From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel
 
English Translation
Concordance between
The Will to Power
and KSA
Home

COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel.

August-September 1885 41 [1-16]

41 [1]

Sils-Maria Ende August 1885

Friedrich Nietzsche, gesammelte Schriften.

Erstlinge.Die Geburt der Tragödie.
 Unzeitgemässe Betrachtungen.
 Rede über Homer.

Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.

Unter uns.” Vermischte Meinungen und Sprüche.

Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile

Gai saber. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.

Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen.

Mittag und Ewigkeit. Vermächtniss eines Wahrsagers.

“Exultabit Solitudo et florebit quasi lilium.”
Isaias

41 [2]

Neue unzeitgemässe Betrachtung.—

1.

Man verehrt und verachtet in jungen Jahren wie ein Narr und bringt wohl seine zartesten und höchsten Gefühle zur Auslegung von Menschen und Dingen dar, welche nicht zu uns gehören, so wenig als wir zu ihnen gehören. Jugend selber ist etwas Fälschendes und Betrügerisches. Es scheint, daß das Ehrfürchtige und Zornige, was der Jugend eignet, durchaus keine Ruhe hat, als bis es sich Menschen und Dinge so zurecht “gefälscht” hat, bis es an denselben seine Affekte entladen kann. Später, wo man stärker, tiefer, auch wahrhaftiger geworden ist, erschrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt hat, als man auf diesen Altären opferte. Man zürnt sich, all das Eitle, Übertreibende, Unächte, Geschminkte, Schauspielerische an unseren geliebten Götzen nicht gesehn zu haben,—man zürnt sich wegen dieser Selbst-Verblendung. Wie als ob sie eine unredliche Blindheit gewesen sei. In diesem Übergange nimmt man Rache an sich, durch Mißtrauen; man ist auf der Hut vor seinen begeisterten Gefühlen—ja “das gute Gewissen” selber erscheint Einem schon wie eine Gefahr, wie eine Selbst-Verschleierung und Ermüdung der eigenen Redlichkeit. Wieder ein Jahrzehend später: und man begreift, daß auch dies Alles noch—Jugend war.—

2.

— Was ich selber einstmals, in meinen “jungen Jahren,” über Schopenhauer und Richard Wagner schrieb und weniger schrieb als malte—vielleicht in einem allzuverwegenen übermüthigen überjugendlichen al fresco—das will ich am wenigsten heute auf “wahr” und “falsch” hin ins Einzelne prüfen. Gesetzt aber, ich hätte mich damals geirrt: mein Irrthum gereicht zum Mindesten weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre! Es ist etwas, sich so zu irren; es ist auch etwas, gerade mich dergestalt zum Irrthume zu verführen. Auch war es mir in jedem Falle eine unschätzbare Wohlthat, damals als ich “den Philosophen” und “den Künstler” und gleichsam meinen eigenen “kategorischen Imperativ” zu malen beschloß,—meine neuen Farben nicht ganz in’s Unwirkliche hinein, sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können. Ohne daß ich es Wußte, sprach ich nur für mich, ja im Grunde nur von mir. Indessen: Alles, was ich damals erlebt habe, das sind für eine gewisse Art von Menschen typische Erlebnisse, welchen zu einem Ausdruck zu verhelfen — — — Und wer mit einer jungen und feurigen Seele jene Schriften liest, wird vielleicht die schweren Gelöbnisse errathen, mit denen ich damals mich für mein Leben band,—mit denen ich mich zu meinem Leben entschloß: möchte er Einer jener Wenigen sein, die sich zu einem gleichen Leben und zu gleichen Gelöbnissen entschließen—dürfen!

3.

Es gab einen Zeitpunkt, wo ich im Geheimen anfieng, über Richard Wagner zu lachen, damals als er zu seiner letzten Rolle sich anschickte und mit den Gebärden eines Wundermanns, Heil-Verkünders, Propheten, ja sogar Philosophen vor den lieben Deutschen auftrat. Und da ich noch nicht aufgehört hatte, ihn zu lieben, so biß mich mein eignes Gelächter noch in’s Herz: wie es zur Geschichte eines Jeden gehört, der von seinem Lehrer unabhängig wird und endlich seinen eignen Weg findet. In dieser Zeit entstand der hier folgende lebhafte Aufsatz, aus dem, wie mir scheint, mancher junge Deutsche auch heute noch seinen Gewinn ziehen kann:—ich selber, so wie ich jetzt gesinnt bin, würde Alles geduldiger, auch herzlicher und schonender gesagt wünschen. Inzwischen errieth ich Allzuviel von der schmerzlichen und schauerlichen Tragödie, welche hinter dem Leben eines solchen Menschen, wie Richard Wagner es war, verborgen liegt.

4.

Richard Wagner hat ohne allen Zweifel den Deutschen usw.

5.

Aber der Musiker Richard Wagner?— “Richard Wagner und kein Ende”: das ist heute die Loosung.

Aber wir Freunde der Musik sind damit am Ende unserer Geduld. Wir haben so lange die beste Miene zum bösen Spiele der Wagnerei gemacht und mit Hülfe aller Tugenden und Ästhetiken uns einen ganzen langen Regentag hindurch zugeredet und ermahnt: “wie schön ist auch das schlechte Wetter! Wie viel Reize liegen in den Falten des Unwetters versteckt! Wie fein sich der Regen auf die ‘unendliche Melodie’ versteht! Wie unvergleichlich leuchtet ein Blitz inmitten langer grauer Trübsal! Und gar der Donner: wie schön ist die Chromatik des Donners!” Aber endlich, endlich wollen wir auch den aufgeklärten Himmel wieder sehn und zum Mindesten den schönen Abend haben, den wir verdienen, nach einem so tugendhaften, aber so bösen Tage!— Wirklich? Den Abend? Will es denn wirklich schon “Abend werden”? Geht nun auch noch unsre beste Kunst, die Musik, auf die Neige? Meine Freunde, hier ist Einer, der nicht mehr daran glaubt! Es ist noch lange nicht Zeit für den Abend! Und Wagner bedeutete weder den Tag, noch den Abend unserer Kunst,—sondern nur einen gefährlichen Zwischenfall, eine Ausnahme und ein Fragezeichen, welches unser Gewissen auf die Probe gestellt hat! Noch zur rechten Zeit lernten wir Nein! sagen: jeder rechtschaffne und tiefe Musiker sagt heute Nein zu Wagner und zu sich selber, so weit er noch “wagnerisirt”—und zwar je gründlicher gerade er bei Wagner in die Schule gegangen, bei Wagner gelernt hat.

6.

Um so schlimmer mag es freilich um die geringer begabten, auch um die geld- und ehrgeizigen Musiker bestellt sein: es giebt gerade für sie ausgesuchte Verführungen in der Art Wagner’s, Musik zu machen. Es ist nämlich leicht, mit Wagnerischen Mitteln und Kunstgriffen zu componiren, es mag auch, bei dem demagogischen Verlangen heutiger Künstler nach Aufregung der “Massen,” lohnbringender sein, nämlich “wirkungsvoller,” “überwältigender,” “schlagender,” “packender,” und wie die verrätherischen Lieblingsworte des Theaterpöbels und der dilettantischen Schwärmer lauten. Aber was bedeutet zuletzt, in Sachen der Kunst, der Lärm und die Begeisterung von “Massen”! Gute Musik hat niemals ein “Publikum”:—sie ist und kann niemals “öffentlich” sein, sie gehört den Ausgesuchtesten zu, sie soll immer und allein—im Gleichnisse gesprochen—für diecamera” da sein! “Massen” fühlen den heraus, der ihnen am besten zu schmeicheln versteht, sie sind auf ihre Art allen demagogischen Talenten dankbar und geben es ihnen zurück, so gut sie können. (Wie “Massen” zu danken verstehen, mit welchem “Geiste” und “Geschmacke,” dafür gab der Tod Victor Hugo’s ein belehrendes Zeugniß: ist in allen Jahrhunderten Frankreichs zusammen so viel Frankreich entwürdigender Unsinn gedruckt und geredet worden, wie bei dieser Gelegenheit? Aber auch bei dem Begräbnisse Richard Wagner’s verstiegen sich die Schmeicheleien der Dankbarkeit bis hinauf zu dem “frommen” Wunsche: “Erlösung dem Erlöser!”—)

NB. Es ist kein Zweifel, daß die W[agnerische] Kunst heute auf die Massen wirkt: daß sie das kann—sollte damit nicht über diese Kunst selber etwas ausgesagt sein? Für drei gute Dinge in der Kunst haben “Massen” niemals Sinn gehabt, für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit—pulchrum est paucorum hominum—: um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden, zu welchem bisher auch die höchstgearteten Künstler der neueren Zeit weder Ja noch Nein sagen durften:—sie haben noch kein Recht auf ihn gehabt, sie fühlten sich vor ihm ferne und beschämt, und diese Scham war gerade noch ihre höchste Höhe! Vom großen Stile steht Wagner am Fernsten: das Ausschweifende und Heroisch-Prahlerische seiner Kunstmittel steht geradezu im Gegensatze zum großen Stile; und ebenso das Zärtlich-Verführerische, das Vielfältig-Reizende, das Unruhige, Ungewisse, Spannende, Augenblickliche, Heimlich-überschwängliche, die ganze “übersinnliche” Maskerade kranker Sinne, und was nur Alles im typischen Sinne “Wagnerisch” heißen darf. Und dennoch, trotz dem gründlichsten Unvermögen dazu: Wagner schielt nach dem großen Stile, er, der nicht einmal die gewöhnliche, rechte, ächte Logik vermag! Er weiß dies gut genug, er erkannte es zeitig: aber sofort gieng er daran, mit der unbedenklichen Schauspieler-Gewandtheit die seine Meisterschaft ausmacht, sich seinen Mangel zum Vortheile auszulegen. Es liegt im Unlogischen, Halblogischen viel Verführerisches:—das hat Wagner gründlich errathen—: namentlich für Deutsche, bei denen Unklarheit als “Tiefe” empfunden wird. Die Männlichkeit und Strenge einer logischen Entwicklung war ihm versagt: aber er fand “Wirkungsvolleres”! “Die Musik, hat er gelehrt, ist immer nur ein Mittel, der Zweck ist das Drama.” Das Drama? Nein, die Attitüde!—so wenigstens verstand es Wagner bei sich selber. Vor allem und zuerst die ergreifende Attitüde! Etwas, das umwirft und schaudern macht! Was liegt am “zureichenden Grunde”! Eine Art Vieldeutigkeit, selbst in der rhythmischen Phrasirung, gehört insgleichen unter seine liebsten Kunstmittel, eine Art Trunkenheit und Traumwandeln, welches nicht mehr zu “folgern” weiß und einen gefährlichen Willen zum blinden Folgen und Nachgeben entfesselt.

Man sehe nur unsre Frauen an, wenn sie “wagnetisirt” sind: welche “Unfreiheit des Willens”! Welcher Fatalismus im erlöschenden Blicke! Welches Geschehen-Lassen, über-sich-ergehen-lassen! Vielleicht ahnen sie sogar, daß sie, in diesem Zustande des “ausgehängten” Willens, einen Zauber und Reiz mehr für manche Art Männer haben?: welcher Grund mehr zur Anbetung ihres Cagliostro und Wundermanns! Bei den eigentlichen “Mänaden” der Wagner-Anbetung darf man unbedenklich sogar auf Hysterie und Krankheit schließen; irgend Etwas ist in ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung; oder es fehlt an Kindern, oder, im erträglichsten Falle, an Männern.

7.

Was die Jünglinge betrifft, welche Wagner’n huldigen, so sind sie gemeinhin schlecht musikalisch. (Einer von den Besten sagte mir sogar einmal treuherzig “ich verstehe gar nichts von Musik, aber Wagner vereinigt alles Gute, was es heute giebt—er ist Antisemit, Vegetarianer und verabscheut die Vivisektion”) Die Wagnerischen Jünglinge, in manchem Betracht eine sehr erquickliche und edle Art von Jünglingen,—verehren in Wagnern ungefähr das Gleiche, was die leidenschaftlichen jünger Victor Hugo’s gegen 1828 in ihrem Abgotte verehrten: vor Allem den Meister großer Worte und Gebärden, den Fürsprecher aller schwellenden Gefühle, aller erhabenen Instinkte, sodann den wagenden Neuerer und Kettenlöser im Kampfe und Gegensatze zur älteren strengeren, vielleicht beschränkteren Kunstschulung, den Eröffner neuer Zugänge, neuer Ausblicke, neuer Fernen, neuer Tiefen und Höhen, endlich, und nicht am Wenigsten: diese deutsche Jugend verehrt an Wagnern das Befehlerische, die Fähigkeit, lärmend zu kommandiren, auf sich allein zu stehen, auf sich allein zurückzuweisen, hartnäckig zu sich selber Ja zu sagen, und immer im Namen des “auserwählten Volks,” der Deutschen!—kurz, das Volkstribunenhafte und Demagogische an Wagner. Von welchem schlechten, ja abscheulichen Geschmacke diese ganze “Selbst-in-Scene-Setzung” Wagner’s ist, davon sehen solche begeisterte Jünglinge noch Nichts: die Jugend hat einmal das Recht zum schlechten Geschmack,—es ist ihr Recht. Will man aber kennen lernen, wohin die Unschuld und die unbedenkliche Bereitwilligkeit von Jünglingen durch einen alten umgetriebenen Rattenfänger geführt und verführt werden kann, so werfe man einen Blick auf jenen litterarischen Sumpf, aus welchem zuletzt der altgewordene Meister mit seinen “Jungen” zu singen liebt (ist “Singen” das rechte Wort?) ich meine die übel berufenen “Bayreuther Blätter.” Das ist wirklich ein Sumpf: Anmaaßung, Deutschthümelei und Begriffswirrwarr im trübsten Durcheinander, ein unausstehlicher Zucker “süßesten” Mitleidens darüber gegossen, dazwischen jene schon angedeutete Neigung für grüne Gemüse und jene zweckbewußte Salbung und Rührseligkeit zu Gunsten der Thiere, dicht neben dem ungeschminkten ächten und gründlichen Hasse auf die Wissenschaft und überhaupt der Verhöhnung und Beschmutzung alles dessen, was Wagnern im Wege steht und stand—wie stand seinem Einflusse die vornehmere Natur Mendelssohns, die reinere Natur Schumann’s im Wege!—dabei ein kluges Ausschielen nach neuen Hülfstruppen, ein “Entgegenkommen” nach der Seite mächtiger Parteien hin, zum Beispiel das vollends unsaubere Spielen und Äugeln mit christlichen Symbolen—Wagner, der alte Atheist, Antinomist und Immoralist, ruft sogar einmal salbungsvoll das “Blut des Erlösers” an!—im Ganzen die Frechheit eines alten dick-umräucherten Oberpriesters, der über alle erdenklichen gerade ihm gänzlich entzogenen und verbotenen Bereiche des Denkens seine dunklen Gefühle wie Offenbarungen verlautbart; und dies Alles in einem Deutsch, einem eigentlichen Sumpf-Deutsch der Unklarheit und Übertreibung, wie es vielleicht selbst von den “deutsch”-feindlichsten Schülern Hegel’s nicht erreicht worden ist!

8.

Vielleicht, daß nunmehr erst deutlich gemacht werden kann, wohin Wagner gehört: nämlich nicht in die große Reihe der Eigentlichen und Ächten höchsten Ranges, nicht an diesen olympischen “Hof der Höfe.” Vielmehr gebührt Wagnern ein ganz anderer Rang und eine ganz andere Ehre—und in der That, keine kleine und gemeine: Wagner ist eines von jenen drei Schauspieler-Genie’s der Kunst, von welchen die Menge in diesem Jahrhundert—und es ist ja das “Jahrhundert der Menge”!—beinahe erst den Begriff “Künstler” gelernt hat: ich meine jene drei wunderlichen und gefährlichen Menschen, Paganini, Liszt, Wagner, welche, fragwürdig in die Mitte gestellt zwischen “Gott” und “Affe,” ebenso sehr zum “Nachmachen” als zum Erfinden, zum Schaffen in der Kunst des Nachmachens selber vorherbestimmt waren, und deren Instinkt alles errathen hat, was zum Zweck des Vortrags, des Ausdrucks, der Wirkung, der Bezauberung, der Verführung ausfindig und ausgiebig gemacht werden kann. Als dämonische Mittler und Kunst-Interpreten wurden sie—und sind sie heute die Meister aller Künstler der Interpretation überhaupt: Jedermann  in diesen Kreisen hat von ihnen gelernt;—unter Schauspielern und ausübenden Spielleuten jeder Art wird man deshalb auch den Heerd und insgleichen die Herkunft des eigentlichen “Wagner-Cultus” zu suchen haben. Abgesehen aber von diesen Kreisen, denen man alles Recht zu ihrem Glauben und Aberglauben zusprechen darf, und im Hinblick auf die gesammte Erscheinung jener drei Schauspieler-Genies und ihren geheimsten und allgemeinsten Sinn komme ich bei mir nicht darüber hinweg, immer dieselbe Frage wieder aufzuwerfen: was sich in jenen Dreien scheinbar neu ausdrückt, ist das vielleicht doch nur der alte und ewige “Cagliostro,” nur neu verkleidet, neu in Scene gesetzt, “in Musik gesetzt,” in Religion gesetzt—wie es dem Geschmack des neuen Jahrhunderts—dem Jahrhundert der Menge, wie gesagt,—am besten entsprechen mag? Also nicht mehr wie der letzte Cagliostro als der Verführer einer vornehmen und ermüdeten Cultur, sondern—als demagogischer Cagliostro?— Und unsre Musik, mit deren Hülfe hier “gezaubert” wird:—was, ich bitte und frage euch, bedeutet unsere d[eutsche] M[usik]!

9.

— Dieser letzte Wagner, im Grunde ein zerbrochner und überwundener Mensch, der aber die große Schauspielerei nicht lassen konnte, dieser Wagner, der zuletzt gar noch von den “Entzückungen” sprach, die er dem protestantischen Abendmahle abzugewinnen wisse, während er zu gleicher Zeit mit seiner Parsifal-Musik allem eigentlich Römischen die Hände entgegenstreckte: dieser überallhin sich anbietende Schmeichler aller deutschen Eitelkeiten, Unklarheiten und Anmaaßungen,—dieser letzte Wagner sollte der letzte und höchste Gipfel unsrer Musik und der Ausdruck der endlich erreichten Synthesis der “deutschen Seele” sein, der Deutsche selber?— Es war im Sommer 1876, daß ich diesem Glauben bei mir abschwur; und damit begann jene Bewegung des deutschen Gewissens, von der sich heute immer ernstere, immer deutlichere Zeichen zu erkennen geben,—und der Rückgang der Wagnerei!

41 [3]

Es giebt nur Geburtsadel, nur Geblütsadel. (Ich rede hier nicht vom Wörtchen “von” und dem Gothaischen Kalender: Einschaltung für Esel.) Wo von “Aristokraten des Geistes” geredet wird, da fehlt es zumeist nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen; es ist bekanntermaaßen ein Leib-Wort unter ehrgeizigen Juden. Geist allein nämlich adelt nicht; vielmehr bedarf es erst etwas, das den Geist adelt.— Wessen bedarf es denn dazu? Des Geblüts.

41 [4]

Die deutsche Philosophie als Ganzes—Leibnitz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen—ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen,—ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überall hin, in alle Heimaten und “Vaterländer,” die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: Man muß sehr fein sein, sehr leicht, sehr dünn, um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von “Druck und Stoß,” von der mechanistischen Tölpelei der Naturwissenschaft, von dem Jahrmarkts-Lärme der “modernen Ideen”! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Alterthums, das Christenthum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werthurtheile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen—immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europa’s Herr geworden ist und welcher an dem großen “ungeistigen Menschen,” an Luther, seinen Anführer hatte:—In diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille, fortzufahren in der Entdeckung des Alterthums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor Allem der Vorsokratiker—, der best-verschütteten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urtheilen wird, daß alles deutsche Philosophiren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf “Originalität” kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnisse zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus “Mensch.” Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist, in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras, erfunden hat,—wir werden von Tag zu Tage griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Werthschätzungen, gleichsam als gräcisirende Gespenster: aber dereinst, hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!

41 [5]

Man schlägt ein weibliches Buch auf:—und bald seufzt man “wieder eine verunglückte Köchin!”

41 [6]

Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und Best-Gerathenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichthum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines “freien Wollens” und herrschaftlichen Verfügens in Einem Menschen liebreich bei einander, der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und Alles, was nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt!—man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde, giebt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgerathenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichniß-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes “Gott ist ein Geist”: wobei sich klar heraus stellt, daß der Asket “der mißrathene Mensch” ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurtheilende Etwas, gut heißt—und “Gott” heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Thiere: diese ganze lange ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimniß eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit—mit dem Götternamen: Dionysos.— Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen vielfachen kranken seltsamen Mutter, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der “modernen Ideen” ein Recht zu dionysischen Feiern!

41 [7]

Als der griechische Leib und die griechische Seele “blühte,” und nicht etwa in Zuständen krankhafter Überschwenglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnißreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung. Hier ist ein Maaßstab gegeben, an dem Alles, was seitdem wuchs, als zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird:—man spreche nur das Wort “Dionysos” vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa, oder vor Beethoven, oder vor Shakespeare, oder vor Raffael: und auf Ein Mal fühlen wir unsre besten Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter!— Hat man mich verstanden?— Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die letzten Geheimnisse “vom Schicksale der Seele” und Alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor Allem über die unverrückbare Rangordnung und Werth-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große Tiefe, das große Schweigen,—man kennt die Griechen nicht, so lange hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche Gelehrten-Augen werden niemals etwas von diesen Dingen sehen, so viel Gelehrsamkeit auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß—; selbst der edle Eifer solcher Freunde des Alterthums, wie Goethens und Winckelmanns, hat gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten, in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abthun—denn die christliche Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische—; den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnißvollen Himmel des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer—denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen—: und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unsererneuen Welt”:—wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben—ein neuer Tag!

41 [8]

Den deutschen Bildungs-Zuständen habe ich in jungen Jahren den Krieg erklärt und brav dabei meinen Degen geführt: anders geht es nicht. Die Weiber fort, auch die männlichen Weiber und Zärtlinge! das versteht nichts vom Kriege und jammert sich halbtodt über einen vergossenen Blutstropfen. Man rückt mir vor, ich hätte früher den alten David Strauß “umgebracht”? Ich werde wohl noch andere Menschenleben auf dein Gewissen haben—aber so bringt es Krieg und Sieg mit sich. Ein Ding, das zum Sterben reif ist: wozu dergleichen noch künstlich pflegen, schonen und einwickeln? An den deutschen Bildungs-Zuständen aber will nichts geschont sein: das ist “reif.”

41 [9]

Vorrede.

Wer die Begierden einer hohen und wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr ist heute keine geringe. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch “zugreift”—, vor Ekel zu Grunde gehn. Dies war die Gefahr meiner Jugend, einer ungesättigten, sehnsüchtigen, vereinsamten Jugend; und die Gefahr kam auf die Höhe, als ich eines Tages begriff, was für Speisen ich zuletzt doch mir zugeführt, und wozu mich der ungestüme Hunger und Durst meiner Seele verlockt hatte. Es war im Sommer 1876. Damals stieß ich, wüthend vor Ekel, alle Tische von mir, an denen ich bis dahin gesessen hatte, und ich gelobte mir, lieber zufällig und schlecht, lieber von Gras und Kraut und unterwegs, wie ein Thier, lieber gar nicht mehr zu leben als meine Mahlzeiten mit dem “Schauspieler-Volk” und den “höheren Kunstreitern des Geistes”—solche harte Ausdrücke gebrauchte ich damals—zu theilen:—denn ich schien mir unter lauter Cagliostros und unächte Menschen gerathen zu sein, und zürnte und tobte darüber, dort geliebt zu haben, wo ich hätte verachten sollen.

Nachdem ich endlich ruhiger geworden war, obschon durchaus nicht billiger und versöhnlicher, löste ich mich langsam und ohne Unart aus meiner bisherigen “Gesellschaft” und gieng auf die Wanderschaft,—krank, lange Jahre krank. Eine große, immer größere Loslösung—denn philosophische Menschen treiben das Einzelne gern ins Allgemeine—eine willkürliche “Entfremdung” war in jener Zeit meine einzige Labsal: ich prüfte Alles, woran sich bis dahin überhaupt mein Herz gehängt hatte, ich drehte die besten und verehrtesten Dinge und Menschen um und sah mir ihre Kehrseite an, ich that das Umgekehrte mit Allem, woran sich bisher die menschliche Kunst der Verleumdung und Verlästerung am besten geübt hat. Es war ein böses Spiel: ich war oft krank daran,—aber mein Entschluß blieb stehen. Ich “zerbrach mein verehrendes Herz” selber und sah mir noch seine gebrochenen Stücke und deren Kehrseiten an,—nicht ohne vielerlei neue Lust und Neugierde: denn man ist in dem Grade grausam als man der Liebe fähig ist. Endlich kam ich, Schritt vor Schritt, zu der letzten Forderung meiner innewendigen Härte: ich setzte mir die beste Miene zu meinem bösen Spiele auf, lachte allen “Pessimismus” bei mir aus und wehrte mich boshaft gegen jeden Schluß, an dem Krankheit und Einsamkeit einen Antheil haben könnten:—“vorwärts, sagte ich mir, eines Tags wirst du gesund sein, heute genügt es, sich gesund zu stellen! Der Wille zur Gesundheit ist schon das allerbeste Heilmittel!”

Darauf machte ich zum ersten Male meine Augen auf—und sah alsbald viele Dinge und viele Farben der Dinge, wie sie ängstliche Eckensteher und um sich besorgte Geister, die immer zu Hause geblieben sind, niemals zu sehen bekommen. Eine Art Vogel-Freiheit, eine Art Vogel-Umblick, eine Art Mischung von Neugierde und Verachtung, wie sie Jeder hat, der unbetheiligt ein ungeheures Vielerlei übersieht—das war endlich der erreichte neue Zustand, mit dem ich es lange aushielt. Ein “freier Geist” und nichts mehr: so fühlte, so nannte ich mich damals; und ich war wirklich das Gegenstück derer geworden, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn,—mich giengen lauter Dinge an, die mich nicht mehr—“bekümmerten.”

Dies waren Jahre der Genesung: vielfältige Jahre voll bunter und schmerzlich-zauberhafter Begebnisse, von denen die Gesunden, die Vierschrötigen des Geistes eben so wenig Etwas begreifen und riechen dürften als die Krankhaften, die Verurtheilten, die zum Tode und nicht zum Leben Vorherbestimmten. Damals hatte ich “mich” noch nicht gefunden: aber ich war tapfer unterwegs nach “mir” und prüfte tausend Dinge und Menschen, an denen ich vorbei kam, ob sie nicht zu “mir” gehörten oder Etwas mindestens von “mir” wüßten. Welche Überraschungen gab es dabei! Welche Schauder! Welche kurze kleine Winkel des Glücks! Welches Ausruhen in der Sonne! Welche Zärtlichkeiten! Und immer wieder diese harte innere Stimme, welche befahl: “fort von hier! Vorwärts, Wanderer! Es sind noch viele Meere und Länder für dich übrig: wer weiß, wem Alles du noch begegnen mußt?”

Daß ich es also dankbar eingestehe: es sind mir damals, als ich die Regel “Mensch” zu studiren begann, seltsame und nicht ungefährliche Geister, mitunter sogar sehr freie Geister begegnet und über den Weg gelaufen,—und vor Allem Einer, und dieser immer wieder, kein Geringerer als der Gott Dionysos selber:—derselbe, dem ich einst, in viel jüngeren Jahren ein ehrfürchtiges und unschuldiges Opfer dargebracht hatte. Vielleicht finde ich noch einmal Muße und Stille genug, um meinen Freunden Alles, was ich von der Philosophie des Gottes Dionysos behalten habe, zu erzählen. mit halber Stimme, wie billig,—denn es handelt sich um vieles Heimliche, und manches Unheimliche. Daß aber Dionysos ein Philosoph ist und daß also auch Götter philosophiren, dünkt mich jedenfalls ein wichtiger und der sorgsamsten Mittheilung würdiger Umstand, welcher nichts gegen sich hat, außer daß er vielleicht nicht zur rechten Zeit bekannt wird: denn man glaubt heute ungern an Götter. Vielleicht, daß ich auch in der Freimüthigkeit meiner Erzählung etwas weiter gehen müßte, als den strengen Ohren meiner Freunde immer liebsam sein mag. Gewiß ist, daß der genannte Gott bei unseren Zwiegesprächen weiter gegangen ist und immer um einige Schritt mir voraus war: er liebt das Weitgehen! Ja, ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch, schöne heuchlerische Prunk- und Tugend-Namen beizulegen, viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit allem diesem schönen Plunder und Prunk weiß ein solcher Gott nichts anzufangen. “Behalte dies, würde er sagen, lieber für dich und deines Gleichen, und wer sonst es nöthig hat! Ichhabe keinen Grund, meine Blöße zu decken.”

Man sieht, es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen etwas an Scham. So sagte er gleich bei unserer ersten Unterredung zu mir: “unter Umständen liebe ich den Menschen—und dabei spielte er auf Ariadne an—: es ist ein angenehmes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache als er ist.”— Stärker, böser und tiefer? fragte ich erschreckt. “Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer: auch schöner”—und dazu lächelte der Gott, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham—; und es giebt überhaupt gute Gründe dafür, zu muthmaaßen, daß in einigen Stücken die Götter insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehen könnten. Wir sind menschlicher.

Und hiermit sind wir angelangt und am rechten Orte: nämlich am Ende. Denn man wird bereits sattsam begriffen haben, was es heißen soll: “Menschliches, Allzumenschliches.” Und warum dieses Buch “ein Buch für freie Geister” ist.

2.

Was an diesem Titel die Worte “Menschliches, Allzumenschliches” bedeuten sollen, habe ich schon zu verstehn gegeben—zum Mindesten für solche, die feine Ohren haben. Was aber in aller Welt dachte ich mir damals unter “freien Geistern,” nach denen ich den Angelhaken meines Buches auswarf? Es scheint, ich wünschte mir—Gesellschaft?

41 [10]

— — — Darum kann ich die drei Glücksfälle meines Lebens nicht genugsam preisen, welche zur rechten Zeit noch ausglichen, worin ich etwa durch eine ungesättigte, sehnsüchtige und vereinsamte Jugend zu Schaden gekommen war. Das Erste war, daß ich zeitig in jungen Jahren eine achtbare und gelehrte Beschäftigung fand, welche mir erlaubte, mich in der Nähe der Griechen heimisch zu machen: wenn man mir diesen unbescheidnen aber deutlichen Ausdruck nachsehen will. Solchermaaßen bei Seite gerückt und auf das Beste unterhalten brachte ich [es] nicht leicht über mich, über Etwas, das sich heute begiebt, heftig zu zürnen. Dazu kam, daß ich einem Philosophen ergeben war, der auf eine tapfere Art allem Gegenwärtigen zu widersprechen wußte, ohne doch durch ein Übermaaß von Verneinung die Ehrfurcht selber bei seinem Schüler zu entwurzeln. Endlich bin ich von Kindesbeinen an ein Liebhaber der Musik und auch jeder Zeit guten Musikern selber Freund gewesen: dies Alles zusammen ergab, daß ich wenig Grund hatte, mich um die heutigen Menschen zu kümmern:—denn die guten Musiker sind alle Einsiedler und außer der Zeit.

Ich war schon über die zwanziger Jahre hinaus, als ich dahinter kam, daß mir die Kenntniß der Menschen fehlte. Ist es denn wahrscheinlich, daß Jemand zum Menschenkenner werden könne, der seinen Sinn weder auf Ehren, noch auf Ämter, noch auf Geld, noch auf Weiber ernstlich gerichtet hat und die längsten Stücke jedes Tages mit sich allein verbringt? Hier gäbe es mancherlei Anlaß zu spotten, wenn es nicht wider den guten Geschmack wäre, daß der Urheber eines Buches dessen Vorrede dazu mißbraucht, über sich selber zu spotten. Genug, ich fand Gründe und immer mehrere und bessere Gründe, meinem Lobe wie meinem Tadel gründlich zu mißtrauen; zugleich erwachte eine heftige und plötzliche Neugierde nach “dem Menschen: kurz, ich beschloß, in eine harte und lange Schule zu gehen.

41 [11]

“Denken” im primitiven Zustande (vor-organisch) ist Gestalten-Durchsetzen, wie beim Crystalle.— In unserem Denken ist das Wesentliche das Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata (= Prokrustesbett), das Gleich-machen des Neuen.

41 [12]

Schluß von I.

Ich sehe neue Philosophen heraufkommen. So wie ich euch kenne, meine Freunde, ihr freien Geister, so fliegen unter euch auch diese “Kommenden,” schöne, stolze Vögel!— ich — — —

41 [13]

— — — Was aber den angeführten Imperativ des deutschen Instinkts betrifft, welcher gebietet: “Keine neuen Juden mehr! Und die Thore nach dem Osten zu geschlossen halten!”—so dürfte die kluge Erwägung den deutschen Juden selber zu einer derartigen “Grenz-regulirung” rathen: ihre Aufgabe, in das deutsche Wesen hineinzuwachsen und zu einem deutscheren Typus des Ausdrucks und der Gebärde, endlich der “Seele” zu gelangen—denn dies ist der Gang, von Außen nach Innen, vom “Schein” zum “Sein”—darf nicht immer wieder durch die schauerliche und verächtliche Häßlichkeit neu einwandernder polnischer und russischer, ungarischer und galizischer Juden ins Unlösbare zurückgeschoben werden. Hier ist der Punkt, wo die Juden auch ihrerseits zu handeln, nämlich sich “Grenzen zu setzen” haben:—der einzige und letzte Punkt, in dem jüdischer und deutscher Vortheil sich noch zu einem gemeinsamen Vortheile ausgleichen könnte: aber freilich, es ist Zeit, ja die höchste Zeit!

41 [14]

Es gab bisher auch noch keine Deutsche Cultur. Gegen diesen Satz ist es kein Einwand, daß es in Deutschland große Einsiedler gab—Göthe z. B.: denn diese hatten ihre eigene Cultur. Gerade aber um sie herum, gleichsam wie um mächtige trotzige vereinsamt hingestellte Felsen, lag immer das übrige deutsche Wesen als ihr Gegensatz, nämlich wie ein weicher mooriger unsicherer Grund, auf dem jeder Schritt und Tritt des Auslandes “Eindruck” machte und “Formen” schuf: die “deutsche Bildung” war ein Ding ohne Charakter, eine beinahe unbegrenzte Nachgiebigkeit.

41 [15]

— ich lachte ein armes anmaaßliches moderiges Buch öffentlich zu Tode, in das sich die “deutsche Bildung” vernarrt hatte,—nun, man kann auf Erden noch manchen gefährlicheren Gebrauch von seinem Gelächter machen! Vielleicht habe ich selbst unversehens dabei einen alten Mann, den alten würdigen David Strauß, virum optime meritum, “umgebracht”?—man giebt es mir zu verstehen. Aber so bringt es Krieg und Sieg mit sich; und ich will mit gutem Gewissen noch ganz andre Menschenleben einmal “auf dem Gewissen” haben! Nur die Weiber fort, auch die männlichen Klage-Weiber und Zärtlinge! Das versteht nichts vom Kriegs-Handwerk und jammert sich halbtodt über jeden “Mangel an Schonung.” Damit etwas Andres anfangen könne, muß man hier erst ein Ende machen: ich hoffe doch, daß man—mich hier—versteht? An der “deutschen Bildung” aber will nichts mehr geschont sein: hier muß man seiner selbst nicht schonen und endlich ein Ende machen—oder Etwas Anderes kann gar nicht anfangen

41 [16]

Die Deutschen sind tief.
der christliche Europäer.
der deutsche Geist
jener unbedenkliche Enthusiast.
die Demagogen in der Kunst.
Vom Rückgange der Wagnerei.
Wie wenig der deutsche Stil
die Juden
Ranke, der beschönigende Advokat der Thatsache

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel