COPYRIGHT
NOTICE: The content of this website,
including text and images, is the
property of The Nietzsche Channel.
Reproduction in any form is strictly
prohibited. © The Nietzsche Channel.
Anfang 1886—Frühjahr 1886 4 [1-9] 4 [1] Ein Philosoph: was für eine bescheidene Creatur, wenn er wirklich seinem Namen treu bleibt!als welcher nicht einen Freund der Weisheit bezeichnet, Vergebung einem alten Philologen! sondern nur einen, der weise Männer gern hat. Wollt ihr also, daß es Philosophen geben soll, im griechischen Sinne und Wortverstande, heran zuerst mit euren weisen Männern! Aber, es scheint mir, meine Freunde, wir lieben zuletzt die unweisen Männer mehr, als die weisen, gesetzt selbst es gäbe Weise? Und vielleicht steckt darin, gerade darin mehr Weisheit? Wie? Sollten gar die Weisen selbstaus der Nähe gesehn, vielleichtkeine Philosophen sein? Sondern Philasophen? Freunde der Narrheit, gute Gesellschaft für Spielleute und närrisches Volk? Und nicht fürsich? 4 [2] Zum Problem der Maske. Une croyance presque instinctive chez moi, cest que tout homme puissant ment, quand il parle et à plus forte raison, quand il écrit. Stendhal, vie de Napoléon, préface p. XV. [Vgl. Stendhal, Vie de Napoléon. Fragments. Paris: Calmann-Lévy, 1876:xv.] 4 [3] Je sais, quel est le pouvoir des hommes, sagte Napoleon auf Sankt Helena; les plus grands ne peuvent exiger dêtre aimés. Fügen wir sofort hinzu, was sich auf allzugute Gründe hin vermuthen läßt: sie verlangen es auch nicht einmal von sich selbst,und sie lieben sich auch nicht! 4 [4] Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen, man möchte glauben, du wolltest den Menschen zu Grunde richten?sagte ich einmal zu dem Gotte Dionysos. Vielleicht, antwortete der Gott, aber so, daß dabei Etwas für ihn heraus kommt. Was denn? fragte ich neugierig. Wer denn? solltest du fragen. Also sprach Dionysos und schwieg darauf in der Art, die ihm eigen ist, nämlich versucherisch. Ihr hättet ihn dabei sehen sollen! Es war Frühling, und alles Holz stand in jungem Safte. 4 [5] Es giebt einen Theil der Nacht, von welchem ein Einsiedler sagen wird: horch jetzt hört die Zeit auf! Bei allen Nachtwachen, insbesondere, wenn man sich auf ungewöhnlichen nächtlichen Fahrten und Wanderungen befindet, hat man in Bezug auf diesen Theil der Nacht (ich meine die Stunden von Eins bis Drei) ein wunderliches erstauntes Gefühl, eine Art von Viel zu kurz! oder Viel zu lang!, kurz den Eindruck einer Zeit-Anomalie. Sollten wir es in jenen Stunden, als ausnahmsweise Wachende, abzubüßen haben, daß wir für gewöhnlich um jene Zeit uns in dem Zeit-Chaos der Traumwelt befinden? Genug, Nachts von Eins bis Drei haben wir keine Uhr im Kopfe. Mich dünkt, daß eben dies auch die Alten ausdrückten mit intempestiva nocte und ¦< Tk@<LiJ\ (Aeschylos), also da in der Nacht, wo es keine Zeit giebt; und auch ein dunkles Wort Homers zur Bezeichnung des tiefsten stillsten Theils der Nacht lege ich mir etymologisch auf diesen Gedanken zurecht, mögen die Übersetzer es immerhin mit Zeit der Nachtmelke wiederzugeben glauben: wo in aller Welt war man denn je dermaaßen thöricht, daß man da die Kühe des Nachts zwischen Eins und Drei melkte! Aber wem erzählst du da deine Nachtgedanken? 4 [6] [Bei den] Ehen im bürgerlichen Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbarsten Sinne des Wortes Ehe, handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebenso wenig als es sich dabei um Geld handeltaus der Liebe läßt sich keine Institution machen: sondern um die gesellschaftliche Erlaubniß, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung an einander ertheilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das Interesse der Gesellschaft im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Betheiligten und sehr viel guter WilleWille zu Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge für einanderzu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinne des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol, für den einen Theil, wie gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. Bei der Ehe im adeligen, altadeligen Sinne des Wortes handelt es sich um Züchtung einer Rasse (giebt es heute noch Adel? Quaeritur),also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert. Es versteht sich, daß hierbei nicht Liebe das erste Erforderniß war, im Gegentheil! und noch nicht einmal jenes Maaß von gutem Willen für einander, welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts zunächst entschied, und über ihmder Stand. Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen, wie noch im Europa des achtzehnten Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen Thiere mit kitzlichem Herzen, wir Modernen! Eben deshalb ist die Liebe als Passion, nach dem großen Verstande des Wortes, für die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr,da, wo der Zwang, die Entbehrung eben am größten waren ... 4 [7] Die Krankheit macht den Menschen besser: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die Verbesserung des Menschen, im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausendsist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat die Krankheit den Europäer besser gemacht? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen mögeder Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? ... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo der Mensch sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so unmoralischer wird [er] auch. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften forderndie Vermenschlichung, die Verbesserung, die wachsende Civilisirung des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und Jeder Jedermanns Krankenpfleger wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten Frieden auf Erden! Aber auch so wenig Wohlgefallen an einander! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig Werke, um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine Thaten mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurdenwaren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten? ... 4 [8] Daß die bloße Stärke eines Glaubens ganz und gar noch nichts hinsichtlich seiner Wahrheit verbürgt, ja sogar im Stande ist, aus der vernünftigsten Sache langsam, langsam eine dicke Thorheit herauszupräpariren: dies ist unsre eigentliche Europäer-Einsicht,in ihr, wenn irgend worin, sind wir erfahren, gebrannt, gewitzigt, weise geworden, durch vielen Schaden, wie es scheint ... Der Glaube macht selig: gut! Bisweilen wenigstens! Aber der Glaube macht unter allen Umständen dumm, selbst in dem seltneren Falle, daß er es nicht ist, daß er von vornherein ein kluger Glaube ist. Jeder lange Glaube wird endlich dumm, das bedeutet, mit der Deutlichkeit unsrer modernen Psychologen ausgedrückt, seine Gründe versinken ins Unbewußte, sie verschwinden darin,fürderhin ruht er nicht mehr auf Gründen, sondern auf Affekten (das heißt er läßt im Falle, daß er Hülfe nöthig hat, die Affekte für sich kämpfen und nicht mehr die Gründe). Angenommen, man könnte herausbekommen, welches der bestgeglaubte, längste, unbestrittenste, ehrlichste Glaube ist, den es unter Menschen giebt, man dürfte mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit muthmaaßen, daß er zugleich auch der tiefste, dümmste, unbewußteste, vor Gründen am besten vertheidigte, von Gründen am längsten verlassene Glaube sei. Zugegeben; aber welches ist dieser Glaube? Oh ihr Neugierigen! Aber nachdem ich mich einmal aufs Räthsel-Aufgeben eingelassen habe, will ichs menschlich treiben und mit der Antwort und Lösung schnell herausrücken,man wird sie mir nicht so leicht vorwegnehmen. Der Mensch ist vor Allem ein urtheilendes Thier; im Urtheile aber liegt unser ältester und beständigster Glaube versteckt, in allem Urtheilen giebt es ein zu Grunde liegendes Fürwahr-halten und Behaupten, eine Gewißheit, daß Etwas so und nicht anders ist, daß hierin wirklich der Mensch erkannt hat: was ist das, was in jedem Urtheil unbewußt als wahr geglaubt wird? Daß wir ein Recht haben, zwischen Subjekt und Prädikat, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheidendas ist unser stärkster Glaube; ja im Grunde ist selbst schon der Glaube an Ursache und Wirkung, an conditio und conditionatum nur ein Einzelfall des ersten und allgemeinen Glaubens, unsres Urglaubens an Subjekt und Prädikat (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung eine Thätigkeit sei und daß jedes Bedingte einen Bedingenden, jede Thätigkeit einen Thäter, kurz ein Subjekt voraussetze) Sollte dieser Glaube an den Subjekts- und Prädikats-Begriff nicht [eine große Dummheit sein?] 4 [9] Nachspiel. Aber hier unterbrecht ihr mich, ihr freien Geister. Genug! Genug! höre ich euch schrein und lachen, wir halten es nicht mehr aus! Oh über diesen schauerlichen Versucher und Gewissens-Störenfried! Willst du uns denn bei der ganzen Welt den Ruf verderben? Unsren guten Namen anschwärzen? Uns Zunamen anhängen, die sich nicht nur in die Haut einfressen? Und wozu am hellen blauen Tage diese düstern Gespenster, diese moralischen Gurgeltöne, diese ganze tragische rabenschwarze Musik! Sprichst du Wahrheiten: nach solchen Wahrheiten können keine Füße tanzen, also sind es noch lange keine Wahrheiten für uns! Ecce nostrum veritatis sigillum! Und hier ist Rasen und weicher Grund: was gäbe es Besseres als geschwind deine Grillen wegjagen und uns, nach deiner Nacht, einen guten Tag machen? Es wäre endlich Zeit, daß sich wieder ein Regenbogen über dies Land ausspannte, und daß uns Jemand sanfte tolle Lieder zu hören und Milch zu trinken gäbe:wir Alle haben wieder Durst nach einer frommen, von Herzen thörichten und milchichten Denkungsart. Meine Freunde, ich sehe es ihr verliert meine Geduld,und wer sagt euch, daß ich nicht längst schon gerade darauf wartete? Aber ich bin zu eurem Willen; und ich habe auch, was ihr braucht. Seht ihr nicht dort meine Heerden springen, alle meine zarten sonnigen windstillen Gedanken-Lämmer und Gedanken-Böcke? Und hier steht auch schon für euch ein ganzer Eimer Milch bereit; habt ihr aber erst getrunkendenn ihr dürstet alle nach Tugend, ich sehe esso soll es nicht an Liedern fehlen, wie ihr sie wollt! Anzufangen mit einem Tanzliede für die muntersten Beine und Herzen: und wahrlich, wer es singt, der thut es Einem zu Ehren, der Ehre verdient, einem der Freiesten unter freien Geistern, der alle Himmel wieder hell und alle Meere brausen macht.
|