From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel
 
English Translation
Concordance between
The Will to Power
and KSA
Home

COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel.

Sommer 1886—Herbst 1887 5 [1-110]

5 [1]

Bücher Ziegler

Geschichte der Ethik

[Theobald Ziegler, Geschichte der Ethik. Bonn: Strauß; Strassburg: Verl. v. Karl J. Trübner. G. Otto's Buchdruckerei in Darmstadt, 1881-86. 1881 Ausg., 1882 Ausg., 1886 Ausg..]

5 [2]

Morgenröthe
und
fröhliche Wissenschaft

5 [3]

Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt,—wo wir nicht mehr weiter sehn können z.B. das Wort “ich” das Wort “thun,” das Wort “leiden”: das sind vielleicht Horizontlinien unsrer Erkenntniß, aber keine “Wahrheiten.”

5 [4]

Der faule Fleck des Kantischen Kriticismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: Kant hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung “Erscheinung” und “Ding an sich”—er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insofern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt ablehnte—gemäß seiner Fassung des Causalitätsbegriffs und dessen rein-intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung anderseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie als ob “das Ding an sich” nicht nur erschlossen sondern gegeben sei.

5 [5]

[Vgl. Paul Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Chemnitz: Schmeitzner; London E. C.: Wohlauer, 1877.]

Der Ursprung der moralischen Empfindungen von Dr. Paul Rée: ein kluges langsames Büchlein ohne Schwärmerei und tugendhafte Attitüden, dem überhaupt auf eine angenehme Weise der Charakter der Jugend abgeht. Die Worte, mit welchen ich an dieser Stelle seinen jungen und abseits gestellten Verfasser in den Bereich der Wissenschaft. zu treiben suchte—starke Worte, die man mir sogar zum Vorwurf gemacht hat—gehören vielleicht wirklich unter meine Dummheiten; mindestens waren sie bisher umsonst gesprochen ... (Ich gedenke mit Verdruß, wie man merkt, einer getäuschten Hoffnung, von jener Art Hoffnungen, wie sie mir mehrfach gerade die Begabung von Juden erregt hat,—als die Art Mensch, die im jetzigen Europa bei weitem am ersten Geistigkeit angeerbt bekommen, zugleich aber auch ein tempo der Entwicklung, das verhängnißvoll rasch zur Reife (und leider auch noch über sie hinaus ...) treibt)

5 [6]

Und wollt ihr ernstlich “das Jenseits” loswerden: ich fürchte, es giebt kein anderes Mittel, ihr müßt euch erst zu meinem “Jenseits” entschließen.

5 [7]

Das Glück, von dem die Bescheidenen glauben, sein rechter Name sei auf Erden “So! So!”



Wer etwas ist, das leicht zerbricht, fürchtet sich vor Kinderhänden und Allem, was nicht lieben kann, ohne zu zerstören.



Wer in Dornen greift, schont seine Finger weniger als wer einen Dolch führt.



gehörnte Wagnerianer

5 [8]

Das psychologische Kunststück dieser Jahre war, über einen furchtbaren Abgrund zu gehen und nicht hinunter zu blicken; sondern heiter Schritt für Schritt thun, als ob es sich darum handle, eine bunte Wiese zu überschreiten, an deren Ende vielleicht eine große Gefahr auf uns wartet: kurz, muthig über eine Gefahr weggehn, mit dem Glauben, einer Gefahr entgegenzugehen.

5 [9]

Exoterischesoterisch
1.— alles ist Wille gegen Willen
2Es giebt gar keinen Willen
1Causalismus
2Es giebt nichts wie Ursache-Wirkung.
1. 
 Alle Causalität geht psychologisch auf den Glauben an Absichten zurück:
Gerade die Wirkung einer Absicht ist unbeweisbar.
(Causa efficiens ist eine Tautologie mit finalis) psychologisch angesehn —

5 [10]

Was ist “erkennen”? Zurückführen von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, Vertrautes. Erster Grundsatz: das, woran wir uns gewöhnt haben, gilt uns nicht mehr als Räthsel, als Problem. Abstumpfung des Gefühls des Neuen, Befremdenden: alles, was regelmäßig geschieht, scheint uns nicht mehr fragwürdig. Deshalb ist die Regel suchen der erste Instinkt des Erkennenden: während natürlich mit der Feststellung der Regel noch gar nichts “erkannt” ist!— Daher der Aberglaube der Physiker: wo sie verharren können d.h. wo die Regelmäßigkeit der Erscheinungen die Anwendung von abkürzenden Formeln erlaubt, meinen sie, sei erkannt worden. Sie fühlen “Sicherheit”: aber hinter dieser intellektuellen Sicherheit steht die Beruhigung der Furchtsamkeit: sie wollen die Regel, weil sie die Welt der Furchtbarkeit entkleidet. Die Furcht vor dem Unberechenbaren als Hinter-Instinkt der Wissenschaft.

Die Regelmäßigkeit schläfert den fragenden (d.h. fürchtenden) Instinkt ein: “erklären” d.h. eine Regel des Geschehens aufzeigen. Der Glaube an das “Gesetz” ist der Glaube an die Gefährlichkeit des Willkürlichen. Der gute Wille, an Gesetze zu glauben, hat der Wissenschaft zum Siege verholfen (namentlich in demokratischen Zeitaltern)

5 [11]

Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisiren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellekten und weil sein Vermögen zu erkennen erst Angesichts der “wahren Wirklichkeit” zu Tage treten würde d.h. weil, um den Intellekt zu kritisiren, wir ein höheres Wesen mit “absoluter Erkenntniß” sein müßten. Dies setzte schon voraus, daß es, abseits von allen perspektivischen Arten der Betrachtung und sinnlich-geistiger Aneignung, etwas gäbe, ein “An-sich” — Aber die psychologische Ableitung des Glaubens an Dinge verbietet uns von “Dingen an sich” zu reden.

5 [12]

Grundfrage: ob das Perspektivische zum Wesen gehört? Und nicht nur eine Betrachtungs-form, eine Relation zwischen verschiedenen Wesen ist? Stehen die verschiedenen Kräfte in Relation, so daß diese Relation gebunden ist an Wahrnehmungs-Optik? Diese wäre möglich, wenn alles Sein essentiell etwas Wahrnehmendes wäre.

5 [13]

Daß Ähnlichkeit der Form auf Verwandtschaft hinweist, Herkunft aus gemeinsamer Form,—daß Ähnlichkeit des Lautens bei Worten auf Verwandtschaft der Worte hinweist, ist eine Art zu folgern, bei der die inertia soufflirt: als ob es wahrscheinlicher wäre, daß eine Form Ein Mal als daß sie mehreremal entstanden sei ...

Die Succession von Erscheinungen, noch so genau beschrieben, kann nicht das Wesen des Vorgangs geben—aber die Constanz des fälschenden Mediums (unser “ich”—) ist mindestens da. Es ist als ob Reime aus einer Sprache bei einer Übersetzung in eine andre verloren gehen: aber der Glaube hervorgerufen wird, daß in jener Ursprache es ein Gedicht in Reimen war. So erweckt die Folge die Succession den Glauben an eine Art “Zusammenhang” jenseits des von uns gesehenen Wechsels.

