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Oktober-November 1888 24 [1-10]

24 [1]

Ecce homo
Oder:
warum ich Einiges mehr weiss.
Von
Friedrich Nietzsche.

1.

— Ich komme zu einem Problem, das, wie mir wenigstens scheint, etwas ernsthafterer Natur ist als das Problem vom “Dasein Gottes” und andre Christlichkeiten,—zum Problem der Ernährung. Es ist, in Kürze, die Frage: wie hast du dich zu ernähren, um zu deinem maximum von Kraft, von virtù, von Tugend im Sinne der Renaissance-Vernunft zu kommen?— Meine Erfahrungen sind hier so schlimm als möglich: ich bin erstaunt, so spät, an dieser Stelle gerade “zur Vernunft” gekommen zu sein, zu spät in gewissem Verstande: und nur die vollkommene Nichtswürdigkeit unsrer deutschen Bildung erklärt mir einigermaßen, weshalb ich gerade hier rückständig bis zur “Heiligkeit” war. Diese “Bildung,” welche von Anfang an die Realitäten grundsätzlich aus den Augen verlieren lehrt, um durchaus problematischen sogenannten “idealen” Zielen, zum Beispiel einer sogenannten “klassischen Bildung” nachzujagen!—als ob es nicht von vornherein zum Todtlachen wäre “klassisch” und “deutsch” zusammen in den Mund zu nehmen. Man denke sich doch einen “klassisch gebildeten” Leipziger!— In der That, ich habe, bis zu meinen reifsten Jahren, immer nur schlecht gegessen,—moralisch ausgedrückt “unpersönlich,” “unegoistisch,” “altruistisch”: ich verneinte, durch Leipziger Küche zum Beispiel, meinen “Willen zum Leben.” Sich zum Zweck unzureichender Ernährung auch noch den Magen zu verderben—dies Problem scheint mir die genannte Küche zum Bewundern zu lösen. Aber die deutsche Küche überhaupt—was hat sie seit Alters her Alles auf dem Gewissen! Die Suppe vor der Mahlzeit (—noch in italiänischen Kochbüchern des 16ten Jahrhunderts alla tedesca genannt); die ausgekochten Fleische; die fett und schwer gemachten Gemüse; die unverdauliche Species der Mehlspeisen. Rechnet man noch die gerade viehischen Nachguß-Bedürfnisse des deutschen Biedermanns hinzu, so versteht man die Herkunft des “deutschen Geistes”—aus einem verdorbenen Magen ... Aber auch die englische Diät, die, im Vergleich zur deutschen, eine wahre Rückkehr zur “Natur,” will sagen zum Rostbeaf, auch zur Vernunft ist—geht meinem eignen Instinkt tief zuwider: es scheint mir, daß sie dem Geiste “schwere Füße” giebt,—Engländerinnen-Füße ... Daß mir Alcoholica nachtheilig sind, daß ein Glas Wein oder Bier des Tags vollkommen ausreicht, um mir aus dem Leben wie Schopenhauern ein “Jammerthal” zu machen, habe ich auch ein wenig zu spät begriffen,—erlebt hatte ich’s eigentlich von Kindesbeinen an. Als Knabe glaubte ich, Weintrinken sei wie Tabakrauchen anfangs nur eine vanitas junger Burschen, später eine schlechte Gewöhnung. Vielleicht war daran auch der Naumburger Wein schuld.— Zu glauben, daß der Wein erheitere, dazu müßte ich Christ sein, will sagen, glauben, was für mich eine Absurdität ist. Seltsam genug, bei einer extremen Verstimmbarkeit durch stark verdünnte, wenn auch noch so kleine Dosen Alkohol bin ich beinahe unempfindlich gegen starke Dosen: und mit einem Grog seemännischen Kalibers wirft man mich am wenigsten um. Eine lange lateinische Abhandlung in Einer Nachtwache niederzuschreiben, mit der heimlichen Ambition, es meinem Vorbilde Sallust in Strenge und Gedrängtheit gleichzuthun, dies stand schon als ich Schüler in der ehrwürdigen Pforta war, nicht im Widerspruch zu meiner Physiologie, auch nicht zu Sallust—wie sehr auch immer zur ehrwürdigen Pforta! ... Später, gegen die Mitte des Lebens hin, entschied ich mich freilich immer strenger gegen jedwedes “geistige” Getränk. Ich ziehe Orte vor, wo man überall Gelegenheit hat, aus fließenden Brunnen zu schöpfen (—Nizza, Turin, Sils); ich wache Nachts nicht auf, ohne Wasser zu trinken. In vino veritas: es scheint, daß ich auch hier wieder über den Begriff “Wahrheit” mit aller Welt uneins bin,—der Geist schwebt bei mir über dem Wasser ...

2.

Gegen die Krankheit, deren Wohlthaten gerade von mir am wenigsten unterschätzt werden sollen, würde ich einzuwenden haben, daß sie die Wehr- und Waffen-Instinkte des Menschen schwächt. Ich habe mich lange Jahre hindurch weder gegen eine wohlwollende zudringliche Hülfsbereitschaft, noch gegen tölpelhafte, ins Haus fallende “Verehrer” und andres Ungeziefer genügend zu vertheidigen gewußt; jene Fälle, wie billig, noch abgerechnet, denen Niemand entgeht, etwa wenn junge lüderliche Gelehrte, unter dem Vorwand der “Verehrung,” Einen anzupumpen ins Haus fallen. Ein Kranker hat Mühe damit, Dinge und Menschen loszuwerden, Erinnerungen eingerechnet: eine Art Fatalismus, der “sich in den Schnee legt,” nach Art eines russischen Soldaten, welchem der Feldzug endlich zu hart wird, ein Fatalismus ohne Revolte gehört zu seinen Selbsterhaltungs-Instinkten. Man versteht Viel vom Weibe, als einem zum Leiden verurtheilten und unfreiwillig fatalistischen Wesen, wenn man diese Art Selbst-Erhaltungs-Instinkt begreift. So wenig Kraft wie möglich ausgeben,—sich nicht mit Reaktionen verschwenden—eine gewisse Sparsamkeit mehr aus Armut an Kraft: dies ist die große Vernunft im Fatalismus. Physiologisch ausgedrückt: eine Herabsetzung des Stoffverbrauchs, dessen Verlangsamung,—mit Nichts brennt man rascher ab als mit Affekten. Das Ressentiment, der Ärger, die Lust nach Rache—das sind für Kranke die schädlichsten aller möglichen Zustände: eine Religion, wie die Buddha’s, welche wesentlich mit Geistig-Raffinirten und Physiologisch-Ermüdeten zu thun hatte, wendete sich deshalb mit dem Hauptgewicht ihrer Lehre gegen das Ressentiment. “Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende: durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende.” Der Buddhismus war keine Moral,—es wäre ein tiefes Mißverständniß, ihn nach solchen Vulgär-Cruditäten, wie das Christenthum ist, abzuwürdigen: er war eine Hygiene.— Ich habe beinahe unerträgliche Verhältnisse, Orte, Wohnungen, Gesellschaft, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren, jahrelang zäh festgehalten, nicht mit Willen, sondern aus jenem Instinkt heraus,—es war jedenfalls weiser als zu ändern, als zu “experimentiren.” Das Experiment geht gegen den Instinkt des Leidenden: in einem hohen Sinn könnte man es geradezu den Beweis der Kraft nennen. Aus seinem Leben selbst ein Experiment machen—das erst ist Freiheit des Geistes, das wurde mir später zur Philosophie ...

3.

Die Langeweile gehört, wie mir scheint, nicht gerade zu den Leiden der Leidenden; wenigstens fehlt mir alle Erinnerung dafür. Umgekehrt war die böse Zeit meines Lebens reich für mich durch eine gewisse neue Erfindsamkeit—die Kunst der nuances, die feine Fingerfertigkeit in der Handhabe von nuances. Ich würde das raffinement überhaupt verstehn als eine Verzärtelung des Getasts bis in’s Geistigste hinauf; auch noch jene Art liebevoller Rücksicht und Vorsicht im Verstehn, die Kranken eignet, gehört dahin,—sie scheuen die allzu nahe Berührung ... Man hört in diesen Zuständen selbst gemeine Sachen ungemein, man transponirt sie gleichsam: der Alltags-Zufall wird durch ein sublimes Sieb gesiebt und sieht sich selber nicht mehr gleich. Zuletzt war ich damals über die Maaßen dankbar, wenn irgend etwas Freies und Ausgewähltes von Intelligenz, von Charakter sich in meine Nähe verschlug, während eine gewisse Ungeduld gegen Deutsche und Deutsches immer mehr bei mir Instinkt wurde. Mit Deutschen verlor ich meine gute Laune, meinen Geist—und nicht minder meine Zeit ... Die Deutschen machen die Zeit länger ... Anders steht es, wenn der Deutsche zufällig Jude oder Jüdin ist. Es ist wunderlich, wenn ich nachrechne, daß zwischen 1876-86 ich fast alle meine angenehmen Augenblicke im Zufall des Verkehrs Juden oder Jüdinnen verdanke. Die Deutschen unterschätzen, welche Wohlthat es ist, einem Juden zu begegnen,—man hat keine Gründe mehr, sich zu schämen, man darf sogar intelligent sein ... In Frankreich sehe ich die Nothwendigkeit nicht ein, warum es Juden giebt, um so mehr in Deutschland: Meilhac und Halévy, die besten Dichter, denen mein Geschmack Unsterblichkeit verspricht, erreichen diese Höhe als Franzosen nicht als Juden.— Ich möchte dasselbe auch von Offenbach behaupten, diesem unzweideutigen Musiker, der nichts Anderes sein wollte als was er war—ein genialer Buffo, im Grunde der letzte M[usiker] der noch M[usik] machte und nicht Akkorde! ...

4.

Im Grunde gehöre ich zu jenen unfreiwilligen Erziehern, welche keine Principien zur Erziehung brauchen, noch haben. Die Eine Thatsache, daß ich in 7 Jahren Unterricht an der obersten Klasse des Basler Pädagogiums keinen Anlaß hatte, eine Strafe zu verhängen, und daß, wie mir später bezeugt worden ist, die Faulsten bei mir noch fleißig waren, zeugt einigermaßen dafür. Eine kleine Klugheit aus jener Praxis ist mir im Gedächtniß geblieben: im Fall, wo ein Schüler im Wiederholen dessen, was ich die Stunde vorher auseinandergesetzt hatte, durchaus unzureichend blieb, nahm ich die Schuld davon stets auf mich,—sagte zum Beispiel, es sei Jedermann’s Recht, wenn ich mich zu kurz, zu unfaßlich ausdrücke, von mir eine Erläuterung, eine Wiederholung zu verlangen. Ein Lehrer habe die Aufgabe, sich jeder Intelligenz zugänglich zu machen ... Man hat mir gesagt, daß dieser Kunstgriff stärker wirkte, als irgend ein Tadel.— Ich habe weder im Verkehr mit Schülern, noch mit Studenten, je eine Schwierigkeit empfunden, obschon zu Anfang meine vierundzwanzig Jahre mich ihnen nicht nur näherten. Insgleichen gab mir das Prüfen bei Doktor-Promotionen keinen Anlaß, irgend welche Künste oder Methoden noch zuzulernen: was ich instinktiv handhabte, war nicht nur das Humanste in solchen Fällen,—ich befand mich dabei selber erst vollkommen wohl, sobald ich den Promovenden in gutes Fahrwasser gebracht hatte. Jedermann hat in solchen Fällen so viel Geist—oder so wenig—als der verehrliche Examinator hat ... Hörte ich zu, so schien es mir immer, daß im Grunde die Herren Examinatoren geprüft würden. —

5.

Ich habe nie die Kunst verstanden gegen mich einzunehmen, selbst wenn es mir von großem Werth schien, zu diesem Ziele zu gelangen. Man mag mein Leben hin und herwenden, man wird darin nicht die Anzeichen finden, daß je Jemand bösen Willen gegen mich gehabt habe. Meine Erfahrungen selbst mit Solchen, an denen Jedermann schlechte Erfahrungen macht, sind ohne Ausnahme zu deren Gunsten: auch war mir für den Verkehr, vorausgesetzt, daß ich nicht krank war, Jedermann noch ein Instrument, dem ich feine ungewohnteste Töne abgewann. Wie oft habe ich dies zu hören bekommen, eine Art Verwundern, über sich selber seitens meiner Unterredner: “Dergleichen ist mir nie bisher in den Sinn gekommen” ... Am schönsten vielleicht von jenem unverzeihlich jung verstorbenen Heinrich von Stein, der einmal, nach sorgsam eingeholter Erlaubniß, auf drei Tage in Sils erschien, Jedermann erklärend, daß er nicht des Engadin wegen gekommen sei. Dieser ausgezeichnete Mensch, der mit der ganzen tapferen Einfalt seiner Natur in den Wagnerischen Sumpf hineingewatet bis in die Ohren war—“ich verstehe nichts von Musik” bekannte er mir—war diese drei Tage lang wie umgewandelt durch einen Strom von Freiheit, gleich Einem, der plötzlich in sein Element geräth und Flügel bekommt. Ich sagte ihm immer, Das mache die gute Luft hier oben, so gehe es Jedem, aber er wollte mir’s nicht glauben ... Wenn trotzdem an mir mancherlei große und kleine Missethat verübt worden ist, so war nicht der “Wille,” am wenigsten der böse Wille der Grund davon: eher schon hätte ich mich über den guten Willen zu beklagen, der nur Unfug in meinem Leben angerichtet hat. Meine Erfahrung giebt mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der hülfbereiten, zu Rath, zu Thaten schreitenden “Nächstenliebe” —, ich werfe ihr vor, daß ihr die Delikatesse leicht abhanden kommt, daß sie mit ihren hülfbereiten Händen in ein erhabnes Geschick, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf großes Leiden unter Umständen geradezu zerstörerisch hineingreift.— Nicht ohne Grund habe ich als “Versuchung Zarathustra’s” einen Fall gedichtet, wo ein großer Nothschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen will: hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen thätig sind, dies ist eine Probe, die letzte Probe, die Zarathustra und wer Seines Gleichen ist vor sich selber abzulegen hat. —

6.

Gleich Jedem, der nie unter seines Gleichen lebt und aus diesem seinem Schicksal zuletzt seine Kunst und Menschenfreundlichkeit macht, wehre ich mich in Fällen, wo eine kleine oder sehr große Thorheit gegen mich begangen wurde, gegen irgend eine Gegenmaßregel, es sei denn die, der Dummheit so schnell wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht noch ein. Man hat nur Etwas an mir schlimm zu machen, ich vergelte es, dessen sei man sicher: ich finde in Kürze eine Gelegenheit, dem Übelthäter meinen Dank für irgend Etwas auszudrücken oder ihn um Etwas zu bitten (—was verbindlicher ist als zu geben ...) Auch scheint es mir, daß der gröbste Brief gutartiger ist als Schweigen. Solchen, die schweigen, fehlt es an Feinheit und Höflichkeit des Herzens.— Wenn man reich genug dazu ist, ist es ein Glück, Unrecht zu haben; man verträgt sich auf’s Beste mit mir, wenn man mir von Zeit zu Zeit eine Gelegenheit giebt, Unrecht zu haben. Nichts verbessert meine Freundschaft so von Grunde aus, Nichts giebt ihr immer wieder Frische ... In jenen nicht unbekannten Fällen, wo ich ein entschiedenes Nein bis zum Krieg aufs Messer bekenne, würde man einen argen Fehlschluß machen, gerade da eine im Hintergrunde verborgene Fülle schlimmer Erfahrungen vorauszusetzen. Wer einen Begriff von mir hat, darf umgekehrt schließen. Ich gestehe mir keine Sachen-Feindschaft, solange die geringste Personen-Zwiespältigkeit noch mitspielt. Wenn ich dem Christenthum den Krieg mache, so steht mir dies einzig deshalb zu, weil ich nie von dieser Seite aus Trübes oder Trauriges erlebt habe,—umgekehrt die schätzenswerthesten Menschen, die ich kenne, sind Christen ohne Falsch gewesen, ich trage es den Einzelnen am letzten nach, was das Verhängniß von Jahrtausenden ist. Meine Vorfahren selbst waren protestantische Geistliche: hätte ich nicht einen hohen und reinlichen Sinn von ihnen her mitbekommen, so wüßte ich nicht, woher mein Recht zum Kriege mit dem Christenthum stammte. Meine Formel dafür: der Antichrist ist selbst die nothwendige Logik in der Entwicklung eines echten Christen, in mir überwindet sich das Christenthum selbst. Ein anderer Fall: ich habe aus meinen Beziehungen zu Wagner und zu Frau Wagner nur die erquicklichsten und erhebendsten Erinnerungen zurückbehalten: genau dieser Umstand erlaubte mir jene Neutralität des Blicks, das Problem Wagner überhaupt als Cultur-Problem zu sehn und vielleicht zu lösen ... Selbst für Antisemiten, denen ich, wie man weiß, am wenigsten hold bin, würde ich, meinen nicht unbeträchtlichen Erfahrungen nach, manches Günstige geltend zu machen haben: dies hindert nicht, dies bedingt vielmehr, daß ich dem Antisemitismus einen schonungslosen Krieg mache,—er ist einer der krankhaftesten Auswüchse der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen Selbst-Anglotzung ...

7.

Es liegt nicht in meiner Art, Vieles und Vielerlei zu lieben: auch in meinem Verkehr mit Büchern habe ich im Ganzen mehr eine Feindseligkelt als eine Toleranz, ein “Herankommen-lassen” im Instinkte. Und das von Kindesbeinen an. Es ist im Grunde eine kleine Anzahl Bücher, die in meinem Leben mitzählen, es sind die berühmtesten nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast mit Einem Schlage bei der ersten Berührung mit Sallust: ich vergesse das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur geben mußte,—er lud mich zu sich ein ... Gedrängt, streng, mit so viel Substanz auf dem Grunde als möglich,—eine kalte Bosheit gegen das “schöne Wort” und das “schöne Gefühl”: daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach dem “magnum in parvo,” nach dem “aere perennius” wiedererkennen. Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem anderen Dichter dasselbe artistische Entzücken wiedergefunden, das mir eine Horazische Ode macht. In gewissen Sprachen, z.B. im Deutschen, ist das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort, als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum von Umfang der Zeichen, dies damit erreichte maximum von Energie des Zeichens—das Alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence: der ganze Rest von Poesie wird dagegen eine Gefühls-Geschwätzigkeit. Ich möchte am wenigsten den Reiz vergessen, der im Contrast dieser granitnen Form und der anmuthigsten Libertinage liegt:—mein Ohr ist entzückt über diesen Widerspruch von Form und Sinn. Der dritte unvergleich[liche] Eindruck, den ich den Lateinern verdanke, ist Petronius. Dies prestissimo des Übermuths in Wort, Satz und Sprung der Gedanken, dies Raffinement in der Mischung von Vulgär- und “Bildungs”-Latein, diese unbändige gute Laune, die sich vor nichts fürchtet und über jede Art Animalität der antiken Welt mit Grazie hinwegspringt, diese souveräne Freiheit vor der “Moral,” vor den tugendhaften Armseligkeiten “schöner Seelen”—ich wüßte kein Buch zu nennen, das am Entferntesten einen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht hätte. Daß der Dichter ein Provençale ist, sagt mir leise mein persönlichster Instinkt: man muß den Teufel im Leibe haben, um solche Sprünge zu machen. Unter Umständen, wenn ich nöthig hatte, mich von einem niedrigen Eindruck zu befreien, zum Beispiel von einer Rede des Apostel Paulus, genügten mir ein Paar Seiten Petronius, um mich vollkommen wieder gesund zu machen.

8.

Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandten Eindrücke; im Verhältniß nämlich zu Plato bin ich ein zu gründlicher Skeptiker, und habe nie in die Bewunderung des Artisten Plato, die unter Gelehrten üblich ist, einzustimmen vermocht. Er wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander: er hat Etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, welche die Satura Menippea erfanden. Daß der Platonische Dialog, die entsetzlich selbstgefällige und kindliche Dialektik als Reiz wirken kann, dazu müßte man niemals gute Franzosen gelesen haben. Zuletzt geht mein Mißtrauen in die Tiefe bei Plato: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten des Hellenen, so verjüdelt, so präexistent-christlich in seinen letzten Absichten, daß ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort “höherer Schwindel” gebrauchen möchte als irgend ein andres. Man hat theuer dafür bezahlt, daß dieser Athener bei den Ägyptern in die Schule gieng (—wahrscheinlich bei den Juden in Ägypten ...) In dem großen Verhängniß des Christenthums ist Plato eine jener verhängnißvollen Zweideutigkeiten, die den edleren Naturen des Alterthums es möglich machte, die Brücke zu betreten, die zum “Kreuz” führte ... Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht, der principe Machiavellis, sind mir selber am meisten verwandt, durch den unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn,—nicht in der “Vernunft,” noch weniger in der “Moral” ... Von der jämmerlichen Schönfärberei, die der klassisch gebildete Deutsche als den Lohn für seinen “Ernst” im Verkehr mit dem Alterthum einerntet, kurirt nichts so gründlich als Thukydides. Man muß ihn Zeile für Zeile umwenden und sein Nicht-Geschriebenes so deutlich ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so substanzreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griech[ische] Philosophie schon als die décadence des griech[ischen] Instinkts: Thukydides als die große Summe aller starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkt lag. Der Muth unterscheidet solche Naturen wie Plato und Thukydides: Plato ist ein Feigling—folglich flüchtet er ins Ideal—Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt.

9.

In den Griechen “schöne Seelen,” “harmonische Bildwerke” und Win[c]kelmannsche “hohe Einfalt” wiederzuerkennen—vor solcher niaiserie Allemande [Vgl. Prosper Mérimée, Lettres à une inconnue. Précédées d'une étude sur Mérimée par H. Taine. Vol. 1. Paris: Michel Lévy Frères, 1874:328.] war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht; ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs,—ich sah aber ihre Instinkte wachsen aus den Schutzmaßregeln, sich von einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff zu schützen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in entsetzlicher Feindschaft gegen alles Auswärtige: die Stadtgemeinden zerfleischten sich, damit die Stadtbürger um diesen Preis sich selber nicht zerfleischten. Man hatte nöthig, stark zu sein,—die prachtvolle und geschmeidige Leiblichkeit des Griechen ist eine Noth, nicht eine “Natur” gewesen. Sie folgte:—sie war durchaus nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich immer stärker, schöner, immer vollkommner fühlen—: es sind Mittel der Selbstverherrlichung, Steigerungsmittel des Willens zur Macht.— Die Griechen nach ihren Philosophen beurtheilen! die Moral-Weisheit der philosophischen Schulen zum Aufschluß benutzen, was griechisch war! Dergleichen galt mir immer nur als Beweis für die psychologische Feinheit, die die Deutschen auszeichnet ... Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den klassischen Geschmack, gegen den vornehmen Geschmack! Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, weil sie den Griechen zu fehlen anfiengen ... Ich war der Erste, der zum Verständniß des älteren Hellenen jenes wundervolle Phänomen, das auf den Namen Dionysos getauft ist, wieder ernst nahm. Mein verehrungswürdiger Freund Jakob Burckhardt in Basel verstand durchaus, daß damit Etwas Wesentliches gethan sei: er fügte seiner Cultur der Griechen einen eignen Abschnitt über das Problem bei. Will man den Gegensatz, so sehe man die verächtliche Leichtfertigkeit aus der Nähe an, mit der seiner Zeit der berühmte Philolog Lobeck diese Dinge behandelt hat. Lobeck, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnißvoller Zustände hineinkriecht und sich überredet eben damit wissenschaftlich zu sein, wenn er nur bis zum Ekel hier öde und armselig ist, hat es mit allem Aufwande von Gelehrsamkeit zu verstehen gegeben, eigentlich habe es nichts auf sich mit all diesen Curiositäten. In der That möchten die Priester den Theilhabern solcher Orgien Einiges mitgetheilt haben, zum Beispiel daß der Wein zur Lust errege, daß der Mensch von Früchten lebe, daß die Pflanzen im Frühling aufblühen, im Winter welken. Was den Reichthum an Riten und Mythen orgiastischen Ursprungs betrifft, so wird er noch um einen Grad geistreicher. Die Griechen, sagt er Agl[a]oph. I, 672, hatten sie nichts Andres zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der Mensch mitunter auch dazu Lust hat, so saßen sie nieder, weinten und jammerten. [Vgl. Christian August Lobeck, Aglaophamus sive de theologiae mysticae Graecorum causis libri tres. Scripsit Chr. Augustus Lobeck Antiqq. Litt. in Acad. Regimontana Professor idemque Poetarum Orphicorum dispersas reliquias collegit. Vol. 1. Regimontii Prussorum Sumtibus Fratrum Borntraeger, 1829:672.] Andere kamen dann später hinzu und suchten doch irgend einen Grund für dies auffallende Wesen, und so entstanden zur Erklärung jener Gebräuche zahllose Festsagen und Mythen ... Auf der anderen Seite glaubte man, jenes possierliche Treiben, welches einmal an den Festtagen stattfand, gehöre nun auch nothwendig zur Festfeier und hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest.— Aber abgesehen noch von diesem verächtlichen Unsinn dürfte man geltend machen, daß mit dem ganzen Begriff “griechisch,” noch mehr dem Begriff “klassisch,” den Winckelmann und Goethe gebildet hatten, uns das dionysische Element unverträglich ist:—ich fürchte, Goethe selber schloß etwas derartig[es] grundsätzlich von den Möglichkeiten der hellenischen Seele aus. Und doch spricht sich erst in den dionysischen Mysterien der ganze Untergrund des hellenischen Instinkts aus. Denn was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens, die Zukunft in der Zeugung verheißen und geweiht, das triumphirende Jasagen zum Leben über Tod und Wandel hinaus, das wahre Leben als das Gesammt-Fortleben in der Gemeinschaft, Stadt, Geschlechts-Verbindung; das geschlechtliche Symbol als das ehrwürdigste Symbol überhaupt, der eigentliche Symbol-Inbegriff der ganzen antiken Frömmigkeit; die tiefste Dankbarkeit für jedes Einzelne im Akt der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die “Wehen der Gebärerin” heiligen den Schmerz überhaupt, alles Werden, Wachsen, alles Zukunfts-Verbürgende bedingt den Schmerz; damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, muß es ewig die Qual der Gebärerin geben ... Ich kenne keine höhere Symbolik.— Erst das Christenthum hat aus der Geschlechtlichkeit eine Schmutzerei gemacht: der Begriff von imm[aculata conceptio] war die höchste seelische Niedertracht, die bisher auf Erden erreicht wurde z.B.—sie warf den Schmutz in den Ursprung des Lebens ...

Die Psychologie des Orgiasmus, als eines überströmenden Lebensgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz nur als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum tragischen Gefühl, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von Seiten der Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie umgekehrt gerade dessen äußerster Gegensatz ist. Das Jasagen zum Leben selbst noch zu den fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben im Opfer seiner höchsten Typen seine eigne Unerschöpflichkeit genießend—das nannte ich dionysisch, das verstand ich als die eigentliche Brücke zu einer Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um vom Schrecken und Mitleiden loszukommen, und sich von einem gefährlichen Affekt wie durch eine vehemente Entladung desselben zu reinigen—das war der Weg des Aristoteles: sondern über Schrecken und Mitleiden hinaus die ewige Lust des Schaffens und Werdens zu genießen, seinen Schrecken, sein Mitleiden unter sich zu haben ...

10.

Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht liegt in seinem Verhängniß: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch. Diese doppelte Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens—décadent zugleich und Anfang—dies, wenn irgend Etwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältniß [zum] großen Gesammt-Problem des Lebens, die mich auszeichnet. Ich kenne Beides, ich bin Beides.— Mein Vater starb mit 36 Jahren: er war zart, liebenswürdig und morbid, wie ein bloß zum Vorübergehn bestimmtes Wesen,—eher eine gütige Erinnerung ans Leben als das Leben selbst. In dem gleichen Jahr, wo sein Leben abwärts ging, ging auch das meine abwärts: im 36ten Jahr kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität,—ich lebte noch, doch ohne drei Schritte weit vor mich zu sehn. Im Jahr 1879 legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten, in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, in Naumburg. Das war mein minimum: der “Wanderer und sein Schatten” entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich kannte mich damals als Schatten ... Im Winter darauf, meinem ersten Genueser Winter, brachte jene wunderliche Vergeistigung, die mit einer extremen Verarmung an Muskel und Blut beinahe bedingt ist, die “Morgenröthe” hervor. Die vollkommene Helle und Heiterkeit des Geistes verträgt sich bei mir nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern sogar mit einem extremen Schmerzgefühl. In jenen Höllenqualen, die ein ununterbrochener Schmerz unter mühseligen Schleim-Erbrechen mit sich bringt, besaß ich die dialektische Klarheit par excellence und dachte Dinge durch, zu denen ich in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffinirt genug bin. (Meine Leser wissen, in wiefern ich Dialektik als décadence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall, dem des Sokrates) Alle krankhaften Störungen des Intellekts, selbst die Halbbetäubung, die das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute vollkommen fremde Dinge, über deren Häufigkeit ich mich erst auf belesen-gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut läuft langsam,—ich hatte in den Krankheits-Jahren den Puls Napoleon’s—Niemand hat je Fieber bei mir constatiren können. Ein [Arzt, der] mich länger als Nervenleidenden behandelte, sagte selbst “nein! an Ihren Nerven liegt’s nicht, ich selber bin nur nervös.” Vollkommen unnachweisbar irgend eine lokale Entartung; keine organisch bedingten Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gehirn-Erschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems herantrat. Auch das Augenleiden, dem Blindwerden sich gefährlich annähernd, Folge, nicht ursächlich: so daß mit jeder Zunahme an Lebenskraft auch die Sehkraft, als [ — — ], zugenommen hat. Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung,—sie bedeutet leider auch Rückfall, Verfall und Periodik einer Art décadence. Brauche ich zu sagen, daß ich in Fragen der décadence erfahren bin? ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabirt. Selbst jene Kunst des Greifens und Begreifens, jene Finger für nuances, jene ganze Psychologie des “Um die Ecke Sehens,” die mich vielleicht auszeichnet, ist damals erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der Alles sich verfeinerte, die Beobachtung sowohl als die Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewißheit des vollen Lebens hinunter sehen in die Filigran-Arbeit des décadent-Instinkts—das ist meine größte Übung, meine längste Erfahrung gewesen: wenn irgendworin, so bin ich hier Meister. Ich habe es in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: weshalb für mich allein eine Umwerthung der Werthe überhaupt möglich war.

11.

Abgerechnet nämlich davon, daß ich ein décadent bin, bin ich dessen Gegentheil im vollsten Sinne. Mein Beweis dafür ist, daß ich instinktiv auch gegen jene schlimmen Zustände die rechten Mittel wählte: während der décadent an sich erkennbar die schädlichen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund: als Winkel, als Specialität war ich décadent. Jene Energie der absoluten Vereinsamung und Herauslösung aus gewohnten Verhältnissen und Aufgaben, der Zwang gegen mich selbst, mich nicht besorgen, bedienen, beärzteln zu lassen—das verräth die unbedingte Instinkt-Gewißheit darüber, was noth thut. Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich gesund: die Voraussetzung dafür ist—jeder Physiologe wird mir das zugestehen—daß man im Grund gesund ist. Ein typisch morbider Mensch wird nicht gesund: für einen typisch Gesunden kann Kranksein ein energisches Stimulans sein. So in der That erscheint mir zuletzt jene lange Krankheits-Periode: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie ein Anderer nicht leicht geschmeckt haben wird,—ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben meine Philosophie ... Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein,—mein Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armut und Entmuthigung ... Woran erkennt man im Grunde die Wohlgerathenheit? Ein wohlgerathener Mensch ist aus einem Holze geschnitzt, welches hart zart und wohlriechend ist, er thut selbst noch unserem Geruche wohl. Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen, seine Lust hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten ist. Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seiner Verstärkung aus. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Princip, er läßt viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut. Er reagirt auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz ihm eingezüchtet haben,—er prüft den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzukommen. Er glaubt weder an “Unglück,” noch an “Schuld”: er ist stark genug, daß ihm Alles zum Besten gereichen muß.— Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich beschrieb eben mich. —

24 [2]

Der physiologische Widerspruch.
Vom Verbrecher.
Was ich den Alten verdanke.
Philosophie.
Musik

die Bücher charakterisirt.

In media vita.
Aufzeichnungen eines
Dankbaren.
Von
F. N.

24 [3]

Ecce homo
Aufzeichnungen
eines Vielfachen.

1. Der Psycholog redet
2. Der Philosoph redet
3. Der Dichter redet
4. Der Musikant redet
5. Der Schriftsteller redet
6. Der Erzieher redet

24 [4]

Fridericus Nietzsche
de vita sua.
Ins Deutsche übersetzt.

24 [5]

Der Spiegel
Versuch
einer Selbstabschätzung.
Von
Friedrich Nietzsche

24 [6]

Die Klugheit meines Instinkts besteht darin, die eigentlichen Nothstände und Gefahren für mich als solche zu fühlen.

insgleichen die Mittel zu errathen, mit denen man ihnen aus dem Wege geht oder sie zu seinem Vortheil einordnet und gleichsam um eine höhere Absicht herum organisirt.

Der Kampf mit der Vereinsamung
mit der Krankheit
mit dem Zufall von Herkunft, Bildung, Gesellschaft ...
mit der großen erdrückenden Verantwortlichkeit
mit der Vielheit der Bedingungen seiner Aufgabe (—welche Isolation brauchen

24 [7]

Größte Klugheit: eine große Bestimmung so wenig wie möglich in das Bewußtsein dringen lassen,—gegen sie die Scham bewahren

sich gegen sie durch Bescheidenheit, Muthwillen, Raffinement des Geschmacks, selbst durch Krankheits- und Schwäche-Zeiten gleichsam verstecken ...

man muß nur ihre Gebote thun, nicht wissen wollen, was sie ist, wann sie befiehlt ...

man muß keine Reden, keine Formeln, keine Attitüden für sie haben,—man muß leiden, ohne zu wissen, man muß das Beste thun, ohne sich darin zu verstehn ...

24 [8]

Vademecum.
Von der Vernunft meines Lebens.

24 [9]

Im Verkehr mit den Alten.
Anhang
Ecce homo
.

24 [10]

Was Goethe angeht: so war der erste Eindruck, ein sehr früher Eindruck, vollkommen entscheidend: die Löwen-Novelle, seltsamer Weise das Erste, was ich von ihm kennen lernte, gab mir ein für alle Mal meinen Begriff, meinen Geschmack “Goethe.” Eine verklärt-reine Herbstlichkeit im Genießen und im Reifwerdenlassen,—im Warten, eine Oktober-Sonne bis ins Geistigste hinauf; etwas Goldenes und Versüßendes, etwas Mildes, nicht Marmor—das nenne ich Goethisch. Ich habe später, um dieses Begriffs “Goethe” halber, den “Nachsommer” Adalbert Stifters mit tiefer Gewogenheit in mich aufgenommen: im Grunde das einzige deutsche Buch nach Goethe, das für mich Zauber hat.— Faust—das ist für den, der den Erdgeruch der deutschen Sprache aus Instinkt kennt, für den Dichter des Zarathustra, ein Genuß ohne Gleichen: er ist es nicht für den Artisten, der ich bin, dem mit dem Faust Stückwerk über Stückwerk in die Hand gegeben wurde,—er ist es noch weniger für den Philosophen, dem das vollkommen Arbiträre und Zufällige—nämlich durch Cultur-Zufälle Bedingte in allen Typen und Problemen des Goetheschen Werks widerstrebt. Man studirt achtzehntes Jahrhundert, wenn man den “Faust” liest, man studirt Goethe: man ist tausend Meilen weit vom Nothwendigen in Typus und Problem. —

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