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Sommer-Herbst 1882 3 [1-6]

3 [1]

Auf hoher See.
Ein Sentenzen-Buch
von
Friedrich Nietzsche.

“Dorthin will ich! Und ich traue
“Mir fortan und meinem Griff.
“Offen ist das Meer, ins Blaue
“Treibt mein Genueser Schiff.
“Alles wird mir neu und neuer,
“Weit hinaus glänzt Raum und Zeit —
“Heil dir, Schiff! Heil deinem Steuer!
“Um dich braust die Ewigkeit!” —

Schweigsame Reden
Ein Sentenzen-Buch.

Jenseits von gut und böse.”
Sentenzen-Buch.

“il sait goûter sa vie
en paresseux sensé qui pond sur ses plaisirs.”
(Duc de Nevers.)

[Vgl. 1: Guillaume Amfrye, abbé de Chaulieu, Oeuvres de Chaulieu, d'après les manuscrits de l'auteur. Tome premier. La Haye; Paris: Bleuet, 1774: 59-60. 2: Amédée Renée, Les nièces de Mazarin. Troisième partie. La Duchesse de Mercoeur, La Princesse de Conti, La Duchesse de Modène. Le Duc de Nevers. In: Revue contemporaine. Quatrième année. Tome vingt-deuxième. Paris: Bureaux de la Revue Contemporaine, 1855: 150. 3: Amédée Renée, Les nièces de Mazarin. Études de moeurs et de caractères au XVIIe siècle. Deuxième édition. Paris: Firmin Didot frères, fils et Cie, 1856: 147.]

1. A: Was bedeutet die Gerechtigkeit? B: Meine Gerechtigkeit ist Liebe mit sehenden Augen. A: Aber bedenke, was du sagst: diese Gerechtigkeit spricht Jeden frei, ausgenommen den Richtenden! Diese Liebe trägt nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld! B: So soll es sein!

2. Spät jung erhält lang jung. Man muß die Jugend nicht bei den Jungen suchen.

3. Wenn die Talente eines Menschen nachlassen, werden seine moralischen Eigenschaften sichtbarer; und nicht immer sind es Sterne, die bei dieser einbrechenden Nacht sichtbarer werden.

4. Wer das Hohe eines Menschen nicht zu sehen vermag, hat gerade deshalb ein Luchsauge für dessen Niedriges.

5. Es giebt auch eine Zudringlichkeit des Erkennenden: sie ist verurtheilt, von allen Dingen nur den Vordergrund zu sehen.

6. Wenn fünf Menschen zusammen reden, muß immer ein sechster sterben.

7. Gott erstickte an der Theologie; und die Moral an der Moralität.

8. Die, welche bisher den Menschen am meisten liebten, thaten dem Menschen immer am wehesten: sie forderten von ihm das Unmögliche, gleich allen Liebenden.

9. So sprach ein Heiliger: “ich liebe Gott—denn der Mensch ist eine zu unvollkommene Sache. Liebe zu einem Menschen würde mich zerstören.”

10. Die Zeit ist da, in der der Teufel der Advokat Gottes sein muß: wenn anders er selber fortbestehen will.

11. “Du bist gegen Alles, was bisher Werth hatte, kalt geworden, du bist kälter als Eis—aber wer dich jetzt anrührt, sagt du seist glühend geworden: und zieht schnell seinen Finger zurück, im Glauben, du habest ihn verbrannt. Und es wird bald Menschen geben, welche dich aufsuchen, um sich an dir zu wärmen.”

12. Es ist verrätherisch, wenn Jemand nach Größe strebt. Die Menschen der besten Qualität streben nach Kleinheit.

13. Wer uns nicht fruchtbar macht, wird uns sicher gleichgültig. Wen wir aber fruchtbar machen, den lieben wir deshalb noch lange nicht.

14. Der Dritte ist immer der Kork, welcher verhindert, daß das Gespräch von Zweien in die Tiefe sinkt: was, unter Umständen, ein Vortheil ist.

15. Wirf deine Worte deinen Thaten voraus: verpflichte dich selber durch die Scham vor gebrochnen Worten.

16. Es ist Weiber-Art, seine Nächsten zu einer guten Meinung über sich zu verführen und dann an diese Meinung wie an eine Autorität zu glauben.

17. Im Verneinen, Zerstören, Hassen, Sich-Rächen ist das Weib barbarischer als der Mann.

18. Die Opfer, die wir bringen, beweisen nur, wie wenig werth uns jedes andre Ding wird, wenn wir Etwas lieben.

19. Was wir am liebsten thun, von dem möchten wir, daß es als, das gelte, was uns am schwersten werde.

20. Die Weiber haben im Hintergrunde alles ihres Ehrgeizes als Weiber immer noch die Verachtung für “das Weib.”

21. Das, was wir an einem Menschen erkennen, das entzünden wir an ihm auch; und wer nur die niedrigen Eigenschaften eines Menschen erkennt, hat auch eine anreizende Kraft für dieselben und bringt sie zur Entladung. Die Affekte deiner Nächsten gegen dich sind die Kritik deiner Erkenntniß, nach Höhe und Niedrigkeit.

22. Seinem Affekte einen Namen geben ist schon ein Schritt über den Affekt hinaus. Die tiefste Liebe z. B. weiß sich nicht zu benennen und fragt sich wohl: “bin ich nicht Haß?”

23. Die männlichen und, die weiblichen Affekte sind im Tempo verschieden: deshalb hören Mann und Weib nie auf, sich mißzuverstehen.



Mit aller Kenntniß anderer Menschen kommt man nicht aus sich hinaus, sondern immer mehr in sich hinein.

24. Wir machen es auch im Wachen wie im Traum: immer erfinden und erdichten wir erst die Menschen, mit denen wir verkehren—und vergessen sofort, daß sie erfunden und erdichtet sind.

25. Man wird auch für seine Tugenden bestraft.

26. Das Bedürfniß des Gemüths ist nicht zu verwechseln mit dem Bedürfniß nach Gemüth, das einige kalte Personen haben.

27. Wer nicht nöthig hat, zu lügen, thut sich etwas darauf zu Gute, nicht zu lügen.

28. Die Weiber verstehen die Kinder besser, aber die Männer sind kindlicher als die Weiber.

29. Der Gläubige hat seinen natürlichen Widersacher nicht im Freigeiste, sondern im religiösen Menschen.

30. Am meisten werden die Schaffenden gehaßt: denn es sind die gründlichsten Vernichter.

31. Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung an den guten Menschen, sondern eine Bedingung von, deren Gut-Sein.

32. Wir lieben das Leben, nicht weil wir leben, sondern weil wir an’s Leben gewöhnt sind.

33. Man soll auch von Zeit zu Zeit seine Tugenden schlafen lassen.

34. Du glaubst an dein “Leben nach dem Tode”? So mußt du lernen, während deines Lebens todt zu sein.

35. Unsere Mängel sind unsere besten Lehrer: aber gegen die besten Lehrer ist man immer undankbar.

36. “Reden wir nicht davon!”— “Freund, hiervon dürfen wir nicht einmal schweigen.”

37. Was weiß der von Liebe, der nicht gerade das verachten mußte, was er liebte!

38. Von sich absehen ist nöthig, um gut zu sehen.

39. “Die Menschen sind nicht gleich!”— So spricht—die Gerechtigkeit.



Man glaubt an vieles nur deshalb nicht, weil man nicht an die Erklärung glaubt, die im Schwange ist.

40. Wer die Leidenschaft zur Gerechtigkeit hat, empfindet auch seinen schmerzhaftesten Affekt noch als eine Erleichterung.

41. Schwere, schwermüthige Menschen werden gerade durch das was Andere schwer macht wie Haß und Liebe leichter und kommen an ihre Oberfläche herauf.

42. Seifenblasen und Schmetterlinge und was ihrer Art unter Menschen ist scheinen mir am meisten vom Glücke zu wissen, diese, leichten, thörichten, beweglichen zierlichen Seelchen flattern zu sehen—das rührt mich zu Thränen und Versen.

43. “Hast du deinen Teufel gesehen?”— “Ja, schwer ernst tief gründlich pathetisch: so stand er da, recht als genius gravitationis, durch den alle Wesen und Dinge—fallen.”

44. Wer mit dem ganzen Geschlechte Mitleid hätte, müßte von jedem Einzelnen als hart und tyrannisch empfunden werden.

45. Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns zu interessiren. Nimm dich also in Acht, daß du dir nicht selber zu aufgeklärt wirst!

46. Man muß verstehen Schwamm zu sein, wenn man von einem vollen übervollen Menschen geliebt sein will.



Hier steckt die häufigste Art der Unredlichkeit der Erkennenden: sie leugnen die Facta.

47. Wer, das Ideal eines Menschen geschaut hat, empfindet den wirklichen Menschen als dessen Carikatur.

48. Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre einen, dem er helfen kann: so entsteht ein gutes Gespräch. Wehe aber, wenn zwei Geburtshelfer zusammen stoßen! Sie haben nicht umsonst ihre Zangen!

49. Wer den Weg zu seinem Ideale nicht zu finden vermag, lebt leichtsinniger und frecher als der, welcher gar kein Ideal hat.

50. Der Teufel hat die besten Perspektiven für Gott: deshalb hält er sich von ihm so ferne—er ist nämlich ein Freund der Erkenntniß.

51. “Soll das Band nicht reissen,
      Mußt du mal drauf beißen.”



Die Ehe, die verlogenste und heuchlerischeste Art des Geschlechter-Verkehrs, mag für solche recht sein, welche weder der Liebe noch der Freundschaft fähig sind und sich und Andere gerne über diesen Mangel täuschen möchten: dazu haben ja Staat und Religion die Ehe heilig gesprochen, und welche, weil sie in Beidem keine Erfahrung haben, auch durch die Ehe nicht enttäuscht werden können.

52. Die Gefahr des Weisen liegt darin, daß er gerade am meisten verführt ist, sich in das Unvernünftige zu verlieben.

53. Liebe zum Weibe! Wenn sie nicht Mitleiden mit einem leidenden Gotte ist, so ist sie der Instinkt, welcher nach dem im Weibe verborgenen Thiere sucht.

54. Die moralische Entrüstung ist die perfideste Art der Rache.

55. Fröhlich inmitten aller gemeinen Trübsal sein ist Sache des Helden: und nicht aus Mitleiden, sondern aus Reichthum giebt er ab und “opfert sich,”—wie man es nennt.

56. Eigennutz und Leidenschaft sind mit einander verheiratet: diese Ehe nennt man Selbstsucht: diese unglückliche Ehe!

57. Wie? du willst nicht nach deinen Wirkungen, sondern nach deinen Absichten gemessen werden? Aber deine Absichten selber stammen aus deinen Wirkungen.

58. Alles, was lange bedacht wird, wird bedenklich.

59. Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, Ob der, welcher sie erlebt, nicht etwas Fürchterliches ist: vielleicht ohne daß er es weiß.

60. Die Ehe ist die verlogenste Form des Geschlechter-Verkehrs; und eben deshalb hat sie das gute Gewissen auf ihrer Seite.

61. Für seinen guten Ruf opfert man gewöhnlich zu viel: nämlich sich selber.



Wer ein Führer der Menschen werden will, muß ihnen eine gute Zeit als ihr gefährlichster Feind gelten wollen.

62. Die Menschen laufen Jedem nach, der ihnen einzureden weiß, sie hätten ihren Weg verloren: es schmeichelt sie so, zu hören, daß sie überhaupt einen Weg haben.

63. Die großen Gedanken, die “aus dem Herzen,” die kleinen die aus dem Unterleibe kommen: schlecht gedacht sind sie Beide. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:9. "Vielmehr hat Vauvenargue[s] Recht, indem er sagt: les grandes pensées viennent du coeur."]

64. “Große Gedanken”? Mein Freund, das sind Gedanken, die dich aufblasen und groß machen: der Blasebalg ist nichts Großes!



Nicht, wie Jemand liebt verräth das Gemeine oder Hohe seiner innersten Natur—die Liebe ist nämlich in allen Stücken vielmehr Lügnerin als Verrätherin! Aber man gebe Acht, wie Einer sich benimmt, wenn er geliebt wird!— Und für Manche, die Grund hatten unerkannt zu bleiben, war es die Feinheit ihres Schicksals, daß sie nie geliebt wurden.

65. Das Leben um der Erkenntniß willen ist vielleicht etwas Tolles: aber doch ein Zeichen von Frohmüthigkeit. Der Mensch dieses Willens ist so lustig anzusehen wie ein Elephant, welcher versucht auf seinem Kopfe zu stehen.

66. “Aber wie konntest du so handeln!—sagte ein Freund zu einem sehr klugen Menschen—es war eine Dummheit!”— Es ist mir auch schwer genug geworden, entgegnete dieser.

67. Jesus von Nazareth liebte die Bösen, aber nicht die Guten: der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte selbst ihn zum Fluchen. Überall wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richtenden: er wollte der Vernichter der Moral sein.

68. Jesus sagte zu den Menschen: “liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn: was geht uns Söhne Gottes die Moral an!”

69. Ihr meint, ihr suchtet “die Wahrheit”! Ihr sucht einen Führer und wollt euch gerne commandiren lassen!

70. Warum so abseits?— “Ich fand Keinen, dem ich noch gehorchen könnte und Niemanden, dem ich befehlen möchte.”

71. Ein Hirt hat immer auch noch einen Leithammel nöthig.

72. Die Liebe bringt die hohen und seltenen Eigenschaften eines Menschen ans Licht; insofern täuscht sie über ihn (ihn selber am meisten). Aber, wer nicht getäuscht sein will, habe Acht, was geschieht, wenn ein Mensch sich geliebt weiß, aber nicht liebt: da verräth eine Seele selbst ihren Bodensatz.

73. Über seine Wahrhaftigkeit kam noch Niemand ganz zur Erkenntniß.

74. Man hat den Blitz unschädlich gemacht. aber das genügt nicht, er soll lernen, für uns zu arbeiten.— So denke ich über alles “Böse,” in dir und in mir.

75. Der christliche Gott, der Gott der Liebe und Grausamkeit, ist eine sehr klug und ohne moralische Vorurtheile ausgedachte Person: recht ein Gott für Europäer, welche sich die Erde unterthan machen wollen.

76. Was eine Zeit als böse empfindet, worin sie den Widerspruch mit ihrem Ideale erkennt, das ist in Wahrheit ein Nachschlag dessen, was ehemals als gut galt und gleichsam der Atavismus eines alten Ideals. Erbsünde—das ist unter allen Umständen = Erbtugend.

77. Aus dem Auge aller Richtenden blickt der Henker.

78. Wenn man sich über gut und böse erhoben hat, sieht man auch in der Tragödie nur eine unfreiwillige Komödie.

79. Philosophische Systeme sind die bescheidenste Form, in der Jemand von sich selber reden kann—eine undeutliche und stammelnde Form von Memoiren.

80. Die tragischen Naturen zu Grunde gehen sehen und noch lachen können, über das tiefste Verstehen, Fühlen und Mitleiden mit ihnen hinweg—ist göttlich.

81. “Es ist kein Zweifel, von den Gläubigen dieser Sache wird viel gelogen und betrogen: folglich ist Alles an dieser Sache Betrügerei und Lüge”—so schließen die Oberflächlichen. Wer den Menschen tiefer kennt, wird umgekehrt schließen: “folglich ist an dieser Sache etwas Wahres: ihre Gläubigen verrathen so, wie sicher sie sich fühlen, und wie ihnen jeder Köder gut dünkt, wofern er nur Jemanden zu ihrer Sache lockt.”

82. Die Unschuld der Lüge ist das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache.

83. Man muß einen Menschen schlafend gesehen haben: sonst weiß man nicht, wie er aussieht. Das Gesicht deines Freundes, das du zu kennen glaubst, ist dein Gesicht, auf einem unvollkommenen und rauhen Spiegel.

84. Was macht es, ob ihr einem Gotte oder Teufel schmeichelt, ob ihr vor einem Gotte oder Teufel winselt? Ihr seid nur Schmeichler und Winsler!

85. Wer von Grund aus feige ist, ist gewöhnlich klug genug, sich die sogenannte Liebenswürdigkeit anzueignen.

86. Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, daß wir uns inzwischen “gebessert” haben.

87. Befehlerische Menschen werden auch ihrem Gotte befehlen, so sehr sie ihm zu dienen glauben.

88. Es wäre eine hochmoralische Verlogenheit denkbar, in der der Mensch seinen Geschlechtstrieb sich nur als die Pflicht, Kinder zu zeugen, zum Bewußtsein bringt.

89. Er nennt es Treue gegen seine Partei: aber es ist nur seine Bequemlichkeit welche ihn nicht mehr aus diesem Bette aufstehen läßt.

90. Wenn uns eine Tugend endlich gewohnt wird, sollte man auch den guten Geschmack haben, sie nun nicht mehr Tugend, sondern “Geschmack” zu nennen.

91. Es giebt Kameradschaft: möge es auch Freundschaft geben!

92. Wenn die Mitleidigen die Scham vor sich verlieren und uns sagen, Mitleid sei die Tugend selber: so hat man mit ihnen Mitleid.

93. Ein edler Mensch steht den Guten immer im Wege: sie beseitigen ihn oft gerade dadurch, daß sie sagen, er sei gut.

94. Um den Helden herum wird alles Tragödie; um den Halbgott herum— Alles Satyrspiel.

95. Grausamkeit ist eine versetzte und geistiger gewordene Sinnlichkeit.

96. Verbrecher werden von den moralischen Menschen als Zubehör Einer einzigen That behandelt—und sie selber behandeln sich so, je mehr diese Eine That die Ausnahme ihres Wesens war: sie wirkt wie der Kreidestrich um die Henne.— Es giebt in der moralischen Welt sehr viel Hypnotismus.

97. Hohe “Empfindungen,” “erhabene Gesinnung” nennt ihr es: ich sehe nicht mehr als Lüsternheit nach Höhe und die Krämpfe eines moralischen Ehrgeizes.

98. Dein Schritt verräth, daß du noch nicht auf deiner Bahn schreitest, man müßte dir ansehen, daß du Lust zu tanzen hättest. Der Tanz ist der Beweis der Wahrheit.

99. “Ernst,” “streng,” “moralisch”—so nennt ihr ihn. Mir scheint er böse und ungerecht gegen sich selber, immer bereit, uns dafür zu strafen und an uns den Henker zu spielen—und verdrossen darüber, daß wir es ihm nicht erlauben.

100. “Hohe Empfindungen”!— In der Höhe fühlt man sich nicht hoch, sondern tief und endlich einmal auf festem Grunde: sofern man wirklich die Unschuld der Höhe hat.

101. Durch, den, guten Willen zu helfen, mit zu leiden, sich zu unterwerfen, persönliche Ansprüche aufzugeben, werden auch die unbedeutenden und oberflächlichen Menschen vielleicht für das Auge etwas Erträgliches: man soll ihnen ja nicht ausreden, dieser Wille sei “die Tugend selber.”

102. Moral ist jetzt die Ausrede für die überflüssigen und Zufälligen, für das geistes- und kraftarme Gewürm, was nicht leben sollte—Moral ist insofern Barmherzigkeit: denn sie sagt zu Jedem “du bist doch etwas sehr Wichtiges”: was freilich eine Lüge ist.

103. Daß “ein thörichtes Weib mit Güte des Herzens hoch über dem Genie steht,” das klingt sehr artig—im Munde des Genie’s. Es ist seine Höflichkeit—es ist auch seine Klugheit.

104. Die Eitelkeit Anderer geht uns dann wider unseren Geschmack, wenn sie wider unsere Eitelkeit geht.

105. Man liebt immer nur seine Begierde und nicht das Begehrte.

106. Die natürlichen Folgen einer Handlung werden wenig erwogen, so lange öffentliche Strafen und Beschimpfungen unter diesen Folgen sind. Hier fließt die große Quelle aller Oberflächlichkeit.

107. Die Frauen gehen mit ihrer Liebe auf den los, der ihnen Furcht einflößt: das ist ihre Art von Tapferkeit.

108. “Einer ist doch noch zuviel um mich”—denkt der Einsame. Einmal eins ist zwei.

109. Wir lieben den Nutzen nur als das Fuhrwerk unserer Neigungen: und finden eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich.

110. “Sich ganz so geben, wie man ist”: das mag die Auszeichnung bleiben, die wir unserem Freunde vorbehalten—mit dem Erfolge, daß er uns deswegen zum Teufel wünscht.

111. Man ist oft zwar seiner Handlung gewachsen, aber nicht seinem Bilde der gethanen Handlung.

112. Die schönsten Farben, in denen die Tugenden leuchten, sind die Erfindung derer, welche ihrer ermangelten. Woher stammt z. B. der sammtene Glanz der Güte und des Mitleides?— Gewiß nicht von den Guten und Mitleidigen.

113. Es kommt in der Welt-Geschichte nur auf die großen Verbrecher an, eingerechnet jene Vielen, welche eines großen Verbrechens fähig waren, aber durch Zufall es nicht thaten.

114. “Religiöser Mensch,” “Narr,” “Genie,” “Verbrecher,” “Tyrann”—das sind schlechte Namen und Einzelheiten an Stelle eines Unnennbaren.

115. Das schlechte Gewissen ist die Steuer, welche die Erfindung des guten Gewissens den Menschen auflegt.

116. Du willst gerecht sein? Unglückseliger, wie willst du Jedem das Seine geben? Nein, das will ich nicht. Ich gebe Jedem das Meine das ist genug für einen, der nicht der Reichste ist.

117. Die Einsamkeit macht uns härter gegen uns und sehnsüchtiger gegen die Menschen: in Beidem verbessert sie den Charakter.

118. Man ist am strengsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!



Gott erdachte die Teleologie der Schwangerschaft: da erdachte er das Weib.

119. “Ich glaube an nichts mehr.”— Dies ist die richtige Denkweise eines schöpferischen Menschen.

120. La Rochefoucauld blieb auf halbem Wege stehen: er leugnete die “guten” Eigenschaften des Menschen—er hätte auch die “bösen” leugnen sollen.



Wenn der moralische Skeptiker beim Mißtrauen gegen die Moral angelangt ist, so bleibt ihm noch ein Schritt zu thun—die Skepsis gegen sein Mißtrauen. Leugnen und Vertrauen—das giebt einander die Hände.

121. Der Glaube in der Form, der Unglaube im Inhalt—das macht den Reiz der Sentenz aus—also eine moralische Paradoxie.

122. Wir verzeihen unseren Gegnern von Grund aus ihre—Fehlgriffe.

123. Wie? Du willst dich selber erkennen? Lerne vielmehr dein Glück erkennen!

124. Wünsche will ich, nichts als Wünsche: und immer an Stelle der Erfüllung einen neuen Wunsch.

125. Der kostspieligste Luxus, dem sich bisher die Menschheit hingab, ist der Glaube an etwas Unwirkliches, an die Selbstlosigkeit. Denn er entwerthete das Wirklichste, die Selbstsucht.— Seitdem ist alles Glück Sehnsucht.

126. Der tiefe Haß ist auch ein Idealist: ob wir aus unserem Gegner dabei einen Gott oder einen Teufel bilden, jedenfalls thun wir ihm damit zu viel Ehre an.

127. Auch im Hasse giebt es Eifersucht: wir wollen unseren Feind für uns allein haben.

128. Die Lösung für das Räthsel “Weib” ist nicht die Liebe, sondern die Schwangerschaft.

129. Unser Glaube an Andere verräth, worin wir gern an uns selber glauben möchten.

130. “Das Herz gehört zu den Eingeweiden”—sagte Napoleon. Die Eingeweide des Kopfes liegen im Herzen.

131. Jede heftige Erwartung überlebt ihre Erfüllung, wenn sie eher eintritt, als man erwartete. Dieser Freund kam zwei Tage zu früh: seine Anwesenheit ist mir unglaubwürdig.

132. Der Reiz der Erkenntniß wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre.

133. “Die Erkenntniß um ihrer selber willen”—das ist der letzte Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal vollständig mit ihr.



“Alle Frauen sind entweder Vögel oder Katzen oder Kühe”—man sehe ihren Blick darauf an.



Was ist das beste Leben? Zu Tode gekitzelt werden.

134. Wo der Baum der Erkenntniß steht, ist immer noch das Paradies.

135. “Die Moral selber war der erste Sündenfall: die Moral selber ist die Erbsünde”—so denkt jeder Erkennende.

136. Er hat gelernt, sich auszudrücken—aber man glaubt ihm seitdem nicht mehr. Man glaubt nur den Stammelnden.

137. Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.

138. Gewissensbisse erziehn zum Beißen.

139. Den kalten Menschen glaubt man ihre Torheiten nicht.



Pfui über das gebildete Gesindel, welches sich zu sagen schämt: “Hier fühle ich nichts!” “Hier weiß ich nichts.”



Der Erkennende lebt unter Menschen nicht wie unter Thieren, sondern als unter Thieren.

140. Die Neigung zum Tragischen nimmt mit der Sinnlichkeit ab oder zu: sie gehört jedem Jüngling und jungen Manne.

141. Im Lobe ist viel mehr Zudringlichkeit als im Tadel.

142. Viel guter Wille zum Leben—aber zu wenig Wille zum Leiden—das macht den Behaglichen.

143. Der Einwand, das Mißtrauen, der Seitensprung sind Anzeichen der Gesundheit: alles unbedingte Streben gehört in die Pathologie.

144. Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank: wer sie leugnet, ist dumm.

145. Was aus Liebe gethan wird, das ist nicht moralisch, sondern religiös.

146. Ein Talent haben ist nicht genug: man muß auch die Erlaubniß haben, es zu haben.

147. Man nehme sich vor den Menschen der moralischen Entrüstung in Acht: sie haben den Stachel der feigen, vor sich selber maskirten Bösartigkeit.

148. Der christliche Gott, der “die Liebe” ist, entstand in Zeiten, wo die Liebe noch zu wenig göttlich war.

149. Gute und böse Menschen—das ist mir gleich: aber die Feiglinge und die Liebenswürdigen verachte ich.



Die Stärke eines Guten liegt nicht in seiner Güte, sondern darin, daß sein Böses stark ist.

150. Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst—sogar sich selber.

151. “Sei wenigstens mein Feind”: so spricht die wahre Ehrfurcht, die nicht um Freundschaft zu bitten wagt.



Wenn du nicht zuerst und unter allen Umständen Furcht einflößest, so wird dich Niemand so ernst nehmen, um dich endlich zu lieben.

152. Für den Erkennenden hört alles Eigenthums-Recht auf.



Wenn die Guten moralisiren, erregen sie Ekel: wenn die Bösen moralisiren, so erregen sie Furcht.

153. Nach dem Rausch des Sieges entsteht immer ein Gefühl des großen Verlustes: unser Feind, unser Feind ist todt! Wir beklagen selbst den Verlust eines Freundes nicht so tief und daher lauter!

154. Der Mensch der Erkenntniß muß nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können.

155. Es ist ein Fehler des Geschmacks, wenn der Mensch der Erkenntniß sich noch als “moralischer Mensch” aufputzt: ihm soll man gerade ansehen, daß er die Moral “nicht nöthig hat.”

156. Alles ist bei ihm ernte-reif: aber ihm fehlt die Sichel—und so rauft er Ähren und ist ärgerlich.

157. Der Eine reist, weil er sich sucht, und der Andere, weil er sich verlieren möchte .

158. Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man.

159. Der Irrsinn ist selten bei Einzelnen—aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel:—und deshalb redeten bisher die Historiker nicht vom Irrsinn. Aber irgend wann werden die Ärzte Geschichte schreiben.

160. Wenn wir lieben, schaffen wir Menschen nach dem Ebenbilde unseres Gottes: und dann erst hassen wir unseren Teufel von Grund aus.

161. Es ist nicht leicht möglich, ein Buch zu finden, das uns so viel lehrte wie das Buch, welches wir machen.

162. Wer “den Leser” kennt, schreibt gewiß nicht mehr für Leser—sondern für sich, den Schreiber.

163. Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber du mußt dazu lange Beine haben!— Sentenzen sind Gipfel.

164. Es genügt nicht etwas wieder gut zu machen, man muß auch sich selber wieder gut machen, sich selber wieder gut werden, zum Beispiel durch eine kleine überflüssige Bosheit oder Wohlthat.

165. Jedem das Seine geben: das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen.

166. Hier diese Beiden haben im Grunde denselben schlechten Geschmack: aber der Eine von ihnen möchte sich und uns überreden, das es der beste sei. Und der Andere schämt sich seines Geschmacks und möchte sich und uns überreden, daß er einen anderen und besseren habe—unseren Geschmack. Von einer dieser zwei Arten sind alle Bildungs-Philister.



Wo nur immer man freiwillig Leiden auf sich nimmt, hat man damit auch den freien Willen, sich wohlzuthun: und wer dies leugnet — — —

167. Wehe, wenn die Guten, die ewigen Pharisäer, Geschichte treiben! Sie überpinseln die großen Menschen der Vergangenheit so lange, bis sie dick und brav wie gute Menschen aussehen.



Die Moral brüstet sich die Bekämpferin des Übels zu sein — — —

168. Noch ein Jahrhundert Zeitungen—und alle Worte stinken.

169. Nicht wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht ist, steigt der Erkennende ungern ins Wasser.

170. An die Sceptiker. Wer zu müde wird, legt sich zuletzt auch auf Schnee schlafen hüte dich zu weit zu gehen.

171. — Wer [auf ] hohe Berge steigt, lacht über alle tragischen Gebärden.

172. Die Luft dünn, und rein, die Gefahr nahe—und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit: so paßt es gut zu einander.

173. Der Muth vernichtet Gespenster, aber schafft Kobolde.

174. Der Gedanke an den Selbstmord ist ein sehr starkes Trostmittel. Man kommt damit gut über die “böse Nacht” hinweg.

175. Es giebt Gefühle, die uns tödten wollen; gelingt es ihnen aber nicht, so müssen sie selber sterben.

176. Unserem stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsere Vernunft, sondern auch unser Gewissen. Haben wir aber unter den Trieben keinen solchen Tyrannen, so bewerben sich die einzelnen Triebe ebenso um die Gunst der Vernunft als um die Gunst des Gewissens—: und Vernunft und Gewissen werden fast souverän.

177. Unsere Selbstmörder machen den Selbstmord verrufen,—nicht umgekehrt!

178. Es ist vornehmer, sich Unrecht zu geben als Recht zu behalten—namentlich wenn man Recht hat.

179. Die Lüge kann die Menschenfreundlichkeit des Erkennenden sein.

180. Der Wahrhaftige endet damit, zu begreifen, daß er immer lügt.

181. Bei vielen Frauen ist wie bei Hypnotischen der Intellekt nur plötzlich und stoßweise da und in unerwarteter Kraft: der Geist kommt dann “über sie” und scheinbar nicht aus ihnen. Daher ihre dreiäugige Klugheit in verflochtenen Dingen—, daher auch ihr Glaube an Inspiration.

182. Es giebt Vieles an den Bösen, das mich ekelt, aber auch Vieles an den Guten: und wahrlich nicht eben ihr “Böses”!

183. “Es ist nicht genug den Verbrecher zu strafen, wir sollten ihn auch noch mit uns versöhnen und ihn segnen: oder liebten wir ihn nicht, als wir ihm wehe thaten? Litten [wir nicht] daran, ihn als Werkzeug zur Abschreckung benutzen zu müssen?”

184. Ob nicht überall wo eine Freundschaft durchaus nicht in Liebe übergehen will, ein Natur-Gegensatz wie zwischen Hund und Katze zu Grunde liegt?

185. Man muß vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der Person, die uns Gutes oder Schlimmes that?

186. Die Strafe sollte so beschaffen sein, daß man sie nach einer Übertretung als sein Recht und seine Ehre in Anspruch nimmt.

187. Nicht nur der lügt, welcher wider sein Wissen redet, sondern erst recht der, welcher wider sein Nicht-Wissen redet.— Die zweite Art der Lüge ist so gewöhnlich, daß man nicht einmal mehr über sie stolpert: der menschliche Verkehr ist auf sie eingerichtet.

188. Erziehen: das heißt für gewöhnlich “zum Lügen erziehen.”

189. Wer Gott liebt, der züchtigt ihn.

190. Die eigentlich gerechten Menschen sind unbeschenkbar: sie geben Alles zurück. Weshalb sie den Liebenden ein Greuel sind.

191. Man liebt seine Erkenntniß nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt.

192. Die Hündin Sinnlichkeit, die ein Stück Fleisch abhaben will, weiß gar artig um ein Stück Geist zu betteln.

193. Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos; sie beuten sie aus.

194. Ob du dich oder mich verräthst, du gehörst zu den Verräthern. An die Schriftsteller.

195. Nimm dich vor dem in Acht: er redet nur, um nachher hören zu dürfen,—und du hörst eigentlich nur, weil es nicht angeht, immerfort zu reden: d. h. du hörst schlecht, und er hört nur zu gut.

196. Von unsren eigentlichen Feinden wollen wir nicht geschont werden: und ebensowenig von denen, die wir von Grund aus lieben.

197. Unglückseliger, dein Gott ist zerborsten und zerbrochen, und die Schlangen hausen in ihm—und nun liebst du gar noch diese Schlangen um seinetwillen!

198. Wer aus sich kein Hehl macht, empört.

199. Das Eisen haßt den Magneten, wenn der Magnet das Eisen nicht ganz an sich ziehen kann—und, doch zieht.

200. Nicht was uns hindert geliebt zu werden, sondern was uns hindert ganz zu lieben, hassen wir am meisten.



Man haßt an seinem Nächsten, daß er nicht unser Ideal haben kann.

201. Wenn wir unser selber satt werden und [uns] nicht mehr lieben mögen, so ist zur Kur die Nächstenliebe anzurathen: insofern die Nächsten sehr bald uns nöthigen werden, an unsere “Liebenswürdigkeit” zu glauben.

202. “Unser Nächster ist nicht unser Nachbar”: so denken alle Politiker und Völker.

203. Du würdest an dieser Tugend zu Grunde gehen, mein Freund: aber der Himmel schenkte dir eine zweite, die dich bisweilen der ersten untreu macht.

204. Mit der Liebe zu einer Person will man den Neid gegen sie überspringen.

205. Wir stellen uns alle einfältiger als wir sind—und zwar auch vor uns selber.

206. Große Verbindlichkeiten machen uns nicht dankbar, sondern rachsüchtig.

207. Man lädt sich gerne einen Zeugen ein, wenn man von sich selber reden will: das nennt man “Umgang mit Menschen.”

208. Wir gewöhnen uns das Böse verächtlich zu finden, wenn wir nur in der Gesellschaft schwacher und kleinlicher Personen leben: an großen Menschen hat das Böse etwas Begeisterndes.

209. Armut an Liebe verkleidet sich gern als Entbehrung des Liebens-Würdigen.

210. Vermöge der Liebe sucht der Mann die unbedingte Sklavin, das Weib die unbedingte Sklaverei. Liebe ist das Verlangen nach einer vergangenen Cultur und Gesellschaft—sie weist nach dem Orient zurück.

211. Das Unrecht soll der auf sich nehmen, der es tragen kann: so will es die Menschlichkeit.

212. Getheiltes Unrecht ist halbes Recht.



Die giftigsten Pfeile werden dem nachgesandt, der von einem Freunde sich losmacht, ohne ihn selbst nur zu beleidigen.

213. Nach einem Zwiespalt.— “Man mag mir sagen, was man will, um mir wehe zu thun: man kennt mich zu wenig, um zu wissen, was mir am meisten wehe thut.”

214. Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei, ausgeübt auf Unkosten aller Übrigen und ein Schaden der Erkenntniß. Sondern Viele sollst du lieben:—da zwingt dich die Liebe zur Gerechtigkeit gegen Jeden: und folglich zur Erkenntniß eines Jeden. Die Liebe zu Vielen ist der Weg zur Erkenntniß.

215. Die Grausamkeit des Gefühllosen ist der Gegensatz des Mitleidens; die Grausamkeit des Gefühlvollen ist die höhere Potenz des Mitleidens.

216. Was wir ohne Gründe glauben gelernt haben, ist am schwersten durch Gründe zu erschüttern.

217. Wer von Natur keusch ist, denkt nicht hoch von der Keuschheit, einige Eitelkeits-Narren abgerechnet. Ihre Vergötterer sind die, welche Gründe haben zu wünschen, sie möchten keusch sein oder gewesen sein—die Schweine der Circe.

218. Wem die Keuschheit sehr schwer fällt, dem ist sie gewiß auch zu widerrathen.

219. Herzensbedürfnisse.— Die Thiere, welche eine Brunstzeit haben, verwechseln nicht so leicht ihr Herz und ihre Begierde: wie es die Menschen und namentlich die Weibchen thun.

220. Das Weib will es vor sich selber nicht Wort haben, wie sehr sie in einem Geliebten “den Mann” (einen Mann) liebt: deshalb vergöttlicht sie “den Menschen” in ihm—vor sich und Andern.



Das “Ich” unterjocht raubt tödtet und thut jede Gewaltthat: mit alledem will es nichts als seiner Schwangerschaft dienen: damit es einen Gott gebäre und alle Menschheit ihm zu Füßen sehe.

221. An diesem Menschen ist nicht sein Äußeres, sondern sein Inneres hinzugelogen: er will durchaus nicht Schein und Oberfläche scheinen, was er doch ist.

222. Der heroische Mensch der Erkenntniß vergöttert seinen Teufel: und auf dem Wege dazu macht er den Zustand des Ketzers der Hexe des Wahrsagers, des Skeptikers, des Weisen Inspirirten und überwältigten durch, und ertrinkt zuletzt in seinem eignen Meere.

223. Wenn man erst den Willen zum Leiden hat, so ist es nur ein Schritt, um auch den Willen zur Grausamkeit zu haben—und zwar sowohl als Recht wie als Pflicht.

224. Es dauert lange, bis man zum zweiten Male stirbt: das gilt von Jedem, der nach seinem Tode wieder zum Leben kam.

225. Auch wenn ein Volk rückwärts geht, läuft es einem Ideale nach: es glaubt immer an ein Vorwärts.

226. Die Neigung, sich herab zu setzen, sich bestehlen belügen und ausbeuten zu lassen, kurz die Demuth kann die Scham eines Gottes unter Menschen sein.

227. Wer als Gott das Gute neu schafft, den haben die Bewahrer des alten Guten immer für einen Teufel ausgegeben.

228. Nur der Lasterhafte ist unglücklich, bei dem das Bedürfniß zum Laster zusammen mit dem Ekel vor dem Laster wächst—und niemals von ihm überwachsen wird.

229. Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man noch nicht die Hand gesehen hat, die auf eine schonende Weise—tödten wollte.



Nicht was du im Leben alles gethan hast, sondern was du jedesmal über das Gethane gedacht hast, bestimmt deine jetzige Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit dir selber.

230. Eine kleine Rache ist zumeist etwas Menschlicheres als gar keine Rache.

231. Wer sich selber verachtet, ehrt sich doch immer noch mit dem Gedanken, daß er sich jetzt wenigstens nicht belügt.

232. Freund, alles, was du liebtest, hat dich enttäuscht: die Enttäuschung wurde endlich deine Gewohnheit: und deine letzte Liebe, die du “Liebe zur Wahrheit” nennst, ist vielleicht eben die Liebe zur Enttäuschung.



Das Unvermögen zu lügen ist durchaus noch nicht Liebe zur Wahrheit. Vielmehr ist in jeder Liebe das Vermögen zu lügen—auch in der Liebe zur Wahrheit.

233. Er schüttelt sich, blickt um sich, streicht mit der Hand über den Kopf—und man nennt ihn immer einen Erkennenden. Aber Freiheit vom Fieber ist noch nicht Erkenntniß.

234. “Wo ist ein Meer, in dem man wirklich noch ertrinken kann? nämlich ein Mensch!”—dieser Schrei klingt durch unsere Zeit.



Der Besitz der Wahrheit ist nicht schrecklich sondern langweilig wie jeder Besitz.

235. In der Bosheit begegnet sich der Übermüthige mit dem Schwächling: aber sie mißverstehen sich.

236. Wem ein Widerwille gegen das Erhabene zu eigen ist, findet nicht nur das ja, sondern auch das Nein schon zu pathetisch:—er gehört nicht zu den verneinenden Geistern, und wenn er auf deren Wege geräth, so macht er plötzlich einmal Halt und läuft fort—in die Büsche der Skepsis.

237. Im Kampfe giebt man wohl sein Leben dran; aber der Siegende ist versucht, sein Leben wegzuwerfen. In jedem Sieg ist Verachtung des Lebens.

238. “Ich fliehe nicht die Nähe der Menschen: gerade die Ferne, die ewige Ferne zwischen Mensch und Mensch treibt mich in die Einsamkeit.”



Unbezwingliches Bedürfniß nach etwas und zugleich Ekel davor—das macht das Gefühl des Lasterhaften.

239. Auch die Wahrheit verlangt, gleich allen Weibern, daß ihr Liebhaber um ihretwillen zum Lügner werde,—aber nicht ihre Eitelkeit verlangt dies, sondern ihre Grausamkeit.

240. “Das habe ich gethan” sagt mein Gedächtniß; “das kann ich nicht gethan haben” sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich giebt das Gedächtniß nach —

241. Kalt auf die Dinge sehen, so, daß sie nackt und ohne Flaum und Farbe daliegen,—das nennt sich “Liebe zur Wahrheit,” und ist nur die Ohnmacht zu lügen.

242. Die Fieberkranken sehn nur Gespenster der Dinge, und die Fieberlosen nur Schatten der Dinge: und Beide brauchen die gleichen Worte.

243. “Ich horchte nach Widerhall—und ich hörte nur Lob.”

244. Gegenliebe entdecken sollte uns eigentlich über das geliebte Wesen ernüchtern: wie kann es so thöricht sein, an dich zu glauben?

245. “Was man lieben muß, warum muß man das immer zugleich auch hassen? Ist nicht Liebe die größte aller Qualen?” Deshalb muß, der Mensch überwunden werden.

246. Hast du die dumpfe Gleichgültigkeit des Negers gesehen, mit derer seine schweren inneren Krankheiten aushält, während du durch dieselben fast zur Verzweiflung gebracht würdest: dies gibt dir zu denken, daß, abseits von dem oberen Zehntausend des Geistes, überhaupt in der Menschheit wenig Schmerz vorhanden ist.

247. “Mein Glück beginnt, wenn ich mich unter mir, als ein Wesen neben anderen Wesen, sehe.”

248. Unser Zeitalter ist ein aufgeregtes Zeitalter, und eben deshalb kein Zeitalter der Leidenschaft; es erhitzt sich fortwährend, weil es fühlt, daß es nicht warm ist—es friert im Grunde. Ich glaube nicht an die Größe aller dieser “großen Ereignisse,” von denen ihr sprecht.

249. Der Erkennende fühlt sich als die Thierwerdung Gottes.

250. Jetzt ist es erst der Widerhall, durch den die Ereignisse “Größe” bekommen—der Widerhall, der Zeitungen.

251. Arme Künstler! Was verlangt denn das nervöse Gesindel von euch? Nicht auferbaut sondern umgeworfen will es werden!

252. Nicht die Stärke, sondern die Andauer der hohen Empfindung macht die hohen Menschen: sie sollen nicht mit den Menschen der moralischen Krämpfe verwechselt werden!

253. Und nochmals.— Redlich gegen uns selber, und wer sonst uns Freund ist, muthig gegen den Feind, großmüthig gegen die Besiegten, höflich gegen Alle.

254. Wer keinen eignen Willen hat, will wenigstens alles besser wissen.

255. Ursprünglich Heerde und Heerden-Instinkt; das Selbst als Ausnahme, Unsinn, Wahnsinn von der Heerde empfunden.

256. Der Weise als Astronom.— So lange du die Sterne noch fühlst als ein “Über-dir,” fehlt dir noch der Blick der Erkenntniß: für, diese giebt es kein über und Unter mehr.

257. Man kann mit Jemandem so verwandt sein, daß man alles, was jener wirklich thut und erleidet, in seinem Traum ihn thun und erleiden sieht: weil man es selber thun und erleiden könnte.

258. Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniß, das immer wieder kommt.



Die Menschen zerfallen in solche, welche einer fürchterlichen Handlung fähig sind und in solche die es nicht sind.

259. Es sind grundverschiedene Menschen: diese, welche Scham bei der Ebbe ihres Gefühls (in Freundschaft oder Liebe) empfinden, und jene, welche sich der Fluth schämen.



Eben dadurch daß die Passion des Einen von zwei Liebenden ihren Höhepunkt überschreitet und sinkt, steigt die des Anderen etwas länger aufwärts als sie sonst gestiegen sein würde: die Curve des länger Liebenden.

260. Ob jemand zu den Guten oder Bösen gehört, das liegt durchaus nicht an seinen Handlungen,—sondern an seiner Meinung über diese Handlungen.

261. Wenn die Selbstsucht erst einmal größer klüger feiner erfinderischer geworden ist, wird die Welt “selbstloser” aussehen.

262. Wer das Auge des Denkers stark zu empfinden vermag, der hat dabei jenen schrecklichen Eindruck, welchen jene Thiere machen, deren Auge sich langsam wie an einem Stiele aus dem Kopfe herausschiebt und um sich blickt.

263. Auch der Heilige bedarf der Vernichtung der Moral: damit er thun kann, wozu er Lust hat.

264. Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe—hinaus.

265. Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch zweierlei besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit.

266. Das, was die Liebe giebt, darf man nicht zurückgeben und vergelten wollen: im Meere der Liebe soll aller Trieb zur Vergeltung ertrunken sein.

267. Wie wolltet ihr gegen mich gerecht sein?—sagte der Heilige. Ich erwähle eure Ungerechtigkeit als den mir angemessenen Theil.

268. Der Mensch des Erhabenen wird beim Anblick des Erhabenen frei, fest, breit, ruhig, heiter: aber der Anblick des vollkommenen Schönen erschüttert ihn und wirft ihn um: vor ihm verneint er sich selber.

269. Wer im Erhabenen nicht zu Hause ist, fühlt das Erhabene als etwas Unheimliches und Falsches.

270. Mancher Pfau versteckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif: und nennt es seinen “Stolz.”

271. Seltsam! Sobald ich mir einen Gedanken verschweigen und fernhalten will, kommt mir gewiß dieser Gedanke in leibhafter Gestalt, als Mensch, entgegen, und ich muß nun mit diesem “Engel Gottes” artig thun!

272. Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird. Lieber doch ein wenig mitfluchen!

273. Ich sah manche Wahrheit siegen, aber stets durch die wohlwollende Unterstützung von hundert Irrthümern.

274. Wenn Skepsis und Sehnsucht sich begatten, entsteht die Mystik.



Wessen Gedanke nur Ein Mal die Brücke zur Mystik überschritten hat, kommt nicht davon ohne ein Stigma auf allen seinen Gedanken.

275. Grad und Art, der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in, die letzte Höhe seines Geistes hinauf.

276. Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren, oder rechtfertigen, oder ehren, oder beschimpfen, oder verbergen. Menschen mit gleichen Grundsätzen wollen damit doch wahrscheinlich noch etwas ganz Verschiedenes.

277. Wille—das ist eine Annahme, welche mir nichts mehr erklärt. Für den Erkennenden giebt es kein Wollen.

278. Immer noch fehlt der umgekehrte La Rochefoucauld: der, welcher zeigt, wie die Eitelkeit und Selbstsucht der Guten gewisse Eigenschaften des Menschen verrufen und endlich böse und schädlich—gemacht hat.

279. Vergilt nicht Böses mit Gutem: denn das würde beschämen, sondern beweise, daß man dir etwas Gutes angethan hat.

280. In aller Bewunderung ist etwas Schrecken und Flucht vor uns selber—ja mitunter sogar Selbstverleugnung, Selbst-Leugnung.

281. Wer sich selber verachtet mag erwägen, daß er nicht nur der Verachtete, sondern auch der Verächter ist: er mag sich also als Verächter ächten!

282. So du weißt, was du thust, bist du selig. So du es aber nicht weißt, bist du verflucht und ein Frevler am [Gesetz]—sagte Jesus zu einem, der den Sabbat brach—ein Wort für alle Brecher und Verbrecher.

283. Unser plötzlich ausbrechender Widerwille gegen uns selber kann ebensogut das Resultat eines verfeinerten Geschmacks—als eines verdorbenen Geschmacks sein.

284. “Wille zur Wahrheit!” Reden wir nicht mehr so einfältig und großthuerisch! Wir wollen die Welt uns denkbar, womöglich sichtbar machen—ja machen!— Alle Physik ist auf Sichtbar-Machung aus.

285. Wille und Intellekt (oder wie man sagt, Herz und Kopf)—daß ist Mann und Weib; zwischen ihnen handelt es sich immer um Liebe, Zeugung, Schwangerschaft. Und wohlgemerkt, das Herz ist hierbei der Mann, und der Kopf das Weib!

286. Er ist einsam und hat nichts als seine Gedanken: was Wunder, daß er oft gegen sie zärtlich und neckisch ist und sie an den Ohren zupft!— Aber ihr Plumpen sagt, er sei ein Skeptiker.

287. “Die Liebe Gottes zu den Menschen ist seine Hölle”—sagte der Teufel. “Wie kann man sich aber auch in die Menschen verlieben!”

288. Indem wir fortwährend uns üben, es mit allerlei Mitmenschen auszuhalten, üben wir uns unbewußt darin, uns selber auszuhalten: was eigentlich die unbegreiflichste Leistung des Menschen ist.

289. Nicht die Größe des menschlichen Egoismus ist das Schwert, das über der Menschheit hängt, sondern umgekehrt dessen Schwäche, vermöge deren die Menschheit gar zu leicht ihrer selber satt werden könnte.

290. Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her—in Ermangelung von anderen Feinden.

291. Schaffen: das heißt etwas aus uns hinausstellen, uns leerer, ärmer und liebender machen. Als Gott die Welt geschaffen hatte, da war er nichts mehr als ein hohler Begriff—und Liebe zum Geschaffenen.

292. “Hier ist die Insel des Einsamen. Und alles Werdende Schweifende Suchende Flüchtige soll mir hier willkommen sein! Gastfreundschaft ist nunmehr meine einzige Freundschaft! Ich liebe alles Werdende!”

293. Die Liebe zum Leben ist beinahe der Gegensatz der Liebe zum Lang-Leben. Alle Liebe denkt an den Augenblick und die Ewigkeit—aber nie an “die Länge.”

294. “Meine Liebe erregt Furcht, sie ist so anspruchsvoll! Ich kann nicht lieben, ohne zu glauben, der, den ich liebe sei bestimmt, etwas Unsterbliches zu thun. Und er erräth was ich glaube—was ich fordere!”

295. Der Erkennende vermeidet die Selbsterkenntniß und läßt seine Wurzeln in der Erde stecken.

296. Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden—kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann. Deshalb ist es nichts mit Schriftstellerei.

297. Gang und Gangart.— Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen.

298. Der freie Geist.— Wer fliegen kann, weiß daß er sich zum Fortfliegen nicht erst stoßen lassen muß; wie alle ihr festgesessenen Geister es nöthig habt, um überhaupt “fort zu kommen.”

299. Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf dem Wege, an dessen Ende man sich auch seiner Moralität schämt.

300. Man liebt von Grund aus und dauernd allein seine Kinder oder Werke: und die Liebe zu sich selber ist immer ein Symptom.

301. Manche Naturen wird man nie entdecken, es sei denn, daß man sie zuerst erfindet.

302. “Der Umgang mit den Menschen verdirbt den Charakter, namentlich wenn man keinen hat”—sagte Timon.

303. “Du kennst die W[eiber] nicht: wie kommt es, daß du bisweilen über sie recht hast?”—Bei den W[eibern] ist kein Ding unmöglich

304. Es fehlt noch überall an Selbstsucht.

305. Wer Sentenzen schreibt, will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden.

306. Auch noch in der Befriedigung ihrer Begierde (nach Nahrung Weib Besitz, Ehre Macht) handeln die meisten Menschen als Heerdenvieh und nicht als Personen—selbst wenn sie Personen sind.

307. Es gereicht mir Alles zum Besten: wer hat Lust mein Schicksal zu sein? Ich liebe jedes Schicksal.

308. Das Zeitalter der größten Ereignisse wird trotz alledem das Zeitalter der kleinsten Wirkungen sein, wenn die Menschen von Gummi und allzu elastisch sind.

309. “Vor jeder Handlung quält es mich, daß ich nur ein Würfelspieler bin—ich weiß nichts mehr von Freiheit des Wollens. Und nach jeder Handlung quält es mich, daß die Würfel nun zu meinen Gunsten fallen: bin ich denn ein falscher Spieler?”— Skrupel eines Erkennenden.

310. Mit der Rache würde man auch die Dankbarkeit verlernen müssen, aber nicht die Liebe.

311. Lieben-Wollen verräth Selbstmüdigkeit und Sattheit an sich, Geliebt-werden-wollen aber Selbst-Verlangen, Selbst-Sucht. Der Liebende schenkt sich weg; der welcher geliebt werden will, möchte sich selber geschenkt bekommen.

312. Mit den Gründen, durch die man die Strafe eines Verbrechens rechtfertigt, kann man auch das Verbrechen rechtfertigen.

313. Reife des Mannes: das heißt den Ernst wiedergefunden zu haben, den man als Kind hatte, beim Spielen.



“Ella guardava suso, ed io in lei” Dante. Und ich in ihr!

314. Jetzt erst bin ich einsam: ich verlangte nach Menschen, ich suchte nach Menschen—ich fand immer nur mich—und nach mir verlangt mich nicht mehr!



Kleine Menschen sind des Bösen unfähig: sie können folglich weder gute noch böse Menschen werden. (Das Gute aber ist ein verkleinertes Böses?)



Etwas wollen und es durchsetzen: gilt als Zeichen des starken Charakters. Aber etwas nicht einmal wollen und es doch durchsetzen, ist den Stärksten eigenthümlich, welche sich als fleischgewordenes Fatum fühlen.



Wer immer Kind bleibt, bleibt damit auch der unschuldige Egoist, und wird mehr gehaßt als ein Gegenstand des Neides und Hasses für die “schuldigen” Egoisten.

315. Ich liebe die Menschen: und am meisten dann, wenn ich diesem Triebe widerstrebe.

316. Das Weib versucht zu lieben, wo es fühlt, gehorchen und dienen zu müssen: es ist sein Kunststück, um das Joch leichter zu tragen.

317. “Liebe mich!”—ein Gott, der so zu dem Menschen redet, ist toll geworden—vor Eifersucht.

318. Man haßt nicht, wenn man gering schätzt, sondern nur indem man gleich und hoch schätzt.

319. Man erschrickt bei der Vorstellung, plötzlich erschreckt zu werden.

320. Nicht das Verbrechen des Verbrechers, sondern seine Feigheit und Albernheit nach dem Verbrechen läßt uns überhaupt verächtlich von Verbrechern denken.

321. Das Böse kommt erst dann in Verruf, wenn es mit dem Niedrigen und Ekelhaften verwechselt wird. Bis dahin zieht es an und reizt zur Nachahmung.

322. Allen Frauen, denen die Sitte und die Scham die Befriedigung des Geschlechtstriebes untersagt, ist die Religion, als eine geistigere Auslösung erotischer Bedürfnisse, etwas Unersetzbares.

[323.] Meine Liebe zum Menschen hat Ebbe und Fluth: und jeder einzelne geliebte Mensch ist für diese Liebe nur eine Gelegenheits-Ursache. Dies zu erkennen betrübt.

324. Man umarmt aus Menschenliebe mitunter einen Einzelnen, weil man nicht Alle umarmen kann: aber man darf das dem Einzelnen nicht verrathen!



Das Gute ist das kleine Böse: deshalb ist es kleinen Menschen so leicht, gute Menschen zu werden.

325. Man liebt den Nächsten immer auf Unkosten des Ferneren.



“Der schwächere Mensch ist der bessere”—sagen unsere Moralprediger.



Die schwachen Menschen sagen “ich muß” die starken “es muß.”



Das Weib begeht zehnmal weniger Verbrechen als der Mann—folglich ist es moralisch zehnmal besser: sagt die Statistik.

326. Die Unschuld des Egoismus ist dem Kinde eigen: und so ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nie in dies Himmelreich kommen.

327. Man sollte vom Leben scheiden, wie Odysseus von Nausicaa schied—mehr segnend als verliebt.

328. Man handelt wohl für seinen Nächsten, aber man schafft nicht für ihn: so sagt die Ehrlichkeit aller Schaffenden.

329. Höher als die Nächstenliebe steht, die Liebe zu den Fernen, Zukünftigen: und höher als alle Liebe zu Personen steht die Liebe zu Sachen.

330. “Feind” will ich sagen, aber nicht “Verbrecher”: “Gewürm” will ich sagen, aber nicht “Schuft”: “Kranker” will ich sagen, aber nicht “Ungeheuer”; “Narr” will ich sagen, aber nicht “Sünder.”

331. Allen Feiglingen die Fortpflanzung verhindern: daß sollte die Moral der Weiber sein.

332. Nicht die Menschen—aber der Mensch ist es, den der Einsame liebt: und wenn diese Menschen-Liebe in ihm sich angehäuft und gestaut hat, dann stürzt sie wie ein Strom über irgend einen Menschen her, der ihm in den Sinn kommt—gleichgültig ob es Feind oder Freund ist.

333. Du sagst “ich liebe mich,” “ich verachte mich,” “ich bedaure mich”—mein Freund und Gottesleugner, ich will dir dein “Ich” nicht streitig machen, aber dies dein Mich ist ebenso erdichtet und erfunden, wie irgend ein Gott es ist—du mußt es auch leugnen.

334. Mitleid und zartes Gefühl für den Nächsten unter die Moral (oder gar als die Moral) zu rechnen, ist ein Zeichen von Eitelkeit, vorausgesetzt daß man selber von Natur mitleidig und zartfühlend ist,—also ein Mangel an Stolz und Vornehmheit der Seele.



Der Cultus des Mitleidens ist unanständig für Menschen, welche es nicht aus ihrer Erfahrung kennen.

335. Wenn man sein Gewissen dressirt, so küßt es uns zugleich wenn es beißt.

336. Die Moral ist die Wichtigthuerei des Menschen vor der Natur.

337. “Vielleicht erfand ein Teufel die Moral, um die Menschen durch Stolz zu quälen: und ein zweiter Teufel nimmt sie ihnen irgendwann einmal, um sie durch Selbst-Verachtung zu quälen.”

338. “Es giebt keinen Menschen, denn es gab keinen ersten Menschen”: so schließen die Thiere.

339. Die Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. Dagegen ist Höflichkeit ihm anzurathen, d. h. der beständige Anschein, als ob er etwas zu ehren habe.

340. Ich begreife nicht, wozu man nöthig hat zu verleumden. Will man Jemandem schaden, so braucht man ja nur über ihn irgend eine Wahrheit zu sagen.

341. Man weiß von Jedermann immer etwas zu viel.

342. Wir loben nur, was nach unserem Geschmack ist—d. h. wir loben, wenn wir loben, immer nur unseren Geschmack—was auch wider allen guten Geschmack geht.

343. Der Mensch allein widerstrebt der Richtung der Gravitation: er möchte beständig nach oben—fallen.

344. Die Leiter meiner Gefühle ist lang, und ich sitze gar nicht ungern auf ihren niedrigsten Stufen, gerade weil ich oft zu lange auf den höchsten sitzen muß: da bläst nämlich der Wind scharf und das Licht ist oft zu hell.

345. Die Eifersucht ist die geistreichste Leidenschaft und trotzdem noch die größte Thorheit.

346. In der Flamme der Eifersucht wendet man gleich dem Skorpione den vergifteten Stachel gegen sich selber—doch ohne den Erfolg des Skorpions.

347. Nicht daß du mich belogst, sondern daß ich dir nicht mehr glaubte, hat mich erschüttert.

348. Ich soll vergeben? Aber ich mache dir nicht zum Vorwurfe, was du dir vorwirfst: wie könnte ich dir also vergeben?

349. Viel von sich reden ist auch ein Mittel sich zu verbergen.

350. Es ist leichter seinem Feinde zu vergeben als seinem Freunde.

351. Der Haß gegen das Böse ist der Prunkmantel, mit dem der Pharisäer seine persönlichen Antipathien verkleidet.



Musik ist bei Frauen eine Form der Sinnlichkeit.



Die Frauen sind viel sinnlicher als die Männer, gerade weil sie sich der Sinnlichkeit als solcher bei weitem nicht so bewußt werden wie diese.

352. In der Musik von heute giebt es eine tönende Einheit von Religion und Sinnlichkeit: und folglich mehr Weib als jemals in der Musik war.



Ich und Mich sind immer zwei verschiedene Personen.

353. Seit ich das Meer im Sturme und über ihm einen reinen leuchtenden Himmel sah, mag ich alle die sonnenlosen, umwölkten Leidenschaften nicht mehr, die kein anderes Licht kennen, als den Blitz.

354. Alle Menschen des Erfolgs verstehen sich auf die schwere Kunst, zur rechten Zeit zu—gehen.



Man gefällt durch den Geist, den man zu kosten giebt: aber man wird gefürchtet um des Geistes willen, den man verschluckt. In dem Augenblick, wo du gefällst, erwäge, wie nah der Augenblick ist, wo du — — —

355. Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe verhindert die Christen von heute, Scheiterhaufen für die Ketzer aufzurichten.

356. Ihr glaubt, wie ihr sagt, an die Nothwendigkeit der Religion! Seid ehrlich! Ihr glaubt nur an die Nothwendigkeit der Polizei, und fürchtet euch vor Räubern und Dieben für euer Geld und eure Ruhe!

357. Wie moralisch und erhaben wird man, jedesmal wenn man gute Aussicht hat, damit wehe zu thun!

358. Vornehmheit im Gehorchen, Freiheit unter Zwang und Gesetz, Verachtung gegen die sich aufbäumenden Gelüste des Sklaven: das sind die Abzeichen der ersten Kaste “Mensch.”

359. Elf Zwölftel aller großen Männer der Geschichte waren nur Repräsentanten einer großen Sache.



Der Blick der Menschheit war bisher zu stumpf, zu erkennen, daß die mächtigsten Menschen große Schauspieler waren.

360. Bei Lebzeiten wird man nur berühmt, wenn man auch der Schauspieler seiner Tugend ist.

361. “Er mißfällt mir.”— Warum?— “Ich bin ihm nicht gewachsen.”— Hat je ein Mensch so geantwortet?

362. Auch bei seinem Hunger nach Menschen sucht man vor Allem eine bequeme Nahrung, wenn sie auch nur wenig nahrhaft ist: gleich den Kartoffeln.

364. Die Auflehnung ist die vornehmste Attitüde des Sklaven.

365. Man muß aufhören, sich essen zu lassen, wenn man am besten schmeckt—so heißt das Geheimniß der Frauen, welche lange geliebt werden.

366. Schauspieler des Großen ohne Bewußtsein der Schauspielerei wirken wie echte Größen und haben vor ihnen sogar—den Glanz voraus.

367. Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!



In der Art, wie und was man ehrt, zieht man immer eine Distanz um sich.

368. Nicht, was er des Tages gegen mich thut und aussinnt, beunruhigt mich: aber daß ich Nachts in seinen Träumen vorkomme—das macht mir Grauen.

369. Vermöge der Musik genießen sich die Affekte selber.

370. Die Probe des starken Charakters besteht darin, daß er, wenn der Entschluß einmal gefaßt ist, auch den besten Vernunft-Gründen dagegen unzugänglich bleibt: also ein periodischer Wahnsinn.

371. “Was ist Freiheit?— Euer gutes Gewissen”—sagte Periander, der siebente Weise.



“Ich könnte dies oder das oder jenes thun, alles würde lehrreich sein, zumal wenn es mir mißriethe und mich in Noth brächte”—so denkt und redet der freie Geist, der Liebhaber der Erkenntniß: er lacht darüber, wenn man ihm deshalb Willens-Schwäche und Unvernunft vorwirft.

372. Hatte ich je einen Gewissensbiß?— mein Gedächtniß schweigt auf diese Anfrage still.

373. Moral ist eine vorwissenschaftliche Form, sich mit der Erklärung unserer Affekte und Zustände abzufinden. Moral verhält sich zu einer einstmaligen Pathologie der Gemeingefühle, wie Alchemie zu Chemie.

374. Es giebt gar keine moralischen Phänomene; sondern nur eine moralische Interpretation gewisser Phänomene (—eine irrthümliche Interpretation!)

375. Der Verbrecher ist gewöhnlich seiner That nicht gewachsen, er widerruft und verleumdet sie.

376. “Lieber zu Bett liegen und sich krank fühlen, als etwas thun müssen”—nach diesem heimlichen Grundsatze leben alle Selbstquäler.

377. Die Wahrnehmung, daß ich mit Anderen übereinstimme, macht mich leicht mißtrauisch gegen das, worüber wir übereinstimmen.

378. Dem Erkennenden ist die pia fraus noch mehr wider den Geschmack als die impia fraus.

379. Man nehme sich vor der sancta simplicitas in Acht: sie ist es, die das Holz zu allen Scheiterhaufen gehäuft hat.

380. Einst vertrat die religiöse Erklärung die naturwissenschaftliche: und noch jetzt vertritt die moralische Erklärung die physiologische. Wer wenig denkt und gelernt hat, schiebt Alles zurück in die Moral, seine Verstimmungen durch Wetter, Unverdaulichkeit, Blutarmut, seine Bedürfnisse nach Entleerung oder Ersatz, seinen Mißerfolg, Überdruß, Unzufriedenheit, Unsicherheit.

381. Wenn du laut sagen wolltest, was du Alles schon in Gedanken gethan hast, so würde Jedermann schreien: “weg mit diesem ekelhaften Gewürme! Es schändet die Erde”—und Jedermann würde vergessen haben, daß er ganz dasselbe in seinen Gedanken gethan habe.— So moralisch macht uns Offenherzigkeit.



In der Moralität äußert sich, physiologisch zu reden, der Assimilationstrieb der Schwachen hin zu den Starken.

382. “Ich liebe sie und deshalb wünsche ich, daß sie liebt—aber warum gerade mich? ich liebe mich selber nicht genug dazu”—so spricht die göttliche Liebe aus dem Manne.



Du willst ihn bezaubern? So stelle dich vor ihm verlegen.

383. Das Verlangen nach Gegenliebe ist Eitelkeit und Sinnlichkeit.

384. Menschen, die gegen sich mißtrauisch sind, wollen mehr noch geliebt sein als lieben, um einmal, für einen Augenblick wenigstens, an sich glauben zu dürfen.



Ein Gott, der liebt, ist es nicht würdig, sich lieben zu lassen: lieber will er noch gehaßt werden.

385. Die Liebe zum Übermenschen ist das Heilmittel gegen das Mitleid mit den Menschen: an letzterem müßte die Menschheit sehr schnell zu Grunde gehen.

386. Ein kleines Mehr von Mitleid unter den Menschen, und die Verzweiflung am Leben stünde vor der Thür.

387. “Liebe deinen Nächsten”—d. h. zu alleroberst: “laß deinen Nächsten laufen!”— Und gerade dieser Theil der Tugend ist der schwerste!

388. Das kleine Leiden verkleinert uns, das große vergrößert uns. Der Wille zum großen Leiden sollte also eine Forderung der Selbstsucht sein.

389. Lieber böse Gesellschaft als kleine!

390. Ein bezauberndes Werk! Aber wie unausstehlich, daß sein Schöpfer uns immer daran erinnert, es sei sein Werk. Weiß er denn nicht, daß “der Vater” immer eine komische Person ist?

391. Vieles kleines Glück beschenkt uns mit vielem kleinen Elend: und verdirbt damit den Charakter.

392. Alle Behaglichkeit sollte man nur benutzen wie ein Kranker das Bett: zur Genesung.

393. Sehr klugen Personen glaubt man ihre Verlegenheit nicht.

394. “Ich bin zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt, alle Gläubigen sind mir etwas Fremdes und Lärmendes.”

395. Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt. Unsere Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben unser Stolz verletzt worden ist.

396. Diese zwei Weibspersonen, Vergangenheit und Zukunft, machen jetzt einen solchen Lärm, daß die Gegenwart vor ihnen davonläuft.

397. Aus einem “ich habe Lust” ein “du sollst” machen, die Gewohnheit zur Tugend, die Sitte zur Sittlichkeit umprägen: das ist eine feine alte uralte Falschmünzerei—und ich verstehe mich heute noch auf sie.

398. “Du sollst” klingt den Meisten angenehmer als “ich will”: in ihren Ohren sitzt immer noch der Heerden-Instinkt.

399. In einem bestimmten krankhaften Zustand kann man gar nicht anders, als geizig sein. Geiz ist ein Affekt. Ihr liebt mir die Nüchternheit des Geistes zu sehr: auch dieser Geiz ist Krankheit.

400. Wir werden mißtrauisch, nicht weil wir einen Grund dazu finden, sondern “wir finden immer einen Grund dazu” mißtrauisch zu sein, wenn wir mißtrauisch werden.

401. Unter Umständen ist der allgemeine Schaden geringer, wenn einer seine Affekte an Anderen als wenn er sie an sich selber ausläßt: namentlich gilt dies von den schöpferischen Menschen, deren Nutzen in die Ferne geht.

402. Wehe wenn die Menschen nicht ihre kleinen boshaften Gedanken hätten! Wie viel Lust mehr haben sie dabei, wie viel Wehe-Thun ersparen sie dabei!

403. Der Mensch ist immer noch mehr Affe als irgend ein Affe.

404. Das Herz ist es, das begeistert: und der Geist ist es, der beherzt und kalt in der Gefahr macht. Oh über die Sprache!

405. Wie? Ein großer Mann? Ich sehe in ihm nur den Schauspieler seines eignen Ideals.



Die Selbstsucht ist bei Dieben, Räubern, Wucherern und Spekulanten im Grunde anspruchslos und bescheiden genug: man kann ja nicht leicht weniger von den Menschen wollen als wenn man nur ihr Geld will.

406. Faust, die Tragödie der Erkenntniß? Wirklich? Ich lache über Faust.

407. Die höchsten tragischen Motive sind bisher unbenutzt geblieben: Die Dichter wissen von den 100 Tragödien des Gewissens nichts aus Erfahrung.

408. Man spricht von den Ursachen der Affekte und meint ihre Gelegenheiten.

409. Er hat seiner Erkenntniß Menschen geopfert und ist auf nichts so stolz als auf diese Grausamkeit gegen sich selber.

410. Mitleid wirkt an dem Erkennenden beinahe zum Lachen, wie zarte Haut an einem Riesen.

411. Lange und große physische Schmerzen erziehen zum Tyrannen.

412. Man muß sowohl mitleidig als grausam sein, um eins von beiden sein zu können.

413. Nicht Wenige, die ihren Teufel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue.

414. Der “Lobende” stellt sich meistens, als gäbe er zurück: in Wahrheit will er beschenkt werden.

415. Im Affekt enthüllt sich nicht der Mensch, sondern sein Affekt.



Unsere Augen hören feiner als unsere Ohren: wir verstehen und schmecken lesend besser als hörend—bei Büchern wie bei Musik.

416. Das Concubinat ist corrumpirt durch—die Ehe.

417. Das Christenthum vergiftete den Eros: er starb zwar nicht daran, aber entartete zum “Laster.”



Voller Leidenschaften aber herzlos und schauspielerisch: so waren die Griechen, so waren selbst die griechischen Philosophen, wie Plato.

418. Nur bei herzlosen Menschen ist die Innigkeit ächt und beinahe eine Sache der Scham.

419. Ein Bischen Neid im Ursprunge—und hinterdrein eine große Liebe? So entsteht eine Explosion durch die Reibung eines Zündhölzchens.

420. Wenn die Göttin Musik in Worten, statt in Tönen, reden wollte, so würde man sich die Ohren zuhalten.

421. Sich über ein Lob freuen ist bei diesen eine Eitelkeit des Geistes, bei jenen ein Merkmal von Höflichkeit des Herzens.

422. Man lügt mit der Zunge, aber mit dem Munde und Maule sagt man die Wahrheit—so entsteht der Physiognomiker.

423. Die Sinnlichkeit übereilt das Wachsthum der Liebe, so daß die Wurzel schwach bleibt und die ganze Pflanze leicht auszureißen ist.

424. In einigen Menschen ist ein tiefes Bedürfniß nach ihrem Feinde: bei ihm allein giebt es auch einen Haß auf den ersten Blick.

425. Mein Auge sieht die Ideale anderer Menschen, und dieser Anblick entzückt mich oft: aber ihr Kurzsichtigen denkt dann, es seien meine Ideale!

426. Die Moral aller Gesellschaft lautet, daß Vereinsamung Schuld sei.

427. Fast in jedem Lebenden steckt ein Parasit.

428. Wenn man über einen Menschen umlernen muß, so rechnet man ihm die Unbequemlichkeit, die er einem damit macht, hart an.

429. In der Leutseligkeit ist nichts von Menschenhaß, aber eben deshalb allzuviel Menschenverachtung.

430. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer “der Schüler” bleibt.

431. Es ist wie mit einem Baum: je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln nach der entgegengesetzten Richtung: einwärts, abwärts, ins Dunkle, Tiefe, Breite—in’s “Böse,” wie man sagt.

432. Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häutung:—er zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wiedersehn, jenseits von gut und böse.

433. Ein Volk ist der Umweg der Natur, zu 5, 6 großen Männern.

434. Bei patriotischen Festen gehören auch noch die Zuschauer zu den Schauspielern.

435. Auch das Häßliche hat sein häßliches Prunkmäntelchen: es heißt “das Erhabene.”

436. Was ist gut?— “Das, was zugleich hübsch und rührend ist”—antwortete ein kleines Mädchen.



Wenn Gott ein Gott der Liebe ist, so müßte der Gewissensbiß ein Gottesbiß und folglich ein Biß aus Liebe sein.

437. Muthig, unbekümmert, spöttisch und sogar etwas gewaltthätig: so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und—liebt immer nur einen Kriegsmann.

438. Viel Soldaten und doch wenig Männer! Viel Uniform und noch viel mehr Uniformität.

439. “Die Erntezeit ist wieder vorüber: der Wind weht über die leeren Felder, und jetzt scheint mir auch die glücklichste Ernte ein ungeheurer Verlust”—so empfindet jeder schöpferische Mensch.

440. Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Deshalb will er das Weib, als das gefährlichste Spielzeug.

441. Die Aufgabe des Weibes ist, das Kind im Manne zu entdecken und zu erhalten.

442. Man will die Emancipation des Weibes und erreicht dabei nur die Entmännlichung des Mannes.

443. Der Mann soll zum Kriege erzogen werden, und das Weib dazu, die Erholung des Kriegers zu sein: alles Andere ist Thorheit.

444. Mit dem Wort “Gelehrter” bezeichnet man sowohl die Soldaten des Geistes als—leider—auch die Strumpfwirker des Geistes.



Keine erbärmlichere Gesellschaft giebt es als die von Gelehrten: jene Wenigen abgerechnet, die militärische Gelüste im Leibe und Kopfe haben.



Es giebt zu wenig Männer: und daher vermännlichen sich die Weiber.

445. Es ist eine Feinheit, daß Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte, und ebenso dies, daß er es nicht besser lernte!



Dieser Denker ist kälter als Eis, folglich verbrennt man sich an ihm die Finger und hält ihn leicht für glühend.

3 [2]

Pinie und Blitz.

Hoch wuchs ich über Mensch und Thier;
Und sprech ich—Niemand spricht mit mir.

                  * *

Zu einsam wuchs ich und zu hoch:
Ich warte: worauf wart’ ich doch?

                  * *

Zu nah ist mir der Wolken Sitz, —
Ich warte auf den ersten Blitz.

                  * *

3 [3]

Portofino.

Hier sitz ich wartend—wartend? Doch auf nichts,
Jenseits von gut und böse, und des Lichts
Nicht mehr gelüstend als der Dunkelheit,
Dem Mittag Freund und Freund der Ewigkeit.

                      * *

3 [4]

Auf hohem Meere.

Freundin—sprach Columbus—traue
Keinem Genuesen mehr!
Immer starrt er in das Blaue,
Fernstes zieht ihn allzusehr!

                * *

Wen er liebt, den lockt er gerne
Weit hinaus aus Raum und Zeit — —
Über uns glänzt Stern bei Sterne,
Um uns braust die Ewigkeit.

                * *

3 [5]

Ich bin entweder Geist oder Körper, aber nimmermehr Geist und Körper—das sind zwei verschiedene Arten der Betrachtung —

Mein Geist sei es, der philosophirt: Ich fand immer, daß es mein Körper sei: er denkt über seinen Weg zur Gesundheit nach und nimmt dabei die Freude der Gesundheit vorweg.

Unsere Gedanken sind wie unser Denken selber in jedem Falle instinktiv gewählte Mittel zu einem bestimmten körperlichen Zustande: und zwar sehr feine Mittel!

3 [6]

Rossini nach der ersten Vorstellung der Hugenotten “Nun Meister, was halten Sie von dieser Musik?” Musik? Ich habe nichts davon gehört

 

Jahrelange Rivalität zwischen Rachel und einer Fl. Maxime zwischen Talma und Hr. Lafon.

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