5 [14]

Die Entwicklung der Wissenschaft löst das “Bekannte” immer mehr in ein Unbekanntes auf: sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen.

In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß “Erkennen” gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmuth war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur “Erkennen” als eine Möglichkeit gelten zu lassen—daß “Erkennen” selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Thatsache: so wenig Ding an sich, so wenig ist “Erkenntniß an sich” noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch “Zahl und Logik”
                                      — —               durch die “Gesetze”

Weisheit” als Versuch über die perspektivischen Schätzungen (d.h. über den “Willen zur Macht”) hinweg zu kommen ein lebensfeindliches und auflösendes Princip, Symptom wie bei den Indern usw. Schwächung der Aneignungskraft.

5 [15]

So gut der Versuch gemacht wird, Alles ins Todte Unlebendige in unseren Sinnen zu übersetzen (also z.B. in Bewegungen usw. aufzulösen), so erlaubt ist [es], alles Gesehene, Gehörte, was unsere Sinne bieten, in unsre vitalen Funktionen aufzulösen, also als Begehren, Wahrnehmen, Fühlen usw.

5 [16]

Die wissenschaftliche Genauigkeit ist bei den oberflächlichsten Erscheinungen am ersten zu erreichen also wo gezählt, gerechnet, getastet, gesehn werden kann, wo Quantitäten constatirt werden können. Also die armseligsten Bereiche des Daseins sind zuerst fruchtbar angebaut worden. Die Forderung, Alles müsse mechanistisch erklärt werden, ist der Instinkt, als ob die werthvollsten und fundamentalsten Erkenntnisse gerade da am ersten gelungen wären: was eine Naivetät ist. Thatsächlich ist uns Alles, was gezählt und gegriffen werden kann, wenig werth: wo man nicht hinkommt mit dem “Begreifen,” das gilt uns als “höher.” Logik und Mechanik sind nur auf das Oberflächlichste anwendbar: eigentlich nur eine Schematisir- und Abkürzungskunst, eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks,—kein “Verstehen,” sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung. Die Welt auf die Oberfläche reduziert denken heißt sie zunächst “begreiflich” machen.

Logik und Mechanik berühren nie die Ursächlichkeit — —

5 [17]

Wie die skeptischen, an der Unsicherheit leidenden Zeitalter zu einem starren Glauben übergehn: andrerseits, Menschen, mit einem Widerwillen gegen vorzeitige Dogmen und Einengungen, nur langsam und spät sich einen Gesammt-Glauben abzwingen lassen (weil sie an der Unsicherheit nicht leiden, sondern Lust haben) Diese letztere Art von abgezwungenem Gesammt-Glauben und Generalisation haben entscheidenden Werth: sie sind trotz des Gegenhangs gewachsen. Über den Ursprung der systematischen Conceptionen: a) aus den schematischen Köpfen b) aus dem Leiden an der Ungewißheit c) seltnerer Fall, bei solchen, die ungern schematisiren und incerti amici [sind.]

5 [18]

“Was sich beweisen läßt, ist wahr” Das ist eine willkürliche Festsetzung des Begriffs “wahr,” die sich nicht beweisen läßt! Es ist ein einfaches “das soll als wahr gelten, soll ‘wahr’ heißen!” Im Hintergrunde steht der Nutzen einer solchen Geltung des Begriffs “wahr”: denn das Beweisbare appellirt an das Gemeinsamste in den Köpfen (an die Logik): weshalb es natürlich nicht mehr ist als ein Nützlichkeits-Maaßstab im Interesse der Meisten. “Wahr” “bewiesen” d.h. aus Schlüssen abgeleitet, vorausgesetzt, daß die Urtheile, welche zum Schlusse gebracht werden, schon “wahr” sind (d.h. allgemein zugestanden) Somit ist “wahr,” etwas, das nach einer allgemein zugestandenen Art des Schließens auf allgemein zugestandene Wahrheiten zurückgeführt wird. Das bedeutet also: “was sich beweisen läßt, ist wahr” setzt bereits Wahrheiten als gegeben voraus - - -

5 [19]

Die Welt, die uns etwas angeht, ist nur scheinbar, ist unwirklich.— Aber den Begriff “wirklich, wahrhaft vorhanden” haben wir erst gezogen aus dem “uns-angehn”; je mehr wir in unserem Interesse berührt werden, um so mehr glauben wir an die “Realität” eines Dinges oder Wesens. “Es existirt” heißt: ich fühle mich an ihm als existent.— Antinomie.

So viel Leben aus jenem Gefühl kommt, so viel Sinn setzen wir in das, was wir als Ursache dieser Erregung glauben. Das “Seiende” wird also von uns gefaßt als das auf uns Wirkende, das durch sein Wirken Sich-Beweisende.— “Unwirklich” “scheinbar” wäre das, was nicht Wirkungen hervorzubringen vermag, aber sie hervorzubringen scheint. —

Gesetzt aber, wir legen in die Dinge gewisse Werthe hinein, so wirken diese Werthe dann auf uns zurück, nachdem wir vergessen haben, daß wir die Geber waren.

Gesetzt, ich halte Jemanden für meinen Vater, so folgt daraus vielerlei für jede seiner Äußerungen gegen mich: sie werden anders interpretirt.— Also unsere Auffassungen und Ausdeutungen der Dinge, unsere Interpretation der Dinge gegeben, so folgt, daß alle “wirklichen” Einwirkungen dieser Dinge auf uns daraufhin anders erscheinen, neu interpretirt, kurz anders wirken.

Wenn nun alle Auffassungen der Dinge falsch waren, so folgt, daß alle Einwirkungen der Dinge auf uns auf eine falsche Causalität hin empfunden und ausgelegt werden: kurz, daß wir Werth und Unwerth, Nutzen und Schaden abmessen auf Irrthum hin, daß die Welt, die uns etwas angeht, falsch ist.

5 [20]

Die Luft geht kühl und rein
— ich möchte gern

der Tag blickt gram

Am Abend, wenn auch das tapferste Herz zweifelt und müde blickt.

die Flamme mit weißgrauem Bauche, deren Hals begehrlich sich nach reinen Höhen biegt und dreht

5 [21]

Die Probleme, vor welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich beinahe jedes Jahr ein Paar Mal mich zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen, denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit bei Seite legen müßten, um sich einstweilen ganz meinen Angelegenheiten zu widmen. Das, was dann jedes Mal statt dessen geschah, war in so komischer und unheimlicher Weise das Gegentheil davon, was ich erwartet hatte, daß ich alter Menschenkenner mich meiner selbst schämen lernte [und] immer von Neuem wieder aus der Anfänger-Lehre umzulehrnen hatte—daß die Menschen ihre Gewohnheiten hunderttausend Mal wichtiger nehmen als selbst—ihren Vortheil ...

5 [22]

Grundlösung:

wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist nach den aller naivsten Vorurtheilen hin gebaut



nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken—somit der “ewigen Wahrheit” der “Vernunft” glauben (z.B. Subjekt Prädikat usw.



wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn.



Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema
, welches wir nicht abwerfen können.

5 [23]

freiwillig abseits, gelassen, gegen Ding und Zufall leutselig, den kleinsten Sonnenblicken der Gesundheit dankbar, den Schmerz wie eine Regel, wie eine Bedingung, wie etwas Selbstgewolltes annehmend, und mit listigem Zwang zu unseren Zwecken ausnutzend, ausfragend —

5 [24]

Menschen, in deren Leibe beständig das innere Vieh grunzt und rumort

5 [25]

nicht nur die Moral als Vorurtheil, sondern über den höchstgeehrten Typus der bisherigen Moralität hindurchlebend

mit einer ironischen Allwissenheit über die ganze bisherige vita contemplativa stehen bleiben

Mit einem sehr schlechten Willen, in einem der bisherigen Weltbetrachtungs-Winkel sitzen zu bleiben, so tief auch die Neugierde mich in jeden von ihnen einmal hineingetrieben hat: mit einem um so strengeren Willen, den Zustand, aus dem jede einzelne dieser Weltwinkel-Perspektiven, die man eine Philosophie oder eine “Religion” nennt, [entstanden ist,] einmal selbst zu erleben

5 [26]

die erlebte Andeutung von etwas Unendlichem, das zu erobern uns freisteht

5 [27]

Um dies Buch zu verstehen, muß man mir einige Voraufsetzungen zugeben

5 [28]

Daß Jemand selbst die Moral als Vorurtheil nehmen kann, und hinterdrein gar noch in diesem Sieg der Skepsis ein morgenröthliches Glück genießen kann —

5 [29]

Man muß die großen Probleme mit Leib und Seele erleben wollen

5 [30]

Das Volk hat billigerweise den falschesten Begriff von dem Zustand, von dem es am entferntesten ist, von der Weisheit

5 [31]

Jedes große Problem ist ein Symptom: ein Mensch mit einem gewissen Quantum von Kraft, Feinheit, Umfänglichkeit, mit dieser Gefahr, mit dieser Verwegenheit hat es aus sich hervorgetrieben

5 [32]

Das Volk hat Menschen nöthig, die ihm mit gutem Beispiel vorangehn: und indem es sich aus alledem, was es an sich zu überwinden hat, das Ideal eines siegreichen Überwinders ausgearbeitet hat, hat es eine Art Kriterium gewonnen für seine Art höchster Menschen. Darin steckt eine große Gefahr. Man sei doch aufrichtig und gestehe sich zu, weshalb Christus z.B. nur ein Ideal des “gemeinen Mannes” ist.

5 [33]

Das Volk pflegt sich bei einem Philosophen mit biederem Ernste zu fragen, ob er wirklich so gelebt hat, wie er gelehrt hat: es urtheilt bei sich, daß Moral-Predigen leicht sei und wenig zu bedeuten habe, daß es aber etwas damit auf sich habe, Moral, irgend eine Art Moral zu leben. Dies ist eine Naivetät: denn wie sollte Einer anders zum Wissen kommen, wenn er nicht in dem Lande gelebt hat, von dem er redet!

Gesetzt, daß eine Philosophie — — —

Das Volk verlangt von einem Philosophen, daß er nicht lüge: denn es glaubt, daß nur die Wahrhaftigen die Wahrheit erkennen. Insgleichen daß er ohne Sinnenlust lebe, entsagend

5 [34]

Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge wie es sich die anderen Menschen, solche mit den “fleischernen Herzen” gar nicht vorstellen können—auch nicht vorstellen dürften:—sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Werth zugestehen als jenen feinen Sieben, jenen Verdünnungs-, Verkleinerungsapparaten, oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, “Geist” nennt. Die Kraft und Macht der Sinne—dies ist das Wesentlichste an einem wohlgerathenen und ganzen Menschen: das prachtvolle “Thier” muß zuerst gegeben sein—was liegt sonst an aller “Vermenschlichung”!

5 [35]

Die ganze Moral E[uropa]s hat den Nutzen der Heerde auf dem Grunde: die Trübsal aller höheren seltenen Menschen liegt darin, daß alles, was sie auszeichnet, ihnen mit dem Gefühl der Verkleinerung und Verunglimpfung zum Bewußtsein kommt. Die Stärken des jetzigen Menschen sind die Ursachen der pessimistischen Verdüsterung: die Mittelmäßigen sind, wie die Heerde ist, ohne viel Fragen und Gewissen,—heiter. Zur Verdüsterung der Starken: Schopenhauer Pascal

NB. Je gefährlicher eine Eigenschaft der Heerde scheint, um so gründlicher wird sie in Acht gethan.

5 [36]

Unser “Erkennen” beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen d.h.

aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; keine “an sich.”

Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mittler, innerhalb deren sie funktioniren d.h. wir empfinden groß und klein im Verhältniß zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsere Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zu Grunde gehn. D.h. wir empfinden auch Größenverhältnisse in Bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.

5 [37]

Zu beschreiben, wie es Einer thut bei erkenntnißtheoretischem Denken, physiologisch. Primitive,—wie?

5 [38]

Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosophus radicalis nöthig habe—Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß—ich als ebenso viel Entbehrungen empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktions-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß mir in jedem Falle die solide Gesundheit fehlt—und daß ich nur in Momenten der Gesundheit die Last jener Entbehrungen weniger hart fühle. Auch weiß ich immer noch nicht die fünf Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche Mittlere meiner labilen Gesundheit sich basiren ließe. Trotzdem wäre es ein verhängnißvoller Fehler, wenn ich, um mir die 5 Bedingungen zu schaffen, mich jener 8 Freiheiten beraubte: Das ist eine objektive Ansicht meiner Lage. —

Die Sache complicirt sich, insofern ich außerdem Dichter bin, wie billig, mit den Bedürfnissen aller Dichter: wozu Sympathie, glänzender Haushalt, Ruhe und dergleichen gehören (in Bezug auf welche Bedürfnisse ich für mein Leben keine andere Bezeichnung habe als Hundestall-Existenz). Die Sache complicirt  sich  noch  einmal,  insofern  ich  außerdem  Musiker  bin: so  daß  mir  eigentlich  nichts  im Leben— — —

[vgl., Nizza, 14. November 1886: Brief an Franz Overbeck (KGB 3.3, 281-283 Nr. 775):

Lieber Freund,

[....] Die Antinomie meiner jetzigen Lage und Existenzform liegt jetzt darin, daß alles das, was ich als philosophus radicalis nöthig habe—Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Gesellschaft, Vaterland, Glauben u.s.w. u.s.w. ich als ebensoviele Entbehrungen empfind, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat bin. Ich muß hinzufügen, daß dieser Gegensatz von Nothwendigem und von Entbehrtem durch den abscheulichen Mangel einer auch nur mittelmäßig soliden Gesundheit auf die Spitze getrieben wird,—denn in Momenten der Gesundheit fühle ich jene Entbehrungen weniger hart. Auch weiß ich mir absolut nicht jene 5 Bedingungen zusammen zu bringen, auf denen eine erträgliche Mittlere meiner labilen Gesundheit herzustellen wäre; das Schlimmste aber wäre jedenfalls, wenn ich, um die 5 Bedingungen der Gesundheit zu schaffen, mich der 8 Freiheiten des philosophus radicalis beraubte.— Dies scheint mir der objektivste Ausdruck meiner complizirten Lage ... Verzeihung! Oder vielmehr: Du darfst Dich darüber lustig machen! — [....]]

5 [39]

— daß ich die Sprache der Volks-Moralisten und “heiligen Männer” rede und dies unbefangen ursprünglich ebenso begeistert als lustig, aber zugleich mit einem Artisten-Genusse daran, der nicht zu fern von der Ironie ist—darüber nämlich, daß hier die raffinirteste Form des modernen Gedankens beständig in die Sprache der Naivetät zurückübersetzt wird—also mit einem heimlichen Triumphe über die besiegte Schwierigkeit und scheinbare Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens

5 [40]

Zur Genealogie
der Moral
.

Erste Abhandlung
von
Friedrich Nietzsche.

2. das asketische Ideal
3. Verantwortlichkeit.
4. “ich” und “er.”

5 [41]

Vorspiel des P[arsifal], größte Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist. Die Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte. Ganz erhoben und ergriffen—kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermüthigen und zärtlichen Blick gemalt wie Wagner



die Größe im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, aus der etwas von Mitleiden quillt:



das größte Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewißheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Größe im Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen dunklen, schwermüthigen zärtlichen Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Leonardo nicht.



Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir über die Probleme redete, die mich bekümmern, nicht natürlich mit den Antworten, die ich eben dafür bereit halte, sondern mit den christlichen—welche zuletzt die Antwort stärkerer Seelen gewesen ist als unsere letzten beiden Jahrhunderte hervorgebracht haben. Man legt allerdings beim Hören dieser Musik das Protestant[ische] wie ein Mißverständniß bei Seite: so wie die Musik Wagners in Montecarlo mich dazu brachte, wie ich nicht leugnen will, auch die sonst gehörte sehr gute Musik (Haydn Berlioz Brahms Reyers Sigurd-Ouvertüre) ebenfalls wie ein Mißverständniß der Musik bei Seite zu legen. Sonderbar! Als Knabe hatte ich mir die Mission zugedacht, das Mysterium auf die Bühne zu bringen; — — —

5 [42]

Kritik des christlichen Ideals
          der Armut,
          der Keuschheit,
          der Demuth.

Die europäischen Aspirationen zum Fakirthum.

5 [43]

“ce jeune Juif, à la fois doux et terrible, fin et impérieux, naif et profond, rempli du zèle désintéressé d’une moralité sublime et de l’ardeur d’une personnalité exaltée”

(“les évangiles”) Renan.

[Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre cinqième. Les évangiles et la seconde génération chrétienne. Paris: Calman Lévy, 1877:88.]
 
C’est du régime féodal et non de sa chute, que sont nés l’égoïsme, l’avidité, les violences et la cruauté, qui conduisirent aux terreurs des massacres de septembre

v. Sybel!!

[Vgl. Heinrich von Sybel, Histoire de l'Europe pendant la Révolution Française. Vol. 2. Paris: G. Bailliere; Alcan, 1870:7. "C'est du régime féodal et non de sa chute, que sont nés l'égoisme, l'avidité, les violences et la cruauté, qui, des acclamations enthousiaste de la nuit du 4 août, conduisirent aux terreurs des massacres de septembre."]

5 [44]

Ehren wir dergestalt die Blinden, die Vertrauenden, die Einfachen, die Friedlichen, die Esel, schützen und vertheidigen wir sie vor uns selbst alle diese arglosen fraglosen kuhwarmen Milchherzen die Nichts vom Leben haben als seine verfänglichste Auszeichnung, es nicht zu kennen ... retten wir sie uns mit dieser Kunst des schnellen Verstummens für unsre eignen bösen Tage—denn auch wir haben zeitweilig Oasen nöthig, Menschen-Oasen, in denen man vergißt, vertraut, einschläft wieder träumt, wieder liebt, wieder “menschlich” wird ...

5 [45]
[Vgl. Ende 1886-Frühling 1887 7 [67].]

Inzwischen hat ein sehr sonderbarer Herr, Namens Theodor Fritsch aus Leipzig mit mir correspondirt: ich konnte nicht umhin, da er zudringlich war, ihm ein paar freundliche Fußtritte zu versetzen. Diese jetzigen “Deutschen” machen mir immer mehr Ekel.

5 [46]

Wir Hyperboreer.

Weder  zu Wasser, noch zu Lande
kannst du den Weg zu den Hyper-
boreern finden                              
Pindar.      
[Vgl. Pindar, Pythia 10, 29-30.]

Jenseits des Nordens, des Eises, der Härte, des Todes — unser Leben! Unser Glück!

5 [47]

Wie sollten sie unser rechtes auditorium abgeben, diese Moralischen, die mit einer schändlichen Zudringlichkeit nur auf das hinhören, was für sie dabei herauskommt und überhaupt, ob etwas für sie dabei herauskommt. Zur Vorrede.

“Was habe ich davon?
Wie nehme ich mich dabei aus?
“Was nehme ich mir dabei heraus?”

— die unerlaubten Geister.

5 [48]

NB “Deutsche Jünglinge” und andres schwärmerisches Hornvieh—kuhwarme Milchherzen

5 [49]

Die Moral als des Menschen größte Gefahr



Die Tugend, z.B. als Wahrhaftigkeit, als unser vornehmer und gefährlicher Luxus; wir müssen nicht die Nachtheile ablehnen, die er mit sich bringt.

5 [50]

1) Jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. F[laubert] unter Deutschen R. W[agner] das deutlichste Beispiel abgiebt: zwischen 1830 und 1850 wandelt sich der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts.
2) das tragische Zeitalter für Europa: bedingt durch den Kampf gegen den Nihilismus.

Vielleicht Titel von Nr. 10.

3) Was bedeutet der Sinn für Farbe bei Franzosen, für Ton (und “Harmonie” speziell) bei Deutschen? Reizmittel theils für eine gröbere Art Mensch theils für eine blasiertere Art Mensch.
4) Der Pessimismus und die aesthet[ische] Theorie
5) die griechische Philosophie von Socrates ab als Krankheits-symptom und folglich Vorbereitung des Christenthums.
6) Der Anarchismus
7) Gegen den Causalismus. Bedingungen zu einer Ursache.
8) die erzieherische Lüge. Plato. Dazu gehören alle “Ideale.” Aber Erziehung wozu? Dauerhafte Gebilde zu schaffen, in denen Etwas Langes wachsen kann.
9) Wie entsteht der Ruhm einer moralischen Qualität?
10) Moral geht auf Vermittelmäßigung, Erniedrigung des Niveaus hinaus. Inwiefern hier ein Instinkt der Erhaltung redet.
10) Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens, Unrecht, Lüge, Ausbeutung am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretirt worden. Typus Carlyle als Interpret.
11) Antagonismus zwischen Verstärkung und Verbesserung.
12) Gegen die Atomistik.
13) Der Glaube an das Ich
14) eine neue Vollkommenheit ausdenken, bei der unsre ganze menschliche Noth und Ungewißheit nicht revoltirt.
15) Wie entsteht der starke Mensch? v. — — —
16) Die Arten des Rausches?
17) Was bedeutet unser Sinn für Hochgebirge, Wüste, campagna Romana, Nationalismus?
18) Verkleinerung des Menschen seit Copernicus.
19) Die Werthschätzungen als Ursache und als Folge
20) Das Hintereinander ist auch nur Beschreibung.
21) Agnostiker
22) Von der Zuchtlosigkeit des Geistes—was ist Lasterhaftigkeit des Intellekts?
23) Was bedeutet die Herrschaft der Musik?
24) Hingebung an die Person als Erleichterung der Moral. (Vater, Vorfahr, Fürst, Priester, Gott)
25) Mysterien (“Drama”).
26) Strafe: Aufrechterhaltung eines höheren Typus.
27) Der wissenschaftliche “Anschein.” Zur Schauspielerei
28) Zur Physiologie der Macht
29) unsere europäische Cultur—worauf sie drängt, im Gegensatz zur buddhistischen Lösung in Asien?
30) Auslegung, nicht Erklärung.
31) Zur Logik: der Wille zur Gleichheit als Wille zur Macht.
32) “Ding an sich”
33) gegen die Mechanistik
34) Das moral[ische] Vorurtheil im Glauben an die Dialektik
35) Das Verleumderische an den Idealen.
36) Psychologie des wissenschaftlichen Bedürfnisses.
37) moderne Verdüsterung
38) die Schauspielerei
39) das Demagogische in den Künsten
40) Hedonism im jetzigen Christenthum.
41) sowohl Kant als Hegel als Schopenhauer durch moral[isches] Grundurtheil bestimmt. Ebenso Plato, Spin[oza].
42) Mißverständniß der Heiterkeit, der Ironie.
43) “Gewissensbiß”
44) Umdrehungen des moral[ischen] Urtheils
45) Lehre vom milieu
46) Volksthümliche Ideale, Fr. v. Assisi.
47) “Wir Immoralisten.”
48) Freiheitsgefühl.
49) Was ist vornehm? (roth-marmorirtes Buch)
50) alle großen Menschen böse Menschen
51) Tartüfferie der Wissenschaftlichkeit
52) wie Descartes die Wahrheit der Sinneswahrnehmung aus der Natur Gottes begründete, könnte man Kants Lehre von der Vernunft, die Illusion schafft, ablehnen. Insofern ist selbst die Erkenntnißtheorie abhängig von einer vorherigen Entscheidung über den moralischen Charakter des Daseins.
Die Engländer meinen, man werde nur einem moralischen Gotte gehorchen.— Die Atheisten sind gerade in moralischen Fragen am befangensten.
53) das Wohlgefühl als das an leichten Widerständen sich auslösende Machtgefühl: denn im gesammten Organismus giebt es fortwährend Überwindung zahlloser Hemmungen,—dies Siegsgefühl kommt als Gesammtgefühl zum Bewußtsein, als Leichtigkeit, “Freiheit”
umgekehrt: giebt es schwere Hemmungen, so wird auch das Machtgefühl nicht ausgelöst:
NB. Also Unlustgefühl ist grundverschieden von Lustgefühl, letzteres ist Machtgefühl, welches, um erregt zu werden, zu seiner Voraussetzung kleine Hemmungen und Unlustgefühle nöthig hat.

5 [51]

Rangordnung
Vergeltung.
Wahrheit und Warhaftigkeit.
Recht, Strafe usw.
Mitleiden

5 [52]

Maxime: mit keinem Menschen umgehn, der an dem verlognen Rassen-Schwindel Antheil hat.

(Wieviel Verlogenheit und Sumpf gehört dazu, um im heutigen Mischmasch-E[uropa] Rassenfragen aufzurühren!)

5 [53]

Das Jahrhundert als Erbe des vorigen
1) sensualistisch, hedonistisch
(oder pessimistisch)
2) schwärmerisch—moralisch
Freiheit, Erkenntniß, Glück
im Bunde
3) — — —

5 [54]

Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.

5 [55]

Hauptirrthum der Psychologen: sie nehmen die undeutlichere Vorstellung als eine niedrigere Art der Vorstellung gegen die helle gerechnet: aber was aus unserem Bewußtsein sich entfernt und deshalb dunkel wird, kann deshalb an sich vollkommen klar sein. Das Dunkelwerden ist Sache der Bewußtseins-Perspektive.

Die “Dunkelheit” ist eine Folge der Bewußtseins-Optik, nicht nothwendig etwas dem “Dunkeln” Inhärentes.

5 [56]

Alles, was als “Einheit” ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizirt: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit.

Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.



NB. Wenn das Centrum desBewußtseins” auch nicht mit dem physiologischen Centrum zusammenfällt, so wäre doch möglich, daß dennoch das physiologische Centrum auch das psychische Centrum ist.

Die Intellektualität des Gefühls (Lust und Schmerz) d.h. es ist beherrscht von jenem Centrum aus.

5 [57]

Das Problem des Nihilismus (gegen Pessimismus usw.)
Der Kampf gegen ihn verstärkt ihn.
Alle positiven Kräfte des Jahrhunderts scheinen ihn nur vorzubereiten
      z.B. Naturwissenschaft
Erklärung: Untergang einer Werthung der Dinge, die den Eindruck macht, als sei keine andere Werthung möglich.

5 [58]

Moral als Illusion der Gattung, um den Einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Werth zugestehend, so daß er, mit diesem Selbstbewußtsein, andere Seiten seiner Natur tyrannisirt und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist.

Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber jetzt nur noch ein Druck, der zum Verhängniß werden würde! Sie selbst zwingt als Redlichkeit zur Moral-Verneinung.

5 [59]

Die Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit: ein Glaube an den Verband und die Fortdauer der wissenschaftlichen Arbeit, so daß der Einzelne an jeder noch so kleinen Stelle arbeiten darf, im Vertrauen, nicht umsonst zu arbeiten. Diese — — —

Es giebt Eine große Lähmung: umsonst arbeiten, umsonst kämpfen. — —

Die aufhäufenden Zeiten, wo Kraft, Machtmittel gefunden werden, deren sich einst die Zukunft bedienen wird: Wissenschaft als mittlere Station, an der die mittleren vielfacheren complicirten Wesen ihre natürlichste Entladung und Befriedigung haben: alle die, denen die That sich widerräth.

5 [60]

Der dogmatische Geist bei Kant

5 [61]

Ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizuführen.

Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem Höherem. Neue Aristokratie

Dann werden eine Menge Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren.

Eigenschaften nicht mehr nöthig haben, folglich sie verlieren.

Wir haben die Tugenden nicht mehr nöthig: folglich verlieren wir sie: sowohl die Moral vom “Eins ist noth,” vom Heil der Seele von der Unsterblichkeit: ein Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen (durch den Affekt einer ungeheuren Furcht:::

die verschiedenen Arten Noth, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Noth lehrt arbeiten, denken sich zügeln

Die physiologische Reinigung und Verstärkung

die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nöthig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten.

die zwei Zukünfte der Menschheit:

1) die Consequenz der Vermittelmäßigung

2) das bewußte Abheben, sich-Gestalten

eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere)

die bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Nothwendigkeit einer neuen Aristokratie.



Theorie der Herrschaftsgebilde statt: Sociologie

5 [62]

Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn als man bereits erhöht genug ist, um nicht mehr die Zwangsschule des Irrthums nöthig zu haben.

Falls man das Dasein moralisch beurtheilt, degoutirt es.

5 [63]

Man soll nicht falsche Personen erfinden z.B. nicht sagen “die Natur ist grausam.” Gerade einzusehen, daß es kein solches Centralwesen der Verantwortlichkeit giebt, erleichtert!

Entwicklung der Menschheit. A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. Die Moral war nöthig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und “wildem Thier.”

B. Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.

5 [64]

[Vgl. William Henry Rolph, Biologische Probleme: zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik. Leipzig: Engelmann, 1884:60-68, 122-29.]

Was ist “passiv”?

widerstehen und reagiren. Gehemmt sein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion

Was ist “aktiv”?

nach Macht ausgreifend

“Ernährung”

ist nur abgeleitet, das Ursprüngliche ist Alles in sich einschließen wollen

“Zeugung”

nur abgeleitet: ursprünglich, wo Ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisiren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen

Lust

als Machtgefühl (die Unlust voraussetzend)

5 [65]

Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als Vergleichen hat als Voraussetzung ein “Gleichsetzen,” noch früher ein “Gleichmachen.” Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in der Amoebe ist.

Erinnerung spät, insofern hier der gleichmachende Trieb bereits gebändigt erscheint: die Differenz wird bewahrt. Erinnern als ein Einrubriziren und Einschachteln, activ—wer?

5 [66]

Der Werth der unvernünftigen Neigungen

z.B. Mutterliebe, Liebe zum “Werke” usw.
nicht “altruistisch”!

5 [67]

Keine “moralische Erziehung” des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der Irrthümer ist nöthig, weil die “Wahrheit” degoutirt und das Leben verleidet, vorausgesetzt, daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.

5 [68]

Die Physiologen, wie die Philosophen glauben, das Bewußtsein, im Maaße es an Helligkeit zunimmt, wachse im Werthe: das hellste Bewußtsein, das logischste kälteste Denken sei ersten Ranges. Indessen—wonach ist dieser Werth bestimmt?— Das oberflächlichste, vereinfachteste Denken ist in Hinsicht auf Auslösung des Willens das im meisten nützliche (weil es wenig Motive übrig läßt) — es könnte deshalb das usw. NB.

die Präcision des Handelns steht in Antagonismus mit der weitblickenden und oft ungewiß urtheilenden Vorsorglichkeit: letztere durch den tieferen Instinkt geführt.

NB. Werth zu bemessen nach der Weite der Nützlichkeit.

5 [69]

Unsere Leidenschaften und Hänge wollen ihre Befriedigung und dazu die Herrschaft auch über den Intellekt

5 [70]

1. Philosophie der Geschichte.
2. Psychologie.
3. Cultur der Griechen.
4. Philosophie der Moral.
5. Geschichte der griechischen Philosophie.

Nihilismus: Untergang einer Gesammtwerthung (nämlich der moralischen) es fehlen die neuen interpretativen Kräfte.

Zur Geschichte der Werthe.
Der Wille zur Macht und seine Metamorphosen.
(was der bisherige Wille zur Moral war: eine Schule)
Die ewige Wiederkunft als Hammer.

5 [71]

Der europäische Nihilismus.

Lenzer Heide

den 10. Juni 1887

1.

Welche Vortheile bot die christliche Moral-Hypothese?

1) sie verlieh dem Menschen einen absoluten Werth, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens

2) sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leiden und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ,—eingerechnet jene “Freiheit”—das Übel erschien voller Sinn.

3) sie setzte ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß

sie verhütete, daß der Mensch sich als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel—in summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.

2.

Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessirte Betrachtung—und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als stimulans. Zum Nihilismus. Wir constatiren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen:—ergiebt einen Auflösungsprozeß.

3.

Thatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nöthig: das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig, in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzirung vom Werth des Menschen, vom Werth des Übels usw. ist jetzt nicht so nöthig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Werthes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. “Gott” ist eine viel zu extreme Hypothese.

4.

Aber extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch nothwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen “Sinn” im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.

5.

Daß dies “Umsonst!” der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage “sind nicht alle ‘Werthe’ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?” Die Dauer, mit einem “Umsonst,” ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht [ist], sich nicht foppen zu lassen.

6.

Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: “die ewige Wiederkehr.”

Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das “Sinnlose”) ewig!

Europäische Form des Buddhismus: Energie des Stoffes und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.

7.

Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn “Alles vollkommen, göttlich, ewig” zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die ewige Wiederkunft.” Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott jenseits von “Gut und Böse” zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß?— Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde—und immer das Gleiche

Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.

8.

Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zu Grunde liegt, der sich an jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gut zu heißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust empfindet.

9.

Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen ver[ge]waltthätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperatischste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die “Herren” überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine M[ann] geschützt, d. h. zunächst ermuthigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihr Wille zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Werthung versehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem “Willen zur Moral” nur dieser “Wille zur Macht” verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.

10.

Vielmehr umgekehrt! Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grade der Macht—gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie Jedem einen unendlichen Werth, einen metaphysischen Werth beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmte: sie lehrte Ergebung, Demuth usw. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zu Grunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben—und zu Grunde gehen.

11.

Das zu-Grunde-Gehen präsentirt sich als ein—Sich-zu-Grunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nöthigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (—gleichsam sich seine Henker selbst züchtend) der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts.

12.

Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, “sich zu ergeben”—daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Princips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-thun, nachdem alles Dasein seinen “Sinn” verloren hat.

13.

Die “Noth” ist nicht etwa größer geworden; im Gegentheil! “Gott, Moral, Ergebung” waren Heilmittel, auf furchtbaren tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon, daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Cultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosen Scepsis gegen Philosophen gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehrer Buddha solche hatte z.B. Begriff der Causalität usw.).

14.

Was heißt jetzt “schlechtweggekommen”? Vor allem physiologisch? nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war—auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust.— Der Werth einer solchen Crisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich an einander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist—auch unter ihnen die schwächeren, unsichereren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, im Gesichtspunkte der Gesundheit, den Anstoß giebt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.

15.

Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben, die welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Werthes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten—Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren.

16.

Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? —

5 [72]

Selbstaufhebung der Moral
die Redlichkeit
Gerechtigkeit, Strafe, Mitleid usw.

5 [73]

Jenseits von Gut und Böse

17 Bogen die 2te Hälfte

5 [74]

Zur
Genealogie der Moral
.
Eine Streitschrift.

Von
Friedrich Nietzsche.

 Unbekümmert, spöttisch,   gewalt-
thätig—so will uns    die  Weisheit:
sie ist ein Weib, sie liebt immer nur
einen Kriegsmann.
Also sprach Zarathustra.

Leipzig
Verlag von C. G. Naumann.

5 [75]

Der Wille zur Macht.
Versuch einer Umwerthung aller Werthe.



1.
Vom Werth der Wahrheit.

2.
Was daraus folgt.

3.
Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.

4.
Die ewige Wiederkunft

5 [76]

Moral als Wille

5 [77]

Sprüche und Pfeile.

von
Friedrich Nietzsche.

Aus dessen Schriften zusammengelesen
und heimgebracht von E. V. W.

5 [78]

Sprüche
eines Immoralisten
.

5 [79]

Diesem mesquinen Zeitalter, mit dem ich mich nun einmal irgendwie abfinden muß, eine Probe davon zu geben, was Psychologie in großen Stile ist, hat eigentlich keinen Sinn;—wer käme mir auch nur mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegen, um begreifen zu können, wo man zum Wissen um solche fremden und entscheidenden Dingen kommt? ...

Und was muß Einer Alles in sich erlebt haben, um mit seinen 25 Jahren die Geburt der Tragödie zu concipiren!

Ich habe mich nie beklagt über das Unbeschreibliche meiner Entbehrung: nie einen verwandten Laut zu hören, nie von gleichem Leiden und Wollen.

Ich selbst kenne in keiner Litteratur Bücher, welche diesen Reichthum an seelischen Erfahrungen hätten, und dies vom Größten bis zum Kleinsten und Raffinirtesten. Daß das außer mir im Grunde Niemand sieht und weiß, hängt an der Thatsache, daß ich verurtheilt bin, in einer Zeit zu leben, wo das Rhinozeros blüht, und noch dazu unter einem Volke, welchem in psychologischen Dingen überhaupt noch jede Vorschulung fehlt (ein Volk, das Schiller und Fichte ernst genommen hat!!). Wenn ich denke, daß solche M[enschen] wie R[ohde] sich im Grunde wie Hornvieh gegen mich benommen haben: was soll eigentlich — — —

5 [80]

8. Zuletzt, daß ich wenigstens mit Einem Worte auf einen ungeheuren und noch gänzlich unentdeckten Thatbestand hinweise, der sich nur langsam, langsam festgestellt hat: es gab bisher keine grundsätzlicheren Probleme als die moralischen, ihre treibende Kraft ist es, aus der alle großen Conceptionen im Reiche der bisherigen Werthe ihren Ursprung genommen haben (—zum Beispiel alles was gemeinhin “Philosophie” genannt wird; und dies bis hinab in deren letzte erkenntnißtheoretische Voraussetzungen). Aber es giebt noch grundsätzlichere Probleme als die moralischen: diese kommen Einem erst in Sicht, wenn man das moral[ische] Vorurtheil hinter sich hat ...

5 [81]

a) Der große Stil
Das Nackte: psychologische Reinigung des Geschmacks.
b) die synthetischen Menschen können nicht aus der “Ameise” wachsen.
Unsre Gesellschaft repräsentirt nur die Bildung der “Gebildete” fehlt.
c) die Selbsttödtung Har[ak]iri Japans
d) das Recht auf Affekte wiedergewinnen für den Erkennenden

5 [82]

Recht entsteht nur da, wo es Verträge giebt; damit es aber Verträge geben kann, muß ein gewisses Gleichgewicht von Macht da sein. Fehlt ein solches Gleichgewicht, stoßen zwei zu verschiedene Macht-Quanten auf einander, so greift das stärkere über nach dem schwächeren zu dessen fortgesetzter Schwächung, bis endlich Unterwerfung, Anpassung, Einordnung, Einverleibung eintritt: also mit dem Ende, daß aus Zwei Eins geworden ist. Damit Zwei zwei bleibt, ist wie gesagt ein Gleichgewicht nöthig: und deshalb geht alles Recht auf ein vorangehendes Wägen zurück. Es ist deshalb nicht gut zu heißen—denn es führt irre—wenn man die Gerechtigkeit mit einer Wage in der Hand darstellt: das richtige Gleichniß wäre, die Gerechtigkeit auf einer Wage stehen zu machen dergestalt, daß sie die beiden Schalen im Gleichgewicht hält. Man stellt aber die G[erechtigkeit] meistens falsch dar: man legt ihr auch falsche Worte in den Mund. Die Gerechtigkeit spricht nicht: “jedem das Seine,” sondern immer nur “wie du mir, so ich dir.” Daß zwei Mächte im Verhältniß zu einander dem rücksichtslosen Willen zur Macht einen Zaum anlegen und sich einander nicht nur gleich lassen, sondern auch als gleich wollen, das ist der Anfang alles “guten Willens” auf Erden. Ein Vertrag enthält nämlich nicht nur eine bloße Affirmation in Bezug auf ein bestehendes Quantum von Macht, sondern zugleich auch den Willen, diese Quanten auf beiden Seiten als etwas Dauerndes zu affirmiren und somit bis zu einem gewissen Grade selbst aufrecht zu erhalten:—darin steckt, wie gesagt, ein Keim von allem “guten Willen.”

5 [83]

Hier, wo wir vorläufig das Problem des aesthet[ischen] Zustandes noch nicht vom Künstler aus visiren, sondern aus der Perspektive des Zuschauers, ist vor allem nöthig zu erklären, daß es nicht das Problem ist, “was ist der contemplative Zustand und wie ist er möglich?” Man hat bisher seitens der Philos[ophen] den contemplativen Zustand und den aesthetischen arglos verwechselt und in Eins gerechnet: aber ersterer ist nur eine Voraussetzung des zweiten und nicht er selber: nur dessen Bedingung, aber, wie man sofort hinzufügen muß, auch dies nicht in dem Sinne, als ob er etwa dessen eigentliche causa und Werdegrund wäre. Dies würde vollkommen irrthümlich behauptet werden: das innere “Muß,” aus dem heraus man aesthetisch, wird ist grundverschieden von dem inneren “Muß,” dessen Folge der contemplative Zustand ist, obwohl letzterer, wie gesagt, eine Voraussetzung für jenen ist, und erreicht sein muß, damit der aesthetische Zustand in die Erscheinung treten kann. Aber ebenso gut kann, nachdem einmal der Boden rein gemacht — — —

5 [84]

Möglichst viele internationale Mächte—um die Welt-Perspektive einzuüben.

5 [85]

Jedes Jahr 5 Capitel

5 [86]

Und wie der Beduine spricht: “auch der Rauch ist zu etwas gut”—denn er verräth dem, der unterwegs ist, die Nähe eines gastfreundlichen Heerdes.

5 [87]

Pour qu’un homme soit au-dessus de l’humanité, il en coûte trop cher à tous les autres

Montesquieu.

5 [88]

Geschichte der Juden typisch für die Entstehung des “Idealisten.” “Gott und Israel” im Bunde. 1te Verfeinerung: nur mit dem gerechten Israel bleibt der gerechte Gott im Bunde. 2) aber zuletzt liebt er Israel, auch wenn es leidet, auch noch wenn es um seiner Schuld willen leidet. usw.

Das alte Israel und die Deutschen des Tacitus gleich: ebenso die Araber der Beduinenländer und die Corsen. Die Genueser aus der Zeit, wo sie der Präsident de Brosses besuchte, und die heutigen.

5 [89]

Gegen den großen Irrthum, als ob unsere Zeit (Europa) den höchsten Typus Mensch darstelle. Vielmehr: die Renaissance-Menschen waren höher, und die Griechen ebenfalls; ja vielleicht stehen wir ziemlich tief: das “Verstehen” ist kein Zeichen höchster Kraft, sondern einer tüchtigen Ermüdung; die Moralisirung selbst ist eine “Décadence.”

5 [90]

Ein Wort Napoleons (2. Februar 1809 zu Röderer):

“J’aime le pouvoir, moi; mais c’est en artiste que je l’aime ... Je l’aime comme un musicien aime son violon; je l’aime pour en tirer des sons, des accords, des harmonies.” [Vgl. Hippolyte Taine, Napoléon Bonaparte. In: Revue des deux mondes, Janv.-Févr. 1887 (3e. période: T. 79):721-752.]

5 [91]

(Revue des deux mondes, 15. Febr. 1887. Taine.)

“Plötzlich entfaltet sich die faculté maîtresse: der Künstler, eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er schafft dans l’idéal et l’impossible. Man erkennt ihn wieder als das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michel Angelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Contouren seiner Vision, die Intensität, Cohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermenschliche Größe seiner Conception, so ist er ihnen gleich et leur égal: son génie a la même taille et la même structure; il est un de trois esprits souverains de la renaissance italienne.” [Vgl. Hippolyte Taine, Napoléon Bonaparte. In: Revue des deux mondes, Janv.-Févr. 1887 (3e. période: T. 79):721-752.]

Nota bene - - -

Dante, Michel Angelo, Napoleon — —

5 [92]

Vom höheren Menschen.

Oder:

die Versuchung Zarathustra’s.

Von
Friedrich Nietzsche.

5 [93]

Dionysos philosophos.

Eine
Satura Menippea.

Von
Friedrich Nietzsche.

5 [94]

Die Antagonismen: Probleme, deren Lösung[en] zuletzt vom Willen abhängig sind (von der Kraft—)
1. zwischen Stärke der M[enschen] und Dauer der Rasse
2. zwischen der schaffenden Kraft und der “Menschlichkeit
3. — — —

5 [95]

Nach einem solchen Anrufe aus der innersten Seele keinen Laut von Antwort zu hören, das ist ein furchtbares Erlebniß, an dem der zäheste Mensch zu Grunde gehen kann: es hat mich aus allen Banden mit lebendigen Menschen herausgehoben.

5 [96]

Gedanken über die Griechen.

Mit einem Vorwort
an
Jakob Burckhardt.

Von
Friedrich Nietzsche.

5 [97]

1. Der europäische Nihilismus.
2. Die bisherige Moral als lebensfeindlich.
3. Die bisherige Moral “unmoralisch” selbst

5 [98]

1.

Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im Wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der That consumirt eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienste, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren zarteren mittleren Existenzen haben nöthig Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft und dazu müssen sie vor sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurtheilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Tendenz ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die stärksten Typen des Lebens überwältigen will.

5 [99]

NB

1) Versuch, die Aesthetik durch die Elimination des “Ich” der unegoistischen Ethik anzunähern (als deren Vorbereitung)

2) Versuch sie der Erkenntniß anzunähern (reines Subjekt “reiner Spiegel des Objekts”)

— dagegen: das Objekt, in der aesthetischen Betrachtung, ist durch und durch gefälscht

“reines willenloses schmerzloses zeitloses Subjekt der Erkenntniß”

— durchaus nicht “Erkenntniß”!

— der Wille, der alles das unterstreicht (und das Übrige eliminirt), was ihm an einem Objekte dazu dient, mit sich selbst zufrieden u[nd] harmonisch zu sein

die Erdichtung und Zurechtmachung einer Welt, bei der wir selbst in unseren innersten Bedürfnissen uns bejahen

Farben Töne Gestalten Bewegungen—unbewußtes Gedächtniß thätig, in dem nützliche Eigenschaften dieser Qualitäten (oder Associationen) erhalten bleiben

eine im höchsten Grad interessirte und rücksichtslos interessirte Zurechtmachung der Dinge

eine wesentliche Fälschung, eine Ausschließung gerade des bloß feststellenden erkennenden objektiven Sinnes

das Vereinfachen, Hervorheben des Typischen—Genuß an der Überwältigung durch Hineinlegen eines Sinnes

das Wegdenken aller schädigenden und feindseligen Faktoren im Angeschauten (z.B. einer Landschaft, eines Gewitters)

der aesthetische Zuschauer gestattet ein Überwältigen, und thut das Gegentheil von dem, was er sonst gegen das von außen Kommende thut—er hängt sein Mißtrauen aus, keine Defensive—ein Ausnahme-zustand: das zutrauende ehrfurchtsvolle liebevolle Empfangen

der Wille

? Interesse für die Ursachen und das Typische (Dominirende)

5 [100]

Zur Kritik der Ideale: diese so beginnen, daß man das Wort “Ideal” abschafft: Kritik der Wünschbarkeiten.

5 [101]

einem armen Anarchisten-Schreiteufel ein Ohr schenken, der indem er die ganze Geschichte mit dem Gifte seines Hasses besprützt, uns einreden möchte, damit der Geschichtsschreiber zu sein.

5 [102]

Ein Leben unter Hornvieh!

5 [103]

Was muß man erlebt haben, um mit dem 26 Jahr die Geburt der Tragödie schreiben zu können!

5 [104]

ma non si deve fischiar in presenza d’un professore: ciò pecca contro la buona creanza

5 [105]

Eine Handlung gut, zu der das Gewissen Ja gesagt hat! als ob ein Werk schön wäre, bloß weil es dem Künstler gründlich gefällt! Der Werth abhängig von begleitenden Lustgefühlen des Thäters! (—wer rechnet da Eitelkeit, Ruhen im Herkömmlichen usw. auseinander!)

Andrerseits sind alle entscheidenden und werthvollen Handlungen ohne jene Sicherheit gethan worden ...

Man muß zusehn, nach objektiven Werthen zu urtheilen. Ist “der Nutzen” der Gemeinschaft ein solcher? Ja: nur wird er gewöhnlich wieder mit den “Lustgefühlen” der Gemeinschaft verwechselt. Eine “schlimme Handlung” die für die Gemeinschaft als Stimulans wirkt und sehr unangenehme Gefühle zunächst erregt, wäre in sofern eine werthvolle Handlung.

5 [106]

Gegen die Heerden-Moral. Eine Kriegserklärung.

5 [107]

Kritik der “Gerechtigkeit” und “Gleichheit vor dem Gesetz”: was eigentlich damit weggeschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß,—aber ein Irrthum ist es, daß dergestalt das Glück gemehrt wird: die Corsen genießen mehr Glück als die Continentalen

5 [108]

Grundfehler: die Ziele in die Heerde und nicht in einzelne Individuen zu legen! Die Heerde ist Mittel, nicht mehr! Aber jetzt versucht man, die Heerde als Individuum zu verstehen und ihr einen höheren Rang als dem Einzelnen zuzuschreiben,—tiefstes Mißverständniß!!! Insgleichen das, was heerdenhaft macht, die Mitgefühle, als die werthvollere Seite unserer Natur zu charakterisiren!

5 [109]

Diese Pariser Dichter und romanciers von heute, feine neugierige Hunde, welche mit aufgeregten Augen “dem Weibe” bis in seine übelriechendsten Heimlichkeiten nachgehen

5 [110]

Gury, Compendium theologiae Moralis Ratisb[onae] 1862 [Vgl. Jean Pierre Gury, Compendium theologiae Moralis. Ratisbonae: Manz, 1868.]
Stein, Studien über die Hesychasten 1874
Braid, Hypnotism, deutsch von Preyer 1882
v. Cremer, Culturgeschichte des Orients
      ”      Geschichte der herrschenden Ideen des Islams 1868
      ”      Geschichtliche Streifzüge auf dem Gebiet des Islams 1873

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel