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November 1887—März 1888 11 [1-100]

Nizza den 24. November 1887

11 [1]

Man soll von sich nichts wollen, was man nicht kann. Man frage sich: willst du vorangehn? Oder willst du für dich gehn? Im ersten Falle wird man, besten Falls, Hirt, das heißt Nothbedarf der Heerde. Im andern Fall muß man etwas Andres können,—von sich Für-sich-gehn-können, muß man Anders- und Anderswohin-gehn-können. In beiden Fällen muß man es können und kann man das Eine, darf man nicht das Andre wollen [Vgl. Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development. London: Macmillan, 1883:72f., 77.]

11 [2]

(302)      Mit Menschen fürlieb nehmen und mit seinem Herzen offnes Haus halten: das ist liberal, aber nicht vornehm. Man erkennt die Herzen, die der vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden: sie halten ihre besten Räume zum Mindesten leer, sie erwarten Gäste, mit denen man nicht fürlieb nimmt ...

11 [3]

(303)      Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler “Form” nennen, als Inhalt, als “die Sache selbst” empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem,—unser Leben eingerechnet.

11 [4]

Ein Brief erinnert mich an deutsche Jünglinge, gehörnte Siegfriede und andre Wagnerianer. Allen Respekt vor der deutschen Genügsamkeit! Es giebt bescheidene Intelligenzen im nördlichen Deutschland, denen sogar die Intelligenz der Kreuzzeitung genugthut. Einem Draußen-Stehenden könnte mitunter der Argwohn kommen, ob das junge Reich, in seinem Heißhunger nach Colonien und allerlei Afrika, das die Erde besitzt, nicht unversehens auch die zwei berühmten schwarzbraunen Inseln verschluckt hat, Horneo und Borneo ...

11 [5]

Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war und das was wird:—man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes giebt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine “Welt.”

11 [6]

Man geht zu Grunde, wenn man immer zu den Gründen geht.

11 [7]

Eine Raupe zwischen zwei Frühlingen, der bereits ein kleiner Flügel wächst: — — —

11 [8]

Ein Antrieb zum Besseren”—Formel für “auf den Abtritt gehn”

11 [9]

(304)      Sainte-Beuve: Nichts von Mann; voll eines verlogenen Hasses gegen alle Mannsgeister: schweift umher, feig, neugierig, gelangweilt, verleumderisch,—eine Weibsperson im Grunde, mit einer Weibs-Rachsucht und Weibs-Sinnlichkeit (—letztere hält ihn in der Nähe von Klöstern und andren Brutstätten der Mystik fest, zeitweilig selbst in der Nähe der Saint-Simonisten) übrigens ein wirkliches Genie der médisance, unerschöpflich reich an Mitteln dazu, fähig z.B. auf eine tödtliche Weise zu loben; nicht ohne eine anmuthige Virtuosen-Bereitwilligkeit, seine Kunst zur Schau zu stellen, wo es irgend am Platze ist: nämlich vor aller Art Zuhörerschaft, an der Etwas zu fürchten ist. Freilich nimmt er hinterdrein auch an seinen Zuhörern bei sich Rache, heimlich, kleinlich, unreinlich; in Sonderheit müssen es alle unabweislich vornehmen Naturen büßen, daß sie vor sich selber Ehrfurcht haben,—die hat er nicht! schon das Männliche, Stolze, Ganze, Selbstgewisse reizt ihn, schüttelt ihn bis zum Aufruhr.— Dies ist nun der Psychologe comme il faut: nämlich nach dem Maaß und dem Bedürfniß des jetzigen esprit français, der so spät, so krank, so neugierig ist, so aushorcherisch, so lüstern wie er; Heimlichkeiten schnüffelnd, wie er; instinktiv die Bekanntschaft mit Menschen von Unten und Hintenher suchend, nicht viel anders als es die Hunde unter einander machen (die ja auch auf ihre Art Psychologen sind). Plebejisch im Grunde und mit den Instinkten Rousseaus verwandt: folglich Romantiker—denn unter allem romantisme grunzt und giert der Pöbel nach “Vornehmheit”; revolutionär, aber durch die Furcht leidlich noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was Stärke hat (öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst Port-Royal). Seiner im letzten Grunde überdrüssig, bei Zeiten schon ohne Glauben an sein Recht, da zu sein; ein Geist, der sich von jung auf vergeudet hat, der sich vergeudet fühlt, der sich selbst immer dünner und älter wird. Das lebt zuletzt noch fort, von einem Tag zum andern, bloß aus Feigheit; das erbittert sich gegen alles Große an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich glaubt, da es leider Dichter und Halbweib genug ist, um das Große noch als Macht zu fühlen; das krümmt sich beständig, wie jener berühmte Wurm, weil es sich beständig von irgend Etwas Großem getreten fühlt. Als Kritiker ohne Maaßstab, Rückgrat und Halt, mit der Zunge des kosmopolitischen libertin für Vielerlei, aber ohne den Muth selbst zur eingeständlichen libertinage, folglich einem unbestimmten Klassicismus sich unterwerfend. Als Historiker ohne Philosophie und die Macht des Blicks, instinktiv die Aufgabe des Richtens in allen Hauptsachen ablehnend und die Maske der Objektivität vorhaltend (—damit eins der schlimmsten Muster, die das letzte Frankreich gehabt hat): abgesehn, wie billig, von den kleinen Dingen, wo ein feiner und vernutzter Geschmack die höchste Instanz ist, und wo er wirklich den Muth zu sich selber, die Lust an sich selber hat (—darin ist er den Parnassiens verwandt, die wie er die raffinirteste und eitelste Form der modernen Selbstverachtung, Selbstentäußerung darstellen). “Sainte-Beuve a vu une fois le premier Empereur. C’était à Boulogne: il était en train de pisser. N’est-ce pas un peu dans cette posture-là, qu’il a vu et jugé depuis tous les grands hommes?” (Journal des Goncourt, 2. p. 239)—so erzählen seine boshaften Feinde, die Goncourts. [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 2:1862-1865. Paris: Charpentier, 1887:239.]

11 [10]

Typen der décadence.

Die Romantiker
Die “freien Geister” Sainte-Beuve
Die Schauspieler.
Die Nihilisten.
Die Artisten.
Die Brutalisten
Die Delikaten.

11 [11]

En amour, la seule victoire est la fuite.— Napoleon.

