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The Will to Power
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Herbst 1887 9 [101-190]

9 [101]

NB. Dieser lernt die Menschen kennen,—er will dergestalt kleine Vortheile über sie erschnappen (oder große wie der Politiker). Jener lernt die Menschen kennen,—er will einen noch größeren Vortheil, sich ihnen überlegen zu fühlen, er wünscht zu verachten.

9 [102]

(70)

Aesthetica.

 

Die Zustände, in denen wir eine Verklärung u[nd] Fülle in die Dinge legen und an ihnen dichten, bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln:

der Geschlechtstrieb
der Rausch
die Mahlzeit
der Frühling
der Sieg über den Feind, der Hohn:
das Bravourstück: die Grausamkeit; die Ekstase des religiösen Gefühls.

Drei Elemente vornehmlich:

der Geschlechtstrieb, der Rausch, die Grausamkeit: alle zur ältesten Festfreude des Menschen gehörend: alle insgleichen im anfänglichen “Künstler” überwiegend.

Umgekehrt: treten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das animalische Dasein mit einer Erregung jener Sphären, wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben:—und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der aesthetische Zustand. Letzterer tritt nur bei solchen Naturen ein, welche jener abge[ben]den und überströmenden Fülle des leiblichen vigor überhaupt fähig sind; in ihm ist immer das primum mobile. Der Nüchterne, der Müde, der Erschöpfte, der Vertrocknete (z.B. ein Gelehrter) kann absolut nichts von der Kunst empfangen, weil er die künstlerische Urkraft, die Nöthigung des Reichthums nicht hat: wer nicht geben kann, empfängt auch nichts.

Vollkommenheit”: in jenen Zuständen (bei der Geschlechtsliebe in Sonderheit usw.) verräth sich naiv, was der tiefste Instinkt als das Höhere, Wünschbarere, Werthvollere überhaupt anerkennt, die Aufwärtsbewegung seines Typus; insgleichen nach welchem Status er eigentlich strebt. Die Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der Reichthum, das nothwendige Überschäumen über alle Ränder ...



Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche; andererseits eine Anregung der animalischen Funktionen durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens;—eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.



In wiefern kann auch das Häßliche noch diese Gewalt haben? Insofern es noch von der siegreichen Energie des Künstlers etwas mittheilt, der über dies Häßliche und Furchtbare Herr geworden ist; oder insofern es die Lust der Grausamkeit in uns leise anregt (unter Umständen selbst die Lust, uns wehe zu thun, die Selbstvergewaltigung: und damit das Gefühl der Macht über uns.)

9 [103]

NB Wenn man krank ist, so soll man sich verkriechen, in irgend eine “Höhle”: so hat es die Vernunft für sich, so allein ist es thierisch.

9 [104]

“ich will das und das”; “ich möchte, daß das und das so wäre”; “ich weiß, daß das und das so ist.”—die Kraftgrade: der Mensch des Willens, der Mensch des Verlangens, der Mensch des Glaubens

9 [105]

(71)

 Zum Plan.

 

NB. 1) über alle wesentlichen Zeiten, Völker, Menschen und Probleme ein Wort.

2) hundert gute Anekdoten, womöglich historisch.

3) kriegerisch, abenteuerlich, verfänglich

4) einige Stellen einer schwermüthigen Heiterkeit

5) des Verkannten und Verleumdeten Fürsprecher (—des Verrufenen ...)

6) langsam, irreführend, Labyrinth

7) Minotauros, Katastrophe (der Gedanke, dem man Menschenopfer bringen müsse—je mehr, desto besser!)

9 [106]

(71)      Unsre psychologische Optik ist dadurch bestimmt

1) daß Mittheilung nöthig ist, und daß zur Mittheilung etwas fest, vereinfacht, präcisirbar sein muß (vor allem im identischen Fall ...) Damit es aber mittheilbar sein kann, muß es zurechtgemacht empfunden werden, als “wieder erkennbar.” Das Material der Sinne vom Verstande zurechtgemacht, reduzirt auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumirt unter Verwandtes. Also: die undeutlichkeit und das Chaos des Sinneneindrucks wird gleichsam logisirt.

2) die Welt der “Phänomene” ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die “Realität” liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisirten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen. berechnen können.

3) der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht “die wahre Welt,” sondern die formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos,—also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns “unerkennbare.”

4) Fragen, wie die “Dinge an sich” sein mögen, ganz abgesehn von unserer Sinnen-Receptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge giebt? Die “Dingheit” ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele Art[en] geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen—und ob nicht dieses Schaffen, Logisiren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantirte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was “Dinge setzt,” allein real ist; und ob nicht die, “Wirkung der äußeren Welt auf uns” auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist ...

“Ursache und Wirkung” falsche Auslegung eines Kriegs und eines relativen Siegs

die anderen “Wesen” agiren auf uns; unsere zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen; eine Art Defensiv-Maßregel.

Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte giebt—daß “Objekt” nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein modus des Subjekts

9 [107]

(72)

Entwicklung des Pessimismus zum Nihilism.

 

Entnatürlichung der Werthe. Scholastik der Werthe. Die Werthe, lösgelöst, idealistisch, statt das Thun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend gegen das Thun.

Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich

Die verworfene Welt, Angesichts einer künstlich erbauten, “wahren, werthvollen”

Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die “wahre Welt” gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Conto ihrer Verwerflichkeit

Damit ist der Nihilism da: man hat die richtenden Werthe übrig behalten—und nichts weiter!

Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:

1) die Schwachen zerbrechen daran
2) die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht
3) die Stärksten überwinden die richtenden Werthe.
das zusammen macht das tragische Zeitalter aus

Zur Kritik des Pessimism.

Das “Übergewicht von Leid über Lust” oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum N[ihilismus] nihilistisch ...

denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.

Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen:—für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebellsachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthighaben dieses Übergewichts

“Das Leben lohnt sich nicht”; “Resignation” “warum sind die Thränen? ...”— eine schwächliche und sentimentale Denkweise. “un monstre gai vaut mieux qu’un sentimental ennuyeux.” [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. Paris: G. Charpentier, 1882:101. Vgl. 4. November 1887, Brief an Heinrich Köselitz: "Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche canaille; aber ich bin der Meinung Galiani's: 'un monstre gai vaut mieux / qu'un sentimental ennuyeux.' Voltaire ist nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann ..."]

Der Pessimismus der Thatkräftigen: das “wozu?” nach einem furchtbaren Ringen, selbst Siegen. Daß irgend Etwas hundert Mal wichtiger ist, als die Frage, ob wir uns wohl oder schlecht befinden: Grundinstinkt aller starken Naturen—und folglich auch, ob sich die Anderen gut oder schlecht befinden. Kurz, daß wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die große Leidenschaft.

9 [108]

Das “Subjekt” ist ja nur eine Fiktion; es giebt das Ego gar nicht, von dem geredet wird, wenn man den Egoism tadelt.

9 [109]

(73)      NB. den Juden Muth zu machen zu neuen Eigenschaften, nachdem sie in neue Daseinsbedingungen übergetreten sind: so war es meinem Instinkte allein gemäß, und auf diesem Wege habe ich mich auch durch eine giftträgerische Gegenbewegung, die jetzt gerade obenauf ist, nicht irre machen lassen.

9 [110]
[Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 7.]

(74)      Das Beschreibende, das Pittoreske als Symptome des Nihilism (in Künsten und in der Psychologie)

Keine Colportage-Psychologie treiben! Nie beobachten, um zu beobachten! Das giebt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertriebenes. Erleben als Erlebenwollen; es geräth nicht, wenn man nach sich selbst dabei hinblickt; der geborene Psycholog hütet sich, wie der geborene Maler, zu sehn, um zu sehn; er arbeitet nie “nach der Natur”—er überläßt das Durchsieben und Ausdrücken des Erlebten, des “Falls,” der “Natur” seinem Instinkt,—das Allgemeine kommt ihm als solches zum Bewußtsein, nicht das willkürliche Abstrahiren von bestimmten Fällen. Wer es anders macht, wie die beutegierigen romanciers in Paris, welche gleichsam der Wirklichkeit auflauern und jeden Tag eine Handvoll Kuriositäten nach Hause bringen: was wird schließlich daraus? Ein Mosaik besten Falls, etwas Zusammenaddirtes, Farbenschreiendes, Unruhiges (wie bei den Frères de Goncourt).— [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire 1862-1865. Paris: Charpentier, 1887.] Die “Natur,” im künstlerischen Sinne gesprochen, ist niemals “wahr”; sie übertreibt, sie verzerrt, sie läßt Lücken. Das “Studium nach der Natur” ist ein Zeichen von Unterwerfung, von Schwäche, eine Art Fatalism, die eines Künstlers unwürdig ist. Sehen, was ist—das gehört einer spezifisch anderen Art von Geistern zu, den Thatsächlichen, den Feststellern: hat man diesen Sinn in aller Stärke entwickelt, so ist er anti-künstlerisch an sich.

Die descriptive Musik; der Wirklichkeit es überlassen, zu wirken ...

Alle diese Art[en] Kunst sind leichter, nachmachbarer; nach ihnen greifen die Gering-Begabten. Appell an die Instinkte; suggestive Kunst.

9 [111]

Wagner,  ein  Stück  Aberglaube  schon  bei  Lebzeiten,  hat  sich  inzwischen  so  in die Wolk[en] des unwahrscheinlichen eingewickelt, daß in Bezug auf ihn nur das Paradoxe noch Glaube findet

9 [112]

(75)      Ob nicht der Gegensatz des Aktiven und Reactiven hinter jenem Gegensatz von Classisch und Romantisch verborgen liegt? ...

9 [113]

NB manche Schicksale muß man hinuntertrinken, ohne sie anzusehn: das verbessert, wie beim Maté-Trinken, ihren Geschmack.

9 [114]

NB jene Art des Egoismus, welche uns treibt, etwas um des Nächsten willen zu thun und zu lassen

9 [115]

(76)      Zu erwägen:

Das vollkommene Buch. —

1) die Form, der Stil

Ein idealer Monolog. Alles Gelehrtenhafte aufgesaugt in die Tiefe

alle Accente der tiefen Leidenschaft, Sorge, auch der Schwächen, Milderungen, Sonnenstellen,—das kurze Glück, die sublime Heiterkeit —

Überwindung der Demonstration; absolut persönlich. Kein “ich” ...

eine Art mémoires; die abstraktesten Dinge am leibhaftesten und blutigsten

die ganze Geschichte wie persönlich erlebt und erlitten (—so allein wird’s wahr)

gleichsam ein Geistergespräch; eine Vorforderung, Herausforderung, Todtenbeschwörung

möglichst viel Sichtbares, Bestimmtes, Beispielsweises, Vorsicht vor Gegenwärtigem. alles Zeitgemäße

Vermeiden der Worte “vornehm” und überhaupt aller Worte, worin eine Selbst-In-Scenesetzung liegen könnte.

Nicht “Beschreibung”; alle Probleme ins Gefühl, übersetzt, bis zur Passion —



2) Sammlung ausdrücklicher Worte. Vorzug für militärische W[orte].

Ersatzworte für die philosophischen Termini: womöglich deutsch und zur Formel ausgeprägt.

sämmtliche Zustände der geistigsten Menschen darstellen; so daß ihre Reihe im ganzen Werke umfaßt ist.

(—Zustände des Legislator[s]
des Versuchers
des zur Opferung Gezwungenen, Zögernden —
der großen Verantwortlichkeit
des Leidens an der Unerkennbarkeit
des Leidens am Scheinen-Müssen
des Leidens am Wehethun-Müssen,
der Wollust am Zerstören
 

3) Das Werk auf eine Katastrophe hin bauen



Einleitung herzunehmen von dem Willen zum Pessimismus. Nicht als Leidender, Enttäuschter reden. “Wir, die wir nicht an die Tugend und die schönen Schwellungen glauben.”

Satyrspiel
am Schluß

Einmischen: kurze Gespräche zwischen Theseus Dionysos und Ariadne.

— Theseus wird absurd, sagte Ariadne, Theseus wird tugendhaft —

Eifersucht des Theseus auf Ariadne’s Traum.

der Held sich selbst bewundernd, absurd werdend, Klage der Ariadne.

Dionysos ohne Eifersucht: “Was ich an Dir liebe, wie könnte das ein Theseus lieben?” ...

Letzter Akt. Hochzeit des Dionysos und der Ariadne

“man ist nicht eifersüchtig, wenn man Gott ist,” sagte Dionysos: “es sei denn auf Götter.”



“Ariadne,” sagte Dionysos, “du bist ein Labyrinth: Theseus hat sich in dich verirrt, er hat keinen Faden mehr; was nützt es ihm nun, daß er nicht vom Minotauros gefressen wurde? Was ihn frißt, ist schlimmer als ein Minotauros.” “Du schmeichelst mir,” antwortete Ariadne, “aber ich bin meines Mitleidens müde, an mir sollen alle Helden zu Grunde gehen: Das ist meine letzte Liebe zu Theseus: ‘ich richte ihn zu Grunde’”

9 [116]

(77)      Rousseau, dieser typische “moderne Mensch,” Idealist und Canaille in Einer Person, und das Erste um des Zweiten willen, ein Wesen, das die “moralische Würde” und deren Attitüde nöthig hatte, um sich selber auszuhalten, krank zugleich vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung: diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle unserer neuen Zeit gelagert hat, hat die “Rückkehr zur Natur” gepredigt—wohin wollte er eigentlich zurück?

Auch ich rede von “Rückkehr zur Natur”: obwohl es eigentlich nicht ein “Zurückkehren” ist, sondern ein “Hinaufkommen”—in die starke souveraine furchtbare Natur und Natürlichkeit des Menschen, welche mit großen Aufgaben spielen darf, weil sie an kleineren müde würde und Ekel empfände.— Napoleon war “Rückkehr zur Natur” in rebus tacticis und vor allem im Strategischen.

Das 18. Jahrhundert, dem man Alles verdankt, worin unser 19. Jahrhundert gearbeitet und gelitten hat: den Moral-Fanatism, die Verweichlichung des Gefühls zu Gunsten des Schwachen, Unterdrückten, Leidenden, die Rancüne gegen alle Art Privilegirte, den Glauben an den “Fortschritt,” den Glauben an den Fetisch “Menschheit,” den unsinnigen Plebejer-Stolz und die Begierde nach vollen Leidenschaften—beides romantisch —

Unsere Feindschaft gegen die révolution bezieht sich nicht auf die blutige farce, ihre “Immoralität,” mit der sie sich abspielte; vielmehr auf ihre Heerden-Moralität, auf ihre “Wahrheiten,” mit denen sie immer noch wirkt und wirkt, auf ihre contagiöse Vorstellung von “Gerechtigkeit u[nd] Freiheit,” mit der sie alle mittelmäßigen Seelen bestrickt, auf ihre Niederwerfung der Autoritäten höherer Stände. Daß es um sie herum so schauerlich und blutig zugieng, hat dieser Orgie der Mittelmäßigkeit einen Anschein von Größe gegeben, so daß sie als Schauspiel auch die stolzesten Geister verführt hat.

9 [117]

man giebt nach, wo das Nachgeben ein Vorgeben ist: also wenn man reich genug ist, um nicht nehmen zu müssen.

9 [118]

er liebte es, so lange Recht zu behalten bis ein Zufall ihm zu Hülfe kam,—und bis er Recht hatte

9 [119]

(78)      Die “Reinigung des Geschmacks” kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsere Gesellschaft von heute repräsentirt nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklich in’s Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr, der vielfache Mensch.— Goethe als schönster Ausdruck des Typus (—ganz und gar kein Olympier!)



Das Recht auf den großen Affekt—für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die Entselbstung und der Cultus des “Objektiven” eine falsche Rangordnung auch in dieser Sphäre geschaffen haben. Der Irrthum kam auf die Spitze, als Schopenhauer lehrte: eben im Loskommen vom Affekt, vom Willen liege der einzige Zugang zum “Wahren,” zur Erkenntniß; der willensfreie Intellekt könne gar nicht anders, als das wahre eigentliche Wesen der Dinge sehn.



Derselbe Irrthum in arte: als ob Alles schön wäre, sobald es ohne Willen angeschaut wird.

Der Kampf gegen den “Zweck” in der Kunst ist immer der Kampf gegen die moralisirende Tendenz der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral: l’art pour l’art heißt: “der Teufel hole die Moral!”— Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die Übergewalt des Vorurtheils; wenn man den Affekt des Moralpredigens und “Menschenverbesserns” von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, daß die Kunst überhaupt ohne “Affekt,” ohne “Zweck,” ohne ein außeraesthetisches Bedürfniß möglich ist. “Wiederspiegeln,” “nachahmen”: gut, aber wie? alle Kunst lobt, verherrlicht, zieht heraus, verklärt—sie stärkt irgend welche Werthschätzungen: sollte man das nur als ein Nebenbei, als einen Zufall der Wirkung nehmen dürfen? Oder liegt es dem Können des Künstlers schon zu Grunde? Bezieht sich der Affekt des Künstlers auf die Kunst selbst? Oder nicht vielmehr auf das Leben? auf eine Wünschbarkeit des Lebens?

Und das viele Häßliche, Harte, Schreckliche, das die Kunst darstellt? Will sie damit vom Leben entleiden? zur Resignation stimmen, wie Schopenhauer meint?— Aber der Künstler theilt vor allem seinen Zustand in Hinsicht auf dieses Furchtbare des Lebens mit: dieser Zustand selbst ist eine Wünschbarkeit, wer ihn erlebt hat, hält ihn in höchsten Ehren und theilt ihn mit, gesetzt daß er ein mittheilsames Wesen d.h. ein Künstler ist. Die Tapferkeit vor einem mächtigen Feinde, einem erhabenen Ungemach, einem grauenhaften Problem—sie selbst ist der höhere Zustand des Lebens, den alle Kunst der Erhabenheit verherrlicht. Die kriegerische Seele feiert ihre Saturnalien in der Tragödie; das Glück des Krieges und Sieges, der herben Grausamkeit angesichts leidender und kämpfender Menschen, wie alles das dem leidgewohnten, und leidaufsuchenden Menschen zu eigen ist. [Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 24.]

9 [120]

(79)     Wir lernen in unserer civilisirten Welt fast nur den verkümmerten Verbrecher kennen, erdrückt unter dem Fluch und der Verachtung der Gesellschaft, sich selbst mißtrauend, oftmals seine That verkleinernd und verleumdend, einen mißglückten Typus von Verbrecher; und wir widerstreben der Vorstellung, daß alle großen Menschen Verbrecher waren, nur im großen Stile, und nicht im erbärmlichen; daß das Verbrechen zur Größe gehört (—so nämlich geredet aus dem Bewußtsein der Nierenprüfer und aller derer, die am tiefsten in große Seelen hinuntergestiegen sind) Die “Vogelfreiheit” von dem Herkommen, dem Gewissen, der Pflicht—jeder große Mensch kennt diese seine Gefahr. Aber er will sie auch: er will das große Ziel und darum auch dessen Mittel.

9 [121]

(80)     Daß man den Menschen den Muth zu ihren Naturtreiben wiedergiebt

Daß man ihre Selbstunterschätzung steuert (nicht die des Menschen als Individuum, sondern die des Menschen als Natur ..)

Daß man die Gegensätze herausnimmt aus den Dingen, nachdem man begreift, daß wir sie hineingelegt haben.

Daß man die Gesellschafts-Idiosynkrasie aus dem Dasein überhaupt herausnimmt (Schuld, Strafe, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit, Liebe usw.)



Das Problem der Civilisation hinstellen.

Fortschritt zur “Natürlichkeit”: in allen politischen Fragen, auch im Verhältniß von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- u[nd] Unternehmer-Parteien handelt es sich um Machtfragen — “was man kann?” und erst daraufhin, was man soll?

Daß dabei, mitten unter der Mechanik der großen Politik, noch die christlichen Fanfaren geblasen (z.B. in Siegesbulletins oder in kaiserlichen Anreden an das Volk) gehört immer mehr zu dem, was unmöglich wird: weil es wider den Geschmack geht. “Die Gurgel des Kronprinzen” ist keine Angelegenheit Gottes.

Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das 18.

im Grunde führen wir guten Europäer einen Krieg gegen das 18. Jahrhundert.—

1. “Rückkehr zur Natur” immer entschiedener im umgekehrten Sinne verstanden als es Rousseau verstand. Weg vom Idyll und der Oper!

2. immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maaßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutionär

3. immer entschiedener die Frage der Gesundheit des Leibes der “der Seele” voranstellend: letzteres als einen Zustand in Folge der ersteren begreifend, mindestens als deren Vorbedingung — — —

9 [122]

(80II)

Zur Genealogie des Christenthums

 

— der Fanatism der Schüchternen, welche nicht wieder zurückzukehren wagen, nachdem sie einmal ihr Land verlassen haben: bis sie, aus Furcht und Marter der Furcht, dazu kommen, es zu vernichten.

— es gehört mehr Muth und Stärke des Charakters dazu, halt zu machen oder gar umzukehren als weiterzugehn. Umzukehren ohne Feigheit ist schwerer als weiterzugehen ohne Feigheit.

9 [123]

(81)

Zur Genesis des Nihilisten.

 

Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, der Radikalism, mit der ich als Nihilist vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß “die Ziellosigkeit an sich” unser Glaubensgrundsatz ist.

9 [124]

[Vgl. Ferdinand Brunetière, Études critiques sur l'histoire de la littérature française. Troisième série. Paris: 1887:53, 276.]

(82)

Moral als Verführungs-mittel.

 

“Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die “Verderbniß des Menschen” zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen—man muß sie vernichten.”

: die Logik Rousseaus (vgl. die Logik Pascals, welche den Schluß auf die Erbsünde macht)

Man vergleiche die verwandte Logik Luthers.

: in beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfniß als moralisch-religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu heiligen ...

(die “Sündhaftigkeit Israels”: Grundlage für die Machtstellung der Priester)

Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus.

: immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit usw.

(bei Christus scheint der Jubel des Volkes als Ursache seiner Hinrichtung; eine antipriesterliche Bewegung von vornherein)

(—selbst bei den Antisemiten ist es immer das gleiche Kunststück: den Gegner mit moralischen Verwerfungsurtheilen heimzusuchen und sich die Rolle der strafenden Gerechtigkeit vorzubehalten.)

NB Die “moralische Verurtheilung” als Mittel zur Macht.

A. “die Erregung des schlechten Gewissens” um Heilande, Priester und dergleichen nöthig zu machen
oder:
B. die Erregung des guten Gewissens: um seine Gegner als die Schlechten behandeln und niederwerfen zu können

9 [125]

(83)      gegen Rousseau: der Zustand der Natur ist furchtbar, der Mensch ist Raubthier, unsre Civilisation ist ein unerhörter Triumph über diese Raubthier-Natur:—so schloß Voltaire. Er empfand die Milderung, die Raffinements, die geistigen Freuden des civilisirten Zustandes; er verachtete die Bornirtheit, auch in der Form der Tugend; den Mangel an Delikatesse auch bei den Asketen und Mönchen.

Die moralische Verwerflichkeit des Menschen schien Rousseau zu präoccupiren; man kann mit den Worten “ungerecht” “grausam,” am meisten die Instinkte der Unterdrückten aufreizen, die sich sonst unter dem Bann des vetitum und der Ungnade befinden: so daß ihr Gewissen ihnen die aufrührerischen Begierden widerräth. Diese Emancipatoren suchen vor allem Eins: ihrer Partei die großen Accente und Attitüden der höheren Natur zu geben.

9 [126]

(84)

Haupt-Symptome des Pessimism.

 

die dîners chez Magny. [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire 1862-1865. Paris: Charpentier, 1887. Vgl. 10. November 1887 Brief an Heinrich Köselitz: "Der II. Band des 'Journal des Goncourts' ist erschienen: die interessanteste Novität. Er betrifft die Jahre 1862-65; in ihm sind die berühmten dîners chez Magny auf das Handgreiflichste beschrieben, jene Diners, welche zweimal monatlich die damalige geistreichste und skeptischste Bande der Pariser Geister zusammenbrachten (Saint-Beuve, Flaubert, Théophile Gautier, Taine, Renan, die Goncourts, Schérer, Gavarni, gelegentlich Turgenew u.s.w.). Exasperirter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein—ich kenne diese Herrn auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei Allen an der Hauptsache—'la force.'"]
der russische Pessimism. Tolstoi Dostoiewsky
der aesthetische Pessimismus l’art pour l’art “Description” der romantische und der antiromantische Pessimism
der erkenntnißtheoretische Pessimismus. Schopenhauer. Der “Phänomenalismus.”
der anarchistische Pessimismus.
die “Religion des Mitleids,” buddhistische Vorbewegung.
der Cultur-Pessimismus (Exotism. Kosmopolitismus)
der moralistische Pessimismus: ich selber
Die Distraktionen, die zeitweiligen Erlösungen vom Pessimismus.
die großen Kriege, die starken Militär-Organisationen, der Nationalismus
die Industrie-Concurrenz
die Wissenschaft
das Vergnügen



Scheiden wir hier aus:

der Pessimismus als Stärkeworin? in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilism, als Analytik.

der Pessimismus als Niedergang—worin? als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühlerei, als “tout comprendre” und Historismus.

9 [127]

Die Heraufkunft des Nihilismus.
Die Logik des Nihilismus
Die Selbstüberwindung des Nihilismus
.
Überwinder und Überwundene.

9 [128]

(85)      die kritische Spannung: die Extreme kommen zum Vorschein und Übergewicht.

9 [129]

Niedergang des Protestantism: theoretisch und historisch als Halbheit begriffen. Thatsächliches Übergewicht des Katholicism; das Gefühl des Protest[antismus] so erloschen, daß die stärksten antiprotestantischen Bewegungen nicht mehr als solche empfunden werden (z.B. Wagners Parsifal) Die ganze höhere Geistigkeit in Frankreich ist katholisch im Instinkt; Bismarck hat begriffen, daß es einen Protestantismus gar nicht mehr giebt.

9 [130]

(86)      Kritik des modernen Menschen
             (seine moralistische Verlogenheit)
“der gute Mensch,” nur verdorben und verführt durch schlechte Institutionen (Tyrannen und Priester)
die Vernunft als Autorität; die Geschichte als Überwindung von Irrthümern; die Zukunft als Fortschritt.
der christliche Staat “der Gott der Heerschaaren”
der christliche Geschlechtsbetrieb oder die Ehe
das Reich der “Gerechtigkeit” der Cultus der “Menschheit”
die “Freiheit”
             die romantische Attitüde des modernen Menschen:
der edle Mensch (Byron, V[ictor]. Hugo, G[eorge]. Sand
die edle Entrüstung
die Heiligung durch die Leidenschaft (als wahre “Natur”
die Parteinahme für die Unterdrückten und Schlechtweggekommenen: Motto der Historiker und romanciers.
die Stoiker der Pflicht
die “Selbstlosigkeit” als Kunst und Erkenntniß
der Altruism (als verlogenste Form des Egoism (Utilitarism) gefühlsamster Egoism.

9 [131]

(87)      dies Alles ist 18. Jahrhundert. Was dagegen nicht sich aus ihm vererbt hat: die insouciance, die Heiterkeit, die Eleganz, die geistige Helligkeit; das tempo des Geistes hat sich verändert; der Genuß an der geistigen Feinheit und Klarheit ist dem Genuß an der Farbe, Harmonie, Masse, Realität, usw. gewichen. Sensualism im Geistigen. Kurz, es ist das 18. Jahrhundert Rousseaus.

9 [132]

die Virtuosi und die Tugendhaften

9 [133]

Science sans conscience n’est que ruine de l’âme. Rabelais. conscience sans science c’est le salut — [Vgl. Paul Albert, La littérature française au dix-neuvième siècle. Vol. 2. Paris: Hachette, 1885:11.]

9 [134]

(88)      Augustin Thierry las 1814 das, was de Montlosier in seinem Werke De la monarchie française gesagt hatte: er antwortete mit einem Schrei der Entrüstung und machte sich an sein Werk. Jener Emigrant hatte gesagt: Race d’affranchis, race d’esclaves arrachés de nos mains, peuple tributaire, peuple nouveau, licence vous fut octroyée d’être libres, et non pas à nous d’être nobles; pour nous tout est de droit, pour vous tout est de grâce, nous ne sommes point de votre communauté; nous sommes un tout par nous-mêmes. [Vgl. Paul Albert, La littérature française au dix-neuvième siècle. Vol. 2. Paris: Hachette, 1885:17f.]

9 [135]

(90)      die “evangelische Freiheit.” “Verantwortlichkeit vor dem eignen Gewissen,” diese schöne Tartüfferie Luthers: im Grunde der “Wille zur Macht” in seiner schüchternsten Form. Denn dies sind seine drei Grade: a) Freiheit, b) Gerechtigkeit, c) Liebe

9 [136]

der Glaube ist eine “heilige Krankheit,” Êgk <`F@l: das hat schon Heraklit gewußt: der Glaube, eine blödsinnig machende innere Nöthigung, daß etwas wahr sein soll ...

9 [137]

(91)      Der Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich zu entladen, sondern womöglich seiner Entstehung vorbeugen ... Grundinstinkt der civilisirten Gesellschaft.

9 [138]

(92)      NB alles Furchtbare in Dienst nehmen; einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Cultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen ...

— überall, wo eine Cultur das Böse ansetzt, bringt sie damit ein Furchtverhältniß zum Ausdruck also eine Schwäche ...

These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von Ehedem.

Maaßstab: je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein Volk, ein Einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen vermag, um so höher steht seine Cultur. (—das Reich des Bösen wird immer kleiner ...)

— je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten, der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen.

9 [139]

(89)      Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung!

je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden.

der “große Mensch” ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Unthiere in Dienst zu nehmen weiß.

— der “gute Mensch” ist auf jeder Stufe der Civilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf ...

Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme eine Ablenkung, Verführung, Ankränkelung zu ruiniren zu Gunsten der Regel.

Das ist hart: aber ökonomisch betrachtet, vollkommen vernünftig. Mindestens für jene lange Zeit, — — —

Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zu Gunsten des Mittleren.



Eine Cultur der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nüance als Folge eines großen Kräfte-Reichthums: —jede aristokratische Cultur tendirt dahin.

Erst wenn eine Cultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann auf ihrem Boden auch ein Treibhaus der Luxus-Cultur — — —

9 [140]

(93)      Versuch meinerseits, die absolute Vernünftigkeit des gesellschaftlichen Urtheilens und Werthschätzens zu begreifen: natürlich frei von dem Willen, dabei moralische Resultate herauszurechnen.

: der Grad von psychologischer Falschheit und Undurchsichtigkeit, um die zur Erhaltung und Machtsteigerung wesentlichen Affekte zu heiligen (um sich für sie das gute Gewissen zu schaffen)

: der Grad von Dummheit, damit eine gemeinsame Regulirung und Werthung möglich bleibt (dazu Erziehung, Überwachung der Bildungselemente, Dressur)

: der Grad von Inquisition, Mißtrauen und Unduldsamkeit, um die Ausnahmen als Verbrecher zu behandeln und zu unterdrücken,—um ihnen selbst das schlechte Gewissen zu geben, so daß diese innerlich an ihrer Ausnahmhaftigkeit krank sind.



Moral wesentlich als Wehr, als Vertheidigungsmittel: insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen p. 123 [Vgl. Emanuel Herrmann, Cultur und Natur: Studien im Gebiete der Wirthschaft. 2. Aufl. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur, 1887:123.]

(verpanzert; stoisch;

der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen, er ist angreifend

Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten, Federn und Haare)



Summa: die Moral ist gerade so “unmoralisch,” wie jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität.

Große Befreiung, welche diese Einsicht bringt: der Gegensatz ist aus den Dingen entfernt, die Einartigkeit in allem Geschehen ist gerettet — —

9 [141]

(94)      Überarbeitung, Neugierde und Mitgefühl—unsre modernen Laster

9 [142]

(95)      Die Höhepunkte der Cultur und der Civilisation liegen auseinander: man soll sich über den Antagonismus dieser beiden Begriffe nicht irreführen lassen.

Die großen Momente der Cultur sind die Zeiten der Corruption, moralisch ausgedrückt; die Epochen der gewollten und erzwungenen Zähmung (“Civilisation.”) des Menschen sind Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen und deren tiefste Widersacher.

9 [143]

(96)      Wie wenig liegt am Gegenstand! Der Geist ist es, der lebendig macht! Welche kranke und verstockte Luft mitten aus all dem aufgeregten Gerede von “Erlösung,” Liebe, “Seligkeit,” Glaube, Wahrheit, “ewigem Leben”! Man nehme einmal ein eigentlich heidnisches Buch dagegen, z.B. Petronius, wo im Grunde Nichts gethan, gesagt, gewollt und geschätzt wird, was nicht, nach einem christlich-muckerischen Werthmaße, Sünde, selbst Todsünde ist. Und trotzdem: welches Wohlgefühl der reineren Luft, der überlegenen Geistigkeit des schnelleren Schrittes, der freigewordenen und überschüssigen, zukunftsgewissen Kraft? Im ganzen neuen Testament kommt keine einzige Bouffonnerie vor: aber damit ist ein Buch widerlegt ... Mit ihm verglichen bleibt das neue Testament ein Symptom des Niedergangs u[nd] der Cultur-Corruption—und als solches hat es gewirkt, als Ferment der Verwesung

9 [144]

(97)

Zur “logischen Scheinbarkeit.”

 

Der Begriff “Individuum” und “Gattung” gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. “Gattung” drückt nur die Thatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das tempo im Weiterwachsen und Sich-Verwandeln eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die thatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (—eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-Entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht scheint, und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, hier sei ein Ziel erreicht—und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...)

Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Werthvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft “dieselbe Form erreicht wird,” so bedeutet das nicht, daß es dieselbe Form ist,—sondern es erscheint immer etwas Neues—und nur wir, die wir vergleichen, rechnen dies Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der “Form.” Als ob ein Typus erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne.

Die Form, die Gattung, das Gesetz, die Idee, der Zweck—hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage,—eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was thut und dem, wonach dies Thun sich richtet (aber das was und das wonach sind nur angesetzt von uns aus Gehorsam gegen unsere metaphysisch-logische Dogmatik: kein “ Thatbestand”)

Man soll diese Nöthigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze—“eine Welt der identischen Fälle”—zu bilden, nicht so verstehn, als ob wir damit die wahre Welt zu fixiren im Stande wären; sondern als Nöthigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird—wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.

Diese selbe Nöthigung besteht in der Sinnen-Aktivität, welche der Verstand unterstützt,—durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles “Wiedererkennen,” alles Sich-verständlich-machen-können beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präcisirt, daß die “gleiche Erscheinungswelt” immer wieder kehrt und dadurch den Anschein der Wirklichkeit bekommen hat.

Unsre subjektive Nöthigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts gethan haben als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor—wir können nicht mehr anders—und vermeinen nun, diese Nöthigung verbürge etwas über die “Wahrheit.” Wir sind es, die “das Ding,” das “gleiche Ding,” das Subjekt, das Prädikat, das Thun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfachmachen am längsten getrieben haben.

Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisirt haben

9 [145]

(98)

Zum “Macchiavellismus” der Macht.
(unbewußter Macchiavellismus)

 

Der Wille zur Macht erscheint

a) bei den Unterdrückten, bei Sklaven jeder Art als Wille zur “Freiheit”: bloß das Loskommen scheint das Ziel (moralisch-religiös: “nur seinem eignen Gewissen verantwortlich” “evangelische Freiheit” usw.)

b) bei einer stärkeren und zur Macht heranwachsenden Art als Wille zur Übermacht; wenn zunächst erfolglos, dann sich einschränkend auf den Willen zur “Gerechtigkeit” d.h. zu dem gleichen Maß von Rechten, wie die andere herrschende Art sie hat. Kampf um Rechte ...

c) bei den Stärksten, Reichsten, Unabhängigsten, Muthigsten als “Liebe zur Menschheit,” zum “Volke,” zum Evangelium, zur Wahrheit, Gott; als Mitleid; “Selbstopferung” usw. als Überwältigen, Mit-sich-fortreißen, in-seinen-Dienst-nehmen; als instinktives Sich-in-Eins-rechnen mit einem großen Quantum Macht, dem man Richtung zu geben vermag: der Held, der Prophet, der Cäsar, der Heiland, der Hirt (—auch die Geschlechtsliebe gehört hierher: sie will die Überwältigung, das in-Besitz-nehmen und sie erscheint als Sich-hin-geben ...) im Grunde nur die Liebe zu seinem “Werkzeug,” zu seinem “Pferd” ..., seine Überzeugung davon, daß ihm das und das zugehört, als Einem, der im Stande ist, es zu benutzen.

”Freiheit,” “Gerechtigkeit” und “Liebe”!!!



Das Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie und Klugheit:

als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit ...)

als Ergebung, Hingebung, Liebe (Idealisirung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und indirekte Selbstverklärung)

als Fatalism, Resignation

als “Objektivität”

als Selbsttyrannisirung (Stoicism, Askese, “Entselbstung,” “Heiligung”)

(—überall drückt sich das Bedürfniß aus, irgend eine Macht doch noch auszuüben oder sich selbst den Anschein einer Macht zeitweilig zu schaffen (als Rausch)

als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei

als “schöne Seele,” “Tugend,” “Selbstvergötterung,” “Abseits,” “Reinheit von der Welt” usw. (—die Einsicht in das Unvermögen zur M[acht] sich als dédain verkleidend)



Die Menschen, welche die Macht wollen um der Glücks-Vortheile willen, die die Macht gewährt (politische Parteien)

andere Menschen, welche die Macht wollen, selbst mit sichtbaren Nachtheilen und Opfern an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiosi

andere Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andere Hände fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen



Zum Problem: ob die Macht im “Willen zur Macht” bloss Mittel ist: Das Protoplasma sich etwas aneignend und anorganisirend, also sich verstärkend und Macht ausübend, um sich zu verstärken.

In wiefern das Verhalten des Protoplasma beim Aneignen und Anorganisiren den Schlüssel giebt zum chemischen Verhalten zweier Stoffe zu einander (Kampf und Machtfeststellung)

9 [146]

(99)      Gegen Rousseau: der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche sagen: “der Mensch ist ein Raubthier” haben leider nicht Recht; nicht die Verderbniß des Menschen, sondern seine Verzärtlichung und Vermoralisirung ist der Fluch; in der Sphäre, welche von Rousseau am heftigsten bekämpft wurde, war gerade die relativ noch starke und wohlgerathene Art Mensch (—die welche noch die großen Affekte ungebrochen hatte, Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu commandiren) Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren, worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung und der erhitzten Eitelkeit—beides Anzeichen, daß es am dominirenden Willen fehlt: er moralisirt und sucht die Ursache seiner Miserabilität als Rancüne-Mensch in den herrschenden Ständen.

9 [147]

(100)

Mit welchen Mitteln eine Tugend zur Macht kommt?

 

Genau mit den Mitteln einer politischen Partei: Verleumdung, Verdächtigung, Unterminirung der entgegenstrebenden Tugenden, die schon in der Macht sind, Umtaufung ihres Namens, systematische Verfolgung und Verhöhnung: Also: durch lauter Immoralitäten.”

Was eine Begierde mit sich selber macht, um zur Tugend zu werden? die Umtaufung; die principielle Verleugnung ihrer Absichten; die Übung im Sich-Mißverstehn; die Alliance mit bestehenden und anerkannten Tugenden; die affichirte Feindschaft gegen deren Gegner. Womöglich den Schutz heiligender Mächte erkaufen; berauschen, begeistern, die Tartüfferie des Idealismus; eine Partei gewinnen, die entweder mit ihr obenauf kommt oder zu Grunde geht ..., unbewußt, naiv werden ..

9 [148]

(101)

Metamorphosen-Lehre.

 
Metamorphosen der Geschlechtlichkeit
”            der Grausamkeit
”            der Feigheit
”            der Rachsucht, Zorn
”            der Faulheit
”            der Herrschsucht
”            der Tollkühnheit
”            der Lüge, des Neids
”            der Verleumdung
”            der Habsucht
”            des Haßes

Das, was eine Zeit verachtet oder haßt als die rudimentären Tugenden, als Überbleibsel vom Ideal einer früheren Zeit, aber in der Form der Verkümmerung (“der Verbrecher” ...)

9 [149]

(102)      Wie man es macht, um lebensfeindliche Tendenzen zu Ehren zu bringen?

z.B. die Keuschheit
       die Armut und Bettelei
       die Dummheit und Unkultur
       die Selbstverachtung
       die Daseins-Verachtung

9 [150]

(103)

Zur Optik der Werthschätzung:

 

Einfluß der Quantität (groß, klein) des Zweckes.
Einfluß der Geistigkeit in den Mitteln.
Einfluß der Manieren in der Aktion.
Einfluß des Gelingens oder Mißlingens
Einfluß der gegnerischen Kräfte und deren Werth
Einfluß des Erlaubten und Verbotenen

Die Quantität im Ziele in ihrer Wirkung auf die Optik der Werthschätzung: der große Verbrecher und der kleine. Die Quantität im Ziele des Gewollten entscheidet auch bei dem Wollenden selbst, ob er vor sich dabei Achtung hat oder kleinmüthig und miserabel empfindet. —

Sodann der Grad der Geistigkeit in den Mitteln in ihrer Wirkung auf die Optik der Werthschätzung. Wie anders nimmt sich der philosophische Neuerer Versucher und Gewaltmensch aus gegen den Räuber, Barbaren und Abenteurer!— Anschein des “Uneigennützigen.”

Endlich vornehme Manieren, Haltung, Tapferkeit, Selbstvertrauen—wie verändern sie die Werthung dessen, was auf diese Art erreicht wird!

Wirkung des Verbots: jede Macht, die verbietet, die Furcht zu erregen weiß bei dem, dem etwas verboten wird, erzeugt das “schlechte Gewissen” (d.h. die Begierde nach etwas mit dem Bewußtsein der Gefährlichkeit ihrer Befriedigung, mit der Nöthigung zur Heimlichkeit, zum Schleichweg, zur Vorsicht; jedes Verbot verschlechtert den Charakter bei denen, die sich ihm nicht willentlich unterwerfen, sondern nur gezwungen)

9 [151]

[Vgl. William Henry Rolph, Biologische Probleme: zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik. Leipzig: Engelmann, 1884:122-29.]

(104)      Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht,—dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma, wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen u[nd] An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist u[nd] denselben vermehrt hat.— Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung unter einander völlig aufzugeben)

“Hunger” ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.

9 [152]

Die moralische Präoccupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des Sonder-rechts, des a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen Naturen, der “Kinder Gottes” (oder des Teufels—) Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Heerde—und sei es auch als deren oberster Nothbedarf, als “Hirt” ...

9 [153]

(105)

Die Starken der Zukunft.

 

Was theils die Noth, theils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.

Bis jetzt hatte die “Erziehung” den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. “Werkzeuge” für sie wollte man. Gesetzt, der Reichthum an Kraft wäre größer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen, —

Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, in wiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existiren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse.

Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können)

Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrte Werthschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten.

Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen.

Die Nothwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht, die Nothwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen

Diese ausgeglichene Species bedarf einer Rechtfertigung, sobald sie erreicht ist: sie liegt im Dienste einer höheren, souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann.

Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren; sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf ..., stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben, jenseits von gut und böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.

9 [154]

(106)      Der Mensch ist das Unthier und Überthier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das Eine nicht wollen, ohne das andere—oder vielmehr: je gründlicher man das Eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das Andere.

9 [155]

(107)      Die Tugend findet jetzt keinen Glauben mehr, ihre Anziehungskraft ist dahin; es müßte sie denn Einer etwa als eine ungewöhnliche Form des Abenteuers und der Ausschweifung von Neuem auf den Markt zu bringen verstehn. Sie verlangt zu viel Extravaganz und Bornirtheit von ihren Gläubigen, als daß sie heute nicht das Gewissen gegen sich hätte. Freilich, für Gewissenlose und gänzlich Unbedenkliche mag eben das ihr neuer Zauber sein—sie ist nunmehr, was sie bisher noch niemals gewesen ist, ein Laster.

9 [156]

(108)

Fälschung in der Psychologie

 

Die großen Verbrechen in der Psychologie:

1) daß alle Unlust, alles Unglück, mit dem Unrecht (der Schuld) gefälscht worden ist (man hat dem Schmerz die Unschuld genommen)

2) daß alle starken Lustgefühle (Übermuth, Wollust, Triumph, Stolz, Verwegenheit, Erkenntniß, Selbstgewißheit und Glück an sich) als sündlich, als Verführung, als verdächtig gebrandmarkt worden sind.

3) daß die Schwächegefühle, die innerlichsten Feigheiten, der Mangel an Muth zu sich selbst mit heiligenden Namen belegt und als wünschenswerth im höchsten Sinn gelehrt worden sind.

4) daß alles Große am Menschen umgedeutet worden ist als Entselbstung, als Sich-opfern für etwas Anderes, für Andere; daß selbst am Erkennenden, selbst am Künstler die Entpersönlichung als die Ursache seines höchsten Erkennens und Könnens vorgespiegelt worden ist.

5) daß die Liebe gefälscht worden ist als Hingebung (und Altruism), während sie ein Hinzu-Nehmen ist oder ein Abgeben in Folge eines Überreichthums von Persönlichkeit. Nur die ganzesten Personen können lieben; die Entpersönlichten, die “Objektiven” sind die schlechten Liebhaber (—man frage die Weibchen!). Das gilt auch von der Liebe zu Gott, oder zum “Vaterland”: man muß fest auf sich selber sitzen,

Der Egoismus als die Ver-Ichlichung, der Altruismus als die Ver-Änderung

6) das Leben als Strafe, das Glück als Versuchung; die Leidenschaften als teuflisch, das Vertrauen zu sich als gottlos

NB Diese ganze Psychologie ist eine Psychologie der Verhinderung, eine Art Vermauerung aus Furcht; einmal will sich die große Menge (die Schlechtweggekommenen und Mittelmäßigen) damit wehren gegen die Stärkeren (—und sie in der Entwicklung zerstören ....), andererseits alle die Triebe, mit denen sie selbst am besten gedeiht, heiligen und allein in Ehren gehalten wissen. Vergl. die jüdische Priesterschaft.

9 [157]

(109)      I. Die principielle Fälschung der Geschichte, damit sie den Beweis für die moralische Werthung abgiebt.

a) Niedergang eines Volkes und die Corruption
b) Aufschwung eines Volkes und die Tugend
c) Höhepunkt eines Volkes (“seine Cultur”) als Folge der moralischen Höhe



II. Die principielle Fälschung der großen Menschen, der großen Schaffenden, der großen Zeiten

a) man will, daß der Glaube das Auszeichnende der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die Erlaubniß sich eines Glaubens entschlagen zu können, die “Unmoralität” gehört zur Größe (Caesar, Friedrich der Große, Napoleon, aber auch Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe—man unterschlägt immer die Hauptsache ihre “Freiheit des Willens”—)

9 [158]

Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht, statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Werth der Ausnahme ist. Z.B.die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten ....

9 [159]

(110)

Wessen Wille zur Macht ist die Moral?

 

Das Gemeinsame in der Geschichte Europas seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werthe zur Herrschaft über alle anderen Werthe zu bringen: so daß sie nicht nur Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch

1. der Erkenntniß
2. der Künste
3. der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen

“besser-werden” als einzige Aufgabe, alles Übrige dazu Mittel (oder Störung, Hemmung, Gefahr: folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen ...)

Eine ähnliche Bewegung in China

Eine ähnliche Bewegung in Indien.

Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der moralischen Werthe, der in drei ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat?

Antwort:—drei Mächte sind hinter ihm versteckt: 1) der Instinkt der Heerde gegen die Starken Unabhängigen 2) der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen 3) der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen.— Ungeheurer Vortheil dieser Bewegung, wie viel Grausamkeit, Falschheit und Bornirtheit auch in ihr mitgeholfen hat: (denn die Geschichte vom Kampf der Moral mit den Grundinstinkten des Lebens ist selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist ...)

9 [160]

(111)

Die moralischen Werthe in der Theorie der Erkenntniß selbst

 

das Vertrauen zur Vernunft—warum nicht Mißtrauen?

die “wahre Welt” soll die gute sein—warum?

die Scheinbarkeit, der Wechsel, der Widerspruch, der Kampf als unmoralisch abgeschätzt: Verlangen in eine Welt, wo dies Alles fehlt.

die transscendente Welt erfunden, damit ein Platz bleibt für “moralische Freiheit” (bei Kant)

die Dialektik als der Weg zur Tugend (bei Plato und Sokrates: augenscheinlich, weil die Sophistik als Weg zur Unmoralität galt

Zeit und Raum ideal: folglich “Einheit” im Wesen der Dinge, folglich keine “Sünde,” kein Übel, keine Unvollkommenheit,—eine Rechtfertigung Gottes.

Epikur leugnet die Möglichkeit der Erkenntniß: um die moralischen (resp. hedonistischen) Werthe als die obersten zu behalten. Dasselbe thut Augustin; später Pascal (“die verdorbene Vernunft”) zu Gunsten der christlichen Werthe.

die Verachtung des Descartes gegen alles Wechselnde; insgleichen die des Spinoza.

9 [161]

(112)      die moral[ischen] Werthe in ihrer Herrschaft über die ästhetischen (oder Vorrang oder Gegensatz und Todfeindschaft gegen sie)

9 [162]

(113)      Ursachen für die Heraufkunft des Pessimismus

1) daß die mächtigsten und zukunftsvollsten Triebe des Lebens bisher verleumdet sind, so daß das Leben einen Fluch über sich hat
2) daß die wachsende Tapferkeit und Redlichkeit und das kühnere Mißtrauen des Menschen die Unablösbarkeit dieser Instinkte vom Leben begreift und dem Leben sich entgegenwendet
3) daß nur die Mittelmäßigsten, die jenen Conflikt gar nicht fühlen, gedeihen, die höhere Art mißräth und als Gebilde der Entartung gegen sich einnimmt,—daß, andererseits, das Mittelmäßige, sich als Ziel und Sinn gebend, indignirt (—daß Niemand ein Wozu? mehr beantworten kann:— )
4) daß die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt,—daß die Vergegenwärtigung dieses ganzen Treibens und “die sog[enannten] Civilisation” immer leichter wird, daß der Einzelne Angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft.

9 [163]

(114)      Die großen Fälschungen unter der Herrschaft der moralischen Werthe.

1) in der Geschichte (Politik eingerechnet)
2) in der Erkenntnißtheorie
3) in der Beurtheilung von Kunst und Künstlern
4) in der Werthabschätzung von Mensch und Handlung (von Volk und Rasse)
5) in der Psychologie
6) im Bau der Philosophien (“sittliche Weltordnung” und dergleichen)
7) in der Physiologie, Entwicklungslehre (“Vervollkommnung” “Socialisirung” “Selektion”)

9 [164]

Der Wille zur Macht.
Versuch einer Umwerthung aller Werthe.

Erstes Buch:
der Nihilismus
als Schlußfolgerung der höchsten bisherigen Werthe.

Zweites Buch:
Kritik der höchsten bisherigen Werthe,
Einsicht in das, was durch sie Ja und Nein sagte.

Drittes Buch:
Die Selbstüberwindung des Nihilismus,
Versuch, Ja zu sagen zu Allem, was bisher verneint wurde.

Viertes Buch:
Die Überwinder und die Überwundenen.
Eine Wahrsagung.

9 [165]

[Vgl. Ferdinand Brunetière, Études critiques sur l'histoire de la littérature française. Troisième série. Paris: 1887:325.]

(115)      Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moral[ischem] Aufputz:

Die Prunkworte sind:

die Toleranz (für “Unfähigkeit zu Ja und Nein”)
la largeur de sympathie = ein Drittel Indifferenz, ein Drittel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit
die “Objektivität” = Mangel an Person, Mangel an Willen, Unfähigkeit zur Liebe
die “Freiheit” gegen die Regel (Romantik)
die “Wahrheit” gegen die Fälscherei und Lügnerei (naturalisme)
die “Wissenschaftlichkeit” (das “document humain”), auf deutsch der Colportage-Roman und die Addition statt der Composition
die “Leidenschaft” an Stelle der Unordnung und der Unmäßigkeit
die “Tiefe” an Stelle der Verworrenheit, des Symbolen-Wirrwarrs

     ZurModernität

a) die Zuchtlosigkeit des Geistes
b) die Schauspielerei
c) die krankhafte Irritabilität (das milieu als “Fatum”)
d) die Buntheit
e) die Überarbeitung

Die günstigsten Hemmungen und Remeduren der “Modernität

1. die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaaß aufhört
2. die nationale Bornirtheit (vereinfachend, concentrirend, allerdings einstweilen auch durch Überarbeitung ausdrückend und erschöpfend)
3. die verbesserte Ernährung (Fleisch)
4. die zunehmende Reinlichkeit und Gesundheit der Wohnstätten
5. die Vorherrschaft der Physiologie über Theologen, Moralisten, Oekonomen u[nd] Politiker
6. die militärische Strenge in der Forderung und Handhabung seiner “Schuldigkeit” (man lobt nicht mehr ...)

9 [166]

(116)

Aesthetica.

 

Um Classiker zu sein, muß man

alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn

zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von Litteratur oder Kunst oder Politik auf seine Höhe und Spitze zu bringen (: nicht nachdem dies schon geschehn ist ...)

einen Gesammtzustand (sei es Volk, sei es eine Cultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln, zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig ist ...)

kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärts führender Geist, Ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß

“Es gehört dazu nicht der höchste persönliche Werth?” ... Vielleicht zu erwägen, ob die moral[ischen] Vorurtheile hier nicht ihr Spiel spielen, und ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch gegen das Classische ist? ...

die Musik “mediterranisiren”: das ist meine Losung ...

Ob nicht die moralischen Monstra nothwendig Romantiker sein müssen, in Wort und That? ... Ein solches Übergewicht Eines Zuges über die anderen (wie beim moral[ischen] Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe, und wäre trotzdem Classiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: dies vielleicht der Fall Shakespeare (gesetzt, daß es wirklich Lord Bacon ist: — — —

9 [167]

(117)      Das Übergewicht der Händler und Zwischenpersonen, auch im Geistigsten

der Litterat
der “Vertreter”
der Historiker (als Verquicker des Vergangenen und des Gegenwärtigen)
die Exotiker und Kosmopoliten
die Zwischenpersonen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie
die Semi-Theologen.

9 [168]

(118)

Zur Characteristik der “Modernität.”

 

überreichliche Entwicklung der Zwischengebilde

Verkümmerung der Typen

Abbruch der Traditionen
, Schulen,

die Überherrschaft der Instinkte (nach eingetretener Schwächung der Willenskraft, des Wollens von Zweck und Mittel ...) (philosophisch vorbereitet: das Unbewußte mehr werth)

9 [169]

(119)

Schopenhauer als Nachschlag: Zustand vor der Revolution.

 

.. Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens, Katholicismus der geistigsten Begierden—das ist gutes 18. Jahrhundert au fond. Schopenhauers Grundmißverständniß des Willens (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das Wesentliche am Willen sei) ist typisch: Werthermüdung des Willens bis zur Verkümmerung. Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem Nicht-mehr-wollen, im “Subjekt sein ohne Ziel und Absicht” (“im reinen willensfreien Subjekt”) etwas Höheres, ja das Höhere, das Werthvolle zu sehen. Großes Symptom der Ermüdung, oder der Schwäche des Willens: denn dieser ist ganz eigentlich das, was die Begierde als Herr behandelt, ihr Weg und Maaß weist ...

9 [170]

(120)

Aesthetica.

 

die moderne Falschmünzerei in den Künsten: begriffen als nothwendig, nämlich dem eigentlichsten Bedürfniß der modernen Seele gemäß

man stopft die Lücken der Begabung, noch mehr die Lücken der Erziehung, der Tradition, der Schulung aus

erstens: man sucht sich ein weniger artistisches Publikum, welches unbedingt ist in seiner Liebe (—und alsbald vor der Person niederkniet ...) Dazu dient die Superstition unseres Jahrhunderts, der Aberglaube vom “Genie” ...

zweitens: man haranguirt die dunklen Instinkte der Unbefriedigten, Ehrgeizigen, Sich-selbst-Verhüllten eines demokratischen Zeitalters: Wichtigkeit der Attitüde

drittens: man nimmt die Prozeduren der einen Kunst in die andere, vermischt die Absichten der Kunst mit denen der Erkenntniß oder der Kirche oder des Rassen-Interesses (“Nationalismus”) oder der Philosophie—man schlägt an alle Glocken auf einmal und erregt den dunklen Verdacht, daß man ein “Gott” sei

viertens: man schmeichelt dem Weibe, den Leidenden, den Empörten; man bringt auch in der Kunst narcotica und opiatica zum Übergewicht. Man kitzelt die “Gebildeten,” die Leser von Dichtern und alten Geschichten

9 [171]

(121)      NB.

Die Scheidung in “Publikum” und “Coenakel”: im ersten muß man heute Charlatan sein, im zweiten will man Virtuose sein und nichts weiter! Übergreifend über diese Scheidung, unsere spezifischen “Genies”  des  Jahrhunderts,  groß  für  Beides;  große  Charlatanerie  Victor  Hugo’s und R[ichard]. Wagners, aber gepaart mit so viel ächtem Virtuosenthum, daß sie auch den Raffinirtesten im Sinne der Kunst selbst genug thaten

Daher der Mangel an Größe 1) sie haben eine wechselnde Optik, bald in Hinsicht auf die gröbsten Bedürfnisse, bald in Hinsicht auf die raffinirtesten

9 [172]

(122)      Auf Fort Gonzaga, außerhalb von Messina.

Zur Vorrede. Zustand tiefster Besinnung. Alles gethan, um mich fern zu stellen; weder durch Liebe, noch durch Haß mehr gebunden. Wie an einer alten Festung. Spuren von Kriegen; auch von Erdbeben. Vergessen

9 [173]

(123)

Die Moral in der Werthung von Rassen und Ständen.

 

In Anbetracht, daß Affekte und Grundtriebe bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren Existenzbedingungen ausdrücken (—zum Mindesten von den Bedingungen, unter denen sie die längste Zeit sich durchgesetzt haben:)

: heißt verlangen, daß sie “tugendhaft” sind: daß sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre Vergangenheit auswischen.

: heißt, daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden

: heißt, daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich anähnlichen sollen—deutlicher: daß sie zu Grunde gehen ...

Der Wille zu Einer Moral erweist sich somit als die Tyrannei jener Art, der diese Eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere Art[en]: es ist die Vernichtung oder die Uniformirung zu Gunsten der Herrschenden (sei es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von ihr ausgenutzt zu werden)

“Aufhebung der Sklaverei”—angeblich ein Tribut an die “Menschenwürde,” in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen species (—Untergrabung ihrer Werthe und ihres Glücks—)

Worin eine gegnerische Rasse oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes, Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns (—seine “Tugenden” werden verleumdet und umgetauft)

Es gilt als Einwand gegen Mensch und Volk, wenn er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus sind wir ihm erwünscht, weil wir solche sind, an denen man sich nützen kann.

Die Forderung der “Vermenschlichung” (welche ganz naiv sich im Besitz der Formel “was ist menschlich?” glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Heerdeninstinkt.

“Gleichheit der Menschen”: was sich verbirgt unter der Tendenz, immer mehr Menschen als Menschen gleich zu setzen.

DieInteressirtheitin Hinsicht auf die gemeine Moral (Kunstgriff: die großen Begierden Herrschsucht und Habsucht zu Protectoren der Tugend zu machen)

In wiefern alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige, alles, was Credit geben und in Anspruch nehmen muß, es nöthig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Werthbegriff zu dringen: der Welthandel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich gleichsam die Tugend.

Insgleichen der Staat und jede Art Herrschsucht in Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kraft zu arbeiten

Insgleichen die Priesterschaft:

— Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vortheil errungen wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die Unmoralität—nach welchem “Rechte”? Nach gar keinem Rechte: sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Classen bedienen sich der Immoralität, wo sie ihnen nützt.

9 [174]

(124)      die Vermehrung der Kraft trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums

— ein neues Niveau zu begründen

— eine Methodik der Sammlung von Kräften, von Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung

— die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik

— die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit gethan werden muß

— die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist

— die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität

— der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des “großen Menschen”

9 [175]

(125)

Das Patronat der Tugend.

 
   
Habsucht
Herrschsucht
Faulheit
Einfalt
Furcht
ü
ú
ý
ú
þ
alle haben ein Interesse an der Sache
der Tugend: darum steht sie so fest.

9 [176]

[(126)]      Spinoza, von dem Goethe sagte “ich fühle mich ihm sehr nahe, obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige,”—den er gelegentlich seinen Heiligen nennt.

9 [177]

(127)      Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben—mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück

Wirklich den Pessimismus überwinden—; ein Goethescher Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.

NB. Mein Werk soll enthalten ein Gesammturtheil über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die erreichte “Civilisation”

9 [178]

(128)

Die drei Jahrhunderte.

 

Ihre verschiedene Sensibilität drückt sich am besten so aus:

Aristokratism Descartes,Herrschaft der Vernunft, Zeugniß von der Souverainetät des Willens
Feminism Rousseau,Herrschaft des Gefühls, Zeugniß von der Souverainetät der Sinne (verlogen)
Animalism Schopenhauer,Herrschaft der Begierde, Zeugniß von der Souverainetät der Animalität (redlicher, aber düster)

Das 17. Jahrhundert ist aristokratisch, ordnend, hochmüthig gegen das Animalische, streng gegen das Herz, “ungemüthlich,” sogar ohne Gemüth, “undeutsch,” dem Burlesken und dem Natürlichen abhold, generalisirend und souverain gegen Vergangenheit: denn es glaubt an sich. Viel Raubthier au fond, viel asketische Gewöhnung, um Herr zu bleiben. Das willensstarke Jahrhundert; auch das der starken Leidenschaft.

Das 18. Jahrhundert ist vom Weibe beherrscht, schwärmerisch, geistreich, flach, aber mit einem Geiste im Dienste der Wünschbarkeit, des Herzens, libertin im Genusse des Geistigsten, alle Autoritäten unterminirend; berauscht, heiter, klar, human, falsch vor sich, viel Canaille au fond, gesellschaftlich ...

Das 19. Jahrhundert ist animalischer, unterirdischer, häßlicher, realistischer, pöbelhafter, und ebendeshalb “besser” “ehrlicher,” vor der “Wirklichkeit” jeder Art unterwürfiger, wahrer, es ist kein Zweifel: natürlicher; aber willensschwach, aber traurig und dunkel-begehrlich, aber fatalistisch. Weder vor der “Vernunft,” noch vor dem “Herzen” in Scheu und Hochachtung; tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde (Schopenhauer sagte “Wille”; aber nichts ist charakteristischer für seine Philosophie, als daß der “Wille” in ihr fehlt, die absurde Verleugnung des eigentlichen Wollens) Selbst die Moral auf einen Instinkt reduzirt (“Mitleid”)

A[uguste]. Comte ist Fortsetzung des 18. Jahrhunderts (Herrschaft von coeur über la tête, Sensualism in der Erkenntnißtheorie, altruistische Schwärmerei)

Daß die Wissenschaft in dem Grade souverain geworden ist, das beweist, wie das 19. Jahrhundert sich von der Domination der Ideale losgemacht hat. Eine gewisse “Bedürfnißlosigkeit” im Wünschen ermöglicht uns erst unsere wissenschaftliche Neugierde und Strenge—diese unsre Art Tugend ...

Die Romantik ist Nachschlag des 18. Jahrhunderts; eine Art aufgethürmtes Verlangen nach dessen Schwärmerei großen Stils (—thatsächlich ein gut Stück Schauspielerei und Selbstbetrügerei: man wollte die starke Natur, die große Leidenschaft darstellen)

Das neunzehnte Jahrhundert sucht instinktiv nach Theorien, mit denen es seine fatalistische Unterwerfung unter das Thatsächliche gerechtfertigt fühlt. Schon Hegels Erfolg gegen die “Empfindsamkeit” und den romantischen Idealismus lag im Fatalistischen seiner Denkweise, in seinem Glauben an die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen, in seiner Rechtfertigung des wirklichen “Staates” (an Stelle von “Menschheit” usw.) Schopenhauer: wir sind etwas Dummes und, besten Falls, sogar etwas Sich-selbst-aufhebendes. Erfolg des Determinismus, der genealogischen Ableitung der früher als absolut geltenden Verbindlichkeiten, die Lehre vom milieu und der Anpassung, die Reduktion des Willens auf Reflexbewegungen, die Leugnung des Willens als “wirkende Ursache”; endlich—eine wirkliche Umtaufung: man sieht so wenig Wille, daß das Wort frei wird, um etwas Anderes zu bezeichnen.

Weitere Theorien: die Lehre von der objektiven, “willenslosen” Betrachtung, als einzigen Wegs zur Wahrheit; auch zur Schönheit; der Mechanismus, die ausrechenbare Starrheit des mechanischen Prozesses; der angebliche “naturalisme,” Elimination des wählenden richtenden, interpretirenden Subjekts als Princip — Auch der Glaube an das “Genie,” um ein Recht auf Unterwerfung zu haben

Kant, mit seiner “praktischen Vernunft,” mit seinem Moral-Fanatism ist ganz 18. Jahrhundert; noch völlig außerhalb der historischen Bewegung; ohne jeden Blick für die Wirklichkeit seiner Zeit z.B. Revolution; unberührt von der griechischen Philosophie; Phantast des Pflichtbegriffs; Sensualist; mit dem Hinterhang der dogmatischen Verwöhnung—die Rückbewegung auf Kant in unserem Jahrhundert ist eine Rückbewegung zum 18. Jahrhundert: man will sich ein Recht wieder auf die alten Ideale und die alte Schwärmerei verschaffen,—darum eine Erkenntnißtheorie, welche “Grenzen setzt,” d.h. erlaubt, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen ...

Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall,—vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltirt, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.

Goethe sein 18. Jahrhundert in sich findend und bekämpfend: die Gefühlsamkeit, die Naturschwärmerei, das Unhistorische, das Idealistische, das Unpraktische und Unreale des Revolutionären; er nimmt die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike zu Hülfe, insgleichen Spinoza (als höchsten Realisten); vor allem die praktische Thätigkeit mit lauter ganz festen Horizonten; er separirt sich nicht vom Leben; er ist nicht zaghaft und nimmt soviel als möglich auf sich, über sich, in sich,—er will Totalität, er bekämpft das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille, er disciplinirt sich, er bildet sich ... er sagt Ja zu allen großen Realisten (Napoleon—Goethes höchstes Erlebniß) [Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 49.]

9 [179]

(129)      Goethe: ein großartiger Versuch, das 18. Jahrhundert zu überwinden (Rückkehr zu einer Art Renaissance-Mensch), eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts: er hat dessen stärkste Triebe in sich entfesselt und zur Consequenz getrieben. Aber was er für seine Person erreichte, war nicht unser 19. Jahrhundert ...

— er concipirt einen hoch gebildeten, sich selbst im Zaum habenden, vor sich selbst ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Reichthum der Seele und der Natürlichkeit (bis zum Burlesken und Buffonesken) zu gönnen wagen darf, weil er stark genug dazu ist; den Menschen der Toleranz nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde geht, zu seiner Förderung zu gebrauchen weiß, den umfänglichsten, aber darum nicht chaotischen Menschen. Sein Complement ist Napoleon (im kleinerem Maaße Friedrich der Grosse), der ebenfalls den Kampf gegen das 18. Jahrhundert übernimmt.

NB In einem gewissen Sinn hat das 19. Jahrhundert alles das auch erstrebt, was Goethe für sich gethan hat: eine Universalität des Verstehens, Gutheißens, An-sich-herankommen-lassens ist ihm zu eigen; ein verwegener Realismus, eine Ehrfurcht vor den Thatsachen—wie kommt es, daß das Gesammtresultat kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein Nihilismus, eine Erfolglosigkeit, welche fortwährend wieder zum 18. Jahrhundert zurückgreifen lehrt (z.B. als Romantik, als Altruismus, als Femininismus, als Natural[ismus])

9 [180]

(130)      Händel, Leibnitz, Goethe, Bismarck—für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.

9 [181]

(131)      ein Systematiker, ein Philosoph, der seinem Geiste nicht länger mehr zugestehen will, daß er lebt, daß er wie ein Baum mächtig u[nd] breit und unersättlich um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige Dummheit, ein “System” herausgeschnitzt hat —

9 [182]

[Vgl. Ferdinand Brunetière, Études critiques sur l'histoire de la littérature française. Troisième série. Paris: 1887:53ff.]

(132)      “ohne den christlichen Glauben,” meinte Pascal, “werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, un monstre et un chaos.” Diese Prophezeiung haben wir erfüllt: nachdem das schwächlich-optimistische 18. Jahrhundert den Menschen verhübscht und verrationalisirt hatte

Schopenhauer und Pascal: in einem wesentlichen Sinn ist Schopenhauer der Erste, der die Bewegung Pascals wieder aufnimmt: un monstre et un chaos, folglich etwas, das zu verneinen ist ... Geschichte, Natur, der Mensch selbst!

unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, ist die Folge unsrer Verderbniß, unsres moralischen Abfalls: so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer. “Um so tiefer die Verderbniß der Vernunft, um so nothwendiger die Heilslehre”—oder, Schopenhauerisch gesprochen, die Verneinung

9 [183]

[Vgl. Ferdinand Brunetière, Études critiques sur l'histoire de la littérature française. Troisième série. Paris: 1887:23f.]

(133)      das 17. Jahrhundert leidet am Menschen wie an einer Summe von Widersprüchen, “l’amas de contradictions,” der wir sind
Schop[enhauer] sucht den Menschen zu entdecken, zu ordnen, auszugraben: während das 18. Jahrhundert zu vergessen sucht, was man von der Natur des Menschen weiß, um ihn an seine Utopie anzupassen. “oberflächlich, weich, human”—schwärmt für “den Menschen” —

Das 17. Jahrhundert sucht die Spuren des Individuums auszuwischen, damit das Werk dem Leben so ähnlich als möglich sehe. Das 18. sucht durch das Werk für den Autor zu interessiren.

Das 17. Jahrhundert sucht in der Kunst Kunst, ein Stück Cultur; das 18. treibt mit der Kunst Propaganda für Reformen socialer und politischer Natur.



Die “Utopie,” der “ideale Mensch,” die Natur-Angöttlichung, die Eitelkeit des Sich-in-Scene-setzens, die Unterordnung unter die Propaganda socialer Ziele, die Charlatanerie—das haben wir vom 18. Jahrhundert.



Der Stil des 17. Jahrhunderts: propre, exact et libre



das starke Individuum, sich selbst genügend oder vor Gott in eifriger Bemühung—und jene moderne Autoren-Zudringlichkeit und Zuspringlichkeit, — das sind Gegensätze. “Sich-produziren”—damit vergleiche man die Gelehrten von Port-Royal.



Alfieri hatte einen Sinn für großen Styl



der Haß gegen das Burleske (Würdelose), der Mangel an Natursinn gehört zum 17. Jahrhundert.

9 [184]

[Vgl. Ferdinand Brunetière, Études critiques sur l'histoire de la littérature française. Troisième série. Paris: 1887:270-78, 286-89.]

(134) Rousseau:die Regel gründend auf das Gefühl
 die Natur als Quelle der Gerechtigkeit
 der Mensch vervollkommnet sich in dem Maaße, in dem er sich der Natur nähert

(nach Voltaire, in dem Maaße, in dem er sich von der Natur entfernt

dieselben Epochen für den Einen die des Fortschritts der Humanität, für den Anderen Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit

Voltaire noch die humanità im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtù (als “hohe Cultur”), er kämpft für die Sache der honnêtes gens und de la bonne compagnie, die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft, der Künste, die Sache des Fortschritts selbst und der Civilisation.

Der Kampf gegen 1760 entbrannt: der Genfer Bürger und le seigneur de Tourney [sic.: Ferney]. Erst von da an wird Voltaire der Mann seines Jahrhunderts, der Philosoph, der Vertreter der Toleranz und der Pfeifer des Unlaubens (bis dahin nur un bel esprit) Der Neid und der Haß auf Rousseaus Erfolg trieb ihn vorwärts, “in die Höhe” —

— Pour “la canaille” un dieu remunerateur et vengeur—Voltaire.

Kritik beider Standpunkte in Hinsicht auf den Werth der Civilisation.

die social[e] Erfindung die schönste, die es giebt für Voltaire, es giebt kein höheres Ziel als sie zu unterhalten und zu vervollkommnen; eben das ist die honnêteté, die socialen Gebräuche zu achten; Tugend ein Gehorsam gegen gewisse nothwendige “Vorurtheile” zu Gunsten der Erhaltung der “Gesellschaft.”

Cultur-Missionär, Aristokrat, Vertreter der siegreichen herrschenden Stände und ihrer Werthungen. Aber Rousseau blieb Plebejer, auch als homme de lettres, das war unerhört; seine unverschämte Verachtung alles dessen, was nicht er selbst war.

Das Krankhafte an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt. (Lord Byron verwandt; auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen Groll; Zeichen der “Gemeinheit”; später, durch Venedig ins Gleichgewicht gebracht, begriff er, was mehr erleichtert und wohlthut, ... l’insouciance)

er ist stolz in Hinsicht auf das, was er ist, trotz seiner Herkunft; aber er geräth außer sich, wenn man ihn daran erinnert ...

Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. Die Rancune des Kranken; die Zeiten seines Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung, und seines Mißtrauens.

Die Vertheidigung der Providenz durch Rousseau (gegen den Pessismismus Voltaires): er brauchte Gott, um den Fluch auf die Gesellschaft und die Civilisation werfen zu können; alles mußte an sich gut sein, da Gott es geschaffen; nur der Mensch hat den Menschen verdorben. Der “gute Mensch” als Naturmensch war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma von der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und Begründetes.

Wirkung Rousseaus:

die Narrheit zur Größe gerechnet, Romantik (erstes Beispiel nicht stärkstes)
“das souveraine Recht der Passion”
“die monstruöse Erweiterung des “ich”
“das Naturgefühl”
“in der Politik hat man seit 100 Jahren einen Kranken als Führer genommen”

Romantik á la Rousseau

die Leidenschaft,
die “Natürlichkeit”
die Fascination der Verrücktheit
die Pöbel-Rancune als Richterin
die unsinnige Eitelkeit der Schwachen

9 [185]

(135)     Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle:

das Problem der Civilisation, der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760

der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, “unmoralischer,” stärker, sich-selbst-vertrauender—und insofern “natürlicher”—das ist “Fortschritt”

(dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitstheilung, die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten aus einander: so daß die Gesammtthatsache nicht ohne Weiteres in die Augen springt.) ... Es gehört zur Stärke, zur Selbstbeherrschung und Fascination der Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden zu machen. Zu jedem “Fortschritt” gehört eine Umdeutung der verstärkten Elemente ins “Gute” (d.h. — — —

9 [186]

(136)      Das Problem des 19. Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zu einander gehören? Ob es aus Einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner Ideale, deren Widerspruch in einem höheren Zwecke bedingt sind, als etwas Höheres?— Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe sein, in diesem Maaße, in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit, der Nihilism könnte ein gutes Zeichen sein.

9 [187]

Beyle geboren 23 Januar 1783

9 [188]

Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört Denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter ...

Daß es Deutsch geschrieben ist, ist zum Mindesten unzeitgemäß: ich wünschte es französisch geschrieben zu haben, damit es nicht als Befürwortung irgend welcher reichsdeutschen Aspirationen erscheint.



Bücher zum Denken,—sie gehören denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter ... Die D[eutschen] von Heute sind keine Denker mehr: ihnen macht etwas Anderes Vergnügen und Eindruck. Der  Wille  zur  Macht  als  Princip  wäre  ihnen  sch[we]r  verständlich  ... Ebendarum  wünschte ich meinen Z[arathustra] nicht deutsch geschrieben zu haben



Ich mißtraue allen Systemen und Systematikern und gehe ihnen aus dem Wege: vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buche das System, dem ich ausgewichen bin ... [Vgl. Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, 26.]

Der Wille zum System: bei einem Philosophen moralisch ausgedrückt eine feinere Verdorbenheit, eine Charakter-Krankheit, unmoralisch ausgedrückt, sein Wille, sich dümmer zu stellen als man ist—Dümmer, das heißt: stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, commandirender, tyrannischer ...



Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? ... Aber ich notire mich, für mich.

9 [189]

gerade unter Deutschen wird heute am wenigsten gedacht. Aber wer weiß! schon in zwei Geschlechtern wird man das Opfer der nationalen Macht-Vergeudung, die Verdummung nicht mehr nöthig haben.

9 [190]

Ich lese Zarathustra: aber wie konnte ich dergestalt meine Perlen vor die Deutschen werfen!

[Vgl. November 1887—März 1888 11 [417]; Juli-August 1888 18 [5]; Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 51; 18. Juli 1888, Brief an Dr. Carl Fuchs: "Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Zarathustra: ein Buch, das dermaßen auszeichnet, daß wer sagen kann 'ich habe sechs Sätze davon verstanden, das heißt erlebt' damit zu einer höheren Ordnung der Sterblichen gehört.— Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß! es verdirbt beinahe den Charakter! Die Kluft ist zu groß geworden. Ich treibe seitdem eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu bleiben."]

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel