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Herbst 1887 10 [1-100]

10 [1]

Halkyonia.
Nachmittage eines Glücklichen.
Von
Friedrich Nietzsche.

10 [2]

(137)

Meine fünf  “Neins.”

 

1. Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisirung aller bisherigen Philosophie und Werthschätzung.

2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen Form des Christenthums abgewirthschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen Ideals steckt in seinen Werthgefühlen, in dem, was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christenthum (z.B. in der Musik, im Socialismus)

3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert Rousseaus, gegen seine “Natur,” seinen “guten Menschen,” seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls—gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisirung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß gegen die aristokratische Cultur geboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für den Kampf.

— die Schuldgefühls-Moralität des Christen

die Ressentiments-Moralität (eine Attitüde des Pöbels)

4. Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten der priesterlich-aristokratischen Cultur, [nach] virtù, nach dem “starken Menschen”—etwas äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschthums, welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das Symptom der Stärke sieht (“Cultus der Leidenschaft”)

— das Verlangen nach stärkeren Menschen, extremen Zuständen

ein Nachmachen der expressivsten Formen, furore espressivo nicht aus der Fülle, sondern dem Mangel

(unter Dichtern ist z.B. Stifter und G. Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein, als — — —)

5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft der Heerden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den neuerlichen Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt wird.

— was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert, mit Behagen ...

Technik heitere Musik usw.
die große Technik und Erfindsamkeit
die Naturwissenschaften
die Historie (?)
ü
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ý
ú
þ
relative Erzeugnisse der Stärke,
des Selbstzutrauens
des 19.Jhs.

10 [3]

(138)

Mein neuer Weg zumJa.”

 

Meine neue Fassung des Pessimismus als ein freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der Vergangenheit deutlich wurden. “Wie viel ‘Wahrheit’ erträgt und wagt ein Geist?” Frage seiner Stärke. Ein solcher Pessimism könnte münden in jene Form eines dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist: bis zum Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit: womit ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität gegeben wäre.

Die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth; und nicht nur wünschenswerth in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Complemente und Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als die mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht

Die bisher allein bejahten Seiten des Daseins abzuschätzen; das, was hier eigentlich Ja sagt, herauszuziehn (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Heerde andrerseits und jener dritte Instinkt: der Instinkt der Meisten gegen die Ausnahme)

Conception einer höheren Art Wesen als eine “unmoralische” nach den bisherigen Begriffen: die Ansätze dazu in der Geschichte (die heidnischen Götter, die Ideale der Renaissance)

10 [4]

(139)      Wie man Herr geworden ist über das Ideal der Renaissance? Der Mensch des 17. Jahrhunderts, der Mensch des 18. Jahrhunderts, der Mensch des 19. Jahrhunderts. Recrudescenz des Christenthums ( = Reformation) der Jesuitismus und die Monarchie im Bunde

10 [5]

(140)      Statt des “Naturmenschen” Rousseau’s hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom “Menschen” entdeckt,—es hat dazu den Muth gehabt ... Im Ganzen ist damit dem christlichen Begriff “Mensch” eine Wiederherstellung zu Theil geworden. Wozu man nicht den Muth gehabt hat, das ist, gerade diesen “Mensch an sich” gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantirt zu sehn. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachsthum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachsthums der Cultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideale unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidenthum, insgleichen gegen den Renaissance-Begriff der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Cultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zu Gunsten des “guten Menschen” (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim socialistischen Ideal (d.h. dem Residuum des Christenthums und Rousseaus in der entchristlichten Welt)

Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert,—er ist ein moderner Pascal, mit Pascalischen Werthurtheilen ohne Christenthum ... Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja.

Napoleon: die nothwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der “Mann” wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die “Totalität” als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.

10 [6]

(141)      NB Man gehört nicht zu uns, so lange man sich nicht schämt, bei sich irgend eine kleine Christlichkeit des Gefühls zu ertappen: bei uns hat das alte Ideal das Gewissen gegen sich ...

10 [7]

(142)      Nachzudenken: In wiefern immer noch der verhängnißvolle Glaube an die göttliche Providenz—dieser für Hand und Vernunft lähmendste Glaube, den es gegeben hat—fortbesteht; in wiefern unter den Formeln “Natur,” “Fortschritt,” “Vervollkommnung,” “Darwinismus,” unter dem Aberglauben einer gewissen Zusammengehörigkeit von Glück und Tugend, von Unglück und Schuld immer noch die christliche Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat. Jenes absurde Vertrauen zum Gang der Dinge, zum “Leben,” zum “Instinkt des Lebens,” jene Biedermanns Resignation, die des Glaubens ist, Jedermann habe nur seine Pflicht zu thun, damit Alles gut gehe—dergleichen hat nur Sinn unter der Annahme einer Leitung der Dinge sub specie boni. Selbst noch der Fatalism, unsere jetzige Form der philosophischen Sensibilität, ist eine Folge jenes längsten Glaubens an göttliche Fügung, eine unbewußte Folge: nämlich als ob es eben nicht auf uns ankomme, wie Alles geht (—als ob wir es laufen lassen dürften, wie es läuft: jeder Einzelne selbst nur ein modus der absoluten Realität—)

Man verdankt dem Christenthum:

die Einmischung des Schuld- und Strafbegriffs in alle Begriffe
die Feigheit vor der Moral
das dumme Vertrauen in den Gang der Dinge (zum “Besseren”)
die psychologische Falschheit gegen sich.

10 [8]

(143)      Eine Arbeitstheilung der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die Stände die unvollständige, aber eben damit nützlichere Art von Seele heranzüchten. In wiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern Affekts hin)

Zur Rechtfertigung der Moral:

die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen)

die aesthetische (die Ausgestaltung fester Typen sammt der Lust am eignen Typus)

die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten —

die physiologische (als imaginäres Übergewicht der Schätzung zu Gunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind—zur Erhaltung der Schwachen

10 [9]

(144)      Jedes Ideal setzt Liebe und Haß, Verehrung und Verachtung voraus. Entweder ist das positive Gefühl das primum mobile oder das negative Gefühl. Haß und Verachtung sind z.B. bei allen Ressentiments-Idealen das primum mobile.

10 [10]

(145)

Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale

 

Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Thätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus, als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände)

Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzien des Peinlichen anschlagen, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Werthvorstellung zu überwinden, die Unlust als werthvoll, also, in Ehren dh lustvoll empfinden zu machen. In Formeln gefaßt: “wie wird etwas Unangenehmes angenehm?” Zum Beispiel, wenn es als Beweis für Kraft, Macht, Selbstüberwindung dienen kann. Oder wenn in ihm unser Gehorsam, unsere Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen als Beweis für Gemeinsinn, Nächstensinn, Vaterlandssinn, für unsere “Vermenschlichung,” “Altruismus,” “Heroismus.”

Daß man die unangenehmen Dinge gern thut—Absicht der Ideale.

10 [11]

(146)      Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend.— Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar [zu] machen, und ihn soweit es irgendwie angeht der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (—er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwerthigen empfinden lernen: dazu thut noth, daß ihm die anderen möglichst entleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden ...)

Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Thätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen und nicht nur ertragen, die Langeweile von einem höheren Reize umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, was uns nichts angeht; und eben darin, in diesem “objektiven” Thätigsein seine “Pflicht” empfinden; die Lust und die Pflicht von einander getrennt abschätzen lernen—das ist die unschätzbare Aufgebung und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Thätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Thätigkeit abgiebt: unter seiner Fahne lernt der Jüngling “ochsen”: erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Bureauschreiberling, Zeitungsleser und Soldat) Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgend einer unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewerthet werden; die “Pflicht an sich,” vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist—und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch ... Die machinale Existenzform als höchste ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend. (—Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs “du sollst”)

10 [12]

die Philosophen und andere höhere Ammen, an deren Busen die Jugend die Milch der Weisheit trinkt

10 [13]

(147)      Spott über den falschen “Altruism” bei den Biologen: die Fortpflanzung bei den Amöben erscheint als Abwerfen des Ballastes, als purer Vortheil. Die Ausstoßung der unbrauchbaren Stoffe [Vgl. Emanuel Herrmann, Cultur und Natur: Studien im Gebiete der Wirthschaft. 2. Aufl. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur, 1887:83.]

10 [14]

Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft.
Ein tractatus politicus.
Von
Friedrich Nietzsche.

10 [15]

(148)      Das continuum: “Ehe, Eigenthum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat” sind Continuen niederer und höherer Ordnung. Die Oekonomik derselben besteht in dem Überschusse der Vortheile der ununterbrochenen Arbeit sowie der Vervielfachung über die Nachtheile: die größeren Kosten der Auswechslung der Theile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Theile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung) Der Vortheil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als neue Anfänge.

“Je größer die Daseinsvortheile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe des Lebens zu Grunde zu gehn.” [Vgl. Emanuel Herrmann, Cultur und Natur: Studien im Gebiete der Wirthschaft. 2. Aufl. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur, 1887:74-75, 85.]

10 [16]

(149)      “Die Unterscheidung zwischen niederer und höherer Existenz ist technisch unhaltbar, denn jedes Thier, jede Pflanze entspricht seiner Aufgabe in möglichst vollkommener Weise; der Flug des schwerfälligen Käfers ist kein weniger vollkommener als das Schweben des Schmetterlings für Schmetterlingsaufgaben. Die Unterscheidung ist eine ökonomische; denn die complicirten Organismen vermögen mehr und vollkommenere Arbeit zu leisten, und die Vortheile aus diesen Leistungen sind so groß, daß damit die wesentlich erhöhten Erhaltungs- und Schaffungs-kosten übertroffen werden.” [Vgl. Emanuel Herrmann, Cultur und Natur: Studien im Gebiete der Wirthschaft. 2. Aufl. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur, 1887:86.]

10 [17]

(150)      Die Nothwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen “Maschinerie” der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichniß für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort “Übermensch.”

Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen—eine Art Stillstand im Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirthschafts-Gesammt-Verwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner “angepaßten” Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominirenden und commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen. Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung des M[enschen] an eine spezialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung—der Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisirung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann ...

Er braucht ebensosehr die Gegnerschaft der Menge, der “Nivellirten,” das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratism ist die der Zukunft.— Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch,—ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.

— Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer:—so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu? ein neues “Wozu!”—das ist es, was die Menschheit nöthig hat ...

10 [18]

(151)      Die “Modernität” unter dem Gleichniß von Ernährung und Verdauung.

Die Sensibilität unsäglich reizbarer (—unter moralistischem Aufputz als die Vermehrung des Mitleids—) die Fülle disparater Eindrücke größer als je:—der Kosmopolitism der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften usw.

das tempo dieser Einströmung ein prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu “verdauen”

Schwächung der Verdauungs-Kraft resultirt daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren; er reagirt nur noch auf Erregungen von außen her. Er giebt seine Kraft aus theils in der Aneignung, theils in der Vertheidigung, theils in der Entgegnung.

Tiefe Schwächung der Spontaneität:—der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser—alles reaktive Talente: alle Wissenschaft!

Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum “Spiegel”; interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, “Sturm,” Wellenspiel giebt

Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit.

10 [19]

(152)      Der Substanzbegriff eine Folge des Subjektsbegriffs: nicht umgekehrt! Geben wir die Seele, “das Subjekt” preis, so fehlt die Voraussetzung für eine “Substanz” überhaupt. Man bekommt Grade des Seienden, man verliert das Seiende.

Kritik der “Wirklichkeit”: worauf führt das “Mehr oder Weniger Wirklichkeit,” die Gradation des Seins, an die wir glauben?

Unser Grad von Lebens- und Machtgefühl (Logik und Zusammenhang des Erlebten) giebt uns das Maaß von “Sein,” “Realität,” Nicht-Schein.

Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehn diesen Glauben als Wirkung Einer Ursache,—wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die “Wahrheit,” “Wirklichkeit,” “Substanzialität” überhaupt imaginiren.

“Subjekt” ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber wir haben erst die “Gleichheit” dieser Zustände geschaffen; das Gleichsetzen und Zurechtmachen derselben ist der Thatbestand, nicht die Gleichheit (—diese ist vielmehr zu leugnen—)

10 [20]

(153)      Es giebt Fälle, wo eine uns bezeugte Sympathie indignirt: z.B. unmittelbar nach einer außerordentlichen Handlung, die ihren Werth an sich hat. Aber man gratulirt uns, “daß wir mit ihr fertig sind” usw.

Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von Canaille gehabt: Nicht, was man sagt, sondern daß ich es sage und inwiefern gerade ich dazu gekommen sein mag, dies zu sagen—das scheint ihr einziges Interesse, eine Hunde-Zudringlichkeit, gegen die man in praxi den Fußtritt als Antwort hat. Man beurtheilt mich, um nichts mit meinem Werke zu thun [zu] haben: man erklärt dessen Genesis—damit gilt es hinreichend für—abgethan.

10 [21]

(154)

Religion

 

In dem inneren Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse?— Er concipirt es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken,—zu präveniren.

— Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint aus, als sinnvoll aus ...

— man interpretirt vor allem das Schlimme als “verdient”: man rechtfertigt das Böse als Strafe ...

— In summa: man unterwirft sich ihm: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse.

— der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt verzichtleisten, es zu bekämpfen.

Nun stellt die ganze Geschichte der Cultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Cultur, das heißt eben berechnen lernen, causal denken lernen, präveniren lernen, an Nothwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachsthum der Cultur wird dem Menschen jene primitive Unterwerfungs-form unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene “Rechtfertigung des Übels” entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das “Übel”—er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt,—wo Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt ...

Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Cultur—ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke.

Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine “Rechtfertigung des Übels,” er perhorreszirt gerade das “Rechtfertigen”: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nöthig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört ...

In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer “Rechtfertigung” d.h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch.

Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermuth zu Gunsten des Thiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphirendste Form der Geistigkeit.

Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen:—er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen.

Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so thut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchstform erkennen lassen.

Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodicee d.h. mit einem absoluten Jasagen zu der Welt, aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat: und dergestalt zur Conception dieser Welt als des thatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals ...

10 [22]

(155)

Gesammt-Einsicht.

 

Thatsächlich bringt jedes große Wachsthum auch ein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich:

das Leiden, die Symptome des Niedergangs gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens.

jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen.

es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes Wachsthum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus, der eigentliche Nihilism, zur Welt käme.

Dies habe ich begriffen.

10 [23]

(156)      Gesammt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt,—eben dieselben Symptome könnten auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das Gefühl, als Werth-Gefühl ist nicht auf der Höhe der Zeit

Verallgemeinert: das Werthgefühl ist immer rückständig, es drückt Erhaltungs- Wachsthums-Bedingungen jener viel früheren Zeiten aus: es kämpft gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue ..

Beispiele: — — —

10 [24]

(157)      Die Vermoralisirung der Künste. Kunst als Freiheit von der moral[ischen] Verengung und Winkel-Optik; oder als Spott über sie. Die Flucht in die Natur, wo ihre Schönheit mit der Furchtbarkeit sich paart. Conception des großen Menschen.

— zerbrechliche, unnütze Luxus-Seelen, welche ein Hauch schon trübe macht “die schönen Seelen

— die verblichenen Ideale aufwecken in ihrer schonungslosen Härte und Brutalität, als die prachtvollsten Ungeheuer, die sie sind

— ein frohlockender Genuß an der psychologischen Einsicht in die Sinuosität und Schauspielerei wider Wissen bei allen vermoralisirten Künstlern.

— die Falschheit der Kunst,—ihre Immoralität ans Licht ziehn

— die “idealisirenden” Grundmächte (Sinnlichkeit, Rausch, überreiche Animalität) ans Licht ziehn

10 [25]

(158)

Die falsche “Verstärkung

 

im romantisme: dies beständige espressivo ist kein Zeichen von Stärke, sondern von einem Mangelgefühl

die pittoreske Musik, die sogenannte dramatische, ist vor allem leichter (ebenso wie die brutale Colportage und Nebeneinanderstellung von faits und traits im Roman des naturalisme)

die “Leidenschaft” eine Sache der Nerven und der ermüdeten Seelen; so wie der Genuß an Hochgebirgen, Wüsten, Unwettern, Orgien und Scheußlichkeiten,—am Massenhaften und Massiven (bei Historikern z.B.

Thatsächlich giebt es einen Cultus der Ausschweifung des Gefühls. Wie kommt es, daß die starken Zeiten ein umgekehrtes Bedürfniß in der Kunst haben—nach einem Jenseits der Leidensch[aft?]

die Farben, die Harmonie, die nervöse Brutalität des Orchester-Klangs; die schreienden Farben im Roman

die Bevorzugung der aufregenden Stoffe (Erotica oder Socialistica oder Pathologica: alles Zeichen, für wen heute gearbeitet wird, für Überarbeitete und Zerstreute oder Geschwächte.

man muß tyrannisiren, um überhaupt zu wirken.

10 [26]

(159)      Schluß.— Endlich wagen wir es, die Regel zu rechtfertigen!

10 [27]

(160)      Die Wissenschaft, ihre zwei Seiten:

hinsichtlich des Individuums

hinsichtlich des Cultur-Complexes (“Niveaus”)

— entgegengesetzte Werthung nach dieser und nach jener Seite.

10 [28]

(161)      an Stelle der “Gesellschaft” der Cultur-Complex als mein Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Theilen)

10 [29]

(162)      Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat, und daß die “Barbarei” der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Nothwendigkeit versetzt wird, am Congo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.

10 [30]

(163)      Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern, einbegriffen ist in diesem Wachsthum.

Verschiebung des Schwergewichts einer Cultur.

Die Unkosten jedes großen Wachsthums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.

10 [31]

Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unserer ganzen Civilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Einschränkung.

Abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Werth eines Menschen noch nicht einmal berührt.

Man fängt an — — —

Der Werth eines Menschen liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es Niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgiengen, jene Spitze des ganzen Typus Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm Alles vor Neid zu Grunde gienge

10 [32]

(164)      A. Die Wege zur Macht: die neue Tugend unter dem Namen einer alten einführen

: für sie das “Interesse” aufregen (“Glück” als ihre Folge und umgekehrt)

: die Kunst der Verleumdung gegen ihre Widerstände

: die Vortheile und Zufälle ausnützen zu ihrer Verherrlichung

: ihre Anhänger durch Opfer, Separation zu ihren Fanatikern machen

: die große Symbolik

B. Die erreichte Macht

1) Zwangsmittel der Tugend
2) Verführungsmittel der Tugend
3) die Etiquette (der Hofstaat) der Tugend

10 [33]

— Künstler sind nicht die Menschen der großen Leidenschaft, was sie uns und sich auch vorreden mögen. Und das aus zwei Gründen: es fehlt ihnen die Scham vor sich selber (sie sehen sich zu, indem sie leben; sie lauern sich auf, sie sind zu neugierig ...) und es fehlt ihnen auch die Scham vor der großen Leidenschaft (sie beuten sie als Artisten aus, Habsucht ihres Talents ...)

Zweitens aber: 1) ihr Vampyr, ihr Talent mißgönnt ihnen meist solche Verschwendung von Kraft, welche Leidenschaft heißt 2) ihr Künstler-Geiz behütet sie vor der Leidenschaft.

Mit einem Talent ist man auch das Opfer eines Talents: man lebt unter dem Vampyrism seines Talents,—man lebt — — —

Man wird nicht dadurch mit seinen Leidenschaften fertig, daß man sie darstellt: vielmehr, man ist mit ihnen  fertig,  wenn  man sie darstellt. (Goethe  lehrt  es  anders:  er  wollte  sich  hier  mißverstehn: ein G[oethe] empfand die Undelikatesse

10 [34]

— ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen —

10 [35]

(166)      — das Laster mit etwas entschieden Peinlichem so verknüpfen, daß zuletzt man vor dem Laster flieht, um von dem loszukommen, was mit ihm verknüpft ist. Dies ist der berühmte Fall Tannhäusers. Tannhäuser, durch Wagnersche Musik um seine Geduld gebracht, hält es selbst bei Frau Venus nicht mehr aus: mit Einem Male gewinnt die Tugend Reiz; eine Thüringische Jungfrau steigt im Preise; und um das Stärkste zu sagen, er goutirt sogar die Weise Wolfram von Eschenbachs ..

10 [36]

(167)      — uns Fatalisten von Heute möchte zuletzt die lascive Schwermuth eines maurischen Tanzes eher noch zu Herzen gehn, als die Wienerische Sinnlichkeit des deutschen Walzers,—eine zu blonde, zu stupide Sinnlichkeit.

10 [37]

(168)      Die moderne Kunst als eine Kunst zu tyrannisiren.— Eine grobe und stark herausgetriebene Logik des Lineaments; das Motiv vereinfacht bis zur Formel,—die Formel tyrannisirt. Innerhalb der Linien eine wilde Vielheit, eine überwältigende Masse, vor der die Sinne sich verwirren; die Brutalität der Farben, des Stoffes, der Begierden. Beispiel: Zola, Wagner, in einer geistigeren Ordnung Taine. Also Logik, Masse und Brutalität ...

10 [38]

(169)      Die Menschen schätzen ein Ding nach dem Aufwand, den sie um seinetwillen gemacht haben. Um eine Tugend ihnen schätzenswerth zu machen, muß man sie nöthigen—oder verführen—viel für sie aufzuwenden



Wie verleidet man den Menschen ein angenehmes Laster? Nicht anders als indem man es ihnen unangenehm macht. Wie überredet man den Trunkenbold, daß der Alkohol widerlich ist? Man macht ihn widerlich, man mischt [Enzian]—hinzu. Man muß das Laster mit—mischen: erster Kunstgriff des Moralisten.

10 [39]

(170)      Der Instinkt der Heerde schätzt die Mitte und das Mittlere als das Höchste und Werthvollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und Weise, in der sie sich daselbst befindet; damit ist er Gegner aller Rangordnung, der ein Aufsteigen von Unten nach Oben zugleich als ein Hinabsteigen von der Überzahl zur kleinsten Zahl ansieht. Die Heerde empfindet die Ausnahme, sowohl das Unter-ihr als das Über-ihr als etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben, die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden—zu ihren ersten Dienern: damit hat sie eine Gefahr in einen Nutzen umgewandelt. In der Mitte hört die Furcht auf; hier ist man mit nichts allein; hier ist wenig Raum für das Mißverständniß; hier giebt es Gleichheit; hier wird das eigne Sein nicht als Vorwurf empfunden, sondern als das rechte Sein; hier herrscht die Zufriedenheit. Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme sein gilt als Schuld.

10 [40]

(171)      Würde irgend ein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu—sie beweist die Regel—das Weib bringt es in Allem zur Vollkommenheit, was nicht von Metier ist, in Brief, in M[emoiren] selbst in der delikatesten Handarbeit, die es giebt, kurz in allem, was nicht von Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit jenem einzigen Kunst-Antriebe gehorcht, den es besitzt,—es will gefallen ... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des ächten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsasa mehr Wichtigkeit zugesteht als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Werth zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (—daß es sich preisgiebt, daß es sich öffentlich macht—) Die Kunst, so wie der Künstler sie übt—begreift ihrs nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs? ... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung zur Litteratur gewagt (—vers la canaille plumière, écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.

10 [41]

der Gipfel der modernen Lyrik, von zwei Bruder-Genies erstiegen, von Heinrich Heine und Alfred de Musset

unsre Unsterblichen—wir haben nicht zuviel: Alfred de Musset, Heinrich Heine, p. 267.

Schiller war ein Theater-Maestro: aber was geht uns das Theater an!

10 [42]

(172)      Hauptsatz. In wiefern der vollkommene Nihilism die nothwendige Folge der bisherigen Ideale ist.

— der unvollständige Nihilism, seine Formen: wir leben mitten drin

— die Versuche, dem N[ihilismus] zu entgehn, ohne jene Werthe umzuwerthen: bringen das Gegentheil hervor, verschärfen das Problem.

10 [43]

(173)      Der vollkommene Nihilist—das Auge des N[ihilisten], das ins Häßliche idealisirt, das Untreue übt gegen seine Erinnerungen (—es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt; und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit des M[enschen] nicht,—er läßt sie fallen

10 [44]

(174)      Was wird aus dem Menschen, der keine Gründe mehr hat, sich zu wehren und anzugreifen? Was bleibt von seinen Affekten übrig, wenn die ihm abhanden kommen, in denen er seine Wehr und seine Waffe hat?

10 [45]

(175)      Man soll das Reich der Moralität Schritt für Schritt verkleinern und eingrenzen; man soll die Namen für die eigentlichen hier arbeitenden Instinkte an’s Licht ziehen und zu Ehren bringen, nachdem sie die längste Zeit unter heuchlerischen Tugendnamen versteckt wurden; man soll aus Scham vor seiner immer gebieterischer redenden “Redlichkeit” die Scham verlernen, welche die natürlichen Instinkte verleugnen und weglügen möchte. Es ist ein Maaß der Kraft, wie weit man sich der Tugend entschlagen kann; und es wäre eine Höhe zu denken, wo der Begriff “Tugend” so umempfunden wäre, daß er wie virtù klänge, Renaissance-Tugend, moralinfreie Tugend. Aber einstweilen—wie fern sind wir noch von diesem Ideale!

Die Gebiets-Verkleinerung der Moral: ein Zeichen ihres Fortschritts. Überall, wo man noch nicht causal zu denken vermocht hat, dachte man moralisch.

10 [46]

(176)      Zur Entnatürlichung der Moral. Daß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die “Sünde” wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind.

10 [47]

(177)      Wiederherstellung der Natur”: eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Werth: es kommt Alles darauf an, wer sie thut. Ein und dasselbe “Verbrechen” kann in einen Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Thatsächlich ist es die Selbstsucht der Urtheilenden, welche eine Handlung resp. ihren Thäter auslegt im Verhältniß zum eigenen Nutzen oder Schaden (—oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.)

10 [48]

Welche Zeit, wo man den Regen von der Gottheit verlangte, wo man mit dem Gebet auf sie nach Art eines diuretischen Mittels zu wirken glaubt!

10 [49]

(178)

Zum Idealism der Selbstverächter.

 

Glaube” oder “Werke”?— Aber daß zum “Werke,” zur Gewohnheit bestimmter Werke sich eine bestimmte Werthschätzung und endlich Gesinnung hinzuerzeugt, ist ebenso natürlich, als es unnatürlich ist, daß aus einer bloßen Werthschätzung “Werke” hervorgehn. Man muß sich üben, nicht in der Verstärkung von Werthgefühlen, sondern im Thun; man muß erst etwas können ... Der christliche Dilettantismus Luthers. Der Glaube ist eine Eselsbrücke. Der Hintergrund ist eine tiefe Überzeugung, das instinktive Bewußtsein ebenso, Luthers und seines Gleichen von ihrer Unfähigkeit zu christlichen Werken, eine persönliche Thatsache, verhüllt unter einem extremen Mißtrauen darüber, ob nicht überhaupt jedwedes Thun Sünde und vom Teufel ist: so daß der Werth der Existenz auf einzelne hochgespannte Zustände der Unthätigkeit fällt (Gebet, Effusion usw.)— Zuletzt hätte er Recht: die Instinkte, welche sich im ganzen Thun der Reformatoren ausdrücken, sind die brutalsten, die es giebt. Nur in der absoluten Wegwendung von sich, in der Versenkung in den Gegensatz, nur als Illusion (“Glaube”) war ihnen das Dasein auszuhalten.

10 [50]

(179)      Das Verbrechen gehört unter den Begriff: “Aufstand wider die gesellschaftliche Ordnung.” Man “bestraft” einen Aufständischen nicht: man unterdrückt ihn. Ein Aufständischer kann ein erbärmlicher und verächtlicher Mensch sein; an sich ist an einem Aufstande nichts zu verachten—und in Hinsicht auf unsere Art Gesellschaft aufständisch zu sein, erniedrigt an sich noch nicht den Werth eines Menschen. Es giebt Fälle, wo man einen solchen Aufständischen darum selbst zu ehren hätte, weil er an unsrer Gesellschaft Etwas empfindet, gegen das der Krieg noth thut: wo er uns aus dem Schlummer weckt.

Damit, daß der Verbrecher etwas Einzelnes thut an einem Einzelnen, ist nicht widerlegt, daß sein ganzer Instinkt gegen die ganze Ordnung im Kriegszustande ist: die That als bloßes Symptom

Man soll den Begriff der Strafe reduziren auf den Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaßregeln gegen den Niedergeworfenen (ganze oder halbe Gefangenschaft) Aber man soll nicht Verachtung durch die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein Mensch, der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit risquirt—ein Mann des Muths. Man soll insgleichen nicht die Strafe als Buße nehmen; oder als eine Abzahlung, wie als ob es ein Tauschverhältniß gäbe zwischen Schuld und Strafe,—die Strafe reinigt nicht, denn das Verbrechen beschmutzt nicht.

Man soll dem Verbrecher die Möglichkeit nicht abschließen, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen: gesetzt, daß er nicht zur Rasse des Verbrecherthums gehört. In letzterem Falle soll man ihm den Krieg machen, noch bevor er etwas Feindseliges gethan hat (erste Operation, sobald man ihn in der Gewalt hat: ihn kastriren).

Man soll dem Verbrecher nicht seine schlechten Manieren, noch den niedrigen Stand seiner Intelligenz zum Nachtheil anrechnen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß er sich selbst mißversteht; namentlich ist sein revoltirter Instinkt, die rancune des déclassé oft nicht sich zum Bewußtsein gelangt, faute de lecture; daß er unter dem Eindruck der Furcht, des Mißerfolgs seine That verleumdet und verunehrt: von jenen Fällen noch ganz abgesehn, wo, psychologisch nachgerechnet, der Verbrecher einem unverstandnen Triebe nachgiebt und seiner That durch eine Nebenhandlung ein falsches Motiv unterschiebt (etwa durch eine Beraubung, während es ihm am Blute lag ..)

Man soll sich hüten, den Werth eines Menschen nach einer einzelnen That zu behandeln. Davor hat Napoleon gewarnt. Namentlich sind die Hautrelief-Thaten ganz besonders insignificant. Wenn unser Einer kein Verbrechen z.B. keinen Mord auf dem Gewissen hat—woran liegt es? Daß uns ein Paar begünstigende Umstände dafür gefehlt haben. Und thäten wir es, was wäre damit an unserm Werthe bezeichnet? Wäre unser Werth verringert, wenn wir ein paar Verbrechen begiengen? Im Gegentheil: es ist nicht Jeder im Stande, ein paar Verbrechen zu begehen. An sich würde man uns verachten, wenn man uns nicht die Kraft zutraute, unter Umständen einen Menschen zu tödten. Fast in allen Verbrechen drücken sich zugleich Eigenschaften aus, welche an einem Manne nicht fehlen sollen. Nicht mit Unrecht hat Dostoiewsky von den Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten den stärksten und werthvollsten Bestandtheil des russischen Volkes. Wenn bei uns der Verbrecher eine schlecht ernährte und verkümmerte Pflanze ist, so gereicht dies unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Unehre; in der Zeit der Renaissance gedieh der Verbrecher und erwarb sich seine eigne Art von Tugend,—Tugend im Renaissancestile freilich, virtù, moralinfreie Tugend.

Man vermag nur solche Menschen in die Höhe [zu] bringen, die man nicht mit Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgend ein Verbrechen.

10 [51]

(180)      die großen Erotiker des Ideals, die Heiligen der transfigurirten und unverstandenen Sinnlichkeit, jene typischen Apostel der “Liebe” (wie Jesus von Nazareth, der heilige Franz von Assisi, der heilige François de Paule): bei ihnen geht der fehlgreifende Geschlechtstrieb aus Unwissenheit gleichsam in die Irre, bis er sich endlich noch an Phantomen befriedigen muß: an “Gott,” am “Menschen,” an der “Natur.” (Diese Befriedigung selbst ist nicht bloß eine scheinbare: sie vollzieht sich bei den Ekstatikern der unio mystica, wie sehr auch immer außerhalb ihres Wollens und “Verstehens,” nicht ohne die physiologischen Begleitsymptome der sinnlichsten und naturgemäßesten Geschlechtsbefriedigung.)

10 [52]

(181)

Der Nihilism der Artisten

 

Die Natur grausam durch ihre Heiterkeit; cynisch mit ihren Sonnenaufgängen

wir sind feindselig gegen Rührungen

man flüchtet dorthin, wo die Natur unsere Sinne und unsere Einbildungskraft bewegt; wo wir nichts zu lieben haben, wo wir nicht an die moralischen Scheinbarkeiten und Delikatessen dieser nordischen Natur erinnert werden;—und so auch in den Künsten. Wir ziehen vor, was nicht mehr uns an “gut und böse” erinnert. Unsere moralistische Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalism der Sinne und der Kräfte. Das Leben ohne Güte

die Wohlthat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse

keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivetät sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt ...

und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt ...

Der nihilistische Künstler verräth sich im Willen und Vorzuge der cynischen Geschichte, der cynischen Natur.

10 [53]

(182)

Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert

 

(das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der généreux sentiments)

Nicht “Rückkehr zur Natur”: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und wider natürlicher Werthe ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe—er kehrt nie “zurück” ... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur.

Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.

Natürlicher ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müssigen: man macht Jagd auf einander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hinderniß und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt

Natürlicher ist unsere Stellung zur Erkenntniß: wir haben die libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntniß, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.

Natürlicher ist unsere Stellung zur Moral. Principien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner “Pflicht” zu reden. Aber man schätzt eine hülfreiche wohlwollende Gesinnung (—man sieht im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest—) Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe.

Natürlicher ist unsere Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.

Natürlicher ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir concipiren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.

Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer “Unschuld” “Vernunft” “Schönheit” willen, wir haben sie hübsch “verteufelt” und “verdummt.” Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.

Natürlicher ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne sich zu erregen.

In summa: es giebt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn, ohne Erbitterung: im Gegentheil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten.

Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Corruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der “Natur” angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Civilisation [gemacht hat], welche er perhorreszirte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich (Dancourt Le Sage Regnard). [Florent Carton Dancourt (1661-1725), Alain René Lesage (1668-1747), Jean François Regnard (1655-1709).]

10 [54]

(183)      Der Protestantism, jene geistig unreinliche und langwierige Form der décadence, in der das Christenthum sich bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat: als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die Erkenntniß, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte

Werth der complexen Gebilde, des seelischen Mosaiks, selbst des ungeordneten und vernachlässigten Haushalts der Intelligenz

das homöopathische Christenthum, das des protest[antischen] Landpfarrers

der unbescheidene Protestantismus, der der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten.

10 [55]

(184)      — Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich selbst widerspricht; es ist eine Göttlichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt ...

Man hat einmal nicht ohne Feinheit gesagt: “il est indigne de grands coeurs de répandre le trouble, qu’ils ressentent” [Vgl. Arvède Barine, "George Eliot, d'après sa correspondance." In: Revue des deux mondes, 1. Julliet 1885:121.]: nur muß man hinzufügen, daß vor dem Unwürdigsten sich nicht zu fürchten ebenfalls Größe des Herzens sein kann ... Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre ...; ein Erkennender, welcher “liebt,” opfert seine Rechtschaffenheit; ein Gott welcher liebt, wird Jude ...

10 [56]

Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel “Bier” in der deutschen Intelligenz! Der Alkoholism der deutschen gelehrten Jugend ist beinahe eine Schändung und jedenfalls ein gründliches Fragezeichen in Hinsicht der Geistigkeit; die sanfte Entartung, welche das Bier hervorbringt: ich habe einmal in einem beinahe berüchtigt gewordenen Falle den Finger darauf geführt (die Entartung Straußens zum Verfasser des “alten und neuen Glaubens”) Man hat jederzeit die deutschen Gelehrten, die “Geist” haben, an den Fingern abzählen können (—und es genügt nicht, ihn zu haben, man muß ihn erst noch sich nehmen sich Geist herausnehmen ...): die übrigen Gelehrten haben Verstand und Einige von ihnen, glücklicher Weise, jenes berühmte “kindliche Gemüth,” welches ahnt ... Es ist unser Vorrecht: mit der “Ahnung” hat die deutsche Wissenschaft Dinge entdeckt, welche man sich schwer greifen kann und die überhaupt vielleicht nicht existiren. Man muß beinahe Jude sein, um als Deutscher nicht zu ahnen.

10 [57]

(185)

Geschichte der Vermoralisirung und Entmoralisirung.

 

Erster Satz: es giebt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet.

Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z.B. Kant zugab und das Christenthum insgleichen)—sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständniß, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingirt, das gar nicht existirt. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz “moralisch” und “unmoralisch” aufgebracht hat, muß man sagen:

es giebt nur unmoralische Absichten und Handlungen.

Zweiter Satz. Diese ganze Unterscheidung “moralisch” und “unmoralisch” geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität sind,—kurz daß es eine solche giebt, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurtheilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen bezieht, die freien.

Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär; die Welt, auf welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existirt gar nicht

es giebt weder moralische, noch unmoralische Handlungen.



Der psychologische Irrthum, aus dem der Gegensatz-Begriff “moralisch” und “unmoralisch” entstanden ist.

“selbstlos,” “unegoistisch,” “selbstverleugnend”—alles unreal, fingirt.

Fehlerhafter Dogmatism in Betreff des “ego”: dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum “Nicht-ich”; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisirung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen Werth-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-ich. Es schien handgreiflich, daß der Werth des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure “Nicht-ich” zu beziehn resp. sich ihm unterzuordnen und um seinetwillen zu existiren.— Hier waren die Heerden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Werth in der Selbst-Verneinung liegen.

Also: 1) die falsche Verselbständigung des “Individuums,” als Atom

2) die Heerden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorrescirt und als feindlich empfindet

3) als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels

4) Nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasirte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum.

5) man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische Triebe giebt, man verwarf alle selbstischen man verlangte die unselbstischen

6) Folge davon: was hatte man gethan? Man hatte die stärksten natürlichsten, mehr noch die einzig realen Triebe in Bann gethan—man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswerth zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe leugnen

ungeheure Fälscherei in psychologicis. Selbst jede Art “Selbstzufriedenheit” hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sie sub specie boni mißverstand und zurecht legte.

Umgekehrt: jene species, welche ihren Vortheil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Heerden-Instinkts z.B. die Priester und Philosophen) wurde fein und psychologisch-scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: “Alles ist Sünde; auch unsere Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.” Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig, Handlungen zu thun, welche “gut” sind.

NB. Das Christenthum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung des Blicks: La Rochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen und ihre Werth-Gleichheit in der Hauptsache (—alle unmoralisch)

Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getödtet ist—die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, “vollkommen” zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen ist.

Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des “guten Menschen” mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisirt.

Das Wüthen gegen die Instinkte des Lebens als “heilig,” verehrungswürdig.

Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal.

Almosen, Mitleiden; Aufopferung, Ritterthum; Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit; moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal.

Man kommt vorwärts: die verleumdeten Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z.B. Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter “der Freiheit des Evangeliums”)—man tauft sie um auf heilige Namen.

: die verleumdeten Instinkte suchen sich als nothwendig zu beweisen, damit die Tugendhaften überhaupt möglich sind: man muß vivre, pour vivre pour autrui. Egoismus als Mittel zum Zweck ...

: man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen, wie für die anderen (vom Gesichtspunkt des Nutzens)

: man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes über den altruist[ischen], nützlicher in Hinsicht auf das Glück der Meisten, oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Ego, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (“Gesammt-Nutzen der Menschheit”)

: man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur.

: man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes in irgend einer Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist ...

: endlich, man begreift, daß die altruistischen Handlungen nur eine species der egoistischen sind,—und daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad individueller Macht und Personalität. Kurz, daß man, indem man den Menschen böser macht, man ihn besser macht,—und daß man das Eine, nicht ohne das Andere ist ... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der Psychologie der bisher[igen] M[enschen].

Folgerungen: es giebt nur unmoralische Absichten und Handlungen

die sogenannten moralischen sind also als Unmoralitäten nachzuweisen.

(—dies die Aufgabe vom Tractatus politicus)

(—die Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen zur Macht: wesensgleich

(—der Begriff des Lebens—es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatze (von “gut und böse”) Machtgrade von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden

(—Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw.

Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus; Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch, daß man sie translocirt—ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsere Werthschätzungen eskamotiren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistischgedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus angreifen und unterminiren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung von An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.

10 [58]

(186)      Im ersten Buchder Nihilism als Consequenz der idealen Werthe
Problem der Civilisation
das 19. Jahrhundert, seine Zweideutigkeit:
 Es fehlt bisher die Freiheit von der Moral. Pessimisten sind Revolter des moralischen Pathos
  
Die Moral als Ursache des Pessimismus

der Pessimismus als Vorform des Nihilism
 
              Im zweiten BuchGeschichte der Vermoralisirung wie man die Tugend zur Herrschaft bringt
Moral als Circe der Philosophen
  
              Im dritten BuchDas Problem der Wahrheit
  
              Im vierten BuchGeschichte der höheren Typen, nachdem wir die Welt entgottet haben

die Mittel, um eine Kluft aufzureißen: Rangordnung

Ideal der weltbejahendsten Lehre das tragische Zeitalter.
  
die psychologische Naivität in dem Ideale Gott

10 [59]

(187)

Die Rangordnung der Menschen-Werthe.

 

a) man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall—Alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Thun aus, als eine “Person.”

b) man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen “Personen” sind. Und dann sind Manche auch mehrere Personen, die Meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer “Person” zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.

c) die “Person” ein relativ isolirtes Faktum; in Hinsicht auf die viel größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolirung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor Allem, eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit contagiös ist, hat

Erste Frage in Betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie heerdenhaft Jemand ist

(im letzteren Falle liegt sein Werth in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Heerde, seines Typus sichern, im anderen Falle in dem, was ihn abhebt, isolirt, vertheidigt und solitär ermöglicht.

Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem heerdenhaften, und den heerdenhaften nicht nach dem solitären

Aus der Höhe betrachtet: sind beide nothwendig; insgleichen ist ihr Antagonism nothwendig,—und nichts ist mehr zu verbannen als jene “Wünschbarkeit,” es möchte sich etwas Drittes aus Beiden entwickeln (“Typus” als Hermaphroditismus). Das ist so wenig “wünschbar,” als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen ...

Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Heerde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert, und diese den Eigenschaften der Heerde,—kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moral[ischen] Beurtheilung.

10 [60]

(188)      Im Verhältniß zur Musik ist alle Mittheilung durch Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht; das Wort macht das Ungemeine gemein.

10 [61]

(189)

Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat.

 

Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Species ist viel größer und furchtbarer: sie haben den Instinkt der Heerde, die Tradition der Werthe gegen sich; ihre Werkzeuge zur Vertheidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug,—es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen. (—sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten: wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Classen!)

der Stände- [und] Classenkampf, der auf “Gleichheit der Rechte” abzielt. Ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person. In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Vertheidigungs-Mittel nicht mehr nöthig sind, und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.

Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Heerde. Für sie ein Regime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits, oder der “Pflicht” in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.

10 [62]

seinen Neid gegen die Geschäfts-Klugheiten der Juden unter Moralitäts-Formeln zu verstecken ist antisemitisch, ist gemein, ist selbst canaille

10 [63]

Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen.

die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.

10 [64]

(190)      Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Trumpf zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! Und die Kluft größer aufreißen!— Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat

10 [65]

(191)      NB. In wiefern die christlichen Jahrhunderte mit ihrem Pessimismus stärkere Jahrhunderte waren als das 18. Jahrhundert

— entsprechend das tragische Zeitalter der Griechen —

schwächer, wissenschaftlicher und — — —

— das 19. Jahrhundert gegen das 18. Jahrhundert —

worin Erbe

worin Rückgang gegen dasselbe “geist”loser geschmackloser

worin Fortschritt über dasselbe
    (düsterer, realistischer, stärker —)

10 [66]

(192)      Ihr Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem “Willen zur Wahrheit” hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher “Freiheit” sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose vom “Willen zur Macht” seitens derer, denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit. Auch von Seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man “Freiheit” d.h. man will loskommen von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man “gleiche Rechte” d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen. [Vgl. Georg Brandes, Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt am Main: Ruetten & Loening, 1887:413-65.]

10 [67]

ich habe nie einen Augenblick die compromittirende Mittelmäßigkeit des Protestantismus, seiner Theologen und Prediger verkannt.

10 [68]

(193)      Nicht die Menschen “besser” machen, nicht zu ihnen auf irgend eine Art Moral reden, als ob “Moralität an sich,” oder eine ideale Art Mensch überhaupt gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nöthig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disciplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden!

Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches an sich ... Und leider gar nichts Liebenswürdiges!

10 [69]

(194)      Sehen wir, was “der erste Christ” mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerräth: die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen—in summa der ganzen Cultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen ...

Man lese doch einmal Petronius unmittelbar nach dem neuen Testament: wie man aufathmet, wie man die verfluchte Muckerluft von sich bläst!

10 [70]

(195)      eine Gesinnung, die sich Idealismus nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein und dem Weibe nicht, Weib zu sein. Nicht uniformiren! Uns klar machen, wie theuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswerthes, sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark gestimmt zu werden ...

10 [71]

(196)      die Weiblein, die darauf warten, bis der Priester oder der Bürgermeister ihnen die Erlaubniß giebt, ihren Geschlechtstrieb zu befriedigen und dabei das Versprechen abgeben, ihn immer nur an Einem Manne zu befriedigen

daß die Befriedigung des Geschlechtstriebs und die Frage der Nachkommenschaft grundverschiedene Dinge und Interessen sind und “die Ehe” wie alle Institutionen etwas Grundverlogenes ...

10 [72]

(197)

Die raffinirte Juden-Klugheit der ersten Christen

 

Man muß sich nicht irreführen lassen: “richtet nicht,” sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was nicht ihres Glaubens ist. Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selbst: indem sie die Tugenden fordern, deren sie fähig sind,—mehr noch, die sie nöthig haben, um es auszuhalten—geben sie sich den großen Schein des Krieges und Kampfes für das Gute: während sie nur für ihre Art-Erhaltung kämpfen. Indem sie friedfertig, sanftmüthig, milde, freundlich, fröhlich mit einander sind, so gehorchen sie ihren innersten Heerdenthier-Bedürfnissen: aber die Klugheit will, daß sie das auch noch von sich fordern. So erscheint selbst das Unvermeidlichste noch als Gehorsam, Verdienst,—es mehrt das Selbstgefühl ...

sich beständig verherrlichen, aber es nie sich eingestehen. Die absolute Partei-Tartüfferie, welche sich die Tugend und den Wettbewerb um die Tugend vorbehält: auch die Erkenntniß, die “Wahrheit”: auch die einstmalige Herrschaft und die Rache an allen Feinden

— ach diese demüthige, keusche, milde Verlogenheit! Wer hält sie aus! ... “Für uns soll unsere Tugend, unser Glück, unsere Anspruchslosigkeit zeugen! ”

— sich innerhalb der Welt möglich machen, sich durchsetzen: man merkt, daß sie das jüdische Blut und die Klugheit in sich haben. 1) man muß sich abscheiden, sichtbarlich 2) man muß sich als das “auserwählte Volk” behandeln, heimlich 3) man muß nicht eine Rangordnung der Werthe ansetzen, sondern Gegensätze: “wir” und “die Welt”

10 [73]

(198)      Man lese einmal das neue Testament als Verführungs-Buch:

die Tugend wird in Beschlag genommen, im Instinkte, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich einnimmt

und zwar die allerbescheidenste Tugend, welche das ideale Heerdenschaf anerkennt und nichts weiter (den Schafhirten eingerechnet—): eine kleine zärtliche wohlwollende hülfreiche und schwärmerisch-vergnügte Art Tugend, welche nach außen hin absolut anspruchslos ist,—welche “die Welt” gegen sich abgrenzt

der unsinnigste Dünkel, als ob sich das Schicksal der Menschheit dergestalt um sie drehe, daß die Gemeinde auf der einen Seite das Rechte und die Welt auf der anderen das Falsche, das ewig-Verwerfliche und Verworfene sei.

der unsinnigste Haß gegen Alles, was in der Macht ist: aber ohne daran zu rühren! Eine Art von innerlicher Loslösung, welche äußerlich Alles beim Alten läßt (Dienstbarkeit und Sklaverei; aus Allem sich ein Mittel zum Dienste Gottes und der Tugend zu machen wissen)

10 [74]

das Weib: ein kleiner Feuer-Herd zwischen viel Rauch und Lüge.

10 [75]

Das Christenthum als Heerdenthier-Züchtung; die kleinen Heerdenthier-Tugenden als die Tugend (—Zustände und Mittel der Selbsterhaltung der kleinsten Art Menschzu Tugenden umgestempelt; das neue Testament das beste Verführungsbuch)

10 [76]

Die Ehe ist genau so viel werth, als die, welche sie schließen: also ist sie, durchschnittlich, wenig werth—; die “Ehe an sich” hat noch gar keinen Werth,—wie übrigens jede Institution.

10 [77]

(199)      das Christenthum als eine Entnatürlichung der Heerden-Thier-Moral: unter absolutem Mißverständniß und Selbstverblendung

die Demokratisirung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene

Thatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganz große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht

1) Stufe: sie machen sich frei—sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich unter einander an, sie setzen sich durch

2) Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, “Gerechtigkeit”

3) Stufe: sie wollen die Vorrechte (—sie ziehen die Vertreter der Macht auf sich hinüber)

4) Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie ...

Im Christenthum sind drei Elemente zu unterscheiden:

a) die Unterdrückten aller Art
b) die Mittelmäßigen aller Art
c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art

mit dem ersten Elemente kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal
mit dem zweiten Elemente gegen die Ausnahmen und Privilegirten (geistig, sinnlich—) jeder Art
mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen.

wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christenthum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessirt wegen der Überwältigung der Menge),—und jetzt ist es der Heerden-Instinkt, die in jedem Betracht werthvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion durch das Christenthum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum Bewußtsein (—gewinnt den Muth zu sich—), daß sie auch politisch sich die Macht zugesteht ...

— die Demokratie ist das vernatürlichte Christenthum: eine Art “Rückkehr zur Natur,” nachdem nur durch eine extreme Antinatürlichkeit die entgegengesetzte Werthung überwunden werden konnte.— Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich nunmehr (“der höhere Mensch” “vornehm” “Künstler” “Leidenschaft” “Erkenntniß” usw.) Romantik als Cultus der Ausnahme, Genie usw.

10 [78]

“méfiez-vous du premier mouvement; il est toujours généreux.” Talleyrand zu den jungen Gesandtschafts-Sekretären. [Vgl. Stendhal, Mémoires d'un touriste. Vol. 2. Paris: Lévy, 1877:295.]

10 [79]

(200)      Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, alles, was sie beanspruchte, als eine göttliche Satzung, als Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentiren .. insgleichen, was dazu diente, Israel zu erhalten, seine Existenz-Ermöglichung (z.B. eine Summe von Werken: Beschneidung, Opferkult als Centrum des nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als “Gott” einzuführen.— Dieser Prozeß setzt sich fort; innerhalb des Judenthums, wo die Nothwendigkeit der “Werke” nicht empfunden wurde (nämlich als Abscheidung gegen Außen) konnte eine priesterliche Art Mensch concipirt werden, die sich verhält wie die “vornehme Natur” zum Aristokraten; eine kastenlose und gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht auf die “Werke,” sondern die “Gesinnung” den Werth legte ...

Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine bestimmte Art von Seele durchzusetzen, gleichsam ein Volks-Aufstand innerhalb eines priesterlichen Volkes,—eine pietistische Bewegung von Unten (Sünder Zöllner Weiber Kranke). Jesus von Nazareth war das Zeichen, an dem sie sich erkannten. Und wieder, um an sich glauben zu können, brauchen sie eine theologische Transfiguration: nichts Geringeres als “der Sohn Gottes” thut ihnen Noth, um sich Glauben zu schaffen ... Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christenthum als sein cardinalstes Ereigniß erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judenthums entstehn: dessen Hauptthat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduziren: davon ist das Christenthum die zweite Potenz.

10 [80]

(201)      diese kleinen Heerdenthier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum “ewigen Leben”: sie dergestalt in Scene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigen Falls, immer bloß ein kleines liebes absurdes Schaf mit Hörnern — vorausgesetzt daß man nicht vor Eitelkeit platzt nach Art der Hofprediger und durch richterliche Attitüden skandalisirt.

die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminirt werden—wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten

die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild werthvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter (Prachtvoll: als ob sich’s um’s “Heil der Seele” handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen “auszuhalten.”)

Zur Entnatürlichung der Moral.

10 [81]

Ersichtlich fehlt es im neuen Deutschland an Scham; selbst der kaiserliche Hof hat bis jetzt einen schlechten Willen gezeigt, sich von der Befleckung mit der verächtlichsten und compromittirendsten Ausgeburt des christlichen Muckerthums freizuhalten: wozu doch Alles auffordern dürfte—der Anstand, der gute Geschmack, die Klugheit.

(Was hat mehr dem Hofe geschadet, als die Hofprediger?)

10 [82]

(202)      Der Individualism ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des “Willens zur Macht”; hier scheint es dem Einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei diese die des Staates oder der Kirche ..) Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als Einzelner; er vertritt alle Einzelnen gegen die Gesammtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem Einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Einzahl gegen die Gesammtheit.

Der Socialism ist bloß ein Agitationsmittel des Individualisten: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesammtaktion organisiren muß, zu einer “Macht.” Aber was er will, ist nicht die Societät als Zweck des Einzelnen, sondern die Societät als Mittel zur Ermöglichung vieler Einzelnen:— Das ist der Instinkt der Socialisten, über den sie sich häufig betrügen (—abgesehn, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen) Die altruistische Moral-predigt im Dienste des Individual-Egoism: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.

Der Anarchism ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Socialism; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu fasciniren und zu terrorisiren; vor allem—er zieht die Muthigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geiste.

Trotzalledem:  Der  Individual[ismus]  ist  die  bescheidenste  Stufe des W[illens] z[ur] M[acht].

Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft; der Einzelne setzt sich nicht ohne Weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seines Gleichen,—er hebt Andere von sich ab. Auf den Individualism folgt die Glieder- [und] Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht bethätigend, zwischen diesen Machtcentren Reibung, Krieg, Erkenntniß beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluss: eine Rangordnung.

NB.

1.

die Individuen machen sich frei
 

2.

sie treten in Kampf, sie kommen über “Gleichheit der Rechte” überein (—Gerechtigkeit—) als Ziel
 

3.

ist das erreicht, so treten die thatsächlichen Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im Großen Ganzen der Friede herrscht und viel kleinere Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast = 0 waren). Jetzt organisiren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von Neuem.

NB. man will Freiheit, so lange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man “Gerechtigkeitd.h. gleiche Macht

10 [83]

(203)      Vor allem, meine Herren Tugendhaften, habt ihr keinen Vorrang vor uns: wir wollen euch die Bescheidenheit hübsch zu Gemüthe führen: es ist ein erbärmlicher Eigennutz und Klugheit, welche euch eure Tugend anräth. Und hättet ihr mehr Kraft und Muth im Leibe, würdet ihr euch nicht dergestalt zu tugendhafter Nullität herabdrücken. Ihr macht aus euch, was ihr könnt: theils was ihr müßt — wozu euch eure Umstände zwingen —, theils was euch Vergnügen macht, theils was euch nützlich scheint. Aber, wenn ihr thut, was nur euren Neigungen gemäß ist oder was eure Nothwendigkeit von euch will oder was euch nützt, so sollt ihr euch darin weder loben dürfen, noch loben lassen! ... Man ist eine gründlich kleine Art Mensch, wenn man nur tugendhaft ist: darüber soll nichts in die Irre führen! Menschen, die irgendworin in Betracht kommen, waren noch niemals solche Tugend-esel: ihr innerster Instinkt, der ihres Quantums Macht, fand dabei nicht seine Rechnung: während eure Minimalität an Macht nichts weiser erscheinen läßt als Tugend. Aber ihr habt die Zahl für euch: und insofern ihr tyrannisirt, wollen wir euch den Krieg machen ...

10 [84]

(204)      Der heuchlerische Anschein, mit dem alle bürgerlichen Ordnungen übertüncht sind, wie als ob sie Ausgeburten der Moralität wären ... z.B. die Ehe; die Arbeit; der Beruf; das Vaterland; die Familie; die Ordnung; das Recht. Aber da sie insgesammt auf die mittelmäßigste Art Mensch hin begründet sind, zum Schutz gegen Ausnahmen und Ausnahme-Bedürfnisse, so muß man es billig finden, wenn hier viel gelogen wird.

10 [85]

(205)      Ein tugendhafter Mensch ist schon deshalb eine niedrigere species, weil er keine “Person” ist, sondern seinen Werth dadurch erhält, einem Schema Mensch gemäß zu sein, das ein-für-alle Mal aufgestellt ist. Er hat nicht seinen Werth a parte: er kann verglichen werden, er hat seines Gleichen, er soll nicht einzeln sein ...

Rechnet die Eigenschaften des guten Menschen nach, weshalb thun sie uns wohl? Weil wir keinen Krieg nöthig haben, weil er kein Mißtrauen, keine Vorsicht, keine Sammlung und Strenge uns auferlegt: unsere Faulheit, Gutmüthigkeit, Leichtsinnigkeit macht sich einen guten Tag. Dieses unser Wohlgefühl ist es, das wir aus uns heraus projiziren und dem guten Menschen als Eigenschaft, als Werth zurechnen.

10 [86]

(206)      Ich liebe es durchaus nicht an jenem Jesus von Nazareth oder an seinem Apostel Paulus, daß sie den kleinen Leuten so viel in den Kopf gesetzt haben, als ob es etwas auf sich habe mit ihren bescheidenen Tugenden. Man hat es zu theuer bezahlen müssen: denn sie haben die werthvolleren Qualitäten von Tugend und Mensch in Verruf gebracht, sie haben das schlechte Gewissen und das Selbstgefühl der vornehmen Seele gegen einander gesetzt, sie haben die tapfern, großmüthigen, verwegenen, excessiven Neigungen der starken Seele irregeleitet, bis zur Selbstzerstörung ...

rührend, kindlich, hingebend, weiblich-verliebt und schüchtern; der Reiz der jungfräulichen-schwärmerischen Vorsinnlichkeit—denn Keuschheit ist nur die Form der Sinnlichkeit (—ihre Präexistenzform)

10 [87]

(207)      Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurtheile?—wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die Meisten zu Grunde gehn?—wie weit der Wahrheit entgegengehn und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüthe führen?—wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehn, mit dem Fragezeichen, ob man darüber Herr werden wird?... (was uns nicht umbringt, macht uns stärker ...)—endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen der Durchschnitts-Natur Recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisiren zu lassen? ... stärkste Probe des Charakters: sich nicht durch die Verführung des Guten ruiniren zu lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als Laster ...

10 [88]

(208)      Die Ehe ist eine Form des Concubinats, zu der die bürgerliche Gesellschaft ihre Erlaubniß giebt, aus Eigennutz, wie sich von selbst versteht, nicht aus Moralität ... Die Ehe ist die von ihr vorgezogene Art des Concubinats, weil hier der Instinkt nicht ohne Rücksicht und Vorsicht handelt, sondern erst um einen Erlaubnißschein einkommt ... Für diesen Mangel an Muth und Selbstvertrauen ist die Gesellschaft erkenntlich, sie ehrt die Ehe, weil sie eine Form der Unterwerfung vor der Gesellschaft darstellt ... Die Ehe ist eine Form des Concubinats, bei der grundsätzlich zu Viel versprochen wird: hier wird etwas versprochen, was man nicht versprechen kann, nämlich “Liebe immerdar,”—hier wird die geschlechtliche Funktion als “Pflicht” angesetzt, die man fordern kann ... Aber das ist die “moderne Ehe”

10 [89]

(209)      Die moralischen Werthe waren bis jetzt die obersten Werthe: will das Jemand in Zweifel ziehen? ... Entfernen wir diese Werthe von jener Stelle, so verändern wir alle Werthe: das Princip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen ...

10 [90]

(210)      Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes: sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit:—es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleich sehen ... Nein! Gott die höchste Macht—das genügt! Aus ihr folgt Alles, aus ihr folgt—“die Welt”! Symbolice, um ein Erkennungszeichen zu haben

D.O.

omnipotens

10 [91]

(211)      Das Christenthum als emancipirtes Judenthum (in gleicher Weise wie eine lokal und rassemäßig bedingte Vornehmheit endlich sich von diesen Bedingungen emancipirt und nach verwandten Elementen suchen geht ...)

1)als Kirche (Gemeinde) auf dem Boden des Staates, als unpolitisches Gebilde
2)als Leben, Zucht, Praxis, Lebenskunst
3)als Religion der Sünde (des Vergehens an Gott als einziger Art der Vergehung, als einziger Ursache alles Leidens überhaupt), mit einem Universalmittel gegen sie. Es giebt nur an Gott Sünde; was gegen den M[enschen] gefehlt ist, darüber soll der Mensch nicht richten, noch Rechenschaft fordern, es sei denn im Namen Gottes. Insgleichen alle Gebote (Liebe) alles ist angeknüpft an Gott, und um Gottes willen wird es am Menschen gethan. Darin steckt eine hohe Klugheit (—das Leben in großer Enge, wie bei den Eskimos, ist nur erträglich bei der friedfertigsten und nachsichtigsten Gesinnung: das jüdisch-christliche Dogma wendete sich gegen die Sünde, zum Besten des “Sünders”—)

10 [92]

(212)      Das christliche Leben, wie es als Ideal dem Paulus vorschwebt und von ihm gepredigt wird, ist das jüdische Leben, nicht vielleicht das der herrschenden Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in der Diaspora lebenden Juden. Es ist erlebt, gesehn, aus dem Verehrtesten und Geliebtesten heraus—dieses Ideal: es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse, vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben. Dies ist die That des Paulus: er erkannte die Anwendbarkeit des jüdischen Privatlebens auf das Privatleben der kleinen Leute von Überall. Vom Judenthum her wußte er, wie eine Art Mensch sich durchsetzt, ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht auf Macht haben zu dürfen. Ein Glaube an ein absolutes Vorrecht, das Glück der Auserwählten, welches jede Erbärmlichkeit und Entbehrung adelt—nämlich als Gegenzahlung und Sporn, die Tugenden der Familie, der kleinen Congregation, der unbedingte Ernst in Einem, in der Unantastbarkeit ihres Lebens durch die Gegner, zwischen denen sie leben—und alles Besänftigende, Mildernde, Erquickende, Gebet, Musik, gemeinsame Mahlzeiten und Herzensergießungen, Geduld, Nachsicht, Hülfe und Dienstbarkeit gegen einander, vor Allem jenes Stillehalten der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht, Haß, Neid, Rache nicht obenauf kommen ... Der Asketism ist nicht das Wesen dieses Lebens; die Sünde ist nur in dem Sinn im Vordergrund des Bewußtseins, als sie die beständige Nähe ihrer Erlöstheit und Zurückgekauftheit bedeutet (—so ist es schon jüdisch: mit der Sünde aber wird ein Jude selber fertig, dazu eben hatte er seinen Glauben; es ist das, womit man allein ganz fertig wird; und gesetzt, daß alles Unglück im Verhältniß zur Sünde steht (oder zur Sündhaftigkeit), so giebt es ein remedium gegen alles Unglück selbst—und das Unglück ist außerdem gerechtfertigt, nicht sinnlos ...

10 [93]

(213)      Welch Erquicken, nach dem neuen Testament etwa den Petronius in die Hand zu nehmen! Wie ist man sofort wieder hergestellt! wie fühlt man die Nähe der gesunden, übermüthigen, selbstgewissen und boshaften Geistigkeit!—und schließlich bleibt man vor der Frage stehn: “ist nicht selbst der antike Schmutz noch mehr werth als diese ganze kleine anmaaßliche Christen-Weisheit und -Muckerei?”

10 [94]

(214)      die europäischen Fürsten sollten sich in der That besinnen, ob sie unserer Unterstützung entbehren können. Wir Immoralisten—wir sind heute die einzige Macht, die keine Bundesgenossen braucht, um zum Siege zu kommen: damit sind wir bei weitem die Stärksten unter den Starken. Wir bedürfen nicht einmal der Lüge: welche Macht sonst könnte ihrer entrathen? Eine starke Verführung kämpft für uns, die stärkste vielleicht, die es giebt—die Verführung der Wahrheit ... Der Wahrheit? Wer legte das Wort mir in den Mund? Aber ich nehme es wieder heraus; aber ich verschmähe das stolze Wort: nein, wir haben auch sie nicht nöthig, wir würden auch noch ohne die Wahrheit zur Macht und zum Siege kommen. Der Zauber, der für uns kämpft, das Auge der Venus, das unsere Gegner selbst bestrickt und blind macht, das ist die Magie des Extrems, die Verführung, die alles Äußerste übt: wir Immoralisten—wir sind die Äußersten ...

10 [95]

“Oh Ariadne, du selbst bist das Labyrinth: man kommt nicht aus dir wieder heraus” ...

“Dionysos, du schmeichelst mir, du bist göttlich” ...

10 [96]

(215)      Das christlich-jüdische Leben: Hier überwog nicht das ressentiment. Erst die großen Verfolgungen mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben—sowohl die Gluth der Liebe als die des Hasses.

Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert sieht, dann wird man aggressiv; man verdankt den Sieg des Christenthums seinen Verfolgern.

NB Die Asketik im Christenthum ist nicht spezifisch: das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das Christenthum hinein; überall dort, wo es auch ohne Christenthum Asketik gab.

NB Das hypochondrische Christenthum, die Gewissens-Thierquälerei und Folterung ist insgleichen nur einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche Werthe Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christenthum selbst. Das Christenthum hat alle Art Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben das ist sein Wesen: Christenthum ist ein Typus der Décadence.

Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm-gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört eben dahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden.

Das neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Werth zu haben, ja allen Werth zu haben, hat in der That etwas Empörendes,—auch heute noch.

10 [97]

(216)      Wie man, bei vollkommener Einordnung in die bürgerliche Rechtschaffenheit, doch einmal den Bedürfnissen seiner Unmoralität Luft macht:

in wiefern wir heute als Erkennende alle unsere bösen Triebe in Dienst genommen haben und fern davon sind, zwischen Tugend und Erkenntniß eine Wünschbarkeit von Bund zu schließen

alle bösen Triebe sind intelligent und neugierig wissenschaftlich geworden

Wem die Tugend leicht fällt, der macht sich auch noch über sie lustig. Der Ernst in der Tugend ist nicht aufrecht zu erhalten: er erreicht sie und hüpft über sie hinaus—wohin? in die Teufelei.

— indem er sie erreicht, überspringt er sie,—und macht sich aus ihr eine kleine Teufelei zurecht dabei und ehrt seinen Gott nicht anders als der Hanswurst Gottes

Wie intelligent sind inzwischen alle unsere schlimmen Hänge und Dränge geworden! wie viel wissenschaftliche Neugierde plagt sie! Lauter Angelhaken der Erkenntniß!

10 [98]

(217)      Wogegen ich protestire? Daß man nicht diese kleine friedliche Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß des Menschen.

NB. Bako von Verulam: “infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus.” [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:451.] Das Christenthum aber gehört, als Religion, zum vulgus; es hat für die höchste Gattung virtus keinen Sinn

10 [99]

(218)      Die Schopenhauersche Entnatürlichung des Genies der Kunst: “ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt” [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 2, 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band Leipzig: Brockhaus, 1873:§36. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:Kap. 31.]

10 [100]

man könnte die Castration einführen im Kampf mit dem Verbrecher- und Krankenthum (so in Hinsicht auf alle Syphilitiker): aber wozu! man soll ökonomischer denken!

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel