From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel
 
English Translation
Concordance between
The Will to Power
and KSA
Home

COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel.

April—Juni 1885 34 [1-100]

34 [1]

Gai saber.
Selbst-Bekenntnisse.
Von
Friedrich Nietzsche.

S[elbst-Bekenntnisse]: Im Grunde ist mir das Wort zu feierlich: ich glaube bei mir weder an das Bekennen noch an das Selbst.

Im Grunde ist das Wort mir zu feierlich: wollte ich das Buch aber so nennen, wie es mir besser gefiele, “500 000 Meinungen,” so würde es meinen Lesern zu possenhaft klingen. In Rücksicht also auf meine Leser — — —

Hohe Erziehung.

Die höchste Erziehung.

Gedanken über die Philosophen der Zukunft.

Vermuthungen über die Ph[ilosophen] der Zukunft.

34 [2]

Ich werde Jahr für Jahr offenherziger, in dem Maaße, in welchem mein Blick für dieses neunzehnte Jahrhundert, für dies Jahrhundert der großen mor[alischen] Tartüfferie, tiefer und tiefer wird: ich finde immer weniger Gründe, heute—hinter dem Berge zu halten. Welche Meinungen könnten heute gefährlich sein! wo nichts mehr “in tiefe Brunnen” fällt! Und wären sie gefährlich und zerstörerisch: es ist wünschenswerth daß Vieles umfällt, damit Vieles gebaut werden muß

34 [3]

In meiner Jugend hatte ich Unglück: es lief mir ein sehr zweideutiger M[ensch] über den Weg: als ich ihn als das erkannte, was er ist, nämlich ein großer Schauspieler, der zu keinem Ding ein ächtes Verhältniß hat  (selbst  zur  Musik  nicht): war  ich  so  angeekelt  und  krank, daß  ich  glaubte, alle  berühmten  M[enschen] seien Schauspieler gewesen sonst wären sie nicht berühmt geworden, und an dem, was ich “Künstler” nannte, sei eben das Hauptsächliche die schauspielerische Kraft.

34 [4]

Wie verkleidet hatte ich das zum Vortrag gebracht, was ich als “dionysisch” empfand! Wie gelehrtenhaft und eintönig, wie bei weitem nicht gelehrt genug, um auch nur die Wirkung hervorzubringen, einigen Generationen von Philologen ein neues Feld der Arbeit zu eröffnen! Dieser Zugang zum Alterthum ist nämlich am besten verschüttet; und wer sich eingebildet hat, besonders über die Griechen weise zu sein, Goethe z. B. und Winckelmann, hat von dorther nichts gerochen. Es Scheint, die griechische Welt ist hundertmal verborgener und fremder, als sich die zudringliche Art heutiger Gelehrten wünschen mag. Wenn hier je erkannt werden soll, so gewiß nur das Gleiche durch das Gleiche. Und wiederum—nur Erlebnisse aus aufspringenden Quellen—die geben auch jenes neue große Auge, das Gleiche in der vergangenen Welt wiederzuerkennen.

34 [5]

NB. Die größten Ereignisse gelangen am schwersten den Menschen zum Gefühl: z. B. die Thatsache, daß der christliche Gott “todt ist,” daß in unseren Erlebnissen nicht mehr eine himmlische Güte und Erziehung, nicht mehr eine göttliche Gerechtikeit, nicht überhaupt eine immanente Moral, sich ausdrückt. Das ist eine furchtbare Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte bedarf, um den Europäern zum Gefühl zu kommen: und dann wird es eine Zeitlang scheinen, als ob alles Schwergewicht aus den Dingen weg sei. —

34 [6]

Ich habe mich durch das glänzende Erscheinen des deutschen Reichs nicht täuschen lassen. Ich nahm als Hintergrund, als ich meinen Zarathustra schrieb, einen Zustand in Europa, bei dem auch in Deutschland dasselbe schauerliche und schmutzige Parteitreiben herrscht, welches wir heute schon in Frankreich finden.

34 [7]

Hat man je schon einem Weibskopfe “Tiefe” zugestanden? Ich habe vor keinem Weibskopfe bisher Respekt gehabt. D’Epinay im Vergleich mit Galiani! [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Tomes 1-2. Paris: G. Charpentier, 1882.]

Und Gerechtigkeit,—ist jemals diese — — —

34 [8]

Die Italiäner allein in der blutigen Satire ächt und ursprünglich. Von Buratti an, der dem Genie Byron die entscheidende Wendung gab. Selbst an Carducci ist nichts, was nicht Deutsche oder Franzosen besser gemacht hätten. [Vgl. Stendhal, Correspondance inédites. Précedée d'une introduction par Prosper Mérimée de l'Academie française. Ornée d'un beau portrait de Stendhal. Paris: Michel Lévy frères, 1855:73f. Vgl. Hippolyte Taine, Geschichte der englischen Literatur. Deutsche Ausgabe bearbeitet von L. Katscher und G. Gerth. Bd. 3. Die Neuzeit der englischen Literatur. Bearbeitet von Gustav Gerth. Leipzig: Ernst Julius Günther Nachf. (Druck von Bär und Herrmann, Leipzig), 1880:136.]

34 [9]

Ich kenne mich nicht: die Aufforderung zur Selbst-Erkenntniß scheint mir ein göttlicher Spaaß oder eine griechische Kinderei (niaiserie): sie sind reich daran!— Hat Einer aber über 500 Dinge seine Meinungen gesagt, so ist es möglich, daß Andere ihn “erkennen.” Wohlan!

34 [10]

Affectation der “Wissenschaftlichkeit” z. B. “Femininisme,” aber auch: deutscher Zeitschriften-“Revuen-Styl”

34 [11]

Unsere Zeit zehrt und lebt von der Moralität früherer Zeiten.

34 [12]

Pascal beleidigt durch die Vorstellung daß das Wetter, daß helle und heitere Himmel auf ihn Einfluß habe. Jetzt—ist die Theorie des Milieu am bequemsten! alles übt Einfluß, das Resultat ist der Mensch selber. [Vgl. Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe: aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's; in zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Th. 1. Leipzig: Wigand, 1865:193.]

34 [13]

Dinge, mit denen mein Magen schlecht oder gar nicht fertig wird: Kartoffeln, Schinken, Senf, Zwiebeln, Pfeffer, alles in Fett gebackene, Blätterteig, Blumenkohl, Kohl, Salat, alle geschmälzten Gemüse, Wein, Würste, Buttersauce am Fleisch, Schnittlauch, frische Brotkrume, alles gesäuerte Brod

Alles auf dem Rost Gebratene, alles Fleisch saignant, Kalb, Rostbeef, Gigot, Lamm, Eidotter [und] Milch auch Schlagsahne, Reis, Gries, gekochte warme Äpfel, grüne Erbsen Bohnen Carotten Wurzeln Fisch, frische Butter braune Weiß-Brodkruste.

34 [14]

Die Art offener und herzhafter Vertraulichkeit, wie man sie heute, in einem demokratischen Zeitalter, nöthig hat, um beliebt und geachtet zu sein—kurz das, worauf hin man heute als “rechtschaffener Mensch” behandelt wird: das giebt einem Moralisten viel zu lachen. Alle tiefen Menschen genießen hier ihre Art Erleichterung; es macht so viel Vergnügen, Komödie zu spielen und — — —

34 [15]

Die Alten lasen laut.

34 [16]

Unter unmäßigen Menschen, z.B. engländischem Pöbel, gewinnt natürlich die Lehre der Enthaltsamkeit ungeheure Kraft. Unter Mäßigen ist sie eine Sache zum Lachen.

34 [17]

Dionysisch. Welche unglückliche Schüchternheit, von einer Sache als Gelehrter zu reden, von der ich hätte als “Erlebter” reden können. Und was geht den, der zu dichten hat, die “Ästhetik” an! Man soll sein Handwerk treiben, und die Neugierde zum Teufel jagen!

34 [18]

Das XX. Jahrhundert.

Der Abbé Galiani sagt einmal — — — da ich nun durchaus nicht die unkriegerischen Ansichten meines verstorbenen Freundes Galiani theile, so fürchte ich mich nicht davor, Einiges vorherzusagen und also, möglicherweise, damit die Ursache von Kriegen heraufzubeschwören. [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vols. 1-2. Paris: G. Charpentier, 1882. Vol. 1:387. Vol. 2:554f. "La prévoyance est la cause der guerres actuelles de l'Europe. Si l'on voulait se donner la peine de ne rien prévoir, tout le monde serait tranquille, et je ne crois pas qu'on serait plus malheureux parce qu'on ne ferait pas la guerre."]

34 [19]

Eine ungeheure Besinnung, nach dem schrecklichsten Erdbeben: mit neuen Fragen.

34 [20]

NB. Die vorletzten Jahrhunderte lehnten die Gothik als eine Barbarei ab (der Gothe war damals synonym mit dem Barbaren): das vorletzte Jahrhundert lehnte Homer ab. Darin liegt ein Geschmack: ein starker Wille zu seinem Ja und seinem Nein.— Die Fähigkeit, Homer wieder genießen zu können, ist vielleicht die größte Errungenschaft des europäischen Menschen,—aber sie ist theuer genug bezahlt.

34 [21]

Baudelaire, ganz deutsch bereits, eine gewisse hyper-erotische Ankränkelung abgerechnet, welche nach Paris riecht

34 [22]

Taine, der die Kühnheit der Erfindung hatte, zwischen Hegel und Henri Beyle das Typische zu finden, seine Methode, welche wesentlich heißt: die Geschichte kann nur durch Begriffe begriffen werden; die Begriffe aber muß der historische Mensch schaffen: und die Geschichte, wo es nur 4, 5 Faktoren giebt, ist am begreiflichsten.

34 [23]

die Maskerade des bourgeois, z. B. als Salambô und als heiliger Antonius

34 [24]

Manche, im Grunde flache und leichte Wesen—Völker sowohl wie Einzelne—haben ihre schätzenswerthesten und höchsten Augenblicke, wenn sie einmal, zu ihrer Verwunderung, schwer und schwermüthig werden. Ebenso ist vielleicht für das Vieh von Pöbel, welches ehemals im englischen Puritanismus oder heute als englische Heils-Armee moralisch zu grunzen anfieng—der Bußkrampf ihre höchste Leistung von “Humanität”; das soll man billig anerkennen. —

Aber Andere werden höher, wenn sie leichter werden! Es ist kein Zweifel: wenn eine Art Mensch ganze Geschlechter hindurch als Lehrer Ärzte Seelsorger und Vorbilder gelebt hat, und ohne beständig nach Geld oder Ehre oder Stellungen auszublicken: so entsteht endlich ein höherer feinerer und geistigerer Typus. Insofern ist der Priester, vorausgesetzt daß er sich durch kräftige Weiber fortpflanzt, eine Art der Vorbereitung für die einstmalige Entstehung höherer Menschen.

34 [25]

Solche dogmatische Menschen wie Dante und Plato sind am fernsten und vielleicht dadurch am reizvollsten: die in einem zurechtgezimmerten und festgeglaubten Hause der Erkenntniß wohnen. Der Erste in seinem eigenen, der Andere im christlich-patristischen.

Es gehört eine ganz verschiedene Kraft und Beweglichkeit dazu, in einem unvollendeten System, mit freien unabgeschlossenen Aussichten, sich festzuhalten: als in einer dogmatischen Welt. Leonardo da Vinci steht höher als Michelangelo, Michelangelo höher als Rafael.

34 [26]

Man lobt unter den Gebildeten von Heute (welche alle pro pudor! Zeitungen lesen) die tiefen Menschen. Aber was dürften die, welche tiefe Menschen zu loben im Stande sind, selber von der Tiefe wissen!— Es sind gefährliche Menschen: daran ist gar nicht zu zweifeln. Man pflegt doch sonst die Abgründe nicht zu loben!

34 [27]

Briefe
an einen philosophischen Freund
.
Bei Gelegenheit
von Also sprach Zarathustra.
Von
Friedrich Nietzsche.

34 [28]

Aberglaube: an das Seiende zu glauben, an das Unbedingte, an den reinen Geist, an die absolute Erkenntniß, an den absoluten Werth, an das Ding an sich! In diesen Ansätzen steckt überall eine contradictio.

34 [29]

Skeptische Einreden.

34 [30]

Die Wahrnehmung der Sinne geschieht uns unbewußt: alles, was uns bewußt wird, sind schon bearbeitete Wahrnehmungen

34 [31]

Die große Loslösung macht er für sich—nicht, daß er sie von Anderen verlangt oder gar seine Pflicht drin sähe, sie Anderen mitzutheilen und aufzudringen

34 [32]

Die große Ebbe seit Jahrtausenden in der Erfindung von Werthen

34 [33]

Die Gesetzgeber der Zukunft.
1. Die Herkunft
2. Der gebundenste Geist.
3. Die grosse Loslösung.
4. Das Leiden am Menschen.
5. Der neue Wille.
6. Der Hammer.

34 [34]

Acedia bei mir—umgekehrt wie bei den Mönchen. Ich ärgere mich über das übergroße Mitleiden bei mir: ich freue mich, wenn mein ego wach und guter Dinge ist. [Vgl. Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l'influence française. Paris: Cerf, 1885:18f.]

34 [35]

1. Abälard wollte in die kirchliche Autorität Vernunft bringen: schließlich fand Descartes, daß alle Autorität nur in der Vernunft sei.

2. Die Selbst-Überwindung der Vernunft inneres Problem Pascals—zu Gunsten des christlichen “Glaubens.”
[Vgl. Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l'influence française. Paris: Cerf, 1885:49.]

34 [36]

Das Problem des “Glaubens” ist eigentlich: ob der Instinkt mehr Werth hat als das Räsonnement, und warum!

Unter den vielen Streiten über “Wissen und Glauben,” Util[itarismus] und Intuitionismus verbirgt sich diese Frage der Werthschätzung.

Socrates hatte sich naiv auf Seiten der Vernunft gestellt, gegen den Instinkt. (Im Grunde aber war er doch allen moralischen Instinkten gefolgt, nur mit einer falschen Motivirung: als ob die Motive aus der Vernunft kämen. Ebenso Plato usw.)

Unwillkürlich suchte Plato, daß die Vernunft und der Instinkt dasselbe wollen. Ebenso bis auf heute Kant, Schopenhauer, die Engländer.

Im “Glauben” ist der Instinkt des Gehorsams gegen die höchste Autorität vorangestellt, also Ein Instinkt. Der kategorische Imperativ ist ein gewünschter Instinkt, wo dieser Instinkt und die Vernunft Eins sind.

34 [37]

Kant, ein feiner Kopf, eine pedantische Seele

34 [38]

NB. Man vergebe mir diese anmaaßliche Behauptung: genau weil ich eine höhere und tiefere, auch wissenschaftlichere Auffassung des Weibes habe, als die Emancipatoren und Emancipatricen desselben, wehre ich mich gegen die Emancipation: ich weiß besser, wo ihre Stärke ist, und sage zu ihnen: “sie wissen nicht, was sie thun.” Sie lösen ihre Instinkte auf! mit ihren jetzigen Bestrebungen.

34 [39]

Bentham und der Utilitarismus ist abhängig von Helvétius—der ist das letzte große Ereigniß der Moral. In der deutschen Philosophie (Kant Schopenhauer) ist es immer noch “Pflicht” oder “Instinkt des Mitleidens”—die alten Probleme seit Sokrates (d. h. Stoicismus oder Christenthum, Aristokratie des Individuums oder Heerden-Güte)

34 [40]

Ich brauche

a) Jemanden, der meinen Magen überwacht
b) Jemanden, der mit mir lachen kann und einen ausgelassenen Geist hat.
c) Jemanden, der stolz auf meine Gesellschaft ist u[nd] “der Andere” auch die richtige façon des Respekts gegen mich erhält
d) Jemanden, der mir vorliest, ohne ein Buch zu verdummen

34 [41]

Plaire—das große Geheimniß des französischen Willens, und im Grunde der Heerden-Moral. “Mitleid-haben,” Altruismus, ist die hypokritische Ausdrucksweise dafür. [Vgl. Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l'influence française. Paris: Cerf, 1885:178.]

34 [42]

NB. Bisher gehörten die meisten Künstler (eingerechnet die Historiker), selbst einige der größten, unter die Bedienten (sei es von Ständen oder Fürsten oder Frauen oder “Massen”), nicht zu reden von ihrer Abhängigkeit von Kirche und Moralgesetz. So hat Rubens die vornehme Welt seiner Zeit porträtirt, aber nach einem ihr vorschwebenden Geschmack, nicht nach seinem Maaß der Schönheit,—im Ganzen also wider seinen Geschmack. Darin war van Dyk vornehmer: welcher allen denen, die er malte, etwas von dem beilegte, was er selber bei sich am höchsten ehrte: er stieg nicht hinab, sondern zu sich herauf, wenn er “Wiedergab.”

Die sklavische Unterthänigkeit des Künstlers vor seinem Publikum (wie sie selbst Sebastian Bach in unsterblich beleidigenden Worten dem Widmungsschreiben seiner Hohen Messe anvertraut hat) ist aus der Musik heraus vielleicht schwerer zu erkennen, aber sie steckt um so tiefer und gründlicher darin. Man würde es nicht aushalten, mir zuzuhören, wenn ich hierüber meine Beobachtungen mittheilen wollte.

34 [43]

[Vgl. Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l'influence française. Paris: Cerf, 1885:183, 248 f.]

NB. Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der französischen Revolution reichlich präludirt und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, im Ganzen also das Übergewicht der Heerde über alle Hirten und Leithämmel, bringt mit sich

 1) Verdüsterung des Geistes: Das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Culturen eigen ist, nimmt ab: man läßt viel Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg.

2) die moralische Hypokrisie, eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Heerden-Tugenden Mitleid Fürsorge Wohlthaten, welche nicht außer dem Heerden-Vermögen erkannt und gewürdigt zu werden [pflegen]

3) die wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude, das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Heerden haben—“Gemeinsinn,” “Vaterland,” alles, wo das Individuum nicht in Betracht kam

34 [44]

Diderot zeigte sich, nach Goethe’s Urtheil, wahrhaft deutsch (Saint Ogan p. 248) in Allem, was die Franzosen tadelten. [Vgl. Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l'influence française. Paris: Cerf, 1885:248.] Aber auch die Neapolitaner, nach Galiani, acceptirten seinen Geschmack vollständig. [Vgl. Lefebvre Saint-Ogan, Essai sur l'influence française. Paris: Cerf, 1885:194.]

34 [45]

Baudelaire, von deutschem Geschmack, wenn ihn irgend ein Pariser haben kann, empfindet deutsch, wenn er Victor Hugo nicht aushält und ihn einen “Esel von Genie” nennt. [Vgl. Charles-Augustin Sainte-Beuve, Les Cahiers suivis de queleques pages de littérature antique. Paris: 1876:36.]

34 [46]

Wenn ich etwas von einer Einheit in mir habe, so liegt sie gewiß nicht in dem bewußten Ich und dem Fühlen Wollen Denken, sondern wo anders: in der erhaltenden aneignenden ausscheidenden überwachenden Klugheit meines ganzen Organismus, von dem mein bewußtes Ich nur ein Werkzeug ist.— Fühlen Wollen Denken zeigt überall nur Endphänomene, deren Ursachen uns gänzlich unbekannt sind: das Aufeinanderfolgen dieser Endphänomene, wie als ob eines aus dem anderen folgte, ist wahrscheinlich nur ein Schein: in Wahrheit mögen vielleicht die Ursachen solchergestalt an einander gebunden sein, daß die End-Ursachen nur den Eindruck logischen oder psychologischen Verbandes machen. Ich leugne, daß ein geistiges oder seelisches Phänomen direkte Ursache ist von einem anderen geistigen oder seelischen Phänomen: ob es gleich so scheint. Die wahre Welt der Ursachen ist uns verborgen: sie ist unsäglich complicirter. Der Intellekt und die Sinne sind ein vor allem vereinfachender Apparat. Unsere falsche, verkleinerte, logisirte Welt der Ursachen ist aber die Welt, in welcher wir leben können. Wir sind soweit “erkennend,” daß wir unsere Bedürfnisse befriedigen können.



Das Studium des Leibes giebt einen Begriff von den unsäglichen Complikationen.

Wenn unser Intellekt nicht einige feste Formen hätte, so wäre nicht zu leben. Aber damit ist für die Wahrheit aller logischen Thatsachen nichts bewiesen.

34 [47]

Die listige Selbst-Verkleinerung des Socrates, um damit seinen Gegner arglos und sicher zu machen, so daß er sich gehn läßt und gerade heraus sagt, was er denkt: ein Kunstgriff des Pöbel-manns! Die Logik war nicht zu Hause in Athen.

34 [48]

NB. Etwas hellerer Kopf und etwas guter Wille: und man hält es nicht mehr aus, aus Gründen des Geschmacks, seine Erlebnisse “zu Ehren Gottes” zurecht zu deuten, ich meine, überall die Spuren seiner Fürsorge, Warnung, Bestrafung, Erziehung zu sehn. Ebenso wie ein guter Philologe (und überhaupt jeder philologisch geschulte Gelehrte) einen Widerwillen gegen falsche Text-Ausdeutungen (z. B. die der protestantischen Prediger auf den Kanzeln—weshalb die gelehrten Stände nicht mehr in die K[irche] gehn—) hat, ebenso, und nicht infolge großer “Tugend” “Redlichkeit” usw., geht einem die Falschmünzerei der religiösen Interpretation aller Erlebnisse gegen den Geschmack.—

34 [49]

Unsere Lust an Einfachheit, Übersichtlichkeit, Regelmäßigkeit, Helligkeit, woraus zuletzt ein deutscher “Philosoph” so etwas wie einen kategorischen Imperativ der Logik und des Schönen entnehmen könnte—davon gestehe ich einen starken Instinkt als vorhanden zu. Er ist so stark, daß er in allen unseren Sinnesthätigkeiten waltet und uns die Fülle wirklicher Wahrnehmungen (der unbewußten—) reduzirt, regulirt, assimilirt usw. und sie erst in dieser zurechtgemachten Gestalt unserem Bewußtsein vorführt. Dies “Logische,” dies “Künstlerische” ist unsere fortwährende Thätigkeit. Was hat diese Kraft so souverain gemacht? Offenbar, daß ohne sie, vor Wirrwarr der Eindrücke, kein lebendes Wesen lebte.

34 [50]

(Ich sehe nicht ein, warum das Organische überhaupt einmal entstanden sein muß— —)

34 [51]

In der Chemie zeigt sich, daß jeder Stoff seine Kraft so weit treibt als er kann, da entsteht etwas Drittes.

Die Eigenschaften eines Kindes sind aus der allergenauesten Kenntniß von Vater und Mutter nicht abzuleiten. Denn es sind die Wirkungen des Dritten auf uns, diese Eigenschaften: die Wirkungen des Ersten aber und die Wirkungen des Zweiten d. h. ihre Eigenschaften sind unmöglich zu addiren, als “Wirkungen des Dritten”

34 [52]

Die Kette der Ursachen ist uns verborgen: und der Zusammenhang und die Abfolge der Wirkungen giebt nur ein Nacheinander: mag dasselbe auch noch so regelmäßig sein, damit begreifen wir es nicht als nothwendig.— Doch können wir hinter einander verschiedene Reihen, solcher Aufeinanderfolgen constatiren: z. B. beim Klavierspiel das Aufeinander der angeschlagenen Tasten, das Aufeinander der angeschlagenen Saiten, das Aufeinander der erklingenden Töne.

34 [53]

Kritik des Instinkts der Ursächlichkeit.

Der Glaube, daß eine Handlung auf ein Motiv hin geschieht, ist instinktiv allmählig generalisirt worden, zu den Zeiten, wo man alles Geschehen nach Art bewußter lebender Wesen imaginirte. “Jedes Geschehn geschieht auf Grund eines Motivs: die causa finalis ist die causa efficiens” —

Dieser Glaube ist irrthümlich: der Zweck, das Motiv sind Mittel, uns ein Geschehn faßlich praktikabel zu machen.— Die Verallgemeinerung war ebenfalls irrthümlich und unlogisch.

Kein Zweck.

Kein Wille.

34 [54]

Die umgekehrte Zeitordnung.

Die “Außenwelt” wirkt auf uns: die Wirkung wird ins Gehirn telegraphirt, dort zurechtgelegt, ausgestaltet und auf seine Ursache zurückgeführt: dann wird die Ursache projicirt und nun erst kommt uns das Factum zum Bewußtsein. D. h. die “Erscheinungswelt” erscheint uns erst als Ursache, nachdem “sie” gewirkt hat und die Wirkung verarbeitet worden ist. D.h. wir kehren beständig die Ordnung des Geschehenden um.— Während “ich” sehe, sieht es bereits etwas Anderes. Es steht wie bei dem Schmerz.

34 [55]

Der Glaube an die Sinne. Ist eine Grundthatsache unseres Intellekts, er nimmt von ihnen entgegen das Roh-Material, welches er auslegt. Dies Verhalten zum Rohmaterial, welches die Sinne bieten, ist, moralisch betrachtet, nicht geleitet von der Absicht auf Wahrheit, sondern rein von einem Willen zur Überwältigung, Assimilation, Ernährung. Unsere beständigen Funktionen sind absolut egoistisch, machiavellistisch, unbedenklich, fein. Befehlen und Gehorchen auf’s Höchste getrieben, und damit vollkommen “gehorcht” werden kann, hat das einzelne Organ viel Freiheit.

Der Irrthum im Glauben an Zwecke.

Wille—eine überflüssige Annahme.

Die umgekehrte Zeit-Ordnung.

Kritik des Glaubens an Ursächlichkeit.

Der Glaube an die Sinne, als Grundthatsache unseres Wesens.

Die Central-Gewalt—darf nicht wesentlich verschieden sein von dem, was sie beherrscht.

Die Geschichte der Entstehung erklärt die Eigenschaften nicht. Letztere müssen schon bekannt sein. Historische Erklärung ist Reduktion auf ein uns gewohntes Aufeinander: durch Analogie.

34 [56]

Die mechanistische Welt-Erklärung ist ein Ideal: mit so wenig als möglich möglichst viel zu erklären, d. h. in Formeln zu bringen. Nöthig noch: die Leugnung des leeren Raumes; der Raum bestimmt und begrenzt zu denken; ebenso wie die Welt als ewig sich wiederholend.

34 [57]

Wie ein Volks-Charakter, eine “Volks-Seele” entsteht, das giebt Aufschluß über die Entstehung der Individual-Seele. Zunächst wird eine Reihe von Thätigkeiten ihm aufgezwungen, als Existenz-Bedingungen, an diese gewöhnt es sich, sie werden fester und gehen mehr in die Tiefe. Völker, welche große Wandelungen erleben und unter neue Bedingungen gerathen, zeigen eine neue Gruppirung ihrer Kräfte: dies und jenes tritt heraus und bekommt Übergewicht, weil es jetzt nöthiger ist zur Existenz, z. B. der praktische nüchterne Sinn am jetzigen Deutschen. Aller Charakter ist erst Rolle. Die “Persönlichkeit” der Philosophen—im Grunde persona.

34 [58]

Die Zahl ist unser großes Mittel, uns die Welt handlich zu machen. Wir begreifen so weit als wir zählen können d. h. als eine Constanz sich wahrnehmen läßt.

34 [59]

Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philos[ophie] bisher am meisten aufgehalten worden.

34 [60]

Auch innerhalb unserer Welt der Sinne, wenn wir sie nur verschärfen oder verschärft denken, ergiebt sich eine Welt, welche ganz anders auf unser Gefühl wirkt

34 [61]

Das Vorurtheil der Ursächlichkeit
das Vorurtheil des Willens
das Vorurtheil des Zwecks
das Vorurtheil der Persönlichkeit
Erkenntniß: ein falscher Begriff d. h. ein Begriff, zu dessen Aufstellung wir kein Recht haben.
Beseitigung 1) des Willens
  2) der Zwecke als “wozu” und “wodurch”
  3) folglich auch der Ursächlichkeit
(welche aus Beidem sich ableitet)

34 [62]

“Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?”—“durch ein Vermögen dazu” war die berühmte Kantische Antwort, welche Vielen solche Genugthuung gegeben hat.

34 [63]

Die nützlichsten Begriffe sind übrig geblieben: wie falsch sie auch immer entstanden sein mögen.

34 [64]

Im ersten Buche der Glaube an die Wahrheit zu erschüttern: Wahrhaftigkeit ist nützlich, aber nur in einem kleinen Quantum, vor allem bei solchen, welche nichts zu verantworten haben. Ebenso die Achtung vor den Philosophen.

34 [65]

Die allgemeine Vergröberung des europäischen Geistes, ein gewisses täppisches Geradezu, welches sich gerne als Geradheit, Redlichkeit oder Wissenschaftlichkeit rühmen hört: das gehört der Herrschaft des Gedankens des demokratischen Zeitgeistes und seiner feuchten Luft: noch bestimmter—es ist die Wirkung des Zeitungslesens. Bequemlichkeit will man oder Betrunkenheit, wenn man liest: bei weitem das Meiste, was gelesen wird, ist Zeitung oder Zeitungs-Art. Man sehe unsere Revuen, unsere gelehrten Zeitschriften an: jeder, der da schreibt, redet wie vor “ungewählter Gesellschaft” und läßt sich gehn, oder vielmehr sitzen, auf seinem Lehnstuhle.— Da hat es Einer schlimm, welcher am meisten Werth auf die Hintergedanken legt und mehr als alles Ausgesprochene die Gedankenstriche in seinen Büchern liebt.— Die Freiheit der Presse richtet den Stil zu Grunde und schließlich den Geist: das hat vor 100 Jahren schon Galiani gewußt.— Die “Freiheit des Gedankens” richtet die Denker zu Grunde.— Zwischen Hölle und Himmel, und in der Gefahr von Verfolgungen Verbannungen ewigen Verdammnissen und ungnädigen Blicken der Könige und Frauen war der Geist biegsam und verwegen geworden: wehe, wozu wird heute der “Geist”!

34 [66]

Immer ironice: es ist eine köstliche Empfindung, einem solchen wahrhaftigen Denker zuzusehn. Aber es ist noch angenehmer, zu entdecken, daß dies Alles Vordergrund ist, und daß er im Grunde etwas Anderes will und auf sehr verwegene Weise will. Ich glaube, daß der Zauber des Socrates der war: er hatte eine Seele und dahinter noch eine und dahinter noch eine. In der vordersten legte sich Xenophon schlafen, auf der zweiten Plato und auf der dritten noch einmal Plato, aber Plato mit seiner eigenen zweiten Seele. Plato selber ist ein Mensch mit vielen Hintertheilen und Vordergründen.

34 [67]

NB. Unser Zeitalter ist in seinen wesentlichsten Instinkten skeptisch: fast alle feineren Gelehrten und Künstler sind es, ob sie es sich schon nicht gerne zugeben. Der Pessimismus, des Nein-sagens[,] ist nur für die Bequemlichkeit des Geistes leichter: unser feuchtes Zeitalter mit demokratischer Luft ist vor allem bequem. Wo der Geist delikater ist, sagt er: “ich weiß nicht”; und “ich traue mir und Niemandem mehr” und “ich weiß nicht mehr, wo aus, noch ein,” und “hoffen—das ist eine Phrase für Verlogene oder für demagogische Redner und Künstler.” Skepsis—ist der Ausdruck einer gewissen physiologischen Beschaffenheit, wie sie bei einer großen Kreuzung vieler Rassen nothwendig entsteht: die vielen vererbten Werthschätzungen sind mit einander im Kampf, stören sich gegenseitig am Wachsen. Die Kraft, welche hier am meisten abhanden kommt, ist der Wille: deshalb große Furcht vor der Verantwortlichkeit, weil Niemand für sich selber gut sagen kann. Versteck unter Gemeinschaften, “Eine Hand deckt die andere” heißt es da. So bildet sich eine Heerden-Art aus: und wer einen starken befehlerischen und verwegenen Willen hat, kommt unbedingt auch zur Herrschaft in solchen Zeiten.

34 [68]

Man klagt, wie schlimm es bisher die Philosophen gehabt haben: die Wahrheit ist, daß zu allen Zeiten die Bedingungen zur Erziehung eines mächtigen verschlagenen verwegenen unerbittlichen Geistes günstiger waren als heute. Heute hat der Demagogen-Geist, wie auch der Gelehrten-Geist günstige Bedingungen. Aber man sehe doch unsere Künstler an: ob sie an einer Zuchtlosigkeit fast nicht alle zu Grunde gehen. Sie werden nicht mehr tyrannisirt, so lernen sie auch nicht mehr, sich selber tyrannisiren. Wann war das Weib so gering, wie heute! Alles wird schwächer, weil Alles es bequem haben will.— Ich bin durch die härteste Schule körperlicher Schmerzen gegangen: und das Bewußtsein, darunter mich selber festgehalten zu haben und schweigsam — —

34 [69]

Die feinsten Köpfe des vorigen Jahrhunderts, Hume und Galiani, alle mit Staatsdiensten vertraut: ebenso Stendhal Tocqueville

34 [70]

Hume fordert (um mit Kants Worten zu reden [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, III, 105, 496.]) die Vernunft auf, ihm Rede und Antwort zu geben, mit welchem Rechte sie sich denkt: daß etwas so beschaffen sein könne, daß, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas anderes nothwendig gesetzt werden müsse, denn das sagt der Begriff der Ursache. Er bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft ganz unmöglich sei, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken usw.— Aber die Thorheit war, nach Gründen für das Recht der Begründung zu fragen. Er that das Thun, welches er eben prüfen wollte. [Vgl. Maximilian Drossbach, Ueber die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt. Halle: Pfeffer, 1884:2.]

34 [71]

Die Lüge des Erziehers z. B. bei Kants kategorischem Imperativ. “Sollte Gott doch ein Betrüger sein, trotz Descartes?” [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft.]

34 [72]

NB. Wahrhaftig, moralisch-streng und häßlich gehört zusammen: das hat das Christenthum gut gefühlt. Der schöne Mensch kann weder wahrhaftig, noch gütig sein, nur ausnahmsweise.

34 [73]

Was uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarek und Hegel—Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise Heraklits und Empedokles’ ist wieder erstanden. Auch Kant [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft.] hat die contradictio in adjecto “reiner Geist” nicht überwunden: wir aber.

34 [74]

Der menschliche Horizont. Man kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne, besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie thun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsar[en], der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne, in der Entwicklung und unter “günstigen Umständen.” Aber sie begriffen nicht genug, was “günstige Umstände” sind. Große Frage: wo bisher die Pflanze “Mensch” am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nöthig.

34 [75]

Es ist merkwürdig, wie die Stoiker und fast alle Philosophen keinen Blick für die Ferne haben. Und dann wieder die Dummheit der Socialisten, welche immer nur die Bedürfnisse der Heerde repräsentiren.

34 [76]

Die mechanistische Vorstellung, als regulatives Princip der Methode voranzustellen. Nicht als die bewiesenste Weltbetrachtung, sondern als die, welche die größte Strenge und Zucht nöthig macht und am meisten alle Sentimentalität bei Seite wirft. Zugleich eine Probe für das physische und seelische Gedeihen: mißrathene willensschwache Rassen gehen daran zu Grunde, durch Sinnlichkeit oder durch Melancholie oder, wie Inder, durch Beides.

34 [77]

Großes Lob auf das Christenthum als die ächte Heerden-Religion.

34 [78]

Mittag und Ewigkeit.

  1. Frei zum “wahr” und “unwahr”
  2. frei zum “gut” und “böse”
  3. frei zum “Schön” und “häßlich”
  4. der höhere Mensch als der mächtigere, und die bisherigen Versuche: “es ist die rechte Zeit.”
  5. der Hammer—eine Gefahr, an der der Mensch zerbrechen kann.

34 [79]

Kant meinte [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft.], mit seiner Kategorien-Tafel in der Hand “das ist das Schwerste was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte.”— man mißverstehe doch ja nicht, wo er seinen Stolz hatte. [Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn: Baedeker, 1882:396.]

34 [80]

Derbheit und Delikatesse zusammen bei Petronius, auch bei Horaz: mir am angenehmsten. Es gehört zum griechischen Geschmack. Homer war den Menschen um La Rochefoucauld herum zu derb, sie konnten das Triviale nicht genießen. Sie hielten eine gewisse hohe Empfindung bei sich fest, wie jetzt viele  Deutsche, und  verachte[te]sich, wenn  etwas  ein  Genuß  an  niederen Sphären  in  ihnen  sich  regt[e]. Aristophanes ist das Gegenstück: nihil humani—ist antik.

34 [81]

An die Spitze zu stellen: auch die Instinkte sind geworden, sie beweisen nicht[s] für das Übersinnliche, nicht einmal für das Animalische, nicht einmal für das typisch-Menschliche.



Daß der Geist geworden ist und noch wird, daß, unter zahllosen Arten des Schließens und Urtheilens, die uns jetzt geläufigste irgendwie uns am nützlichsten ist und sich vererbt hat, weil die so denkenden Individuen günstigere Chancen hatten: daß damit Nichts über “wahr” und “unwahr” bewiesen ist, — — —

34 [82]

Anti-Kant. [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft.]

“Vermögen, Instinkt, Vererbung, Gewohnheit” wer mit solchen Worten etwas zu erklären meint, muß heute bescheiden und überdies schlecht geschult sein. Aber am Ausgange des vorigen Jahrhunderts wüthete es. Galiani erklärte alles aus Gewohnheiten und Instinkten. [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Tome 2. Paris: G. Charpentier, 1882:279f.] Hume erklärte den Causalitätssinn aus der Gewohnheit; Kant, mit großer Ruhe sagte: “es ist ein Vermögen.” [Vgl. Maximilian Drossbach, Ueber die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt. Halle: Pfeffer, 1884:8f.] Alle Welt war glücklich, besonders als er auch noch ein moralisches Vermögen entdeckte. Hier lag der Zauber seiner Philosophie: die jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen in die Büsche—alle suchten nach “Vermögen.” Und was fand man nicht Alles! Schelling taufte es “die intellektuale Anschauung,” ein Vermögen für’s “Übersinnliche.” Schopenhauer meinte an einem schon bereits genügend geschätzten Vermögen, am Willen, dasselbe gefunden zu haben und mehr, nämlich “das Ding an sich.” In England entstanden die Instinktivisten und Intuitionisten der Moral. Es war die alte Sache vom Glauben und Wissen, eine Art “formaler Glaube” welcher irgend einen Inhalt in Anspruch nahm. Die Geschichte geht wesentlich die Theologen an. Im Stillen wird Leibnitz wieder lebendig, und hinter Leibnitz—Plato. Die Begriffe als •<V:<0F4l usw. Diese skeptisch beginnende Bewegung ist in der That gegen die Scepsis gerichtet, sie hat einen Genuß in der Unterwerfung

34 [83]

NB. Das Lästigste, was die Schriften unklarer, schlecht geschulter und unphilologischer Geister an sich haben, ist noch nicht einmal ihre mangelhafte Schlußfähigkeit und der unfeste wackelnde Gang ihrer Logik. Es ist die Unfestigkeit der Begriffe selber, für welche sie sich der Worte bedienen: diese Menschen haben nur ungestaltete schwimmende Kleckse von Begriffen im Kopfe.— Den guten Autor aber zeichnet nicht nur die Kraft und Bündigkeit seiner Satz-Form aus: sondern man erräth, man riecht, falls man der Mensch feiner Nüstern ist, daß ein solcher Schriftsteller sich beständig zwingt und übt, vorerst seine Begriffe auf strenge Weise festzustellen und fester zu machen, also mit seinen Worten eindeutige Begriffe zu verbinden: und, bevor das nicht gethan ist, nicht schreiben mag!— Übrigens giebt es manchen Zauber auch im Unsicheren, Dämmernden, Halblichten: so wirkte vielleicht Hegel auf das Ausland am meisten durch seine Kunst, in der Weise eines Betrunkenen von den aller nüchternsten und kältesten Dingen zu reden. Dies war wirklich in dem großen Reiche der Berauschungen eine der seltsamsten, die je erfunden wurden,—und recht eigentlich eine Sache der deutschen Genialität! Denn wir haben, wohin nur Deutsche und deutsche “Tugenden” gedrungen sind, überall auch die Lust und Begierde der groben und feinen Alcoholica hingetragen und mitgebracht.— Vielleicht gehört hierhin auch die berückende Gewalt unserer deutschen Musik.

34 [84]

NB. Was Plato und im Grunde alle Nach-Sokratiker thaten: das war eine gewisse Gesetzgebung der Begriffe:—sie stellten für sich und ihre Jünger fest “das und das soll unter uns bei diesem Worte gedacht und gefühlt werden”:—damit lösten sie sich am bestimmtesten aus ihrer Zeit und Umgebung los. Es ist dies eine der Arten feinen Ekels, mit dem sich höhere, anspruchsvollere Naturen gegen die unklare Menge und ihren Begriffs-Wirrwarr empören:

34 [85]

Was ist denn diese ungeheure Macht, welche dermaaßen seit 2 Jahrtausenden die Philosophen narrt und die Vernunft der Vernünftigen zu Falle bringt? Jener Instinkt, jener Glaube, wie ihn das Christenthum verlangt: das ist der Heerden-Instinkt selber, der Heerden-Glaube des Thiers “Mensch,” das Heerden-Verlangen nach der vollkommenen Unterwerfung unter eine Autorität—(dasselbe, was aus dem deutschen Heerden-Instinkte heraus Kant den “kategorischen Imperativ” getauft hat.) In der That ist es die größte Erleichterung und Wohlthat, für gefährdete schwankende zarte schwache Heerden-Thiere, einen absolut Befehlenden, einen Leithammel zu bekommen: es ist ihre erste Lebensbedingung. [Vgl. Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development. London: Macmillan, 1883:73f.] Die Brahmanen verstanden sich auf diese Erleichterung, die Jesuiten ebenfalls, fast in allen Klöstern ist der Grund-Hang dieser: endlich einmal der ewigen Agitation, welche das Selbst-Sich-Befehlen mit sich bringt, los zu werden. Dieser Instinkt zum Glauben ist auch der eigentlich weibliche Instinkt; und wenn die Weiber Einen unerbittlichen Lehrer finden, der von ihnen Gehorsam und Niederwerfung will, oder auch nur einen Künstler, der das Weib in der Attitüde seiner “Vollkommenheit,” als; anbetendes   hingebendes   hingegebenes   Geschöpf,   als   Opfer   zeigt,  wie  z. B. R[ichard] W[agner], da sind sie vor Glück “außer sich”: nämlich in ihrem letzten Instinkte vor sich selber bestätigt und befriedigt.— In schwächerer Form sieht man es an den Franzosen, die, als die liebenswürdigsten Europäer, auch die heerdenmäßigsten sind: es wird ihnen nur wohl, wenn sie vor ihrem esprit es sich erlauben dürfen, einmal “unbedingt zu gehorchen”: wie vor dem Napoleon. Oder auch vor “den Ideen der französischen Revolution”—oder auch vor Victor Hugo (welcher sein langes Leben lang diesem allerschönsten Heerden-Instinkte immer im Namen der Freiheit schöne Worte und Prunkmäntel umgehängt hat).— Das Alterthum war, als das Christenthum kam, inwendig durch Gegensätze der Werthschätzungen hin- und hergerissen (in Folge der physiologischen Bedingung des unsinnigen Gleichheits-Begriffs civis Romanus oder von jener unsinnigen Staats-Erweiterung des imperium Romanum) und das Christenthum gab die große Erleichterung.

34 [86]

Worte sind Tonzeichen für Begriffe: Begriffe aber sind mehr oder weniger sichere Gruppen wiederkehrender zusammen kommender Empfindungen. Daß man sich versteht, dazu gehört noch nicht, daß man dieselben Worte gebraucht: man muß dieselben Worte auch für dieselbe Gattung innerer Erlebnisse brauchen—und man muß diese gemeinsam haben. Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser: oder, wenn Menschen lange in ähnlichen Bedingungen des Climas, der Thätigkeiten, der Bedürfnisse zusammen gelebt haben, so gewinnt eine gewisse Gattung von solchen ihnen allen nächst verständlichen Erlebnissen die Oberhand: das schnelle Sich-Verstehn ist die Folge. Und das Sich-Verheirathen, und die Vererbung ist wieder die Folge davon. Es ist das Bedürfniß, schnell und leicht seine Bedürfnisse verstehn zu geben, was Menschen am festesten an einander bindet. Andererseits hält Nichts eine Freundschaft, Liebschaft fest, wenn man dahinter kommt, daß man bei den Worten Verschiedenes meint. Welche Gruppen von Empfindungen im Vordergrund stehn, das bedingt nämlich die Werthschätzungen: die Werthschätzungen aber sind die Folge unserer innersten Bedürfnisse. —

Dies ist gesagt, um zu erklären, warum es schwer ist, solche Schriften wie die meinigen zu verstehen: die inneren Erlebnisse, Werthschätzungen und Bedürfnisse sind bei mir anders. Ich habe Jahre lang mit Menschen Verkehr gehabt und die Entsagung und Höflichkeit so weit getrieben, nie von Dingen zu reden, die mir am Herzen lagen. Ja ich habe fast nur so mit Menschen gelebt. —

34 [87]

Wir bilden uns ein, daß das Befehlende, Oberste in unserem Bewußtsein stecke. Zuletzt haben wir ein doppeltes Gehirn: die Fähigkeit, etwas von unserem Wollen, Fühlen, Denken selber zu wollen, zu fühlen und zu denken fassen wir mit dem Wort “Bewußtsein” zusammen.

34 [88]

NB. Jene gesetzgeberischen und tyrannischen Geister, welche im Stande sind, einen Begriff fest zu setzen, fest zu halten, Menschen mit dieser geistigen Willenskraft, welche das Flüssigste, den Geist, für lange Zeit zu versteinern und beinahe zu verewigen wissen, sind befehlende Menschen im höchsten Sinne: sie sagen “ich will das und das gesehen wissen, ich will es genau so, ich will es dazu und nur dazu.” Diese Art gesetzgeberischer Menschen hat nothwendig zu allen Zeiten den stärksten Einfluß ausgeübt: ihnen verdankt man alle typischen Ausgestaltungen des Menschen: sie sind die Bildner—und der Rest (“die Allermeisten” M[enschen] in diesem Falle—) sind gegen sie gehalten nur Thon.

34 [89]

Die festgesetztesten Bewegungen unseres Geistes, unsere gesetzmäßige Gymnastik z. B. in Raum- und Zeit-Vorstellungen, oder in dem Bedürfniß nach “Begründung”: dieser philosophische habitus des menschlichen Geistes ist unsere eigentliche Potenz: also daß wir in vielen geistigen Dingen nicht mehr anders können: was man psychologische Nothwendigkeit nennt. Diese ist geworden: und zu glauben, unser Raum, unsere Zeit, unser Causalitäts-Instinkt sei etwas, das auch abgesehn vom Menschen Sinn habe, ist nachgerade eine Kinderei.

34 [90]

Ich bin feindselig 1) gegen die Entsinnlichung: sie stammt von den Juden, von Plato, der durch Aegypter und Pythagoreer verdorben war (und diese durch Buddhisten)

Dem provençalischen Geiste, der heidnisch geblieben ist, ich meine “nicht germanisch,” verdankt man die Vergeistigung des amor der Geschlechtsliebe: während es das Alterthum nur zu einer Vergeistigung der Päderastie gebracht hat.

2) gegen alle Lehren, welche ein Ende, eine Ruhe, einen “Sabbat aller Sabbate” ins Auge fassen. Solche Denkweisen kennzeichnen gährende, leidende, oft auch absterbende Rassen, z.B. solche Verse, wie bei R[ichard] W[agners] “Nibelungen”

34 [91]

“Gewohnheit”: das bedeutet bei einem sklavisch gesinnten Menschen etwas Anderes als bei einem Vornehmen.

34 [92]

Man verdankt der christlichen Kirche

1) eine Vergeistigung der Grausamkeit: die Vorstellung der Hölle, die Foltern und Ketzergerichte, die Autodafés sind doch ein großer Fortschritt gegen die prachtvolle aber halb blödsinnige Abschlächterei in den römischen Arenen. Es ist viel Geist, viel Hintergedanke in die Grausamkeit gekommen.— Sie hat viele Genüsse erfunden.

2) sie hat den Europäer-Geist fein und geschmeidig gemacht, durch ihre “Intoleranz.” Man sieht es sofort, wie in unserem demokratischen Zeitalter, mit der Freiheit der Presse, der Gedanke plump wird. Die Deutschen haben das Pulver erfunden—alle Achtung! Aber sie haben es wieder quitt gemacht: sie erfanden die Presse. Die antike Polis war ganz ebenso gesinnt. Das römische Reich ließ umgekehrt große Freiheit im Glauben und Nichtglauben: mehr als heute irgend ein Reich läßt: die Folge war sofort die allergrößte Entartung Vertölpelung und Vergröberung des Geistes.— Wie gut nimmt sich Leibnitz und Abälard, Montaigne, Descartes und Pascal aus! Die geschmeidige Verwegenheit solcher Geister zu sehn ist ein Genuß, welchen man der Kirche verdankt.— Der intellektuelle Druck der Kirche ist wesentlich die unbeugsame Strenge, vermöge deren die Begriffe und Werthschätzungen als festgestellt, als aeternae behandelt werden. Dante giebt einen einzigen Genuß dadurch: man braucht unter einem absoluten Regimente keineswegs beschränkt zu sein. Wenn es Schranken gab, so waren sie um einen ungeheuren Raum gespannt, Dank Plato: und man konnte sich darin bewegen, wie Bach in den Formen des Contrapunkts, sehr frei.— Baco und Shakespeare widern fast an, wenn man diese “Freiheit unter dem Gesetz” gründlich schmecken gelernt hat. Ebenso die neueste Musik im Vergleich zu Bach und Händel.

34 [93]

Wie sich Friedrich der Grosse beständig über den “féminisme” in der Regentschaft seiner Nachbarstaaten lustig macht, so Bismarck über den “Parlamentarismus”: es ist ein neues Mittel, zu machen, was man will.

34 [94]

Der Anblick des jetzigen Europäers giebt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Heerden-Masse. Es steht vor der Thür, daß die Bewegungen zur Bindung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrunde stehn.

34 [95]

Gegen den falschen Idealismus, wo durch übertriebene Feinheit sich die besten Naturen der Welt entfremden. Wie schade, daß der ganze Süden Europas um die Vererbung jener gebändigten Sinnlichkeit gekommen ist, durch die Abstinenz der Geistlichen! Und daß solche Shelleys, Hölderlins, Leopardis zu Grunde gehn, ist billig, ich halte nicht gar viel von solchen Menschen. Es ergötzt mich, an die Revanchen zu denken, welche die derbe Natürlichkeit der Natur bei solcher Art Menschen nimmt z. B. wenn ich höre, daß L[eopardi] früher On[anie] trieb, später impotent war.

34 [96]

NB. Ein großer Mensch, ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat, was ist das? Erstens: er hat in seinem gesamten Thun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten “göttlichsten” Dinge von der Welt. Zweitens: er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor derMeinung”; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der “Achtung” und dem Geachtetwerden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur “Tugend der Heerde” gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er Manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt. 3) er will kein “theilnehmendes” Herz, sondern Diener, Werkzeuge, er ist, im Verkehre mit Menschen, immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmittheilbar: er findet es geschmacklos, wenn er “vertraulich” wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als etwas Unerreichbares für Lob und Tadel, als eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.

34 [97]

Was ich an dem Deutschen gerne wahrnehme, das ist seine Mephistopheles-Natur: aber, die Wahrheit zu sagen, man muß sich einen höheren Begriff vom d[eutschen] M[ephistopheles] machen, als Goethe, [der] nöthig hatte, um seinen “innewendigen Faust” zu vergrößern, seinen M[ephistopheles] zu verkleinern. Der wahre deutsche Mephistopheles ist viel gefährlicher, kühner, böser, verschlagener und folglich offenherziger: man denke sich das Innewendige von Friedrich dem Großen. Oder von jenem viel größeren Friedrich, von jenem Hohenstaufen Friedrich 2.— Der ächte deutsche Mephistopheles steigt über die Alpen, glaubt, daß ihm dort Alles zugehört. Deshalb wird ihm wohl, wie es Winckelmann wohl wurde, wie Mozarten. Er betrachtet Faust und Hamlet als Carikaturen, die zum Lachen erfunden sind, insgleichen Luther. Goethe hatte gute deutsche Augenblicke, wo er über das Alles innewendig lachte. Aber dann fiel er selber wieder in die feuchten Stimmungen zurück.

Das Erstaunen Napoleon’s, als er einen deutschen Dichter sah und—einen Mann fand! Er hatte erwartet, einen deutschen Dichter zu finden! —

Der Deutsche ist umfänglich: an die eine Seele hat sich eine zweite angebaut, es giebt Höhlen, Zwischengänge, er kann oberflächlich scheinen, die Offenheit und Biederkeit gehört zu den Kunstfertigkeiten des Deutschen.— “Gutmüthig und tückisch” ist bei anderen M[enschen] eine Unmöglichkeit; aber man lebe nur eine Zeitlang unter Schwaben! —

34 [98]

Ein  Zeitalter  der  Demokratie  treibt  den  Schauspieler  auf  die  Höhe, in  Athen, ebenso  wie heute. R[ichard] W[agner] hat bisher Alles darin überboten, und einen hohen Begriff vom Schauspieler erweckt, der Schauder erwecken kann. Musik, Poesie, Religion, Cultur, Buch, Familie, Vaterland, Verkehr—alles vorerst Kunst, will sagen Bühnen-Attitüde!

34 [99]

Schweine-Deutsch! Verzeihung! Zeitungs-deutsch! Da lese Friedrich Albert Lange, ein braves Thier, welches man sogar, in Ermangelung braverer Thiere, deutschen Jünglingen anempfehlen darf: aber er schreibt zum Beispiel: “Mit dem Lobe der Gegenwart verbindet sich der Cultus der Wirklichkeit. Das Ideale hat keinen Cours; was sich nicht naturwissenschaftlich und geschichtlich legitimiren kann, wird zum Untergang verurtheilt.” [Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn: Baedeker, 1882:820.] Wozu lernt man eigentlich auf deutschen Schulen lateinisch und griechisch: wenn man nicht einmal den Ekel vor einem solchen schmutzigen Mischmasch lernt! Und welche Begeisterung haben gerade die eigentlichen Deutsch-Verderber erregt, ehemals Hegel, neuerdings Richard Wagner, allerjüngst Eugen Dühring!

34 [100]

Schrecklich zu denken, wenn ich durch meine Gedanken über das Weib irgend eine Schriftstellerin, nachdem sie sich und die Welt schon genugsam mit ihren Büchern gequält hat, zu dem Rachegedanken treiben könnte, zu Kindern zu kommen!

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel