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Concordance between
The Will to Power
and KSA
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Sommer 1886—Frühjahr 1887 6 [1-26]

6 [1]

Wenn man eine tapfere und wohlgerathene Seele im Leibe hat, kann man sich schon diesen artigen Luxus von Immoralität erlauben.

Nachspiel und Abgesang

6 [2]

Jenseits von Gut und Schlecht?
Eine
Philosophische Streitschrift.

(Zur Ergänzung und Verdeutlichung des letztveröffentlichten Buches “Jenseits v. Gut und Böse”)

Von
Friedrich Nietzsche.

6 [3]

Sieben Vorreden

Mit einem Anhange:
Lieder des Prinzen Vogelfrei.

 “Ich wohne in meinem eignen Haus,
“Hab Niemandem nie nichts nachgemacht,
“Und—lachte noch jeden Meister aus,
“Der nicht sich selber ausgelacht”

Von
Friedrich Nietzsche.

Leipzig.
Verlag von E. W. Fritzsch.

6 [4]

Vorreden und Nachreden.

Meine Schriften reden nur von meinen eignen Erlebnissen—glücklicherweise habe ich Viel erlebt—: ich bin darin, mit Leib und Seele—wozu es verhehlen?, ego ipsissimus, und wenn es hoch kommt, ego ipsissim um. Aber es bedurfte bei mir immer erst einiger Jahre Distanz, um jene gebieterische Lust und Kraft zu verspüren, welche jedes solches Erlebniß, jeden solchen überlebten Zustand darstellen heißt. Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings sehr wesentlichen Ausnahme zurückdatirt. Manche sogar wie die ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen, sogar hinter die Entstehungs- und Erlebnißzeit eines früher herausgegebenen Buches, der “Geburt der Tragödie”: wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben wird. Jener zornige Ausbruch gegen die Deutschthümelei, Behäbigkeit und Selbstbewunderung des alten David Strauß machte Stimmungen Luft, mit denen ich als Student inmitten deutscher Bildung und Bildungs-Philisterei gesessen hatte; und was ich gegen die “historische Krankheit” gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr genesen lernte und welcher ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf “Historie” zu verzichten. (Quod demonstratum est—). Als ich meine Dankbarkeit gegen meinen ersten und einzigen Erzieher, gegen Arthur Schopenhauer ausdrückte—ich würde sie jetzt noch viel stärker ausdrücken—war ich für meine eigne Person mitten in der moralistischen Scepsis und Auflösung drin und glaubte bereits an “gar nichts mehr,” wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück “über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne,”—aber schon in der “Geburt der Tragödie” und ihrer Lehre vom Dionysischen erscheint der Schopenhauerische Pessimismus als überwunden. Meine Festrede zu Ehren Richard Wagners, bei Gelegenheit seiner Bayreuther Siegesfeier—Bayreuth bedeutet den größten Sieg, den je ein Künstler errungen hat—war zugleich ein Lossage- und Entfremdungs-Akt. Wagner selbst täuschte sich darüber nicht: so lange man liebt, malt man keine solchen “Porträts” und “betrachtet” überhaupt nicht—“jeder, der sich genau prüft, weiß, daß selbst zum Betrachten eine geheimnißvolle Gegnerschaft, die des Entgegenschauens gehört,” heißt es p. 46 der genannten Schrift. Die Gelassenheit, um über lange Jahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens reden zu können, kam mir erst mit dem Buche “Menschliches, Allzumenschliches,” auf ihm liegt die heitere und neugierige Kälte des Psychologen, der eine Menge schmerzlicher Dinge, lauter facta, richtiger fata, seiner Vergangenheit für sich feststellt und mit der Nadel gleichsam fest sticht:—bei einer solchen Arbeit hat man wie bekannt immer etwas Blut an den Fingern ... Um es schließlich zu sagen, worauf ich mit den eben gegebenen Winken die Leser dieses Buches vorzubereiten für nöthig finde: es steht auch mit diesem Buche, dessen letzter Theil hiermit ans Licht gegeben wird, nicht anders als es bisher mit meinen Schriften stand,—es ist ein Stück meines Hinter-mir. Was ihm zu Grunde liegt, Gedanken, erste Niederschriften und Hinwürfe aller Art, das gehört meiner Vergangenheit an: nämlich jener räthselreichen Zeit, in der “Also sprach Zarathustra” entstand: es dürfte schon um dieser Gleichzeitigkeit willen nützliche Fingerzeige zum Verständnisse des eben genannten schwerverständlichen Werkes abgeben. Namentlich auch zum Verständnisse seiner Entstehung: mit der es etwas auf sich hat. Damals dienten mir solcherlei Gedanken sei es zur Erholung, sei es als Selbstverhör und Selbstrechtfertigung inmitten eines unbegrenzt gewagten und verantwortlichen Unterfangens: möge man sich des aus ihnen erwachsenen Buches zu einem ähnlichen Zwecke bedienen! Oder auch als eines vielverschlungenen Fußwegs, der immer wieder unvermerkt zu jenem gefährlichen und vulkanischen Boden hinlockt, aus dem das eben genannte Zarathustra-Evangelium entsprungen. So gewiß auch dies “Vorspiel einer Philosophie der Zukunft” keinen Commentar zu den Reden Zarathustra’s abgiebt und abgeben soll, so vielleicht doch eine Art vorläufiges Glossarium, in dem die wichtigsten Begriffs- und Werth-Neuerungen jenes Buchs—eines Ereignisses ohne Vorbild, Beispiel, Gleichniß in aller Litteratur—irgendwo einmal vorkommen und mit Namen genannt sind. Gesetzt endlich, meine Herrn Leser, daß gerade diese Namen euch nicht gefallen, euch nicht verführen, gesetzt sogar daß vestigia terrent ..., wer sagt euch, daß ich’s anders—will? Für meinen Sohn Zarathustra verlange ich Ehrfurcht; und es soll nur den Wenigsten erlaubt sein, ihm zuzuhören. Über mich dagegen seinen “Vater”—darf man lachen, wie ich selbst es thue: das gehört Beides sogar zu meinem Glücke. Oder, um einer Redensart [mich] zu bedienen, [die] über meiner Hausthür steht, und alles Gesagte noch einmal kurz zu sagen:

ich wohne in meinem eignen Haus,
hab Niemandem nie nichts nachgemacht,
und lachte noch jeden Meister aus,
der nicht sich selber—ausgelacht.

*           *
*

6 [5]

Poètes et Mélodes. Étude sur les origines du rhythme tonique dans l’hymnographie de l’église grecque. Par le P. Edmond Bouvy

XVI, 384 p.
Nîmes, Maison de l’Assomption 1886.

[Vgl. Edmond Bouvy, Poètes et mélodes. Étude sur les origines du rythme tonique dans l'hymnographie de l'Église grecque. Nìmes: Maison de l'Assomption, 1886.]

 

W. Meyer Anfang und Ursprung der lateinischen und griechischen rhythmischen Dichtung. Abhandlung der königlichen bairischen Akademie der Wissenschaften 1884.
[Vgl. Wilhelm Meyer, Anfang und Ursprung der lateinisch und griechischen rhythmischen Dichtung. Aus den Abhandlungen der k. bayer. Akademie der Wiss. I. Cl. XVII. Bd. II. Abth. München: Verlag der k. Akademie, in Comission bei G. Franz, 1884.]

Barbey d’Aurevilly
    Oeuvres et hommes.
                Sensations d’histoire.
[Vgl. Jules Amédée Barbey d'Aurevilly, Les oeuvres et les hommes. Vol. 8. Sensations d'histoire. Paris: Frinzine, 1887.]

6 [6]

Grundsätzliches.
An die Logiker.
Zur Lehre vom Machtgefühl.
Gegen die Idealisten.
Gegen die Wirklichkeits-Gläubigen.
Aufklärung über das Genie
Das Fragwürdige an den Tugenden.
Zu Ehren des Bösen.
Das Problem des Künstlers.
Politika.
Weib und Liebe.
Völker und “Volk.”
Musik und Musikanten
Zur Kritik der Religionen.
Die geistigen Menschen
Einsamkeit.

6 [7]

Zur Psychologie der Philosophen. Wie es Einem zu Muthe ist bei langem Verweilen in abstractis; die abkühlende Wirkung, die Plato empfand; die hypnotisirende, welche vielleicht die Inder empfanden und suchten. Ob nicht das Verlangen ins Om im Grunde das Verlangen des Fakirs ist, durch alle möglichen Mittel gefühllos zu werden; ebenso bei der Stoa?— Nebeneinander sinnliche derbste Lustbarkeit und speculative Träumerei.

6 [8]

Wenn wir unsere Sinne um das Zehnfache verschärften oder abstumpften, würden wir zu Grunde gehn. Die Art des Sinnes steht im Verhältniß zu einem Mittler von Erhaltungs-Möglichkeit. Ebenso was wir als groß, als klein, als nah, als fern empfinden. Unsre “Formen”—daran ist nichts, was andere Wesen wahrnehmen könnten als der Mensch:—unsre Existenz-Bedingungen schreiben die allgemeinsten Gesetze vor, innerhalb derer wir Formen, Gestalten, Gesetze sehn, sehn dürfen ...

6 [9]

Wenn kein Ziel in der ganzen Geschichte der menschlichen Geschicke liegt, so müssen wir eins hineinstecken: gesetzt nämlich, daß ein Ziel uns nöthig ist, und uns andrerseits die Illusion eines immanenten Zieles und Zwecks durchsichtig geworden ist. Und wir haben Ziele deshalb nöthig, weil wir einen Willen nöthig haben—der unser Rückgrat ist. “Wille” als Schadenersatz für “Glaube,” d.h. für die Vorstellung, daß es einen göttlichen Willen giebt, Einen, der etwas mit uns vorhat ...

6 [10]

Befreien wir uns, wenn wir nicht zu Schanden den Namen der Philosophie machen wollen, von einigen Abgeschmacktheiten. Z.B. vom Begriff “Weltprozeß”: davon wissen wir nichts. Schon der Begriff “Welt” ist ein Grenzbegriff: mit diesem Wort fassen wir ein Reich, wohin wir alle unsere nothwendigen Unwissenheiten schicken.

6 [11]

Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln:—es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten, bei “Substanz” “Subjekt” “Objekt” “Sein” “Werden.”— Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben: und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben.

6 [12]

Je gefährlicher der Heerde eine Eigenschaft erscheint, um so gründlicher muß sie in Acht gethan werden. Dies ist ein Grundsatz innerhalb der Geschichte der Verleumdung. Vielleicht, daß die ganz furchtbaren Mächte heute noch in Fesseln gelassen werden müssen. (Schluß von M. Allz. 2.)

6 [13]

Wir werden am letzten den ältesten Bestand von Metaphysik los werden, gesetzt daß wir ihn loswerden können—jenen Bestand, welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaaßen unentbehrlich gemacht hat, daß es scheinen möchte, wir würden aufhören, denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten. Gerade die Philosophen wissen sich am schwersten vom Glauben frei zu machen, daß die Grundbegriffe und Kategorien der Vernunft ohne Weiteres schon ins Reich der metaphysischen Gewißheiten gehören: von Alters her glauben sie eben an die Vernunft als an ein Stück metaphysischer Welt selbst,—in ihnen bricht dieser älteste Glaube wie ein übermächtiger Rückschlag immer wieder aus

6 [14]

Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr auf einander reduzirbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort “Erkenntniß” Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität—; während umgekehrt alle unsere Werthempfindungen (d.h. eben unsere Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, das heißt, an unseren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen “Wahrheiten,” die schlechterdings nicht “erkannt” werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsere eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsere menschlichen Auslegungen und Werthe allgemeine und vielleicht constitutive Werthe sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes, der immer noch in der Religion seinen festesten Sitz hat. Muß ich umgekehrt noch hinzufügen, daß Quantitäten “an sich” in der Erfahrung nicht vorkommen, daß unsere Welt der Erfahrung nur eine qualitative Welt ist, daß folglich Logik und angewandte Logik (wie Mathematik) zu den Kunstgriffen der ordnenden, überwältigenden, vereinfachenden, abkürzenden Macht gehört, die Leben heißt, also etwas Praktisches und Nützliches, nämlich Leben-Erhaltendes, aber ebendarum auch nicht im Entferntesten etwas “Wahres” [ist]?

6 [15]

Den Sinn nicht in den Dingen suchen: sondern ihn hineinstecken!

6 [16]

Wozu noch Ideen, wenn man Ideale hat! Schöne Gefühle genügen.

6 [17]

Wünschbarkeit sage ich, nicht Ideal.

6 [18]

Man ißt eine Speise nicht mehr aus Moral; so wird man einmal auch nicht mehr aus Moral “Gutes thun.”

6 [19]

Phaenomeno-Manie.

6 [20]

Geister ohne Nase oder mit Stockschnupfen, die ganze Spezies Geist, die ich Thierochs nenne

6 [21]

Ein Ideal zu haben entbindet beinahe davon Ideen zu haben. Es genügen schöne Augen, schöne Gefühle an einem rechten Platze, und, vor allem, hier und da eine unverzeihlich thörichte Handlung

Wozu noch Ideen, wenn man Ideale hat! Da genügen schon schöne Augen, schwellende Busen und hier und da eine thörichte Handlung ersten Ranges, die gegen jede Vernunft gefeit ist.

6 [22]

Unter Künstlern der Zukunft.— Ich sehe hier einen Musiker, der die Sprache Rossini’s und Mozart’s wie seine Muttersprache redet, jene zärtliche, tolle, bald zu weiche, bald zu lärmende Volkssprache der Musik mit ihrer schelmischen Indulgenz gegen Alles, auch gegen das “Gemeine,”—welcher sich aber dabei ein Lächeln entschlüpfen läßt, das Lächelndes Verwöhnten, Raffinirten, Spätgeborenen, der sich zugleich aus Herzensgrunde beständig noch über die gute alte Zeit und ihre sehr gute, sehr alte, altmodische Musik lustig macht: aber ein Lächeln voll Liebe, voll Rührung selbst ... Wie? ist das nicht die beste Stellung, die wir heute zum Vergangnen überhaupt haben können—auf diese Weise dankbar zurückblicken und es selbst “den Alten” nachmachen, mit viel Lust und Liebe für die ganze großväterliche Ehrbarkeit und Unehrbarkeit, aus der wir herstammen, und ebenso mit jenem sublimen Körnchen eingemischter Verachtung, ohne welches alle Liebe zu schnell verdirbt und modrig wird, “dumm” wird ... Vielleicht dürfte man sich etwas Ähnliches auch für die Welt des Worts versprechen und ausdenken, nämlich daß einmal ein verwegener Dichter-Philosoph käme, raffinirt und “spätgeboren” bis zum Exceß, aber befähigt, die Sprache der Volks-Moralisten und heiligen Männer von Ehedem zu reden, und dies so unbefangen, so ursprünglich, so begeistert, so lustig-geradewegs, als wenn er selbst einer der “Primitiven” wäre; dem aber, der Ohren noch hinter seinen Ohren hat, einen Genuß ohne Gleichen bietend, nämlich zu hören und zu wissen, was da eigentlich geschieht,—wie hier die gottloseste und unheiligste Form des modernen Gedankens beständig in die Gefühlssprache der Unschuld und Vorwelt zurückübersetzt wird, und in diesem Wissen den ganzen heimlichen Triumph des übermüthigen Reiters mitzukosten, der diese Schwierigkeit, diesen Verhau vor sich aufthürmte und über die Unmöglichkeit selbst hinweggesetzt ist. —

6 [23]

Es macht mir wenig aus, ob sich heute Einer mit der Bescheidenheit der philosophischen Skepsis oder mit religiöser Ergebung sagt: “das Wesen der Dinge ist mir unbekannt” oder ein Andrer, Muthigerer, der noch nicht genug Kritik und Mißtrauen gelernt hat: “das Wesen der Dinge ist mir zu einem guten Theile unbekannt.” Beiden gegenüber halte ich aufrecht, daß sie unter allen Umständen noch viel zu viel zu wissen vorgeben, zu wissen sich einbilden, nämlich als ob die Unterscheidung, welche sie beide voraussetzen, zu Recht bestehe, die Unterscheidung von einem “Wesen der Dinge” und einer Erscheinungs-Welt. Um eine solche Unterscheidung machen zu können, müßte man sich unsern Intellekt mit einem widerspruchsvollen Charakter behaftet denken: einmal, eingerichtet auf das perspektivische Sehen, wie dies noth thut, damit gerade Wesen unsrer Art sich im Dasein erhalten können, andrerseits zugleich mit einem Vermögen, eben dieses perspektivische Sehen als perspektivisches, die Erscheinung als Erscheinung zu begreifen. Das will sagen: ausgestattet mit einem Glauben an die “Realität,” wie als ob sie die einzige wäre, und wiederum auch mit der Einsicht über diesen Glauben, daß er nämlich nur eine perspektivische Beschränktheit sei in Hinsicht auf eine wahre Realität. Ein Glaube aber, mit dieser Einsicht angeschaut, ist nicht mehr Glaube, ist als Glaube aufgelöst. Kurz, wir dürfen uns unsern Intellekt nicht dergestalt widerspruchsvoll denken, daß er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben als Glauben. Schaffen wir das “Ding an sich” ab und, mit ihm, einen der unklarsten Begriffe, den der “Erscheinung”! Dieser ganze Gegensatz ist, wie jener ältere von “Materie und Geist,” als unbrauchbar bewiesen

6 [24]

Dies Schicksal liegt nunmehr über Europa, daß gerade seine stärksten Söhne spät und selten zu ihrem Frühling kommen—, daß sie zumeist schon jung verekelt, verwintert, verdüstert zu Grunde gehn, gerade weil sie den Becher der Enttäuschung—und das ist heute der Becher der Erkenntniß—mit der ganzen Leidenschaft ihrer Stärke getrunken, ausgetrunken haben:—und sie würden nicht die Stärksten sein, wenn sie nicht auch die Enttäuschtesten gewesen wären! Denn das ist die Probe ihrer Kraft: erst aus der ganzen Krankheit der Zeit heraus müssen sie zu ihrer Gesundheit kommen. Der späte Frühling ist ihr Abzeichen; fügen wir hinzu: auch die späte Thorheit, die späte Narrheit, die späte Übermüthigkeit! Unsere Jugend kommt, wenn sie nicht mehr vermuthet wird, wir verschieben die Jahreszeiten des Lebens. Mag uns darin begreifen, wer sich gleich uns über sich selbst am meisten verwundert hat. Denn so gefährlich steht es heute: alles, was wir geliebt haben, als wir jung waren, hat uns betrogen; unsere letzte Liebe—die, welche uns dies gestehen macht—unsere Liebe zur Wahrheit—sehen wir zu, daß uns nicht auch diese Liebe noch betrügt! —

6 [25]

Kritik des bisherigen Pessimismus

Abwehr der eudämonologischen Gesichtspunkte als letzte Reduktion auf die Frage: welchen Sinn hat es? Reduktion der Verdüsterung.— Unser Pessimismus: die Welt ist nicht das werth, was wir glaubten,—unser Glaube selber hat unsre Triebe nach Erkenntniß so gesteigert, daß wir dies heute sagen müssen. Zunächst gilt sie damit als weniger werth: sie wird so zunächst empfunden—nur in diesem Sinne sind wir Pessimisten, nämlich mit dem Willen, uns rückhaltlos diese Umwerthung einzugestehn und uns nichts nach alter Weise vorzuleiern, vorzulügen ... Gerade damit finden wir das Pathos, welches uns vielleicht treibt, neue Werthe zu suchen. In summa: die Welt könnte viel mehr werth sein, als wir glaubten,—wir müssen hinter die Naivetät unsrer Ideale kommen, und daß wir vielleicht im Bewußtsein, ihr die höchste Interpretation zu geben, unserem menschlichen Dasein nicht einmal einen mäßig-billigen Werth gegeben haben.

was ist vergöttert worden? die Werthinstinkte innerhalb der Gemeinde (das, was deren Fortdauer ermöglichte);

was ist verleumdet worden? das, was die höheren Menschen abtrennte von den niederen, die Klüfte-schaffenden Triebe.



Kritik des Causalismus.
Er ist eine Auslegung noch nicht einmal, nur eine Formulirung,
Beschreibung; “das Nacheinander” erwartet immer noch die Auslegung.



Kritik des Begriffs “Erkenntniß.”
Gegen “Erscheinung.”



Unsere große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen.

Unsere “neue Welt”: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unserer Werthgefühle sind,—also “Sinn” in die Geschichte legen können ...

Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Consequenz—ihr wißt, wie sie lautet:—daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten giebt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge—und nicht die Wahrheit.— göttlich ist ...?

6 [26]

Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.

Die Lehre von der ewigen Wiederkunft.

Von der Rangordnung.

Kritik der höchsten Werthgefühle
Ihr Ursprung1) aus der Sphäre der Kranken und Verunglückten.
2) aus der Heerde und deren Instinkten—heitere und düstere Religionen.
Ansätze entgegengesetzter Werthe:—weshalb unterlegen?
Kritik des “guten Menschen” (Kritik Gottes).
Kritik der bisherigen Affekt-Beurtheilung (der Rangordnung).
Kritik der bisherigen Philosophien (als Consequenzen theils krankhafter, theils heerdenhafter Wünschbarkeiten).

Der Wille zur Wahrheit
Furcht, Faulheit Sinnlichkeit, Herrschsucht, Habsucht—und deren Metamorphosen.
Krankheit, Alter, Müdigkeit —



Morphologie der Affecte: Reduction derselben auf den Willen zur Macht.
Die organischen Funktionen, betrachtet als Ausgestaltung des Willens zur Macht.
Theorie der Herrschaftsgebilde: Entwicklung der Organismen.
Die Heerde: eine Übergangsform, ein Mittel zur Erhaltung des vielfacheren stärkeren Typus.
Vervollkommnung”: Reduction auf das Mächtiger-werden des Typus.

 

Bedingungen: Sklaverei, Stände.

— in wiefern ist auch der Rückgang und Auseinandergang ein “Wille zur Macht”?Im Menschlichen Organismus erscheint die höchste Wesens-Gattung als vergeistigter Affekt, befehlend, vorherrschend.
Was ist “Geistigkeit”?

Kosmologische Perspective.

Die herrschaftlichen Typen und ihre Psychologie
der Mann (Folge eines Siegs)
der Gesetzgeber
der Eroberer
der Priester
der “Hirt” im Gegensatz zum “Herrn” (ersterer Mittel zur Erhaltung der Heerde, letzterer Zweck, weshalb die Heerde da ist.
die noblesse
was ist Schönheit? Ausdruck des Siegreichen und Herrgewordenen.
 
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