11 [12]

canis reversus ad vomitum suum

11 [13]

Les philosophes ne sont pas faits pour s’aimer. Les aigles ne volent point en compagnie. Il faut laisser cela aux perdrix, aux étourneaux ... Planer audessus et avoir des griffes, voilà le lot des grands génies.— Galiani. [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. Paris: G. Charpentier, 1882:309.]

11 [14]

Le hasard, père de la fortune et souvent beau-père de la vertu. — Galiani. Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. Paris: G. Charpentier, 1882:173.]

11 [15]

(Ni l’amour ni les dieux; ce double mal nous tue. Sully Prudhomme.) [Vgl. Louis Desprez, L'évolution naturaliste. Paris: Tresse, 1884:296.]

11 [16]

Hinter allem moralischen Geschreibsel dieses ländlichen Weibleins, der G. Eliot höre ich immer die aufgeregte Stimme aller litterarischen Debütantinnen: “je me verrai, je me lirai, je m’extasierai et je dirai: Possible, que j’aie eu tant d’esprit? ...” [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. 18. September 1769. Paris: G. Charpentier, 1882.]

11 [17]

vomitus matutinus der Zeitungen

11 [18]

si hortum cum bibliotheca habes, nihil deerit. Cicero. [Vgl. M. Tullii Ciceronis opera quae supersunt omnia. Ex recensione Io. Casp. Orellii [Johann Kaspar von Orelli]. Vol. 3: Epistolae. Turici: Orellius, Füssli, 1845, 145-146; Cicero: Epistulae ad familiares (ad T. Varro). IX, 4, 9.]

11 [19]

notum quid foemina furens. Virg. Aen. V. 6 [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. 24. Dezember 1772. Paris: G. Charpentier, 1882.]

11 [20]

“un monstre gai vaut mieux qu’un sentimental ennuyeux” [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. Paris: G. Charpentier, 1882:101. Vgl. 4. November 1887, Brief an Heinrich Köselitz: "Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche canaille; aber ich bin der Meinung Galiani's: 'un monstre gai vaut mieux / qu'un sentimental ennuyeux.' Voltaire ist nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann ..."]

11 [21]

come l’uom s’eterna (Inf. XV, 85) [Vgl. Émile Gebhart, Les origines de la Renaissance en Italie, par Emile Gebhart, Professeur de Littérature étrangère à la Faculté des Lettres de Nancy. Ancien membre de l'École française d'Athènes. Paris: Hachette, 1879:146.]

11 [22]

“Yo me sucedo a mi mismo,” sage ich wie jener alte Mann bei Lope de Vega, lächelnd, wie er: denn ich weiß es schlechterdings nicht mehr, wie alt ich schon bin und wie jung ich noch sein werde ... [Vgl. Si no vieran las mujeres von Félix Lope de Vega Carpio (1562-1635): "¿No habéis visto un árbol viejo, / cuyo tronco, arrugado, / coronan verdes renuevos? / Pues eso habéis de pensar, / y que pasando los tiempos, / yo me sucedo a mi mismo." Nietzsches Quellen vermutlich Aufsatz von Charles Victor Cherbuliez in Revue des deux mondes ("L'espagne politique. Première partie. Le caractère espagnol et la monarchie constitutionnelle," Revue des deux mondes, Sept.-Oct. 1873:13). Vgl. 14. Dez. 1887 Brief an Karl Fuchs: "Wie alt ich eigentlich schon bin? Ich weiß es nicht; ebensowenig, wie jung ich noch sein werde."]

11 [23]

— man hat auch dann noch genug Gründe, zufrieden und selbst dankbar zu sein, und wenn auch nur in der Art, wie es jener alte Schäker war, der tamquam re bene gesta von einem verliebten Stelldichein heimkehrte. Ut desint vires, sagte er zu sich mit der Sanftmuth eines Heiligen, tamen est laudanda voluptas. [Vgl. Ovid, Epistulae ex Ponto (III.4.79): "Ut desint vires tamen est laudanda voluntas."]

11 [24]

(305)      George Sand. Ich las die ersten lettres d’un voyageur: wie Alles, was von Rousseau stammt, falsch, von Grund aus, moralistisch verlogen, wie sie selbst, diese “Künstlerin.” [Vgl. George Sand, Lettres d'un voyageur. 1837.] Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus, ebenso wenig diese aufgeregte Pöbel-Ambition nach “vornehmen” Leidenschaften, heroischen Attitüden und Gedanken, die wie Attitüden wirken. Wie kalt muß sie dabei gewesen sein—kalt, wie Victor Hugo, wie Balzac, wie alle eigentlichen Romantiker—: und wie selbstgefällig mag sie dabei dagelegen haben, diese breite fruchtbare Kuh, welche etwas Deutsches an sich hatte, gleich Rousseau selber, und jedenfalls am Ende alles französischen Geschmacks und esprit erst möglich gewesen ist ... Aber Ernest Renan verehrt sie ... [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 2:1862-1865. Paris: Charpentier, 1887:122.]

11 [25]

(306)      Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger: oh wie gerne möchten sie einmal von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens los zu werden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich Alles an, was vorübergeht: Niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel von Leiden und Leidenschaft entgegen, Niemand erräth, inwiefern sie warten ... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit—nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an Jedermann zu ertragen, Jederlei zu ertragen—kurz, noch ein wenig mehr zu tragen, als sie bisher schon getragen haben ...

11 [26]

(307)      — und wer ohne Vorurtheil die Bedingungen nachrechnet, unter denen hier auf Erden irgend eine Vollkommenheit erreicht wird, dem wird nicht entgehn, wie viel Wunderliches und Peinliches zu diesen Bedingungen gehört. Es scheint, daß zu jedem großen Wachsthum Mist und Dünger irgend welcher Art noth thut. Um einen paradoxen Fall zu nehmen, so behauptete in Hinsicht auf die Vervollkommnung des modernen Weibes eine Autorität, die für diesen heiklen Punkt vielleicht nicht zu unterschätzen ist, der duc de Morny, dieser erfahrenste und “erlebteste” Weiberkenner des letzten Frankreichs, daß dazu selbst ein Laster dienen könne, nämlich die tribaderie: “qui raffine la femme, la parfait, l’accomplit.” — [Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 2: 1862-1865. 17. Mai 1863. Paris: Charpentier, 1887.]



Nizza den 25. November 1887.

11 [27]

(308)      Frau Cosima Wagner ist das einzige Weib größeren Stils, das ich kennen gelernt habe; aber ich rechne ihr es an, daß sie Wagnern verdorben hat. Wie das gekommen ist? Er “verdiente” solch ein Weib nicht: zum Dank dafür verfiel er ihr.— Der Parsifal W[agner]s war zu allererst- und anfänglichst eine Geschmacks-Condescendenz W[agner]s zu den katholischen Instinkten seines Weibes, der Tochter Liszt’s, eine Art Dankbarkeit und Demuth von Seiten einer schwächeren vielfacheren leidenderen Creatur hinauf zu einer, welche zu schützen und zu ermuthigen verstand, das heißt zu einer stärkeren, bornirteren:—zuletzt selbst ein Akt jener ewigen Feigheit des Mannes vor allem “Ewig-Weiblichen.”— Ob nicht alle großen Künstler bisher durch anbetende Weiber verdorben worden sind? Wenn diese unsinnig-eitlen und sinnlichen Affen—denn das sind sie fast allesammt—zum ersten Male und in nächster Nähe den Götzendienst erleben, den das Weib in solchen Fällen mit allen ihren untersten und obersten Begehrungen zu treiben versteht, dann geht es bald genug zu Ende: der letzte Rest von Kritik, Selbstverachtung, Bescheidenheit und Scham vor dem Größeren ist dahin:—von da an sind sie jeder Entartung fähig.— Diese Künstler, die in der herbsten und stärksten Zeit ihrer Entwicklung Gründe genug hatten, ihre Anhängerschaft in Bausch und Bogen zu verachten, diese schweigsam gewordenen Künstler werden unvermeidlich das Opfer jeder ersten intelligenten Liebe (—oder vielmehr jedes Weibs, das intelligent genug ist, sich in Hinsicht auf das Persönlichste des Künstlers intelligent zu geben, ihn als leidend “zu verstehen,” ihn “zu lieben” ...)

11 [28]

Dem Weibe, das er nicht verdient, verfällt der Mann.



Das Weib, als geborene Götzendienerin, verdirbt den Götzen—den Gatten.

11 [29]

Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung giebt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als “werdend” verstehn wollen, noch weniger als geworden ...

der “Wille zur Macht” kann nicht geworden sein

11 [30]

(309)      Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie Alles so, wie es gehn sollte, auch wirklich geht: wie jede Art “Unvollkommenheit” und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört ...

11 [31]

(310)      Gesammt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventhier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Excess neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach—ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Muth zur psychologischen Nacktheit (—die Vereinfachung ist eine Consequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbarwerdenlassen des Glücks insgleichen der Nacktheit, eine Consequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...) Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen—dazu bedarf es einer Nöthigung: man muß die Wahl haben, entweder zu Grunde zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts? Offenbar werden sie erst nach ungeheuren socialistischen Krisen sichtbar werden und sich consolidiren,—es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind und den längsten Willen garantiren können ...

11 [32]

[Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 2: 1862-1865. 11. März 1862. Paris: Charpentier, 1887.]

(311)

Zur Psychologie derHirten.” Die grossen Durchschnittlichen.

 

Kann man sich verbergen, daß ein Geist und Geschmack durchschnittlich sein muß, um tiefe breite populäre Wirkungen zu hinterlassen, und daß z.B. es noch nicht zu Unehren Voltaire’s verstanden werden darf, wenn ihn der Abbé Trublet mit allerbestem Rechte “la perfection de la médiocrité” genannt hat? (—wäre er das nämlich nicht gewesen, wäre er eine Ausnahme gewesen, wie etwa der Neapolitaner Galiani eine Ausnahme war, jener tiefste und nachdenklichste Hanswurst, den jenes heitere Jahrhundert hervorgebracht hat, woher dann seine Kraft zu führen? woher sein übergewicht über seine Zeit?) Man könnte übrigens das Gleiche auch noch in Hinsicht auf einen viel populäre[re]n Fall behaupten: auch der Stifter des Christenthums muß etwas von einer “perfection de la médiocrité” gewesen sein. Lasse man sich doch einmal die Hauptsätze jenes berühmten Evangeliums der Bergpredigt zu einer Person concresciren:—man wird hinterdrein darüber nicht mehr in Zweifel sein, weshalb gerade ein solcher Hirt und Bergprediger verführerisch auf alle Art Heerdenthier gewirkt hat.

11 [33]

(312)      — “une croyance presque instinctive chez moi c’est que tout homme puissant ment quand il parle, et à plus forte raison quand il écrit.”— Stendhal. [Vgl. Stendhal, Vie de Napoléon. Fragments. Paris: Calmann-Lévy, 1876:xv.]

11 [34]
[Vgl. Louis Desprez, L'évolution naturaliste. Paris: Tresse, 1884:46, 56.]

(313)      Flaubert hielt weder Mérimée noch Stendhal aus; man konnte ihn wüthend machen, wenn man “Monsieur Beyle” in seiner Gegenwart citirte. Der Unterschied liegt darin: Beyle stammt von Voltaire, Flaubert von Victor Hugo.

Die “Männer von 1830” (—Männer? ...) haben eine unsinnige Vergötterung mit der Liebe getrieben: Alfred de Musset, Richard Wagner; auch mit der Ausschweifung und dem Laster ...

“Je suis de 1830, moi! J’ai appris à lire dans Hernani, et j’aurai voulu être Lara! J’exècre toutes les lâchetés contemporaines, l’ordinaire de l’existence et l’ignominie des bonheurs faciles.” Flaubert.

11 [35]

(314)      Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände—das ist am heidnischen Cultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite.— Die Unnatur (schon im griechischen Alterthum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral, Dialektik.



Nizza den 15. Dezember 1887

11 [36]

über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.

11 [37]

Wessen Instinkt auf Rangordnung aus ist, der haßt die Zwischengebilde und Zwischenbildner: alles Mittlere ist sein Feind.

11 [38]

(315)      Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist Pessimismus ... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend Etwas befiehlt, eine Umwerthung der Werthe, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Thaten explodieren—braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.

11 [39]

— mit denen ich wenig Mitgefühl habe. Ich rechne sie zu den Krebsen. Erstens nämlich: wenn man sich mit ihnen zu schaffen macht, so kneipen sie; und dann—sie gehen rückwärts.

11 [40]

— kuhwarme Milchherzen

11 [41]

Ein müder Wanderer, den das harte Gebell eines Hundes empfängt.

11 [42]

— ein Entlaufener, der lange im Gefängniß saß, in Furcht vor einem Stockmeister: jetzt geht er furchtsam seines Wegs, der Schatten eines Stockes macht ihn schon stolpern.

11 [43]

— Tugend im Renaissance-Stil, virtù, moralinfreie Tugend

11 [44]

(316)       Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge des übermuthes und eines überströmenden verschwenderischen Willens: nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde in Bezug auf das Maaß unsrer Kraft, unsres Muthes herausfordert.

11 [45]

(317)       Emerson, viel aufgeklärter, vielfacher, raffinirter, glücklicher, ein Solcher, der instinktiv sich von Ambrosia nährt und das Unverdauliche in den Dingen zurückläßt. Carlyle, der ihn sehr liebte, sagte trotzdem von ihm “er giebt uns nicht genug zu beißen”: was mit Recht gesagt sein mag, aber keineswegs zu Ungunsten Emerson’s.

Carlyle, ein Mann der starken Worte und der excentrischen Attitüden, ein Rhetor aus Noth, den beständig das Verlangen nach einem starken Glauben agacirt und das Gefühl der Unfähigkeit dazu (—eben damit ein typischer Romantiker—) Das Verlangen nach einem starken Glauben ist nicht der Beweis eines starken Glaubens, vielmehr das Gegentheil: hat man ihn, so verräth sich das eben damit, daß man sich den Luxus der Skepsis und der frivolen Ungläubigkeit gönnen darf,—man ist eben reich genug dazu. Carlyle betäubt etwas in sich durch die Heftigkeit seiner Verehrung für Menschen des starken Glaubens und durch seine Wuth gegen alle weniger Einfältigen: diese beständige leidenschaftliche Unredlichkeit gegen sich, um moralisch zu reden, degoutirt mich an ihm. Daß die Engländer gerade an ihm seine Redlichkeit bewundern, das ist englisch; und, in Anbetracht, daß sie das Volk des vollkommenen cant sind, sogar billig und nicht nur begreiflich. Im Grunde ist Carlyle ein Atheist, der es nicht sein will. —

11 [46]

In diesen streitbaren Abhandlungen, in denen ich meinen Feldzug gegen das verhängnißvollste bisherige Werthurtheil, gegen, unsere Überschätzung der Moral fortsetze —



Ein solches Wort des Friedens steht wie billig am Schluß dieser kriegerischen Abhandlungen, mit denen ich meinen Feldzug gegen eins unserer verhängnißvollsten Werthurtheile, gegen unsere bisherige Schätzung und Überschätzung der Moral eröffnet habe.

11 [47]

— Feuchte Ideale und andere Thauwinde

11 [48]

(318)      Ein Geist, der Großes will der auch die Mittel dazu will, ist nothwendig Skeptiker: womit nicht gesagt ist, daß er es auch scheinen müßte. Die Freiheit vor jeder Art überzeugung gehört zu seiner Stärke, das Freiblickenkönnen. Die große Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter und despotischer als er selbst es ist,—sie nimmt seinen ganzen Intellekt in ihren Dienst (und nicht nur in ihren Besitz); sie macht unbedenklich; sie giebt ihm den Muth zu unheiligen Mitteln (sogar zu heiligen), sie gönnt überzeugungen, sie braucht und verbraucht selbst überzeugungen, aber sie unterwirft sich ihnen nicht. Das macht, sie allein weiß sich als souverain. Umgekehrt: das Bedürfniß nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, ist ein Bedürfniß der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche; alle Schwäche des Willens rührt daher, daß keine Leidenschaft, kein kategorischer Imperativ kommandirt. Der Mensch des Glaubens, der “Gläubige” jeder Art ist nothwendig eine abhängige Art Mensch, das heißt eine solche, die sich nicht als Zweck ansetzen, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann,—die sich als Mittel verbrauchen lassen muß ... Sie giebt instinktiv einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre; zu ihr überredet sie Alles, ihre Klugheit, ihre Erfahrung, ihre Eitelkeit. Und auch der Glaube ist noch eine Form der Entselbstung. —

11 [49]

(319)      Aus dem ungeheuren Bereiche der Kunst, welches antideutsch ist und bleiben wird und von dem ein für alle Mal deutsche jünglinge, gehörnte Siegfriede und andere Wagnerianer ausgeschlossen sind:—der Geniestreich Bizet’s, welcher einer neuen—ach, so alten—Sensibilität, die bisher in der gebildeten Musik Europas noch keine Sprache gehabt hatte, zum Klange verhalf, einer südlicheren, brauneren, verbrannteren Sensibilität, welche freilich nicht vom feuchten Idealismus des Nordens aus zu verstehen ist. Das afrikanische Glück, die fatalistische Heiterkeit, mit einem Auge, das verführerisch, tief und entsetzlich blickt; die lascive Schwermuth des maurischen Tanzes; die Leidenschaft blinkend, scharf und plötzlich wie ein Dolch; und Gerüche aus dem gelbe Nachmittage des Meeres heranschwimmend bei denen das Herz erschrickt, wie als ob es sich an vergessene Inseln erinnere, wo es einst weilte, wo es ewig hätte weilen sollen ...

Antideutsch: Der Buffo. Der maurische Tanz

Die anderen antideutschen Kostbarkeiten des aesthet[ischen] Genusses

11 [50]

Die “wahre Welt,” wie immer auch man sie bisher concipirt hat,—sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.

11 [51]

Man muß Muth im Leibe haben, um sich eine Schlechtigkeit zu gestatten: die Meisten sind zu feige dazu.

11 [52]

“Caesar unter Seeräubern”

11 [53]

und unter diesen Dichtern findet man Hengste, die auf eine keusche Weise wiehern

11 [54]

(320)

Von der Herrschaft
der Tugend
.
Wie man der Tugend zur Herrschaft
verhilft
.
Ein tractatus politicus.
Von
Friedrich Nietzsche.

 

Vorrede.

Dieser tractatus politicus ist nicht für Jedermanns Ohren: er handelt von der Politik der Tugend, von ihren Mitteln und Wegen zur Macht. Daß die Tugend zur Herrschaft strebt, wer möchte ihr das verbieten? Aber wie sie das thut—! man glaubt es nicht ... Darum ist dieser tractatus nicht für Jedermanns Ohren. Wir haben ihn denen zum Nutzen bestimmt, denen daran gelegen ist, zu lernen, nicht wie man tugendhaft wird, sondern wie man tugendhaft macht,—wie man die Tugend zur Herrschaft bringt. Ich will sogar beweisen, daß, um dies Eine zu wollen, die Herrschaft der Tugend, man grundsätzlich das Andere nicht wollen darf; eben damit verzichtet man darauf, tugendhaft zu werden. Dies Opfer ist groß: aber ein solches Ziel lohnt vielleicht Opfer. Und selbst noch größere! ... und einige von den großen Moralisten haben so viel risquirt. Von diesen nämlich wurde bereits die Wahrheit erkannt und vorweggenommen, welche mit diesem Traktat zum ersten Male gelehrt werden soll: daß man die Herrschaft der Tugend schlechterdings nur durch dieselben Mittel erreichen kann, mit denen man überhaupt irgend eine Herrschaft erreicht, jedenfalls nicht durch die Tugend ...

Dieser Traktat handelt, wie gesagt, von der Politik in der Tugend: er setzt ein Ideal dieser Politik an, er beschreibt sie so, wie sie sein müßte, wenn etwas auf dieser Erde vollkommen sein könnte. Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus, pur, sans mélange, cru, vert, dans toute sa force, dans toute son âpreté ist übermenschlich, göttlich, transscendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift ... [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 2. Paris: G. Charpentier, 1882:114.] Auch in dieser engeren Art von Politik, in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten Moralisten (—und das ist ja der Name für solche Politiker der Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren davon, daß auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirirten, zum Mindestenin ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster und capitaler Fehler eines Moralisten,—als welcher Immoralist der That zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine andere Sache. Oder vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung) mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt: Herrschaft der Moralso lautet jener Kanon. Die Moralisten haben die Attitüde der Tugend nöthig, auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter Anderem, nothwendig auch ein großer Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er thut, muß er sub specie boni thun,—sein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches Ideal! ... Und in der That geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten der That den es giebt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er ist, der gute Gott ...

11 [55]

(321)      Man soll es dem Christenthum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zu Grunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christenthum zu bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies Eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom Christenthum erfunden worden ist. Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausend Mal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften Schönheit und Weibs-Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordener Seelen zuredet—und die Stärksten haben müde Stunden—, wie als ob alles das, was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seines Gleichen, Ergebung, Hingebung an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ich’s, auch an sich das Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittsthier und Heerdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und eben darum hundertfach gefährdeteren Art Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maaß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war bisher die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker gerathenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachsthum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts thut, der Untergang; mit seinen Werthen sollte das Wachsthum jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebensosehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christenthum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Muth entmuthigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkelten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnoth verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krank zu machen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt,—bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zu Grunde gehn: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgiebt.

11 [56]

(322)      Zola:—ein gewisser Wetteifer mit Taine, ein Ablernen von dessen Mitteln, in einem skeptischen milieu es zu einer Art von Diktatur zu bringen. Dahin gehört die absichtliche Vergröberung der Principien, damit sie als Commando wirken.

11 [57]

Begreifen—das ist Gutheißen? —

11 [58]

(323)      Sich selbst nicht zu erkennen: Klugheit des Idealisten. Der Idealist: ein Wesen, welches Gründe hat über sich dunkel zu bleiben und das klug genug ist, sich auch über diese Gründe noch dunkel zu bleiben.

11 [59]

(324)      Das Litteraturweib, unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter Neugierde jeder Zeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus der Tiefe ihrer Organisation kategorisch sein aut liberi aut libri formulirt: das Litteraturweib, gebildet genug, um die Stimme der Natur zu verstehn, selbst wenn sie Latein redet und andrerseits ehrgeizig genug, um mit sich im Geheimen auch noch französisch zu sprechen: “je me verrai, je me lirai, je m’extasierai et je dirai: Possible que j’aie eu tant d’esprit?” ...

Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde begeht, zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand bemerkt und daß es Jemand bemerkt: es weiß, wie gut dem vollkommenen Weibe ein kleiner Fleck Fäulniß und brauner Verdorbenheit steht,—es weiß noch besser, wie alles Litteraturmachen am Weibe wirkt, als Fragezeichen in Hinsicht auf alle sonstigen weiblichen pudeurs ...

11 [60]

(325)

Die moderne Unklarheit. —

 

Ich sehe nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will. Er befindet sich viel zu gut, um jetzt nicht Schritt für Schritt mehr zu fordern, unbescheidener zu fordern: er hat zuletzt die Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Sklaventhum im gemildertsten Sinne des Wortes, kurz ein Stand, etwas, das Unwandelbarkeit hat, sich herausbilde. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht: man hat ihm das Stimmrecht, das Coalitionsrecht gegeben: man hat Alles gethan, um die Instinkte, auf die ein Arbeiter-Chinesenthum sich gründen könnte, zu verderben: so daß der Arbeiter heute seine Existenz bereits als einen Nothstand (moralisch ausgedrückt als ein Unrecht ...) empfindet und empfinden läßt... Aber was will man? nochmals gefragt. Wenn man ein Ziel will, muß man die Mittel wollen: wenn man Sklaven will,—und man braucht sie!—muß man sie nicht zu Herren erziehen.

11 [61]

(326)      “Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser als deren Sein”: dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus [Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker, 1872:735.]

“Die Welt ist etwas, das vernünftiger Weise nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht.”

Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werthurtheile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Werth; ein in Form des Gefühls redendes “nützlich” “schädlich,” und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem “nützlich” “schädlich” sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen.

Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung an Leben. Ich werde nie zulassen, daß solch ein magerer Affe wie Hartmann von seinem “philosophischen Pessimismus” redet. —

11 [62]

(327)

Talma hat gesagt:

 

oui, nous devons être sensibles, nous devons éprouver l’émotion, mais pour mieux l’imiter, pour mieux en saisit le caractère par l’étude et la réflexion. Notre art en exige de profondes. Point d’improvisation possible sur la scène, sous peine d’échec. Tout est calculé, tout doit être prévu, et l’émotion, qui semble soudaine, et le trouble, qui paraît involontaire.— L’intonation, le geste, le regard qui semblent inspirés, ont été répétés cent fois. Le poète rêveur cherche un beau vers, le musicien une mélodie, le géomêtre une démonstration: aucun d’eux n’y attache plus d’interêt que nous à trouver le geste et l’accent, qui rend le mieux le sens d’un seul hémistiche. Cette étude suit en tous lieux l’acteur épris de son art.— Faut-il vous dire plus? Nous nous sommes à nous-mêmes, voyez vous, quand nous aimons notre art, des sujets d’observation. J’ai fait des pertes bien cruelles; j’ai souvent ressenti des chagrins profonds; hé bien, après ces premiers moments où la douleur se fait jour par des cris et par des larmes, je sentai qu’involontairement je faisais un retour sur mes souffrances et qu’en moi, à mon insu, l’acteur étudiait l’homme et prenait la nature sur le fait. Voici de quelle façon nous devons éprouver l’émotion pour être un jour en état de la rendre; mais non à l’improviste et sur la scène, quand tous les yeux sont fixés sur nous; rien n’exposerait plus notre situation. Récemment encore, je jouais dans Misanthropie et repentir avec une admirable actrice; son jeu si réfléchi et pourtant si naturel et si vrai, m’entraînait. Elle s’en aperçut. Quel triomphe! et pourtant elle me dit tout bas: “Prenez garde, Talma, vous êtes ému!” C’est qu’en effet de l’émotion naît le trouble; la voix résiste, la mémoire manque, les gestes sont faux, l’effet est détruit! Ah! nous ne sommes pas la nature, nous ne sommes que l’art, qui ne peut tendre qu’à imiter. [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:47-49. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [63]

Lessing setzte Molière unter Destouches

Minna von Barnhelm—“un marivaudage raisonné.” [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:146-48. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [64]

Chinesisch: “da mein Geliebter in meinem Herzen einlogirt ist, so hüte ich mich, warm zu essen: diese Hitze soll ihm nicht lästig sein”

“Sähest du selbst deine Mutter vor Hunger sterben, thue nichts, was der Tugend zuwider ist.”

“wenn du, der Schildkröte gleich, die ihre fünf Gliedmaßen in ihre Schale zurückzieht, deine fünf Sinne in dich selber zurückziehst, so wird dir dies noch nach dem Tode zu Gunsten kommen: du wirst die himmlische Seligkeit erhalten.” [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:185-87. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [65]

“Man ist erstaunt über das viele Zögern und Zaudern in der Argumentation des Montaigne. Aber auf den Index im Vatican gesetzt, allen Parteien längst verdächtig, setzt er vielleicht freiwillig seiner gefährlichen Toleranz, seiner verleumdeten Unparteilichkeit, die Sordine einer Art Frage auf. Das war schon viel in seiner Zeit: Humanität, welche zweifelt ...” [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:203. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [66]

Mérimée, supérieur comme joaillier en vices et comme ciseleur en difformités, gehört zur Bewegung von 1830, nicht durch die passion (sie fehlt ihm—), sondern durch die Neuheit des calculirten procédé, und die kühne Wahl der Stoffe. [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:303. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [67]

“bains intérieurs” um mich züchtig nach Art der Madame Valmore auszudrücken [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:376. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [68]

“rien ne porte malheur comme une bonne action” [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:376. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [69]

(328)      Sainte-Beuve: “la jeunesse est trop ardente pour avoir du goût.

Pour avoir du goût, il ne suffit pas d’avoir en soi la faculté de goûter les belles et douces choses de l’esprit, il faut encore du loisir, une âme libre et vacante, redevenue comme innocente, non livrée aux passions, non affairée, non bourrelée d’âpres soins et d’inquiétudes positives; une âme désintéressée et même exempte du feu trop ardent de la composition, non en proie à sa propre verve insolente; il faut du repos, de l’oubli, du silence, d’espace autour de soi. Que de conditions, même quand on a en soi la faculté de les trouver, pour jouir des choses délicates!” — [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:399. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [70]

Bei der Aufführung der Christine (von A. Dumas): Joanny hat einen gezeichneten Paß der Königin. Im Augenblick sich dessen zu bedienen, überlegt er [es] sich anders und schließt das Papier an sich mit den Worten: réservons en l’effet pour de plus grands besoins. [Vgl. Paul Henri Foucher, Les coulisses du passé. Paris: E. Dentu, 1873:491. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Paul Henri Foucher.]

11 [71]

[Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker, 1872:735.]

(329)      Unlust und Lust sind die denkbar dümmsten Ausdrucksmittel von Urtheilen: womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Urtheile, welche hier auf diese Art laut werden, dumm sein müßten. Das Weglassen aller Begründung und Logicität, ein Ja oder Nein in der Reduktion auf ein leidenschaftliches Haben-wollen oder Wegstoßen, eine imperativische Abkürzung, deren Nützlichkeit unverkennbar ist: das ist Lust und Unlust. Ihr Ursprung ist in der Central-Sphäre des Intellekts; ihre Voraussetzung ist ein unendlich beschleunigtes Wahrnehmen, Ordnen, Subsumiren, Nachrechnen, Folgern: Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine “Ursachen” ...

Die Entscheidung darüber, was Unlust und Lust erregen soll, ist vom Grade der Macht abhängig: dasselbe, was in Hinsicht auf ein geringes Quantum Macht als Gefahr und Nöthigung zu schnellster Abwehr erscheint, kann bei einem größeren Bewußtsein von Machtfülle eine wollüstige Reizung, ein Lustgefühl als Folge haben.

Alle Lust- und Unlustgefühle setzen bereits ein Messen nach Gesammt-Nützlichkeit, Gesammt-Schädlichkeit voraus: also eine Sphäre, wo das Wollen eines Ziels (Zustands) und ein Auswählen der Mittel dazu stattfindet. Lust und Unlust sind niemals “ursprüngliche Thatsachen”

Lust- und Unlustgefühle sind Willens-Reaktionen (Affekte), in denen das intellekt[uelle] Centrum den Werth gewisser eingetretener Veränderung[en] zum Gesammt-Werthe fixirt, zugleich als Einleitung von Gegenaktionen.

11 [72]

[Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker, 1869.]

(330)      Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie oder wissenschaftliche Hypothese (z.B. der Mechanismus), in der ein solcher nothwendig wird, ist durch die einzige Thatsache widerlegt ... Ich suche eine Weltconception, welche dieser Thatsache gerecht wird: das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwerthbar: was auf Eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die “Nothwendigkeit” nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesammtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als nothwendig, um etwas Werthvolles zu bedingen. Dazu ist nöthig, ein Gesammtbewußtsein des Werdens, einen “Gott” zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: “Gott” ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist eine Summirung von Unlust und Unlogik damit gesetzt, welche den Gesammtwerth des “Werdens” erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summirende Macht (—ein leidender und überschauender Gott, ein “Gesammtsensorium” und “Allgeist”—wäre der größte Einwand gegen das Sein)

Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen,—weil dann das Werden seinen Werth verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint.

Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen)

insgleichen: wie alle Werthurtheile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gäbe, entwerthet sind.

damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist

“die bessere Welt, die wahre Welt, die “jenseitige” Welt, Ding an sich”

1)das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein “Sein.”
2)das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.
3)das Werden ist werthgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Werthes bleibt sich gleich: anders ausgedrückt: es hat gar keinen Werth, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre, und in Bezug worauf das Wort “Werth” Sinn hät[te].

der Gesammtwerth der Welt ist unabwerthbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge

11 [73]

(331)      Der Gesichtspunkt des “Werths” ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens:

— : es giebt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist “das Seiende” erst von uns hineingelegt, (aus praktischen, nützlichen perspektivischen Gründen)

— “Herrschafts-Gebilde”; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder periodisch abnehmend, zunehmend; oder, unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung—)

— “Werth” ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Centren (“Vielheiten” jedenfalls, aber die “Einheit” ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden)

ein Quantum Macht, ein Werden, insofern nichts darin den Charakter des “Seins” hat; insofern

— die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das Werden auszudrücken: es gehört zu unserem unablöslichen Bedürfniß der Erhaltung, beständig die eine gröbere Welt von Bleibend[em], von “Dingen” usw. zu setzen. Relativ, dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist ...

es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren

11 [74]

(332)      — daß im “Prozeß des Ganzendie Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil es einen Gesammtprozeß (diesen als System gedacht—) gar nicht giebt:

— daß es kein “Ganzes” giebt, daß alle Abwerthung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existirt ...

— daß die Nothwendigkeit, die Ursächlichkeit, Zweckmäßigkeit nützliche Scheinbarkeiten sind

— daß nicht Vermehrung des Bewußtseins, das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht, in welche Steigerung die Nützlichkeit des Bewußtseins eingerechnet ist, ebenso mit Lust als mit Unlust

— daß man nicht die Mittel zum obersten Werthmaß nimmt (also nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußtsein selbst ein Mittel ist—)

— daß die Welt durchaus kein Organism ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der “Geistigkeit” ein Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist ...

— daß alle “Wünschbarkeit” keinen Sinn hat in Bezug auf den Gesammtcharakter des Seins.

11 [75]

[Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker, 1869.]

(333)      nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen. Die absurde psychologische Falschmünzerei der nächsten Dinge ...

sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht: das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne die Grenzen und Widerstände noch nicht satt genug ist ...

“Der Glückliche”: Heerdenideal

11 [76]

[Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker, 1869. William Henry Rolph, Biologische Probleme: zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik. Leipzig: Engelmann, 1884:176-77.]

(334)      Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe z.B. des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agacirend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pess[imisten] uns vorreden mögen: diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens.

— Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize ...

11 [77]

[Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin: C. Duncker, 1869.]

(335)      Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maaß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist nothwendig in jeder Aktion eine Ingredienz von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens: und stärkt den Willen zur Macht!

11 [78]

(336)      Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, daß sie die muthigsten sind, erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien: aber deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen die größte Gegnerschaft gegenüberstellt ...

11 [79]

(337)      Die Mittel, mit denen Julius Caesar sich gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfache Lebensweise, ununterbrochener Aufenthalt im Freien und beständige Strapatzen: es sind, ins Große gerechnet, die Erhaltungsbedingungen des Genies überhaupt.

11 [80]

(338)      Vorsicht vor der Moral: sie entwerthet uns uns selber —

Vorsicht vor dem mitleiden: es überbürdet uns mit der Noth Anderer —

Vorsicht vor der “Geistigkeit”: sie verdirbt den Charakter, indem sie extrem einsam macht: einsam d.h. ungebunden, unangebunden ...

11 [81]

— nur das Werden wird empfunden, nicht aber das Sterben (?) —

11 [82]

Der Sinn des Werdens muß in jedem Augenblick erfüllt, erreicht, vollendet sein.

11 [83]

[(339)]      Das, was eine gute Handlung genannt wird, ist ein bloßes Mißverständniß; solche Handlungen sind gar nicht möglich.

“Egoismus” ist ebenso wie “Selbstlosigkeit” eine populäre Fiktion; insgleichen das Individuum, die Seele.

In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Theil ein bloßer Winkel: und das Bischen “Tugend,” “Selbstlosigkeit” und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesammtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir thun gut, unseren Organism in seiner vollkommenen Unmoralität zu studiren ...

Die animalischen Funktionen sind ja principiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen.

Das ganze bewußte Leben, der Geist sammt der Seele, sammt dem Herzen, sammt der Güte, sammt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs- Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor Allem der Lebenssteigerung.

Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man “Leib” und “Fleisch” nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen und so, daß der Faden immer mächtiger wird—das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese principielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären ... Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrthumsfähigkeit des Bewusstseins: es wird am wenigsten durch Instinkte im Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten.

Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Werth hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel!— Woran mißt sich objektiv der Werth? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisirter Macht, nach dem, was in allem Geschehen geschieht, ein Wille zum Mehr ...

11 [84]

Der “Geist” als Wesen der Welt angesetzt; die Logicität als wesenhaft

11 [85]

(340)      Durch Alcohol und Haschisch bringt man sich auf Stufen der Cultur zurück, die man überwunden (mindestens überlebt hat) Alle Speisen geben irgend eine Offenbarung über die Vergangenheit, aus der wir wurden.

11 [86]

Auch der Weise thut es oft genug jenen dummen Frauen gleich, welche Milch für keine Nahrung halten, wohl aber Rüben:

11 [87]

(341)      All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen: als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht—: oh über seine königliche Freigebigkeit, mit der er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das war bisher seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte. —

11 [88]

(342)      Wie viel uneingeständliche und selbst unwissende Befriedigung alter religiöser Bedürfnisse ist im Gefühls-Mischmasch der deutschen Musik rückständig! Wie viel Gebet, Tugend, Salbung, Jungfräulichkeit, Weihrauch, Muckerei und “Kämmerlein” redet da noch mit! Daß die Musik selbst vom Worte, vom Begriff, vom Bilde absieht: oh wie sie davon ihren Vortheil zu ziehen weiß, die arglistige weibliche “Ewig-Weibliche”! auch das redlichste Gewissen braucht sich nicht zu schämen, wenn jener Instinkt sich befriedigt,—es bleibt außerhalb. Dies ist gesund, klug und, insofern es Scham vor der Armseligkeit alles religiösen Urtheils ausdrückt, ein gutes Zeichen... Trotz alledem bleibt es eine Tartüfferie ...

Stellt man dagegen, wie es W[agner] in seinen letzten Tagen mit gefährlicher Verlogenheit that, die religiöse Symbolik daneben, wie im Parsifal, wo er auf den abergläubischen Unsinn des Abendmahls anspielt und nicht nur anspielt: so erregt eine solche Musik Entrüstung ...

11 [89]

(343)      Die Menschen haben die Liebe immer mißverstanden: sie glauben hier selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil eines anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vortheil: aber dafür wollen sie jenes andere Wesen besitzen ... In anderen Fällen ist Liebe ein feineres Schmarotzerthum, ein gefährliches und rücksichtsloses Sicheinnisten einer Seele in eine andere Seele—mitunter auch ins Fleisch ... ach! wie sehr auf “des Wirthes” Unkosten!



Wie viel Vortheil opfert der Mensch, wie wenig “eigennützig” ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben—und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt!



Man will nicht sein “Glück”; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vortheil sucht; unsere Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen—ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände

11 [90]

Was R[ichard] W[agner] werth ist, das wird der erst uns sagen, der von ihm den besten Gebrauch gemacht hat. Einstweilen versucht man an einen Werth W[agner]s zu glauben, an den er selbst gar zu gern hätte glauben mögen ...

11 [91]

(344)      Veredelung der Prostitution, nicht Abschaffung ...



Die Ehe hat die längste Zeit das schlechte Gewissen gegen sich gehabt: sollte man’s glauben? ja, man soll es glauben. —



Zu Ehren der alten Frauen —

11 [92]

Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen. übermorgen will ich wieder bei mir zu Hause sein.

11 [93]

(345)      alles, womit der Mensch bisher nicht fertig zu werden weiß, was kein Mensch noch verdaut hat, der “Koth des Daseins”—für die Weisheit wenigstens bleibt er der beste Dünger ...

11 [94]

(346)      Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt Alles viel zu viel werth zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen?—und mein Trost ist, daß Alles was war ewig ist:—das Meer spült es wieder heraus

11 [95]

(347)      Man belästigte, wie bekannt, Voltaire noch in seinen letzten Augenblicken: “glauben Sie an die Gottheit Christi?” fragte ihn sein Curé; und nicht zufrieden damit, daß Voltaire ihn bedeutete, er wolle in Ruhe gelassen werden, wiederholte er seine Frage. Da überkam den Sterbenden sein letzter Ingrimm: wüthend stieß er den unbefugten Frager zurück: “au nom du dieu!—rief er ihm ins Gesicht—ne me parlez pas de cet-homme-là!”—unsterbliche letzte Worte, in denen alles zusammengefaßt ist, wogegen dieser tapferste Geist gekämpft hatte. —

Voltaire urtheilte: “es ist nichts Göttliches an diesem Juden von Nazareth”: so urtheilte aus ihm der klassische Geschmack.

Der klassische Geschmack und der christliche Geschmack setzen den Begriff “göttlich” grundverschieden an; und wer den ersteren im Leibe hat, der kann nicht anders als das Christenthum als foeda [superstitio] und das christliche Ideal als eine Carikatur und Herabwürdigung des Göttlichen zu empf[inden].

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(348)      Daß man den Thäter wieder in das Thun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Thun entleert hat;

daß man das Etwas-thun, “das Ziel,” die “Absicht,” den “Zweck” wieder in das Thun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Thun entleert hat;

daß alle “Zwecke,” “Ziele,” “Sinne” nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht; daß Zwecke, Ziele, Absichten haben, wollen überhaupt soviel ist wie Stärker-werden-wollen, wachsen wollen, und dazu auch die Mittel wollen;

daß der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Thun und Wollen eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben ist, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind ... Alle Werthschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses Einen Willens: das Werthschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht; eine Kritik des Seins aus irgend einem dieser Werthe heraus ist etwas Widersinniges und Mißverständliches; gesetzt selbst, daß sich darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch im Dienste dieses Willens ...

Das Sein selbst abschätzen: aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch—: und indem wir Nein sagen, so thun wir immer noch, was wir sind ... Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen; und sodann noch zu errathen suchen, was sich eigentlich damit begiebt. Es ist symptomatisch.

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(349)      Der philosophische Nihilist ist der überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen “Sinn”? dieses Maaß?— Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt; eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. Es läuft auf die absurde Werthung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zu Recht bestehen soll ...

Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den “Sinn” und “Zweck” überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils für uns unlösbar ist. —

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(350)      Werth der Vergänglichkeit: etwas, das keine Dauer hat, das sich widerspricht, hat wenig Werth. Aber die Dinge, an welche wir glauben als dauerhaft, sind als solche reine Fiktionen. Wenn Alles fließt, so ist die Vergänglichkeit eine Qualität (die “Wahrheit”) und die Dauer und Unvergänglichkeit bloß ein Schein.

11 [99]

(351)

Kritik des Nihilism. —

 

1.

Der Nihilism als psychologischer Zustand wird eintreten müssen erstens wenn wir einen “Sinn” in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Muth verliert. Nihilismus ist da das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des “Umsonst,” die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen—die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen ... Jener Sinn könnte gewesen sein: die “Erfüllung” eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehn auf einen allgemeinen Nichts-Zustand—ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll:—und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird ... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze “Entwicklung” betreffen (—der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens)

Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisirung, selbst eine Organisirung in allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat: so daß in der Gesammtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (—ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen ...) Eine Art Einheit, irgend eine Form des “Monismus”: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeits-Gefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit ... “Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen” ... aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich werthvolles Ganzes wirkt: d.h. er hat ein solches Ganzes concipirt, um an seinen Werth glauben zu können.

Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf, wie in einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt,—welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt giebt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichwege zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten—aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ...

— Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff “Zweck,” noch mit dem Begriff “Einheit,” noch mit dem Begriff “Wahrheit” der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht “wahr,” ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden ...

Kurz: die Kategorien “Zweck,” “Einheit,” “Sein,” mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen—und nun sieht die Welt werthlos aus ...

2.

Gesetzt, wir haben erkannt, in wiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese 3 Kategorien stammt—versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen. Haben wir diese 3 Kategorien entwerthet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen.

*
*           *

Resultat: der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus,—wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.

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Schluß-Resultat: alle Werthe, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwerthet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen—alle diese Werthe sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivetät des Menschen, sich selbst als Sinn und Werthmaß der Dinge [anzusetzen] ...

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(352)      Die obersten Werthe, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten: diese socialen Werthe hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Commando’s Gottes wären, als “Realität,” als “wahre” Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werthe klar wird, scheint uns das All damit entwerthet, “sinnlos” geworden ... aber das ist nur ein Zwischenzustand.

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