other morality which permits us to decree that every kind of tyranny and unreason is impermissible. What is essential and inestimable in every morality is that it constitutes a long compulsion: to understand Stoicism or Port-Royal or Puritanism, one should recall the compulsion under which every language so far has achieved strength and freedom—the coercion of meter, the tyranny of rhyme and rhythm. How much trouble the poets and orators of all peoples have taken—not excepting a few prose writers today in whose ear there dwells an inexorable conscience—"for the sake of some foolishness," as utilitarian dolts say, feeling smart—"submitting abjectly to capricious laws," as anarchists say, feeling "free," even "free-spirited." But the curious fact is that all there is or has been on earth of freedom, subtlety, boldness, dance, and masterly sureness, whether in thought itself or in government, or in rhetoric and persuasion, in the arts just as in ethics, has developed only owing to the "tyranny of such capricious laws"; and in all seriousness, the probability is by no means small that precisely this is "nature" and "natural"—and not that laisser aller! Every artist knows how far from any feeling of letting himself go his "most natural" state is—the free ordering, placing, disposing, giving form in the moment of "inspiration"—and how strictly and subtly he obeys thousandfold laws precisely then, laws that precisely on account of their hardness and determination defy all formulation through concepts (even the firmest concept is, compared with them, not free of fluctuation, multiplicity, and ambiguity—). What is essential "in heaven and on earth" seems to be, to say it once more, that there should be obedience over a long period of time and in a single direction: given that, something always develops, and has developed, for whose sake it is worthwhile to live on earth; for example, virtue, art, music, dance, reason, spirituality—something transfiguring, subtle, mad, and divine. The long unfreedom of the spirit, the mistrustful constraint in the communicability of thoughts, the discipline thinkers imposed on themselves to think within the directions laid down by a church or court, or under Aristotelian presuppositions, the long spiritual will to interpret all events under a Christian schema and to rediscover and justify the Christian god in every accident—all this, however forced, capricious, hard, gruesome, and anti-rational, has shown itself to be the means through which the European spirit has been trained to strength, ruthless curiosity, and subtle motility, though admittedly in the process an irreplaceable amount of strength and spirit had to be crushed, stifled, and ruined (for here, as everywhere, "nature" manifests herself as she is, in all her prodigal and indifferent magnificence which is outrageous but noble). That for thousands of years European thinkers thought merely in order to prove something—today, conversely, we suspect every thinker who "wants to prove something"—that the conclusions that ought to be the result of their most rigorous reflection were always settled from the start, just as it used to be with Asiatic astrology, and still is today with the innocuous Christian-moral interpretation of our most intimate personal experiences "for the glory of God" and "for the salvation of the soul"—this tyranny, this caprice, this rigorous and grandiose stupidity has educated the spirit. Slavery is, as it seems, both in the cruder and in the more subtle sense, the indispensable means of spiritual discipline and cultivation [Zucht und Züchtung], too. Consider any morality with this in mind: what there is in it of "nature" teaches hatred of the laisser aller, of any all-too-great freedom, and implants the need for limited horizons and the nearest tasks—teaching the narrowing of our perspective, and thus in a certain sense stupidity, as a condition of life and growth. "You shall obey—someone and for a long time: else you will perish and lose the last respect for yourself"—this appears to me to be the moral imperative of nature which, to be sure, is neither "categorical" as the old Kant would have it (hence the "else") nor addressed to the individual (what do individuals matter to her?), but to people, races, ages, classes—but above all to the whole human animal, to man in general. |
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Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird:—als eine Art klug erfundenen, klug eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit—). Es muss Fasten von vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung.— Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst unter dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat. |
The industrious races find leisure very hard to endure: it was a masterpiece of English instinct to make Sunday so extremely holy and boring that the English unconsciously long again for their week- and working-days—as a kind of cleverly devised and cleverly intercalated fast, such as is also to be seen very frequently in the ancient world (although, as one might expect in the case of southern peoples, not precisely in regard to work—). There have to be fasts of many kinds; and wherever powerful drives and habits prevail legislators have to see to it that there are intercalary days on which such a drive is put in chains and learns to hunger again. Seen from a higher viewpoint, entire generations and ages, if they are infected with some moral fanaticism or other, appear to be such intercalated periods of constraint and fasting, during which a drive learns to stoop and submit, but also to purify and intensify itself; certain philosophical sects (for example the Stoa in the midst of the Hellenistic culture, with its air grown rank and overcharged with aphrodisiac vapors) likewise permit of a similar interpretation.— This also provides a hint towards the elucidation of that paradox why it was precisely during Europe's Christian period and only under the impress of Christian value judgments that the sexual drive sublimated itself into love (amour-passion [passionate love]). |
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Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war. "Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn notwendig—gut."— Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel, der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und eigentlich urtheilt "es ist dumm, schlecht zu handeln"; während er "gut" mit "nützlich und angenehm" ohne Weiteres als identisch nimmt. Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre gehn.— Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst—, er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in's Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht | [prosthe Platon opithen te Platon messe te chimaira: Paraphrase von Ilias VI, 181.] |
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There is something in Plato's morality which does not really belong to Plato but is only to be met with in his philosophy, one might say in spite of Plato: namely Socratism, for which he was really too noble. "No one wants to do injury to himself, therefore all badness is involuntary. For the bad man does injury to himself: this he would not do if he knew that badness is bad. Thus the bad man is bad only in consequence of an error; if one cures him of his error, one necessarily makes him—good [Plato: Meno 77b-78b; see also: Protagoras 345d-e and Gorgias 509e]."— This way of reasoning smells of the mob, which sees in bad behavior only its disagreeable consequences and actually judges "it is stupid to act badly"; while it takes "good" without further ado to be identical with "useful and pleasant." In the case of every utilitarian morality one may conjecture in advance a similar origin and follow one's nose: one will seldom go astray.— Plato did all he could to interpret something refined and noble into his teacher's proposition, above all himself—he, the most intrepid of interpreters, who picked up the whole of Socrates only in the manner of a popular tune from the streets, so as to subject it to infinite and impossible variations: that is, to make it into all his own masks and multiplicities. To speak in jest, and Homerically at that: what is the Platonic Socrates if not | [prosthe Platon opithen to Platon messe te chimaira (Plato in front and Plato behind, in the middle the Chimaera). An allusion to the Chimaera in Homer's Iliad, vi. 181: "lion in front, serpent behind, goat in the middle."] |
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Das alte theologische Problem von "Glauben" und "Wissen"—oder, deutlicher, von Instinkt und Vernunft—also die Frage, ob in Hinsicht auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem "Warum?", als nach Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will,—es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes—dem eines überlegenen Dialektikers—zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und Geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum Recht verhelfen,—man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Falschheit jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen Urtheile durchschaut.— Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft—der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte!—sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf "Gott"; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn,—das heisst, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, "der Glaube," oder wie ich es nenne, "die Heerde" gesiegt. Man müsse denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflächlich. |
The old theological problem of "faith" and "knowledge"—or, more clearly, of instinct and reason—that is to say, the question whether in regard to the evaluation of things instinct deserves to have more authority than rationality, which wants to evaluate and act according to reasons, according to a "Why?," that is to say according to utility and fitness for a purpose—this is still that old moral problem which first appeared in the person of Socrates and was already dividing the minds of men long before Christianity. Socrates himself, to be sure, had, with the taste appropriate to his talent—that of a superior dialectician—initially taken the side of reason; and what indeed did he do all his life long but laugh at the clumsy incapacity of his noble Athenians, who were men of instinct, like all noble men, and were never able to supply adequate information about the reasons for their actions? Ultimately, however, in silence and secrecy, he laughed at himself too: he found in himself, before his more refined conscience and self-interrogation, the same difficulty and incapacity. But why, he exhorted himself, should one therefore abandon the instincts! One must help both them and reason to receive their due—one must follow the instincts, but persuade reason to aid them with good arguments. This was the actual falsity of that great ironist, who had so many secrets; he induced his conscience to acquiesce in a sort of self-outwitting: fundamentally he had seen through the irrational aspect of moral judgment.— Plato, more innocent in such things and without the craftiness of the plebeian, wanted at the expenditure of all his strength—the greatest strength any philosopher has hitherto had to expend!—to prove to himself that reason and instinct move of themselves towards one goal, towards the good, towards "God"; and since Plato all theologians and philosophers have followed the same path—that is to say, in moral matters instinct, or as the Christians call it "faith," or as I call it "the herd" has hitherto triumphed. One might have to exclude Descartes, the father of rationalism (and consequently the grandfather of the Revolution), who recognized only the authority of reason: but reason is only an instrument, and Descartes was superficial. |
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Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist, der findet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der ältesten und gemeinsten Vorgänge alles "Wissens und Erkennens": dort wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute dumme Wille zum "Glauben," der Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst entwickelt,—unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz, feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein. Unserm Auge fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines Eindrucks bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft, mehr "Moralität." Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig; fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen, welche uns vertrauter und heimischer klingen: so machte sich zum Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den "einfachsten" Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass, eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit.— So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich abliest—er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und "erräth" den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn—, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgend einem Vorgange zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her—an's Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss.— In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines Sehvermögens hinausgeht:—die Feinheit des Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins. |
He who has followed the history of an individual science will find in its evolution a clue to the comprehension of the oldest and most common processes of all "knowledge and understanding": in both cases it is the premature hypotheses, the fictions, the good stupid will to "believe," the lack of mistrust and patience which are evolved first—it is only late, and then imperfectly, that our senses learn to be subtle, faithful, cautious organs of understanding. It is more comfortable for our eye to react to a particular object by producing again an image it has often produced before than by retaining what is new and different in an impression: the latter requires more strength, more "morality." To hear something new is hard and painful for the ear; we hear the music of foreigners badly. When we hear a foreign language we involuntarily attempt to form the sounds we hear into words which have a more familiar and homely ring: thus the Germans, for example, once heard arcubalista and adapted it into Armbrust. [Armbrust: literally, "arm-breast"; both words mean "crossbow."] The novel finds our senses, too, hostile and reluctant; and even in the case of the "simplest" processes of the senses, the emotions, such as fear, love, hatred, and the passive emotions of laziness, dominate.— As little as a reader today reads all the individual words (not to speak of the syllables) of a page—he rather takes about five words in twenty haphazardly and "conjectures" their probable meaning—just as little do we see a tree exactly and entire with regard to its leaves, branches, color, shape; it is so much easier for us to put together an approximation of a tree. Even when we are involved in the most uncommon experiences we still do the same thing: we fabricate the greater pan of the experience and can hardly be compelled not to contemplate some event as its "inventor." All this means: we are from the very heart and from the very first—accustomed to lying. Or, to express it more virtuously and hypocritically, in short more pleasantly: one is much more of an artist than one realizes. In a lively conversation I often see before me the face of the person with whom I am speaking so clearly and subtly determined by the thought he is expressing or which I believe has been called up in him that this degree of clarity far surpasses the power of my eyesight—so that the play of the muscles and the expression of the eyes must have been invented by me. Probably the person was making a quite different face or none whatever. |
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Quidquid luce fuit, tenebris agit: aber auch umgekehrt. Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas "wirklich" Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer, haben ein Bedürfniss mehr oder weniger und werden schliesslich am hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres wachen Geistes, ein Wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt. Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten beneidenswerthen Glücks: ein Solcher, der jede Art von Bogen und Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt, der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt, ein "nach, Oben" ohne Spannung und Zwang, ein "nach Unten" ohne Herablassung und Erniedrigung—ohne Schwere!—wie sollte der Mensch solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich auch für seinen wachen Tag das Wort "Glück" anders gefärbt und bestimmt finden! wie sollte er nicht anders nach Glück—verlangen? "Aufschwung," so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muss ihm, gegen jenes "Fliegen" gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft, gewaltsam, schon zu "schwer" sein. |
Quidquid luce fuit, tenebris agit [What occurred in the light, goes on in the dark. Cf. Petronius, Oeuvres complètes de Pétrone. Paris: Garnier, n.d., 163.]: but also the other way round. That which we experience in dreams, if we experience it often, is in the end just as much a part of the total economy of our soul as is anything we "really" experience: we are by virtue of it richer or poorer, feel one need more or one need fewer, and finally are led along a little in broad daylight and even in the most cheerful moments of our waking spirit by the habits of our dreams. Suppose someone has often flown in his dreams and finally as soon as he starts dreaming becomes conscious of a power and art of flying as if it were a privilege he possessed, likewise as his personal and enviable form of happiness: such a man as believes he can realize any arc and angle with the slightest impulse, as knows the feeling of a certain divine frivolity, a "going up" without tension or constraint, a "going down" without condescension or abasement—without gravity!—how should the man who knew such dream-experiences and dream-habits not find at last that the word "happiness" had a different color and definition in his waking hours too! How should he not have a different kind of—desire for happiness? "Soaring rapture" as the poets describe it must seem to him, in comparison with this "flying," too earthy, muscular, violent, too "grave." |
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Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit einander uneins sind:—sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen als wirkliches Haben und Besitzen eines Gutes gilt. In Betreff eines Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes Anzeichen des Habens, des Besitzens; ein Anderer, mit seinem argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das "Fragezeichen," das nur Scheinbare eines solchen Habens, und will feinere Proben, vor Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was sie hat oder gerne hätte—: so erst gilt es ihm als "besessen." Ein Dritter aber ist auch hier noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwollens, er fragt sich, ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für ein Phantom von ihm thut: er will erst gründlich, ja abgründlich gut gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich errathen zu lassen—. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr liebt, als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte ein Volk besitzen: und alle höheren Cagliostro- und Catilina-Künste sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein Anderer, mit einem feineren Besitzdurste, sagt sich "man darf nicht betrügen, wo man besitzen will"—, er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, dass eine Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet: "also muss ich mich kennen lassen und, vorerst, mich selbst kennen!" Unter hülfreichen und wohlthätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist fast regelmässig vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht: als ob er zum Beispiel Hülfe "verdiene," gerade nach ihrer Hülfe verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, unterwürfig beweisen werde,—mit diesen Einbildungen verfügen sie über den Bedürftigen wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem Verlangen nach Eigenthum überhaupt wohlthätige und hülfreiche Menschen sind. Man findet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches—sie nennen das "Erziehung"—, keine Mutter zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen Begriffen und Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester, der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu neuem Besitze. Woraus folgt ..... |
The diversity of men is revealed not only in the diversity of their tables of what they find good, that is to say in the fact that they regard diverse goods worth striving for and also differ as to what is more or less valuable, as to the order of rank of the goods they all recognize—it is revealed even more in what they regard as actually having and possessing what they find good. In regard to a woman, for example, the more modest man counts the simple disposal of her body and sexual gratification as a sufficient and satisfactory sign of having, of possession; another, with a more jealous and demanding thirst for possession, sees the "question mark," the merely apparent quality of such a having and requires subtler tests, above all in order to know whether the woman not only gives herself to him but also gives up for his sake what she has or would like to have—: only thus does she count to him as "possessed." A third, however, is not done with jealousy and desire for having even then; he asks himself whether, when the woman gives up everything for him, she does not perhaps do so for a phantom of him: he demands that she know him to the very heart before she is able to love him at all, he dares to let himself be unravelled—. He feels that his beloved is fully in his possession only when she no longer deceives herself about him but loves him as much for his devilry and hidden insatiability as she does for his goodness, patience and spirituality. One would like to possess a people: and all the higher arts of a Cagliostro [Count Alessandro di Cagliostro (born Giuseppe Balsamo 1743-95): Italian alchemist and adventurer] and Catiline [Lucius Sergius Catilina (108?-62 BC): Roman conspirator, defeated by Cicero in an attempt to be Roman consul] seem to him right for that end. Another, with a more refined thirst for possession, says to himself—"one may not deceive where one wants to possess"—he is irritated and dissatisfied at the idea that it is a mask of him which rules the hearts of the people: "so I must let myself be known and, first of all, know myself!" Among helpful and charitable people one almost always finds that clumsy deceitfulness which first adjusts and adapts him who is to be helped: as if, for example, he "deserved" help, desired precisely their help, and would prove profoundly grateful, faithful and submissive to them in return for all the help he had received with these imaginings they dispose of those in need as if they were possessions, and are charitable and helpful at all only from a desire for possessions. They are jealous if one frustrates or anticipates them when they want to help. Parents involuntarily make of their child something similar to themselves they call it "education"—and at the bottom of her heart no mother doubts that in her child she has borne a piece of property, no father disputes his right to subject it to his concepts and values. Indeed, in former times (among the ancient Germans, for instance) it seemed proper for fathers to possess power of life or death over the newborn and to use it as they thought fit. And as formerly the father, so still today the teacher, the class, the priest, the prince unhesitatingly see in every new human being an opportunity for a new possession. From which it follows ..... |
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Die Juden—ein Volk "geboren zur Sklaverei," wie Tacitus [Historiae. V, 8] und die ganze antike Welt sagt, "das auserwählte Volk unter den Völkern," wie sie selbst sagen und glauben—die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat:—ihre Propheten haben "reich" "gottlos" "böse" "gewaltthätig" "sinnlich" in Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort "Welt," zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe (zu der es gehört, das Wort für "Arm" als synonym mit "Heilig" und "Freund" zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral. |
The Jews—a people "born into slavery" as Tacitus [Historiae. V, 8] and the whole ancient world says, "the chosen people" as they themselves say and believe—the Jews achieved that miracle of inversion of values thanks to which life on earth has for a couple of millennia acquired a new and dangerous fascination—their prophets fused "rich," "godless," "evil," "violent," "sensual" into one and were the first to coin the word "world" as a term of infamy. It is in this inversion of values (with which is involved the employment of the word for "poor" as a synonym of "holy" and "friend") that the significance of the Jewish people resides: with them there begins the slave revolt in morality. |
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Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschliessen,—solche die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein Gleichniss; und ein Moral-Psycholog liest die gesammte Sternenschrift nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache, mit der sich Vieles verschweigen lässt. |
It is to be inferred that there exist countless dark bodies close to the sun—such as we shall never see. This is, between ourselves, a parable; and a moral psychologist reads the whole starry script only as a parable and sign-language by means of which many things can be kept secret. |
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Man missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die "Natur," so lange man noch nach einer "Krankhaftigkeit" im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen eingeborenen "Hölle"—: wie es bisher fast alle Moralisten gethan haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen giebt? Und dass der "tropische Mensch" um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung? Warum doch? Zu Gunsten der "gemässigten Zonen"? Zu Gunsten der gemässigten Menschen? Der "Moralischen"? Der Mittelmässigen?— Dies zum Kapitel "Moral als Furchtsamkeit." — |
One altogether misunderstands the beast of prey and man of prey (Cesare Borgia [Cesare Borgia (1475?-1507): Italian cardinal, soldier, statesman, and Duke of the Romagna] for example), one misunderstands "nature," so long as one looks for something "sick" at the bottom of these healthiest of all tropical monsters and growths, or even for an inborn "hell" in them—: as virtually all moralists have done hitherto. It seems, does it not, that there exists in moralists a hatred for the jungle and the tropics? And that the "tropical man" has to be discredited at any cost, whether as the sickness and degeneration of man or as his own hell and self-torment? But why? For the benefit of "temperate zones"? The benefit of temperate men? Of the "moral"? Of the mediocre? This for the chapter "Morality as Timidity." — |
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Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres "Glückes," wie es heisst,—was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und grosse Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und unvernünftig—weil sie sich an "Alle" wenden, weil sie generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf—, allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem "nach der anderen Welt": Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht "Wissenschaft," geschweige denn "Weisheit," sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit,—sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen—denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass .....; zuletzt selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig- leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es "wenig Gefahr mehr hat." Auch Dies zum Kapitel "Moral als Furchtsamkeit." |
All these moralities which address themselves to the individual person, for the promotion of his "happiness" as they say what are they but prescriptions for behavior in relation to the degree of perilousness in which the individual person lives with himself; recipes to counter his passions, his good and bad inclinations in so far as they have will to power in them and would like to play the tyrant; great and little artifices and acts of prudence to which there clings the nook-and-cranny odor of ancient household remedies and old-woman wisdom; one and all baroque and unreasonable in form—because they address themselves to "all," because they generalize where generalization is impermissible—speaking unconditionally one and all, taking themselves for unconditional, flavored with more than one grain of salt, indeed tolerable only, and occasionally even tempting, when they learn to smell overspiced and dangerous, to smell above all of "the other world": all this is, from an intellectual point of view, of little value and far from constituting "science," not to speak of "wisdom," but rather, to say it again and to say it thrice, prudence, prudence, prudence, mingled with stupidity, stupidity, stupidity—whether it be that indifference and statuesque coldness towards the passionate folly of the emotions which the Stoics advised and applied; or that no-more-laughing and no-more-weeping of Spinoza, that destruction of the emotions through analysis and vivisection which he advocated so naively; or that depression of the emotions to a harmless mean at which they may be satisfied, the Aristotelianism of morality; even morality as enjoyment of the emotions in a deliberate thinning down and spiritualization through the symbolism of art, as music for instance, or as love of God or love of man for the sake of God—for in religion the passions again acquire civic rights, assuming that .....; finally, even that easygoing and roguish surrender to the emotions such as Hafis [Mohammad Shams od-Din Hafez (1325?-1390?): Persian poet who inspired Goethe's West-Östlicher Divan (West-East Divan)] and Goethe taught, that bold letting fall of the reins, that spiritual-physical licentia morum [moral licentiousness] in the exceptional case of wise old owls and drunkards for whom there is "no longer much risk in it." This too for the chapter "Morality as Timidity." |
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Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender,—in Anbetracht also, dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass durchschnittlich jetzt einem jeden das Bedürfniss darnach angeboren ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: "du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen," kurz "du sollst." Dies Bedürfniss sucht sich zu sättigen und seine Form mit einem Inhalte zu füllen; es greift dabei, gemäss seiner Stärke, Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden—Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen—in's Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass der Heerden-Instinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die Befehlshaber und Unabhängigen; oder sie leiden innerlich am schlechten Gewissen und haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa: ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen, zum Beispiel als "erste Diener ihres Volks" oder als "Werkzeuge des gemeinen Wohls." Auf der anderen Seite giebt sich heute der Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber, wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleon's machte, das letzte grosse Zeugniss:—die Geschichte der Wirkung Napoleon's ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat. |
Inasmuch as at all times, as long as there have been human beings, there have also been herds of men (clans, communities, tribes, peoples, states, churches) and always a great many people who obeyed, compared with the small number of those commanding—considering, then, that nothing has been exercised and cultivated better and longer among men so far than obedience—it may fairly be assumed that the need for it is now innate in the average man, as a kind of formal conscience that commands: "thou shalt unconditionally do something, unconditionally not do something else," in short, "thou shalt." This need seeks to satisfy itself and to fill its form with some content. According to its strength, impatience, and tension, it seizes upon things as a rude appetite, rather indiscriminately, and accepts whatever is shouted into its ears by someone who issues commands—parents, teachers, laws, class prejudices, public opinions. The strange limits of human development, the way it hesitates, takes so long, often turns back, and moves in circles, is due to the fact that the herd instinct of obedience is inherited best, and at the expense of the art of commanding. If we imagine this instinct progressing for once to its ultimate excesses, then those who command and are independent would eventually be lacking altogether; or they would suffer secretly from a bad conscience and would find it necessary to deceive themselves before they could command—as if they, too, merely obeyed. This state is actually encountered in Europe today: I call it the moral hypocrisy of those commanding. They know no other way to protect themselves against their bad conscience than to pose as the executors of more ancient or higher commands (of ancestors, the constitution, of right, the laws, or even of God). Or they even borrow herd maxims from the herd's way of thinking, such as "first servants of the people" or "instruments of the common weal." On the other side, the herd man in Europe today gives himself the appearance of being the only permissible kind of man, and glorifies his attributes, which make him tame, easy to get along with, and useful to the herd, as if they were the truly human virtues: namely, public spirit, benevolence, consideration, industriousness, moderation, modesty, indulgence, and pity. In those cases, however, where one considers leaders and bellwethers indispensable, people today make one attempt after another to add together clever herd men by way of replacing commanders: all parliamentary constitutions, for example, have this origin. Nevertheless, the appearance of one who commands unconditionally strikes these herd-animal Europeans as an immense comfort and salvation from a gradually intolerable pressure, as was last attested in a major way by the effect of Napoleon's appearance. The history of Napoleon's reception is almost the history of the higher happiness attained by this whole century in its most valuable human beings and moments. |
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Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse, welche mit einander kämpfen und sich selten Ruhe geben,—ein solcher Mensch der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als "Sabbat der Sabbate," um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war.— Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr—, und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alciblades und Caesar (—denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt: beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen. |
The man of an era of dissolution which mixes the races together and who therefore contains within him the inheritance of a diversified descent, that is to say contrary and often not merely contrary drives and values which struggle with one another and rarely leave one another in peace—such a man of late cultures and broken lights will, on average, be a rather weak man: his fundamental desire is that the war which he is should come to an end; happiness appears to him, in accord with a sedative (for example Epicurean or Christian) medicine and mode of thought, pre-eminently as the happiness of repose, of tranquillity, of satiety, of unity at last attained, as a "Sabbath of Sabbaths," to quote the holy rhetorician Augustine [City of God, book XXII, section 30], who was himself such a man.— If, however, the contrariety and war in such a nature should act as one more stimulus and enticement to life—and if, on the other hand, in addition to powerful and irreconcilable drives, there has also been inherited and cultivated a proper mastery and subtlety in conducting a war against oneself, that is to say self-control, self-outwitting: then there arise those marvelously incomprehensible and unfathomable men, those enigmatic men predestined for victory and the seduction of others, the fairest examples of which are Alcibiades [Alcibiades (450-404 BC): Athenian general, statesman, and pupil of Socrates] and Caesar (—to whom I should like to add that first European agreeable to my taste, the Hohenstaufen Friedrich II [Frederick II (1194-1250): Medieval German emperor (1215-50).]), and among artists perhaps Leonardo da Vinci. They appear in precisely the same ages as those in which that rather weak type with his desire for rest comes to the fore: the two types belong together and originate in the same causes. |
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So lange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurtheilen herrscht, allein die Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht wird, was dem Gemeinde-Bestand gefährlich scheint: so lange kann es noch keine "Moral der Nächstenliebe" geben. Gesetzt, es findet sich auch da bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden, Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfeleistung, gesetzt, es sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe thätig, welche später mit Ehrennamen, als "Tugenden" bezeichnet werden und schliesslich fast mit dem Begriff "Moralität" in Eins zusammenfallen: in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich der moralischen Werthschätzungen—sie sind noch aussermoralisch. Eine mitleidige Handlung zum Beispiel heisst in der besten Römerzeit weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie selbst gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine Art unwilliger Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der res publica, dient. Zuletzt ist die "Liebe zum Nächsten" immer etwas Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältniss zur Furcht vor dem Nächsten. Nachdem das Gefüge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schafft. Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt unter anderen Namen, wie billig, als den eben gewählten sondern gross-gezogen und -gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden—jetzt, wo die Abzugskanäle für sie fehlen—und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam, zerbricht: folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nöthigung immer mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn; und jetzt beginnt jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen zu stören; eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, "das Lamm," noch mehr "das Schlaf" gewinnt an Achtung. Es giebt einen Punkt von krankhafter Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo sie selbst für ihren Schädiger, den Verbrecher Partei nimmt, und zwar ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint ihr irgendworin unbillig,—gewiss ist, dass die Vorstellung "Strafe" und "Strafen-Sollen" ihr wehe thut, ihr Furcht macht. "Genügt es nicht, ihn ungefährlich machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!"—mit dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschafft: sie wäre nicht mehr nöthig, sie hielte sich selbst nicht mehr für nöthig!— Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: "wir wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten giebt!" Irgendwann einmal—der Wille und Weg dorthin heisst heute in Europa überall der "Fortschritt." |
So long as the utility which dominates moral value-judgments is solely that which is useful to the herd, so long as the object is solely the preservation of the community and the immoral is sought precisely and exclusively in that which seems to imperil the existence of the community: so long as that is the case there can be no "morality of love of one's neighbor." Supposing that even there a constant little exercise of consideration, pity, fairness, mildness, mutual aid was practiced, supposing that even at that stage of society all those drives are active which are later honorably designated "virtues" and are finally practically equated with the concept "morality": in that era they do not yet by any means belong to the domain of moral valuations—they are still extra-moral. An act of pity, for example, was during the finest age of Rome considered neither good nor bad, neither moral nor immoral; and even if it was commended, this commendation was entirely compatible with a kind of involuntary disdain, as soon, that is, as it was set beside any action which served the welfare of the whole, of the res publica [commonwealth]. Ultimately "love of one's neighbor" is always something secondary, in part conventional and arbitrarily illusory, when compared with fear of one's neighbor. Once the structure of society seems to have been in general fixed and made safe from external dangers, it is this fear of one's neighbor which again creates new perspectives of moral valuation. There are certain strong and dangerous drives, such as enterprisingness, foolhardiness, revengefulness, craft, rapacity, ambition, which hitherto had not only to be honored from the point of view of their social utility—under different names, naturally, from those chosen here—but also mightily developed and cultivated (because they were constantly needed to protect the community as a whole against the enemies of the community as a whole); these drives are now felt to be doubly dangerous—now that the diversionary outlets for them are lacking—and are gradually branded as immoral and given over to calumny. The antithetical drives and inclinations now come into moral honor; step by step the herd instinct draws its conclusions. How much or how little that is dangerous to the community, dangerous to equality, resides in an opinion, in a condition or emotion, in a will, in a talent, that is now the moral perspective: here again fear is the mother of morality. When the highest and strongest drives, breaking passionately out, carry the individual far above and beyond the average and lowlands of the herd conscience, the self-confidence of the community goes to pieces, its faith in itself, its spine as it were, is broken: consequently it is precisely these drives which are most branded and calumniated. Lofty spiritual independence, the will to stand alone, great intelligence even, are felt to be dangerous; everything that raises the individual above the herd and makes his neighbor quail is henceforth called evil; the fair, modest, obedient, self-effacing disposition, the average in desires, acquires moral names and honors. Eventually, under very peaceful conditions, there is less and less occasion or need to educate one's feelings in severity and sternness; and now every kind of severity, even severity in justice, begins to trouble the conscience; a stern and lofty nobility and self-responsibility is received almost as an offense and awakens mistrust, "the lamb," even more "the sheep," is held in higher and higher respect. There comes a point of morbid mellowing and over-tenderness in the history of society at which it takes the side even of him who harms it, the criminal, and does so honestly and wholeheartedly. Punishment: that seems to it somehow unfair—certainly the idea of "being punished" and "having to punish" is unpleasant to it, makes it afraid. "Is it not enough to render him harmless? why punish him as well? To administer punishment is itself dreadful!" with this question herd morality, the morality of timidity, draws its ultimate conclusion. Supposing all danger, the cause of fear, could be abolished, this morality would therewith also be abolished: it would no longer be necessary, it would no longer regard itself as necessary!— He who examines the conscience of the present-day European will have to extract from a thousand moral recesses and hiding-places always the, same imperative, the imperative of herd timidity: "we wish hat there will one day no longer be anything to fear!" One day everywhere in Europe the will and way to that day is now called "progress." |
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Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt haben: denn die Ohren sind für solche Wahrheiten—für unsere Wahrheiten—heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet; aber es wird beinahe als Schuld uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die Menschen der "modernen Ideen" beständig die Ausdrücke "Heerde," "Heerden-Instinkte" und dergleichen gebrauchen. Was hilft es! Wir können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa's Einfluss herrscht: man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhiess,—man "weiss" heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von Neuem darauf bestehn: was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der Instinkt des Heerdenthiers Mensch: als welcher zum Durchbruch, zum Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral:—also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche "Möglichkeit," gegen ein solches "Sollte" wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich "ich bin die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!"—ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die "freie Gesellschaft" wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe "Herr" und "Knecht"—ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel—); Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen jedes Recht: denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr "Rechte"—); Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der nothwendigen Folge aller früheren Gesellschaft wäre—); aber ebenso Eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu "Gott":—die Ausschweifung eines "Mitleidens mit Gott" gehört in ein demokratisches Zeitalter—); Eins allesammt im Schrei und der Ungeduld des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden lassen zu können; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus bedroht scheint; Eins im Glauben an die Moral des gemeinsamen Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die erreichte Höhe des Menschen, die alleinige Hoffnung der Zukunft, das Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von Ehedem:—Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die Erlöserin, an die Heerde also, an sich ..... |
Let us immediately say once more what we have already said a hundred times, for today's ears resist such truths—our truths. We know well enough how insulting it sounds when anybody counts man, unadorned and without metaphor, among the animals; but it will be charged against us as almost a guilt that precisely for the men of "modern ideas" we constantly employ such expressions as "herd," "herd instincts," and so forth. What can be done about it? We cannot do anything else; for here exactly lies our novel insight. We have found that in all major moral judgments Europe is now of one mind, including even the countries dominated by the influence of Europe: plainly, one now knows in Europe what Socrates thought he did not know and what that famous old serpent once promised to teach—today one "knows" what is good and evil. Now it must sound harsh and cannot be heard easily when we keep insisting: that which here believes it knows, that which here glorifies itself with its praises and reproaches, calling itself good, that is the instinct of the herd animal, man, which has scored a breakthrough and attained prevalence and predominance over other instincts—and this development is continuing in accordance with the growing physiological approximation and assimilation of which it is the symptom. Morality in Europe today is herd animal morality—in other words, as we understand it, merely one type of human morality beside which, before which, and after which many other types, above all higher moralities, are, or ought to be, possible. But this morality resists such a "possibility," such an "ought" with all its power: it says stubbornly and inexorably, "I am morality itself, and nothing besides is morality." Indeed, with the help of a religion which indulged and flattered the most sublime herd-animal desires, we have reached the point where we find even in political and social institutions an even more visible expression of this morality: the democratic movement is the heir of the Christian movement. But there are indications that its tempo is still much too slow and sleepy for the impatient, for the sick, the sufferers of the instinct mentioned: witness the ever madder howling of the anarchist dogs who are baring their fangs more and more obviously and roam through the alleys of European culture. They seem opposites of the peacefully industrious democrats and ideologists of revolution, and even more so of the doltish philosophasters and brotherhood enthusiasts who call themselves socialists and want a "free society"; but in fact they are at one with the lot in their thorough and instinctive hostility to every other form of society except that of the autonomous herd (even to the point of repudiating the very concepts of "master" and "servant"—ni dieu ni maître runs a socialist formula). ["Neither God nor Master." Title of a journal edited by French communist and revolutionary Louis Auguste Blanqui (1805-81), et. al.: Ni Dieu ni Maître. Paris 1880-81.] They are at one in their tough resistance to every special claim, every special right and privilege (which means in the last analysis, every right: for once all are equal nobody needs "rights" any more). They are at one in their mistrust of punitive justice (as if it were a violation of those who are weaker, a wrong against the necessary consequence of all previous society). But they are also at one in the religion of pity, in feeling with all who feel, live, and suffer (down to the animal, up to "God"—the excess of a "pity without God" belongs in a democratic age). They are at one, the lot of them, in the cry and the impatience of pity [des Mitleidens], in their deadly hatred of suffering [das Leiden] generally, in their almost feminine inability to remain spectators, to let someone suffer. They are at one in their involuntary plunge into gloom and unmanly tenderness under whose spell Europe seems threatened by a new Buddhism. They are at one in their faith in the morality of shared pity, as if that were morality in itself, being the height, the attained height of man, the sole hope of the future, the consolation of present man, the great absolution from all former guilt. They are at one, the lot of them, in their faith in the community as the redeemer, in short, in the herd, in "themselves" ..... |
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Wir, die wir eines andren Glaubens sind—, wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen?— Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und "ewige Werthe" umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher "Geschichte" hiess, ein Ende zu machen—der Unsinn der "grössten Zahl" ist nur seine letzte Form—: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor unsern Augen schwebt:—darf ich es laut sagen, ihr freien Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen, theils ausnützen müsste; die muthmaasslichen Wege und Proben, vermöge deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den Zwang zu diesen Aufgaben zu empfinden; eine Umwerthung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge; andererseits die Nothwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen und entarten könnten—das sind unsre eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister? das sind die schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unseres Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete: wer aber das seltene Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass "der Mensch" selbst entartet, wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte—ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein "Finger Gottes" mitspielte!—wer das Verhängniss, erräth, das in der blödsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der "modernen Ideen," noch mehr in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen lässt,—er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat:—er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr "Mensch der Zukunft" erscheint,—als ihr Ideal!—diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der "freien Gesellschaft"), diese Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen,—und vielleicht auch eine neue Aufgabe! .... |
We have a different faith; to us the democratic movement is not only a form of the decay of political organization but a form of the decay, namely the diminution of man, making him mediocre [Vermittelmässigung] and lowering his value. Where, then, must we reach with our hopes?— Toward new philosophers; there is no choice; toward spirits strong and original enough to provide the stimuli for opposite valuations and to revalue and invert "eternal values"; toward forerunners, toward men of the future who in the present tie the knot and constraint that forces the will of millennia upon new tracks. To teach man the future of man as his will, as dependent on a human will, and to prepare great ventures and overall attempts of discipline and cultivation by way of putting an end to that gruesome domination of nonsense and accident that has so far been called "history"—the nonsense of the "greater number" is merely its ultimate form: at some time new types of philosophers and commanders will be necessary for that, and whatever has existed on earth of concealed, terrible, and benevolent spirits, will look pale and dwarfed by comparison. It is the image of such leaders that we envisage: may I say this out loud, you free spirits? The conditions that one would have partly to create and partly to exploit for their genesis; the probable ways and tests that would enable a soul to grow to such a height and force that it would feel the compulsion for such tasks; a revaluation of values under whose new pressure and hammer a conscience would be steeled, a heart turned to bronze, in order to endure the weight of such responsibility; on the other hand, the necessity of such leaders, the frightening danger that they might fail to appear or that they might turn out badly or degenerate—these are our real worries and gloom—do you know that, you free spirits?—these are the heavy distant thoughts and storms that pass over the sky of our life. There are few pains so irritable as to have once seen, divined, sympathized when an extraordinary human being strayed from his path and degenerated. But whoever has the rare eye for the overall danger that "man" himself is degenerating, who, like us, has recognized the monstrous fortuity that thus far has been at play regarding the future of man—a game in which no hand, and not even "God's finger" took part as a player!—who divines the calamity that lies concealed in the absurd guilelessness and blind confidence of "modern ideas" and even more in the entire Christian-European morality: this person suffers from an anxiety that cannot be compared to any other; with a single glance he sees everything that could be bred from mankind, given a favorable accumulation and increase of forces and tasks; he knows with all the knowledge of his conscience how man is still unexhausted for the greatest possibilities and how often the human type has already confronted enigmatic decisions and new paths:—he knows better yet, from his most painful memory, what wretched things have hitherto usually caused an evolving being of the highest rank to shatter, break apart, sink down, became wretched. The overall degeneration of man down to what today appears to the socialist dolts and flatheads as their "man of the future"—as their ideal—this degeneration and diminution of man into the perfect herd animal (or, as they say, to the man of the "free society"), this animalization of man into the dwarf animal of equal rights and claims, is possible, there is no doubt of it. Anyone who has once thought through this possibility to the end knows one kind of nausea that other men don't know—but perhaps also a new task! .... |
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