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Herbst 1884 28 [1-67] Gedichte und Gedichtefragmente 28 [1] Allen Schaffenden geweiht. Welt-Unabtrennliche Laßt uns sein! Das Ewig-Männliche Zieht uns hinein. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Zweiter Theil. 12110f. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 12. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856:310.] 28 [2] jeder Buckel krümmt sich schiefer — jeder Christ treibt Juden-Schacher — die Franzosen werden tiefer — Und die Deutschen täglich flacher! [Vgl. Nietzsche, "Geht die Welt nicht schief und schiefer? ..."] 28 [3] Sonnen-Bosheit. Bei abgehellter Luft, Wenn schon des Thaus Tröstung Zur Erde nieder quillt, Unsichtbar, auch ungehört — denn zartes Schuh werk trägt Der Tröster Thau, gleich allen Milden — Gedenkst du da, gedenkst du, heißes herz, Wie einst du durstetest, Nach himmlischem Thaugeträufel Versengt und müde durstetest, Dieweil auf sanften Gras-Pfaden Schweigsam abendliche Sonnenblicke Durch dunkle Bäume um dich liefen, Boshafte Sonnen-Gluthblicke, So aber fragte dich die Sonne schweigend: Was trägst du Narr Eine zerrissene Larve? Eine Götter-Larve? Wem rissest du sie vom Gesichte? Schämst du dich nicht, unter Menschen nach Göttern lüstern hinauszuschnüffeln? Wie oft schon! Der Wahrheit Freier? also stöhnte ich — Nein! Nur ein Dichter! Nach Larven lüstern, selbst verkleidet. Zerrissene Larve selber! Götter-Larventrug! Bei abgehellter Luft, wenn schon des Monds Sichel grün zwischen Purpurröthen und neidisch hinschleicht — mit jedem Schritte heimlich an Rosen-Hängematten hinsichelnd bis sie sinken nacht-abwärts blaß versinken dieweil er röther stets und röther, schlechter That sich schämend, — — — 28 [4] Die Wüste wächst: weh, zur Wüste ward! Wüste ist Hunger, der nach Leichen scharrt. Ob Quell und Palme sich hier Nester baun — Der Wüste Drachenzähne kahn und kahn Denn Sand ist Zahn an Zahn, vielfräßige Pein reibt ewig hier Kinnladen nimmer müd — — — Vielfräßiger Hunger malmt hier Zahn an Zahn Der Wüste Drachenzähne — — — Sand ist Gebiß, ist Drachen-Zähnesaat Das malmt und malmt—das malmt sich nimmer matt — — — Sand ist die Mutter die ihr Kind gekaut Mit fliegendem Dolche in deren Haut — — — 28 [5] Du Stachel Schmerz, wie weit wirst du mich treiben? Schon hab’ ich Himmel umgestürzt Mit neuen Himmeln, Würzen überwürzt Die Götter ehrten—siegreich dir zu bleiben! Du Stachel Schmerz, dem ich die Hand verkürzt Dem ich die muntren Katzenfüße lähmte Was that ich einst, das mich beschämte — — — Knoten geschürzt — — — zähmte — — — Fell — — — -eiben — — — anbequemte — — — schnell — — — treiben 28 [6] Baum im Herbste. Was habt ihr plumpen Tölpel mich gerüttelt Als ich in seliger Blindheit stand: Nie hat ein Schreck grausamer mich geschüttelt — Mein Traum, mein goldner Traum entschwand! Nashörner ihr mit Elephanten-Rüsseln Macht man nicht höflich erst: Klopf! Klopf? Vor Schrecken warf ich euch die Schüsseln Goldreifer Früchte —an den Kopf. 28 [7] auf neuem Weg zum alten Griechenthum ich dachte in dir den Deutschen zu erlösen dein Siegfried-Zerrbild Parsifal! 28 [8] Fern brummt der Donner übers Land Der Regen tropft und tropft: Geschwätzig früh schon, der Pedant, Dem Nichts das Maul mehr stopft. Der Tag schielt boshaft nach mir hin Löscht mir die Lampe aus! Oh gute Nacht! Oh Einsamkeit! Oh Buch! Oh Tintenfaß! Nun wird mir alles grau und leid 28 [9] Nun, da der tag Des Tages müde ward, und aller Sehnsucht Bäche Von Neuem Trost plätschern, auch alle Himmel, aufgehängt in Gold-Spinnetzen, zu jedem Müden sprechen: “ruhe nun,” — was ruhst du nicht, du dunkles Herz, was stachelt dich zu fußwunder Flucht weß harrest du? du Verzweifelnder! Weißt du auch,— wie viel Muth machst du denen, die dir zuschaun ach wie du Klagst! wohin meine Flucht? Ach wen du weidest! Gefangne noch weidest du. Wie sicher ist den Unstäten doch ein Gefängniß! wie ruhig schlafen verbrecherische Seelen, eingefangen — Nun, da die Maus den Berg gebar — Wo bist du Schöpferisches? Oh wärmt mich! liebt mich gebt heiße Hände erschreckt ob meines Eises nicht! Zu lange gespensterhaft auf Gletschern — — — umhergetrieben, aufgewirbelt auf welchem Spiegel habe ich nicht gesessen — ich Staub auf allen Oberflächen außer sich, vor Hingebung dem Hunde gleich Hohl, Höhle, voller Gift und Nachtgeflügel umsungen und umfürchtet, einsam —. Ihr Wegelagerer! Euer bin ich nun! Was wollt ihr Lösegelds? Wollt Viel—so räth mein Stolz. Und redet kurz—das räth mein andrer Stolz. Ich liege still — ausgestreckt, Halbtodtem gleich, dem man die Füße wärmt — die Käfer fürchten sich vor mir ihr fürchtet mich? Ihr fürchtet den gespannten Bogen nicht? Wehe es könnte Einer seinen Pfeil dranlegen 28 [10] Nun wird mir Alles noch zu Theil Der Adler meiner Hoffnung fand Ein reines, neues Griechenland Der Ohren und der Sinne Heil — Aus dumpfem deutschem Ton-Gedräng Mozart Rossini und Chopin Ich seh nach griechischen Geländen Das Schiff dich, deutscher Orpheus, wenden. Oh zögre nicht nach südlichen Geländen, Glücksel’gen Inseln, griechischem Nymphen-Spiel Des Schiffs Begierde hinzuwenden Kein Schiff fand je sein schöner Ziel — Nun wird mir alles noch zu Theil Was je mein Adler mir erschaute —: Ob manche Hoffnung schon vergraute. — Es sticht dein Klang mich wie ein Pfeil Der Ohren und der Sinne Heil, Das mir vom Himmel niederthaute Der Ton, der auf mich niederthaute Hinaus, zu griechischen Geländen Das schönste Musen-Schiff zu wenden 28 [11] Arthur Schopenhauer. Was er lehrte ist abgethan, Was er lebte, wird bleiben stahn: Seht ihr nur an! Neimandem war er unterthan! 28 [12] 1) Ihr Wege-lagernden Gedanken Fleiß ehemals Qual des Schaffens 2) nach Liebe suchend—und immer die Larve, die verfluchte Larve finden und zerbrechen müssen! 28 [13] Die Liebe ist’s die mich mitgehen heißt, Die heiß ersehnte! 28 [14] Schafe. Den Adler seht! sehnsüchtig starr blickt er hinab in den Abgrund, in seinen Abgrund, der sich dort in immer tiefere Tiefen ringelt! Plötzlich, geraden Flugs, scharfen Zugs stürzt er auf seine Beute. Glaubt ihr wohl, daß es Hunger ist? Eingeweiden-Armut? — Und auch Liebe ist es nicht — was ist ein Lamm einem Adler! er haß[t] die Schafe Also stürze ich mich abwärts, sehnsüchtig, auf diese Lämmer-Heerden zerreißend, blutträufend, Hohn gegen die Gemächlichen Wuth gegen Lämmer-Dummheit — — — 28 [15] — die Sträflinge des Reichthums ihre Gedanken klirren gleich schweren Ketten 28 [16] sie erfanden die heilige lange Weile und die Begierde nach Mond- und Werkeltagen 28 [17] Seid kurz: gebt mir zu rathen oder ihr ermüdet den Stolz meines Geistes 28 [18] Hartnäckige Geister, fein und kleinlich 28 [19] kuhmüthiges Wohlwollen 28 [20] Die Bösen liebend. Ihr fürchtet mich? Ihr fürchtet den gespannten Bogen? Wehe, es könnte Einer seinen Pfeil darauf legen! Ach, meine Freunde? Wohin ist, was man gut hieß! Wohin sind alle “Guten”! Wohin, wohin ist die Unschuld aller dieser Lügen! Die einst den Menschen schauten so sehr Gott als Bock Der Dichter, der lügen kann wissentlich, willentlich Der kann allein Wahrheit reden “Der Mensch ist böse” so sprachen noch alle Weisesten — mir zum Troste. sündlich-gesund und schön gleich buntgefleckten Raubthieren wer gleich Katzen und Weibern in der Wildniß heimisch ist, und durch Fenster springt was still starr kalt glatt macht, was zum Bilde und zur Säule macht, was man vor Tempeln aufstellt, zur Schau aufstellt —Tugend—? 28 [21] Der Wahrheit Freier? Sahst du ihn? Still, starr, kalt, glatt, Zum Bilde worden und zur Säule, aufgestellt Vor Tempeln—sprich, Deß gelüstet dich? Nein, Larven suchst du Und Regen-Bogen-Häute Wild-Katzen-Muthwille, der durch Fenster springt, hinaus in allen Zufalls Wildniß! Nein, Urwald brauchst du, deinen Honig zu schlürfen, sündlich-gesund und schön gleich buntgefleckten Raubthieren 28 [22] Die Weltmüden denkendere Zeiten, zerdachtere Zeiten als unser Heut und Gestern ist ohne Weiber, schlecht genährt und ihren Nabel beschauend — des Schmutzes Holde Übelriechende! also erfanden sie sich die Wollust Gottes bei bedecktem Himmel wo man Pfeile und tödtende Gedanken nach seinen Feinden schießt, da verleumdeten sie die Glücklichen sie lieben ach! und werden nicht geliebt sie zerfleischen sich selber weil Niemand sie umarmen will. ihr Verzweifelnden! wie viel Muth macht ihr denen, die euch zuschauen! sie verlernten Fleisch essen, mit Weiblein spielen, — sie härmten sich über die Maaßen. wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! wie ruhig schlafen die Seelen eingefangner Verbrecher! Am Gewissen leiden nur Gewissenhafte! 28 [23] Jenseits der Zeit. Diese Zeit ist wie ein krankes Weib laßt sie nur schreien, rasen, schimpfen und Tisch und Teller zerbrechen. umhergetrieben, aufgewirbelt — auf allen Oberflächen habt ihr schon gesessen, auf allen eiteln Spiegeln schon geschlafen — Staub solche macht man mit Gründen mißtrauisch mit erhabnen Gebärden überzeugt man sie Zurück! Ihr folgt mir zu nahe auf den Füßen! Zurück, daß meine Wahrheit euch nicht den Kopf zertrete! erreglich gleich greisen Völkern an Gehirn und Schamtheilen außer sich, dem Hunde gleich, vor Hingebung 28 [24] Es erhob sich ein Geschrei um Mitternacht — das kam von der Wüste her 28 [25] Lob der Armut. Den Sträflingen des Reichthums, deren Gedanken kalt wie Ketten klirren, gilt mein Lied 28 [26] Oh gute Seit, die jetzt mir blüht Oh feierliche große Jahreszeit — Vom Nord zum Süd Die Götter-Gäste—fremd und unbekannt, die Namenlosen Ihr göttlich-königlichen Gäste Von aller Höhe strömt mir Verkündigung Gleich Wohlgerüchen Gleich ahnungsvollen Winden läuft Vom Nord zum Süd Mein Herz, dem seine Festzeit blüht Einsiedler soll nicht länger einsam sein! Die Zeit ist nahe, die feierliche schöne große Jahreszeit, wo meine Gäste kommen—des Jahres Mitte, nun gleiche ich dem Liebenden dessen Sehnsucht Stunden abzählt, der späht und steht und sieht, unmuthig-selig, bis er, gedrückt von engen Stuben, sich in des Zufalls dunkle Gasse wirft — Und wenn der Wind des Nachts an’s Fenster klopft, Mit Blüthen-Zweigen boshaft Schläfer weckend 28 [27] 6. Der Dichter—Qual des Schaffenden Ach, Wegelagerer! Nun bin [ich] euer Was wollt ihr, Lösegelds? Wollt Viel—so räth mein Stolz—und redet kurz: das räth mein andrer Stolz zu rathen lieb’ ich: leicht ermüdet’s mich wohin meine Flucht? Ich liege still, ausgestreckt, Halbtodtem gleich, dem man die Füße wärmt — die Käfer fürchten sich vor meinem Schweigen — ich warte Alles heiße ich gut Laub und Gras, Glück, Segen und Regen [Vgl. Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittetalters, von Johannes Janssen. Dritter Band. Die politisch-kirchliche Revolution der Fürsten und Städte und ihre Folgen für Volk und Reich bis zum sogenannten Augsburger Religionsfrieden von 1555. Freiburg im Breisgau: Herder, 1881:702. s. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Johannes Janssen.] 28 [28] von eurem Kommen von eurem Nahen — sie lieben mich Sie warten Alle—Allen sprach ich ja von euch, ihr 28 [29] Sind die Dinge nicht gemacht spitz für Tänzerfüße langsam kommt, wie Trampelthiere, Mensch und Mensch vorüber 28 [30] Hohl, Höhle, voller Nacht-Geflügel Umsungen und umfürchtet 28 [31] Hier saß ich sehend, sehend—doch hinaus! Die Finger spielend im zerpflückten Strauß Und wenn die Thräne aus dem Lide quoll Schamhaft-neugierig: ach wem galt sie wohl! Da — — — Hier saß ich liebend, liebend—unbewegt, Dem See gleich, der — — — Wer diesen Spiegel-See als Zauber sieht: Drinn eint sich Milch und Veilchen und Granit. 28 [32] 1 | | Das rothe Blatt Daß mir Vieles Gute nicht entschlüpft und ich undankbar scheide | 2 | | an den Vormittag. | 3 | | allen Gefängnissen entschlüpft (Ehe Amt I Ort usw.) | 4 | | südliche Musik | 5 | | an die Griechen (in Verhältniß zu Deutschen) | 6 | | an die Christen (ich habe das Christenthum nicht nöthig) | 7 | | Haß gegen die Engländer (dagegen deutsch-russisch) | 8 | | Sehnsucht nach einer hohen Seele | 9 | | Honigopfer-Dank | 10 | | gegen den Frühling (Hohn) | 11 | | Lob des kriegerischen Geistes als mich vorbereitend | 12 | | der ernsteste Knabe—oh daß du im Alter Kind wirst! | 13 | | an Schopenhauer als den philosophischen Jüngling | 14 | | an Napoleon (corsica) wo ist der Mann von Granit? | 15 | | Von der langen Leiter | 16 | | Mit Jedermann leutselig, auch mit Gräsern noch | 17 | | Humor eines, der über Alles gesiegt hat. | 18 | | Hohnlied über die Oberflächlichkeit der Menschen | 19 | | Der Verborgenste (Hohn eines ewig-unvermerkt Maskirten) | 20 | | An den Schlaf (3 Stunden Abwartens, segnend) | 21 | | kein Märtyrer! Dafür auch zu listig, ich entschlüpfe! (und ich habe es schlimmer gehabt als ihr Alle!) | 22 | | der gute Europäer | 23 | | die Mitternachts-Abreise | 24 | | Calina braunroth, alles zu scharf in der Nähe im höchsten Sommer. Gespenstisch (meine jetzige Gefahr!) | 25 | | an Richard Wagner | 28 [33] “Mittags-Gedanken.” Von Friedrich Nietzsche. 1 | | An Napoleon (Corsica: wo ist der Mann von Granit?) | 2 | | Von der längsten Leiter | 3 | | Mit Jedermann leutselig, auch noch mit Gräsern. | 4 | | Humor eines, der über Alles gesiegt hat. | 5 | | Hohnlied über die Oberflächlichkeit der Menschen. | 6 | | Der Verborgenste (Hohn über die ewig-unvermerkt Maskerade) | 7 | | An den Schlaf (drei Stunden Abwartens. Ihn segnend) | 8 | | Kein Märtyrer! (Dafür auch zu listig: ich entschlüpfe. Und doch habe ich’s schlimmer gehabt als ihr Alle! | 9 | | Die guten Europäer. | 10 | | Die Abreise um Mitternacht. | 11 | | Calina: meine jetzige Gefahr, im höchsten Sommer, gespenstisch, braun-roth, alles zu scharf in der Nähe | 12 | | An Richard Wagner. | 13 | | Das rothe Blatt (daß mir vieles Gute nicht entgehe und ich undankbar scheide! | 14 | | An den Vormittag. | 15 | | allen Gefängnissen entschlüpft (wie Amt , Ehe usw.) | 16 | | An die Griechen (gegen die Deutschen) | 17 | | Südliche Musik | 18 | | an die Christen (ich habe euer Christenthum nicht nöthig) | 19 | | Haß gegen die Engländer (dagegen deutsch-russisch | 20 | | Sehnsucht nach einer hohen Seele. | 21 | | Honig-Opfer. Große Danksagung. | 22 | | gegen den Frühling (Hohn). Bitte um Blindheit (an die Sonne | 23 | | Lob des kriegerischen Geistes—mich vorbereitend. | 24 | | Der ernsteste Knabe (d.h. daß du im Alter Kind wirst!) | 25 | | An Schopenhauer (als an den philosophischen Jüngling). | 28 [34] Dem Fleißigen neid’ ich seinen Fleiß: goldhell und gleich fließt ihm der Tag herauf goldhell und gleich zurück, hinab ins dunkle Meer,— und um sein Lager blüht Vergessen, gliederlösendes. 28 [35] Des Nachts—was schlägt mir an das Fenster? 28 [36] Das Honig-Opfer.
Bringt Honig mir, eis-frischen Waben-Goldhonig! Mit Honig opfr’ ich Allem, was da schenkt, Was gönnt, was gütig ist—: erhebt die Herzen! 28 [37] Herolds Rufe
reich an Geist aus Nichts und Witz geschaffen 28 [38] Der du eifersüchtig des Nachts auf meinen Athem horchst und in meine Träume schleichen möchtest 28 [39] Einst—wie fern dies Einst! und ach! süß das Wort schon “Einst,” verirrtem Glockentone gleich, da kam der Tag, die Pflicht, die Pflugschaar, des Stiers Gebrüll, — — — 28 [40] Oh die ihr spielt, Ihr Kinder im Walde, ihr lachenden, Flieht nicht davon—nein! schützt mich, Versteckt das gehetzte Wild, Bleibt, hört! Denn was mich hetzt, seit grauem Morgen durch alle Irrniß hetzt, sind’s Jäger? Wegelagerer? sind’s Gedanken? Nicht weiß ich’s noch, und Kinderspiele — — — 28 [41] Der schönste Leib—ein Schleier nur, In dem sich schamhaft—Schönres hüllt — 28 [42] An Hafis. Frage eines Wassertrinkers
Die Schenke, die du dir gebaut, ist größer als jed[es] Haus, Die Tränke, die du drin gebraut, die trinkt die Welt nicht aus. Der Vogel, der einst Phönix war, der wohnt bei dir zu Gast, Die Maus, die einen Berg gebar, die—bist du selber fast! Bist Alles und Keins, bist Schenke und Wein, Bist Phönix, Berg und Maus, Fällst ewiglich in dich hinein, Fliegst ewig aus dir hinaus — Bist aller Höhen Versunkenheit, Bist aller Tiefen Schein, Bist aller Trunkenen Trunkenheit — wozu, wozu dir—Wein? 28 [43] So sprach ein Weib voll Schüchternheit Zu mir im Morgenschein: “Bist schon du selig vor Nüchternheit Wie selig wirst du—trunken sein!” 28 [44] Wer hier nicht lachen kann, soll hier nicht lesen! Denn, lacht er nicht, faßt ihn “das böse Wesen.” 28 [45] An die deutschen Esel.
Dieser braven Engeländer Mittelmäßige Verständer Nehmt ihr als “Philosophie”? Darwin neben Goethe setzen Heißt: die Majestät verletzen — majestatem Genii! Aller mittelmäßigen Geister Erster—das sei ein Meister, Und vor ihm auf die Knie! Höher ihn herauf zu setzen Heißt — — — 28 [46] Heil euch, biedere Engländer Eurem Darwin heil, verständ er Euch so gut wie als sein Vieh! Billig ehrt ihr Engländer Eurem Darwin hoch, verständ er Auch nicht mehr als Zucht von Vieh. Nur—zu Goethen ihn zu setzen Heißt die Majestät verletzen Majestatem genii! 28 [47] Beim Anblick eines Schlafrocks.
Kam, trotz schlumpichtem Gewande, Einst der Deutsche zu Verstande, Weh’, wie hat sich Das gewandt! Eingeknöpft in strenge Kleider Überließ er seinem Schneider, Seinem Bismarck—den Verstand! 28 [48] An Richard Wagner.
Der du an jeder Fessel krandst, Friedloser, unbefreiter Geist, Siegreicher stets und doch gebundener, Verekelt mehr und mehr, zerschundener, Bis du aus jedem Balsam Gift dir trankst —, Weh! Daß auch du am Kreuze niedersankst, Auch du! Auch du—ein Überwundener! 28 [49] An Spinoza.
Dem “Eins in Allem” liebend zugewandt, Amore dei, selig, aus Verstand — Die Schuhe aus! Welch dreimal heilig Land! — — Doch unter dieser Liebe fraß ein heimlich glimmender Rachebrand, Am Judengott fraß Judenhaß! ..... Einsiedler! Hab ich dich—erkannt? 28 [50] Für falsche Freunde.
Du stahlst, dein Auge ist nicht rein — Nur Einen Gedanken stahlst du?— Nein, Wer darf so frech bescheiden sein! Nimm diese Handvoll obendrein — Nimm all mein Mein — Und friß dich rein daran, du Schwein! 28 [51] Römischer Stoßseufzer.
Nur deutsch! Nicht teutsch! So will’s jetzt deutsche Art. Nur was den “Babst” betrifft, so bleibt sie—hart! 28 [52] Der “ächte Deutsche.”
“Ô peuple des meilleurs Tartuffes, Ich bleibe dir treu, gewiß!” — Sprach’s, und mit dem schnellsten Schiffe Fuhr er nach Cosmopolis. [Earlier titles for this poem were: "Der Barde spricht" and "Yorick unter Deutschen" ("The Bard Speaks" and "Yorick Among Germans"). Nietzsche's inspiration was the French writer Stendhal. His source was probably Stendhal, or perhaps Paul Bourget. See Stendhal, Promenades dans Rome. Vol. 2. Paris: Lévy, 1853, 233: "Vengo adesso di Cosmopoli. /
(Vous voyez en moi un véritable cosmopolite.)" (You see in me a true cosmopolitan.) Stendhal used this loose quotation of a line from an opéra bouffe, and adopted it as his motto. Also in Stendhal, Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854, 67: "vengo adesso di cosmopoli." Cf. Paul Bourget, "Psychologie Contemporaine. Notes et Portraits: Stendhal (Henri Beyle). [III. Le Cosmopolitisme de Beyle.]" In: La Nouvelle Revue. Tome dix-septiéme. Juillet-Août. Paris: 1882, 890-925 (911). The first line of the poem, "Ô peuple des meilleurs Tartuffes" (O people with the best Tartuffes), alludes to the hypocritical priest who is the eponymous hero of Molière's 1664 comedy. For the poem in English, see Nietzsche: Poems / Gedichte, The "True German."] 28 [53] Das neue Testament.
Dies das heiligste Gebet- Wohl- und Wehe-Buch? — Doch an seiner Pforte steht Gottes Ehebruch! 28 [54] Räthsel.
Löst mir das Räthsel, das dies Wort versteckt: “Das Weib erfindet, wenn der Mann entdeckt — —” 28 [55] Der Einsiedler spricht.
Gedanken haben? Gut!— so sind sie mein Besitz. Doch sich Gedanken machen, —das verlernt’ ich gern! Wer sich Gedanken macht—der ist besessen und dienen will ich nimmer und nie. 28 [56] Entschluß.
Will weise sein, weil’s mir gefällt Und noch nach eignem Ruf. Ich lobe Gott, weil Gott die Welt So dumm als möglich schuf. Und wenn ich selber meine Bahn So krumm als möglich lauf’ — Der Weiseste fieng damit an, Der Narr—hört damit auf. 28 [57] Der Welle steht nicht still, Nacht liebt lichten Tag — Schön klingt das Wort “ich will” Schöner noch “ich mag!” Alle ewigen Quell-Bronnen Quellen ewig hinan: Gott selbst—hat er ja begonnen? Gott selbst—fängt er immer an? 28 [58] Der Wanderer.
Es geht ein Wandrer durch die Nacht Mit gutem Schritt; Und krummes Thal und lange Höhn — Er nimmt sie mit. Die Nacht ist schön — Er schreitet zu und steht nicht still, Weiß nicht, wohin sein Weg noch will. Da singt ein Vogel durch die Nacht: “Ach Vogel, was hast du gemacht! Was hemmst du meinen Sinn und Fuß Und gießest süßen Herz-Verdruß In’s Ohr mir, daß ich stehen muß Und lauschen muß — — Was lockst du mich mit Ton und Gruß?” — Der gute Vogel schweigt und spricht: “Nein, Wandrer, nein! Dich lock’ ich nicht Mit dem Getön — Ein Weibchen lock’ ich von den Höhn — Was geht’s dich an? Allein ist mir die Nacht nicht schön. Was geht’s dich an? Denn du sollst gehn Und nimmer, nimmer stille stehn! Was stehst du noch? Was that mein Flötenlied dir an, Du Wandersmann?” Der gute Vogel schweig und sann: “Was that mein Flötenlied ihm an? Was steht er noch? — Der arme, arme Wandersmann!” 28 [59] Im deutschen November.
Dies ist der Herbst: der—bricht dir noch das Herz! Fliege fort! fliege fort! — Die Sonne schleicht zum Berg Und steigt und steigt und ruht bei jedem Schritt. Was ward die Welt so welk! Auf müd gespannten Fäden spielt Der Wind sein Lied. Die Hoffnung floh — Er klagt ihr nach. Dies ist der Herbst: der—bricht dir noch das Herz. Fliege fort! fliege fort! Oh Frucht des Baums, Du zitterst, fällst? Welch ein Geheimniß lehrte dich Die Nacht, Daß eis’ger Schauder deine Wange, Die Purpur-Wange deckt? — Du schweigst, antwortest nicht? Wer redet noch? — — Dies ist der Herbst: der—bricht dir noch das Herz. Fliege fort! fliege fort! — “Ich bin nicht schön — so spricht die Sternenblume — Doch Menschen lieb’ ich Und Menschen tröst’ ich — sie sollen jetzt noch Blumen sehn, nach mir sich bücken ach! und mich brechen — in ihrem Auge glänzet dann Erinnerung auf, Erinnerung an Schöneres als ich: — — ich seh’s, ich seh’s—und sterbe so.” — Dies ist der Herbst: der—bricht dir noch das Herz! Fliege fort! fliege fort! 28 [60] Am Gletscher.
Um Mittag, wenn zuerst Der Sommer in’s Gebrige steigt, Der Knabe mit den müden, heißen Augen: Da spricht er auch, Doch sehen wir sein Sprechen nur. Sein Athem quillt wie eines Kranken Athem quillt In Fieber-Nacht. Es geben Eisgebirg und Tann’ und Quell Ihm Antwort auch, Doch sehen wir die Antwort nur. Denn schneller springt vom Fels herab Der Sturzbach wie zum Gruß Und steht, als weiße Säule zitternd, Sehnsüchtig da. Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne, Als sonst sie blickt Und zwischen Eis todtem Graugestein Bricht plötzlich Leuchten aus — — Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s. — Auch todten Mannes Auge Wird wohl noch Ein Mal licht, Wenn harmvoll ihn sein Kind Umschlingt und hält und küßt: Noch Ein Mal quillt da wohl zurück Des Lichtes Flamme, glühend spricht Des Todten Auge: “Kind! Ach Kind, du weißt, ich liebe dich!” — Und glühend redet Alles—Eisgebirg Und Bach und Tann — Mit Blicken hier das selbe Wort: “Wir lieben dich! Ach Kind, du weißt, wir lieben, lieben dich!” Und er, Der Knabe mit den müden heißen Augen, Er küßt sie harmvoll, Inbrünst’ger stets, Und will nicht gehn; Er bläst sein Wor wie Schleier nur Von seinem Mund, Sein schlimmes Wort “mein Gruß ist Abschied, mein Kommen Gehen, ich sterbe jung.” Da horcht es rings Und athmet kaum: Kein Vogel singt. Da überläuft Es schaudernd, wie Ein Glitzern, das Gebirg. Da denkt es rings — Und schweigt — — Um Mittag war’s, Um Mittag, wenn zuerst Der Sommer ins Gebirge steigt, Der Knabe mit den müden heißen Augen. 28 [61] “Der Wanderer und sein Schatten.” Ein Buch
Nicht mehr zurück? Und nicht hinan? Auch für die Gemse keine Bahn? So wart’ ich hier und fasse fest, Was Aug’ und Hand mich fassen läßt! Fünf Fuß breit Erde, Morgenroth, und unter mir—Welt, Mensch und Tod! 28 [62] Yorick als Zigeuner.
Dort der Galgen, hier die Stricke Und des Henkers rother Bart, Volk herum und gift’ge Blicke — Nichts ist neu dran meiner Art! Kenne dies aus hundert Gängen, Schrei’s euch lachend in’s Gesicht: Unnütz, unnütz, mich zu hängen! Sterben? Sterben kann ich nicht! Bettler ihr! Denn euch zum Neide, ward mir, was ihr—nie erwerbt: Zwar ich leide, zwar ich leide — Aber ihr—ihr sterbt, ihrsterbt! Auch nach hundert Todesgängen Bin ich Athem, Dunst und Licht — Unnütz, unnütz, mich zu hängen! Sterben? Sterben kann ich nicht! Einst erklang, in Spaniens Ferne Mir das Lied zum Klapperblech, Trübe blickte die Laterne, Hell der Sänger, froh und frech. Froh gedacht’ ich meiner bösen Feinde da mit sel’gem Hohn: Kann ein Fluch euch nicht erlösen, Thut’s ein heller Freuden-Ton. 28 [63] Yorick-Columbus.
Freundin! sprach Columbus, traue Keinem Genueser mehr! Immer starrt er in das Blaue — Fernstes lockt ihn allzusehr! Fremdestes ist nun mir theuer! Genua—das sank, das schwand — Herz, bleib kalt! Hand, halt das Steuer! Vor mir Meer—und Land?—und Land? Dorthin will ich—und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Offen ist das Meer, ins Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles wird mir neu und neuer, Weit hinaus glänzt Raum und Zeit — Und das schönste Ungeheuer Lacht mir zu: die Ewigkeit 28 [64] Der Freigeist.
Abschied “Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n — Wohl dem, der jetzt noch—Heimat hat! Nun stehst du starr, Schaust rückwärts ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt—entflohn? Die Welt—ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschalft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg’, Vogel, schnarr’ Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! — Versteck’, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wir es schnei’n, Weh dem, der keine Heimat hat!” Antwort. Daß Gott erbarm’! Der meint, ich sehnte mich zurück In’s deutsche Warm, In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück! Mein Freund, was hier Mich hemmt und hält ist dein Verstand, Mitleid mit dir! Mitleid mit deutschem Quer-Verstand! 28 [65]
Dich lieb’ ich, Gräbergrotte! Dich, Marmor-Lügnerei! Ihr macht zum freisten Spotte Mir stets die Seele frei. Nur heute steh’ ich, weine, Lass’ meinen Thränen Lauf Vor dir, [du] Bild im Steine, Vor dir, du Wort darauf! Und—Niemand braucht’s zu wissen — Dies Bild—ich küßt’ es schon. Es giebt so viel zu küssen: Seit wann küßt man denn—Thon! We Das zu deuten wüßte! Wie! Ich ein Grabstein-Narr! Denn, ich gesteh’s, ich küßte Das lange Wort sogar. 28 [66]
2. Freund Yorick, Muth! Und wenn dich dein Gedanke quält, Wie jetzt er thut, Heiß’ Das nicht—“Gott”! Denn, weit gefehlt, Es ist ja nur dein eigen Kind, Dein Fleisch und Blut, was dich da drangsalirt und quält, Dein kleiner Schelm und Thu-nicht-gut! — Sieh zu, wie ihm die Ruthe thut! Und kurz, Freund Yorick! laß die düstre Philosophie—und daß ich hier Noch einen Spruch als Medizin Und Haus-Recept ins Ohr dir flüstre — mein Mittel gegen solchen spleen —: “Wer seinen ‘Gott’ liebt, züchtigt ihn.” 28 [67]
Dort der Galgen, hier die Stricke, Henker hier, und Henkers Art, Rothe Nasen gift’ge Blicke — Und des Priesters Würden-Bart: Kenne euch aus hundert Gängen — Spei’ euch gerne in’s Gesicht — Wozu hängen? Sterben? Sterben—lernt’ ich nicht. Bettler ihr! Denn, euch zum Niede Mir ward, was ihr—nie erwerbt. Zwar ich leide, zwar ich leide Aber ihr—ihr sterbt, ihr sterbt! Auch nach hundert Todesgängen Find’ ich mich zurück zum Licht — Wozu hängen? Sterben? Sterben—lernt’ ich nicht. Also klang, in Spaniens Ferne, Mir das Lied zum Klapper-Blech. Düster blickte die Laterne, Hell der Sänger, froh und frech. Wie ich horchend in die Tiefe Meiner tiefsten Wasser sank, Dünkte mich’s, ich schliefe, schliefe Ewig heil und ewig krank.
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