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The Will to Power
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Sommer-Herbst 1884 26 [301-400]

26 [301]

Wille zur Wahrheit und Gewißheit entspringen aus Furcht in der Ungewißheit.

26 [302]

kein Stoff (Boscovich) [Vgl. Roger Joseph Boscovich, Philosophiae naturalis theoria redacta ad unicam legem virium in natura existentium. Auctore P. Rogerio Josepho Boscovich, societatis Jesu, publico matheseos professore in collegio romano. Vienna: Bernard, 1759.]
kein Wille
kein Ding an sich
kein Zweck

26 [303]

Der Muth würde sicher keine Tugend heißen, wenn er zu den häufigen Thatsachen des Menschen gehörte, wie das freiwillige Abgeben von Urin: was, so viel ich verstehe, der liebe Spencer et hoc genus omne, unter die Äußerungen des Altruismus zu rechnen bereit sind.

26 [304]

Die paar guten Bücher, die von diesem Jahrhundert übrig bleiben werden, richtiger: die mit ihren Ästen über dies Jahrhundert hinweg reichen, als Bäume, welche nicht in ihm ihre Wurzeln haben—ich meine das Mémorial von St. Helena und Goethes Gespräche mit Eckermann

26 [305]

Am wenigsten habe ich wohl Lust, meine Meinung auszusprechen über—die Mittheilbarkeit der Meinungen (oder über die “Mittheilbarkeit der Wahrheit,” wie alle tugendhaften Heuchler in diesem Falle sich ausdrücken würden) Daß ich dies eigens hier noch ausspreche, geht beinahe schon über die Grenze hinaus, welche ich mir in dem angegebenen Bereiche gezogen habe.

26 [306]

Es giebt auch jetzt noch viel mehr heitere Dinge auf Erden, als die Pessimisten eingestehen; z. B. E[duard] von H[artmann] selber. Die Laokoon-gruppe, von drei Clown’s und ebenso vielen Regenschirmen dargestellt, erheitert mich nicht so, wie dieser Eduard mit seinen Problemen “ringend.”

26 [307]

Deutsche Lyriker, namentlich wenn es Schwaben sind, z.B. Uhland mit den Gefühlen eines Burgfräuleins herausgeputzt, oder Freiligrath als —

Oder Hölderlin — — —

26 [308]

NB. Vollkommen klar darüber, ob man diese Welt der Sinne bejaht und fortsetzen will!

Kant überwunden.

Entdeckung des Alterthums fortgesetzt.

Eigentlicher Zweck alles Philosophirens die intuitio mystica.

26 [309]

Der allerliebste circulus vitiosus: wenn unsere Sinnes-Organe erst Resultate unserer Sinne sind, wären alle Beobachtungen derselben als Ursachen unsinnig falsch!

26 [310]

Über Gesundheit und Krankheit Genie Neurose, Dionysisch.

26 [311]

Endlich—will man seine Meinungen nicht mehr los lassen: man hat eine Ahnung von der Spärlichkeit unseres Gartens bekommen, und erwartet nicht viel Gutes Neues mehr zu erwerben—man entschließt sich zu lieben, was man bereits hat. Und wehe dem, der uns jetzt solche lieb gewollte Meinungen nehmen will!

26 [312]

Die Religion alle starken überraschenden plötzlichen fremdartigen Impulse als von außen kommend interpretirend.

Moralität ist nur als Ein Mittel zur Religion hinzugekommen (ein Mittel zur Vergewaltigung der Götter oder zur Erreichung ekstatischer Zustände)

Mißverständniß des Leibes: der Rausch, die Wollust, die Grausamkeits-Ekstase als Vergöttlichung, als Einswerden mit einem Gotte.

Grunddifferenz des Alterthums: die Geschlechtlichkeit religiös verehrt; und folglich auch die Werkzeuge.

Die Ekstasen sind verschieden bei einem frommen erhabenen edlen Menschen gleich Plato—und bei Kameltreibern, welche Haschisch rauchen und — — —

Grundverwandlung der Religion:

1) man will den Gott zwingen zu thun was uns lieb ist—Gebet z. B.

2) man ergiebt sich in den Willen Gottes

Ersteres ist die vornehme Form, 2) ist die Sklaven-Form.

26 [313]

“Selbst-Erhaltung” nur Nebenfolge, nicht Ziel! Spinoza’s Nachwirkung!

26 [314]

Buratti, und sein Einfluß auf Byron. [Vgl. Stendhal, Correspondance inédites. Précedée d'une introduction par Prosper Mérimée de l'Academie française. Ornée d'un beau portrait de Stendhal. Paris: Michel Lévy frères, 1855:73f. Hippolyte Taine, Geschichte der englischen Literatur. Bd. 3. Die Neuzeit der englischen Literatur. Bearbeitet von Gustav Gerth. Leipzig: Ernst Julius Günther Nachf. (Druck von Bär und Herrmann, Leipzig), 1880:136.]

26 [315]

Das Gefühl im Süden z. B. bei Stendhal “Reise in Frankreich” ausgedrückt—worin besteht es? [Vgl. Stendhal, Mémoires d'un touriste. Vols. 1-2. Paris: Lévy, 1877.]

26 [316]

NB. Welche Prüfungen fehlen (an Stelle der nur intellektuellen oder fachmäßigen)?

Die richtigen Widerlegungen sind physiologische (leibliche) also Beseitigungen von Denkweisen.

26 [317]

Ich muß orientalischer denken lernen über Philosophie und Erkenntniß. Morgenländischer Überblick über Europa.

26 [318]

Der höhere Mensch.

Von den Philosophen.
Von den Heerden-Führern.
Von den Frommen.
Von den Tugendhaften.
Von den Künstlern.

Kritik des höheren Menschen.

26 [319]

Die Europäer bilden sich im Grunde ein, jetzt den höheren Menschen auf der Erde darzustellen.

26 [320]

Die guten Europäer.
Vorschläge zur Züchtung eines neuen Adels.
Von
Friedrich Nietzsche.

26 [321]

Es giebt 1) monologische Kunst (oder im “Zwiegespräch mit Gott”)
2) gesellschaftliche Kunst, société vorausgesetzt, eine feinere Art von Mensch.
3) demagogische Kunst z. B. Wagner für das deutsche “Volk,” Victor Hugo

26 [322]

Wo für das Volk geschwärmt wird, da horchen immer gleich die Frauen hin, sie fühlen, das ist ihre Sache

26 [323]

Die Gelehrten, und ihre Selbst-Überschätzung. Woher? Es ist auch da eine Emancipation der niederen Art, welche nicht mehr an die höhere glaubt.

26 [324]

Der große Pöbel- und Sklavenaufstand
 
die kleinen Leute, welche nicht mehr an die Heiligen und großen Tugendhaften glauben (z. B. Christus, Luther usw.

die Bürgerlichen, welche nicht mehr an die höhere Art der herrschenden Kaste glauben (z. B. Revolution)

die wissenschaftlichen Handwerker, welche nicht mehr an die Philosophen glauben

die Weiber, welche nicht mehr an die höhere Art des Mannes glauben.

26 [325]

Jenseits von Gut und Böse.

Vorrede zu einer Philosophie
der ewigen Wiederkunft
.

Von Friedrich Nietzsche.

26 [326]

Der Sensualismus und der Hedonismus des vorigen Jahrhunderts ist die beste Erbschaft, welche dies Jahrhundert gemacht hat: hinter hundert Klauseln und feinen Mummenschanzen.

Hedonism = Lust als Princip.

Lust als Maaßstab thatsächlich gefunden bei den Utilitariern (Comfort-Engländer).

Lust als regulatives Princip (thatsächlich nicht gefunden) bei den Schopenhauerianern

von Hartmann ein oberflächlicher Querkopf, der den Pessimism durch Teleologie vermanscht und eine Behaglichkeits-Philosophie daraus machen will (nähert sich darin den Engländern an.

Das, was auf den Pessimismus folgt, ist die Lehre von der Sinnlosigkeit des Daseins

daß Lust und Schmerz keinen Sinn haben, daß Hedone kein Princip sein kann

Dies im nächsten Jahrhundert.

Lehre der großen Müdigkeit.

Wozu? Es lohnt sich nichts!

26 [327]

Der Wille wird erschlossen—ist keine unmittelbare Thatsache, wie Schopenhauer will. Ob mit Recht erschlossen, bleibt zu fragen — —

26 [328]

Der Glaube an die “Sinnee” ist die Grundlage aller Wissenschaft, wie alles Lebens. Damit ist nichts über die Berechtigung zu diesem Glauben ausgemacht, Fehlgriffe der Sinne (blau statt roth) sind kein Argument dagegen, daß ein Blatt grün ist. Die Entstehung eines farbenbildenden Sinnes in einer farblosen Welt ist ein Unsinn von Gedanke.

Beschreibung und Feststellung der Thatsachen.

26 [329]

Aus seinen Ursachen läßt sich ein Ding nicht errathen d. h. ein Ding = seinen Wirkungen. Die Kenntniß der Ursachen eines Dinges giebt keine Kenntniß seiner Wirkungen, d. h. keine Kenntniß des Dinges.

26 [330]

Tief interessirt für Wahrheit—woher? Dem Christenthum verpflichtet—Pascal

26 [331]

die verschiedenen Grade des Genusses für “wahr”

z. B. Kant und Schelling
Macchavell und Seneca
Stendhal und Walter Scott
Plato und Hafis

26 [332]

1 Wozu schwört man sich, erkennen zu wollen? “das Wahre lieber als das Unwahre”
2 Wozu will man (wirklich) erkennen?
3 Wozu soll man erkennen? und es ist wahr?! daß man das Wahre lieber will?

26 [333]

Es giebt heute so viele oberflächliche Denker, welche beruhigt sind, eine Sache auf Gewöhnung und Vererbung zurückgeführt und damit erklärt zu haben. Aber “wie ist Gewohnheit möglich? Wie ist Vererbung möglich?”

26 [334]

Der Glaube an die Wahrheit.

Das Ausschweifende und Krankhafte an Vielem, was sich bisher “Wille zur Wahrheit” nannte.

Mit schreckhaftem Ernste haben die Philosophen vor den Sinnen und dem Trug der Sinne gewarnt. Der tiefe Antagonismus der Philosophen und der Freunde des Trugs, der Künstler, geht durch die griechische Philosophie: “Plato gegen Homer”—ist die Parole der Philosophen!

Aber Keiner hat auch die Kehrseite, die Untauglichkeit der Wahrheit zum Leben und die Bedingtheit des Lebens durch perspektivische Illusion begriffen.— Es ist eine der gefährlichsten Übertreibungen, das Erkennen nicht im Dienste des Lebens, sondern an sich, um jeden Preis, zu wollen: wie der Wollüstling seinen Trieben folgt, an sich, ohne die Controle der heilsamen anderen Instinkte, wenn es nicht eine Dummheit ist,— — —

26 [335]

Kann man sich für dieses deutsche Reich interessiren? Wo ist der neue Gedanke? Ist es nur eine neue Macht-Combination? Um so schlimmer, wenn es nicht weiß, was es will. Frieden und Gewähren-lassen ist gar keine Politik, vor der ich Respekt habe. Herrschen und dem höchsten Gedanken zum Siege zu verhelfen—das Einzige, was mich an Deutschland interessiren könnte. Was geht es mich an, daß Hohenzollern da sind oder nicht da sind?— England’s Klein-Geisterei ist die große Gefahr jetzt auf der Erde. Ich sehe mehr Hang zur Größe in den Gefühlen der russischen Nihilisten als in denen der englischen Utilitarier. Ein In-einander-wachsen der deutschen und der slavischen Rasse,—auch bedürfen wir der geschicktesten Geldmenschen, der Juden, unbedingt, um die Herrschaft auf der Erde zu haben.

26 [336]

1) der Sinn für Realität

2) Bruch mit dem englischen Princip der Volks-Vertretung, wir brauchen Vertretung der großen Interessen

3) wir brauchen ein unbedingtes Zusammengehen mit Rußland, und mit einem neuen gemeinsamen Programm welches in Rußland keine englischen Scheinwesen zur Herrschaft kommen läßt. Keine amerikanische Zukunft!

4) eine europäische Politik ist unhaltbar, und die Einengung gar in christliche Perspectiven ein ganz großes Malheur. In Europa sind alle gescheuten Leute Sceptiker, ob sie es sagen oder nicht.

Ich denke, wir wollen uns weder in christliche noch in amerikanische Perspektiven einengen.

26 [337]

buona femmina e mala femmina vuol bastone (Sacchetti Nov. 86) [Vgl. Émile Gebhart, Études méridionales. Vol. 1. Les Origines de la Renaissance en Italie. Paris: Hachette, 1879:268-269. "Les dames, dans le Décaméron, gouvernment déjà un cercle spirituel et sont maîtresses dans l'art de la conversation légère ou du récit pathétique.1 [.... Fussnote]1. Dans la réalité bourgeoise et populaire, dont les conteurs des Cento Novelle antiche et Sachetti sont les peintres exacts, le rôle des femmes est fort médiocre, mais la société décrite par ces écrivains est, beaucoup moins que celle du Décaméron, dans le courant de la Renaissance. Les femmes qui y trompent leurs maris avec le plus de décision sont des filles nobles épousées par des marchands. Ceux-ci, personnages assez grossiers, emploient un laid proverbe: Buona femmina e mala femmina vuol bastone. (Sacchetti, Nov. 86.) Les femmes se vengent de leur brutalité et n'ont point tort tout à fait. Nous sommes bien loin ici des amorose donne de Boccace et de toute civilisation supérieure."]

26 [338]

hinc mihi quidquid sancti gaudii sumi potest horis omnibus praesto est. Petrarca, famil. XIX 16. [Vgl. Émile Gebhart, Études méridionales. Vol. 1. Les Origines de la Renaissance en Italie. Paris: Hachette, 1879:314.]

26 [339]

Der Wille, sich nicht täuschen zu lassen und der Wille sich täuschen zu lassen— —aber der Philosoph? Der Religiöse? Der Künstler?

26 [340]

Giebt es noch Philosophen? In Wahrheit ist viel Philosophisches in unserem Leben, namentlich bei allen wissenschaftlichen Menschen, aber Philosophen selber giebt es so wenig noch, als es ächten Adel giebt. Warum?

26 [341]

Wie die Franzosen die Höflichkeit und den Esprit der französischen Gesellschaft widerspiegeln, so die Deutschen etwas vom tiefen träumerischen Ernst ihrer Mystiker und Musiker und ebenso von ihrer Kinderei. Im Italiäner ist viel republikanische Vornehmheit und Kunst, sich gut und stolz zu geben, ohne Eitelkeit.

26 [342]

Man glaubt nicht mehr an Philosophen, auch unter den Gelehrten; das ist die Scepsis eines demokratischen Zeitalters, das die höhere Art Menschen ablehnt. Die Psychologie des Jahrhunderts ist wesentlich gegen die höheren Naturen gerichtet: man will ihnen ihre Menschlichkeiten nachrechnen.

26 [343]

Pythagoras war der Versuch eines antidemokratischen Ideals, unter den stürmischen Bewegungen zur Volksherrschaft hin.

26 [344]

Der “Richter.” Einem Solchen bleibt es nicht erspart, zu befehlen: sein “du sollst” ist nicht abzuleiten aus der Natur der Dinge, sondern weil er das Höhere sieht, muß er es durchsetzen und erzwingen. Was liegt ihm am Zugrundegehen! Er opfert unbedenklich—Stellung des Künstlers zum Menschen: der große Mensch muß befehlen und die Werthschätzung, die er hat, einführen, auflegen, gebieten. Anders sind alle früheren Werthschätzungen auch nicht entstanden. Aber sie sind alle jetzt unmöglich für uns, ihre Voraussetzungen sind falsch.

26 [345]

“Strafen”: dafür ein Rang-anweisen, ein Herabsetzen im Verhältniß zu unserem Ideal. Nicht aber ein Erhaltenwollen Vieler auf Unkosten Einzelner, überhaupt kein Gesichtspunkt der Gesellschaft!

26 [346]

Mit “Glück” als Ziel ist nichts zu machen, auch mit dem Glücke eines Gemeinwesens nicht. Es handelt sich, eine Vielheit von Idealen zu erreichen, welche im Kampf sein müssen, das ist aber nicht das Wohlbefinden einer Heerde, sondern ein höherer Typus. Dieser aber wird nicht erreicht durch das Wohlbefinden der Heerde! so wenig als der einzelne Mensch auf seine Höhe kommt durch Behaglichkeit und Entgegenkommen.

“Gnade,” “Liebe gegen die Feinde,” “Duldung,” “gleiches” Recht (!) sind alles Principien niederen Ranges. Das Höhere ist der Wille über uns hinweg, durch uns, und sei es durch unseren Untergang schaffen.

26 [347]

Es ist verkannt worden, daß alle moralischen “Du sollst” von einzelnen Menschen geschaffen sind. Man hat einen Gott oder ein Gewissen haben wollen, um sich der Aufgabe zu entziehen, welche Schaffen vom Menschen fordert. Die Schwäche oder die Faulheit ist verborgen hinter der christlich-katholischen Denkweise.— Damit der Mensch aber Ideale schaffen kann, muß er lernen und wissen usw.

26 [348]

Die Schule der “Objektiven” und “Positivisten” zu verspotten. Sie wollen um die Werthschätzungen herum kommen, und nur die facta entdecken und präsentiren. Aber man sehe zu z. B. bei Taine: im Hintergrunde hat er Vorlieben: für die starken expressiven Typen z. B., auch für die Genießenden mehr als für die Puritaner.

26 [349]

Ein böses Buch einmal zu machen, schlimmer als Macchavell und jener sehr deutsche und mild-boshafte unterthänigste Teufel von Mephistopheles!

Seine Eigenschaften: grausam (Lust am Zusehen, wie ein schöner Typus zu Grunde geht)

verführerisch (einladend zur Lehre, daß man das Eine und auch das Andere sein müsse)

spöttisch gegen die Tugenden des Mönchs, des Philosophen, den wichtigthuerischen Künstler usw., auch den guten braven Heerden-Menschen

vornehm gegen das Neugierige, Zudringliche, Pöbelhafte der Erkennenden, ebenso gegen das Zopfige, Duckmäuserhafte; kein Lachen, kein Zorn.

26 [350]

Wie solch ein Wort Einem durch das Herz geht!

— “zu allem Land und Meer hat unsere Kühnheit sich den Weg gebrochen, überall sich unvergängliche Denkmale im Guten und Bösen gründend”—sagt Pericles. [Vgl. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Übersetzt von Dr. Adolf Wahrmund. Zweite verbesserte, in den Anmerkungen vermehrte Auflage. II, 41. Stuttgart: Krais & Hoffmann, 1866:128.]

26 [351]

Wo, in pöbelhafter Art, Eine Begierde die Oberherrschaft führt (oder überhaupt die Begierden), da giebt es keinen höheren Menschen. Es versteht sich, daß ein Solcher (wie z.B. Augustin oder Luther) auch gar nicht die höheren Probleme kennt, die alle eine viel kühlere Höhe voraussetzen. Das ist Alles rein persönliche Noth bei Augustin und Luther. Es ist die Frage eines Kranken nach einer Kur. Die Religionen mögen wesentlich solche Thierbändigungs-Anstalten oder Irren-Anstalten [sein] für solche, die sich nicht selber beherrschen können.— Es ist komisch, diese Noth um den Geschlechtstrieb z. B. auch in Wagner’s Parcival und Tannhäuser.

26 [352]

Ich interessire mich nicht

1) für den nationalen Staat, als etwas Ephemeres gegenüber der demokratischen Gesamtbewegung.
2) für die Arbeiter-Frage, weil der Arbeiter selber nur ein Zwischenakt ist.
3) für die Differenzen der Religion und Philosophie, weil sie in der Hauptsache Eins sind, nämlich über gut und böse—wo ich zweifle.
4) für die Denkweisen, welche nicht den Leib und die Sinne festhalten, und die Erde
5) nicht für die l’art pour l’art, die Objektiven usw.

26 [353]

Gebet um Blindheit

Moral ist vernichtet: factum darstellen! Es bleibt übrig: “ich will

Neue Rangordnung. Gegen die Gleichheit.

An Stelle des Richters und des Strafenden der Schaffende.

unsere gute Lage, als Erntende

die höchste Verantwortlichkeit—mein Stolz!

Heraufbeschwören des Bösesten.

der Gesetzgeber und Politiker

die Frommen (warum unmöglich?)

erst den Leib hoch bilden: es findet sich da schon die Denkweise. Plato.

bisher, nach langer kosmopolitischer Umschau, der Grieche als Mensch, der es am weitesten brachte. Europa.

26 [354]

die Naivetät Plato’s und des Christenthums: sie glaubten, zu wissen, was “gut” ist. Sie hatten den Heerden-Menschen errathen,—nicht den schaffenden Künstler. Schon bei Plato ist der “Heiland,” der zu den Leidenden und Schlechten niedersteigt, erfunden. Er hat keinen Blick für die Vernunft und Nothwendigkeit des Bösen.

26 [355]

Nicht das Gute, sondern der Höhere! Plato ist mehr werth als seine Philosophie! Unsere Instinkte sind besser als ihr Ausdruck in Begriffen. Unser Leib ist weiser als unser Geist! Wenn Plato jener Büste in Neapel glich, so haben wir da die beste Widerlegung alles Christenthums!

26 [356]

Socrates, scheint es, war dahinter gekommen, daß wir moralisch nicht in Folge eines logischen Räsonnements handeln—und er fand selber es nicht. Daß Plato und Alle nach ihm glaubten, sie hätten es, und das Christenthum auf diese platonische niaiserie sich hat taufen lassen, das war bisher der größte Anlaß für die Unfreiheit in Europa.

26 [357]

Socrates, der sagt “ich weiß nicht, was gut und böse ist” war klüger als Plato: der definirt es! Aber Plato stellt es dar, den höheren Menschen.

26 [358]

Das falsche Germanenthum bei R[ichard] W[agner] (und die gründliche psychologische Falschheit dieser höchst “modernen” Mischung von Brutalität und Verzärtelung der Sinne) ist mir ebenso zuwider wie das falsche Römerthum bei David, oder das falsche englische Mittelalter Walter Scotts.

26 [359]

Das Problem der Wahrhaftigkeit. Das Erste. und Wichtigste ist nämlich der Wille zum Schein, die Feststellung der Perspectiven, die “Gesetze” der Optik d. h. das Setzen des Unwahren als wahr usw.

Das Problem der Gerechtigkeit. Das Erste und Mächtigste ist nämlich gerade der Wille und die Kraft zur Übermacht. Erst der Herrschende stellt nachher “Gerechtigkeit” fest d. h. er mißt die Dinge nach seinem Maaße; wenn er sehr mächtig ist, kann er sehr weit gehen im Gewährenlassen und Anerkennen des versuchenden Individuums

Das Problem des Mitleidens. Erst ein tiefer Instinkt der Grausamkeit, ein Genuß an fremden Leiden, muß großgezüchtet sein. Denn vorerst ist die ungeheure Indifferenz gegen alles “Außer-uns” da. Die Mitempfindung feinerer Art ist eine abgeschwächte Grausamkeit.

Das Problem des guten Menschen. Der Heerden-Mensch, der die Eigenschaften, welche social machen, vorzieht und lobt. Die entgegengesetzten Eigenschaften werden von herrschenden Menschen geschätzt, nämlich an ihrem eigenen Wesen: Härte, kaltes Blut, kalter Blick, kein Entgegenkommen, Thatsachen-Blick, Blick für große Fernen und nicht für das Nächste und den Nächsten usw.

26 [360]

Wie mir die Socialisten lächerlich sind, mit ihrem albernen Optimismus vom “guten Menschen,” der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige “Ordnung” abgeschafft hat und alle “natürlichen Triebe” losläßt.

Und die Gegenpartei ist ebenso lächerlich, weil sie die Gewaltthat in dem Gesetz, die Härte und den Egoismus in jeder Art Autorität nicht zugesteht. “Ich und meine Art” will herrschen und übrig bleiben: wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet—ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung.

Man haßt die Vorstellung einer höheren Art Menschen, mehr als die Monarchen. Anti-aristokratisch: das nimmt den Monarchen-Haß nur als Maske und — — —

26 [361]

Vermännlichung der Weiber ist der rechte Name für “Emancipation des Weibs.” Das heißt, sie formen sich nach dem Bilde, welches der Mann jetzt abgiebt, und begehren seine Rechte. Ich sehe darin eine Entartung im Instinkte der jetzigen Weiber: sie müßten wissen, daß sie ihre Macht zu Grunde richten, auf diesem Wege.— Sobald sie sich nicht mehr erhalten lassen wollen und ernsthaft Concurrenz mit dem Manne im bürgerlich-politischen Sinne machen, folglich auch auf jene milde und nachsichtig-schonende Behandlungsart verzichten wollen, mit der sie bisher behandelt wurden, so — —

26 [362]

Im Orient und im Athen der besten Jahrhunderte schloß man die Frauen ab, man wollte die Phantasie-Verderbniß des Weibes nicht: das verdirbt die Rasse, mehr als der leibliche Verkehr mit einem Manne.

26 [363]

Auf germanische Ursitte und Urkeuschheit nützt es nicht, sich zu berufen: es giebt keine Germanen mehr, es giebt auch keine Wälder mehr.

26 [364]

Ich bin keinem Menschen begegnet, mit dem ich auf meine Art hätte über Moral reden können: keiner war mir bisher ehrlich und verwegen genug dazu. Daran mag Einiges die Sache des Zufalls sein: z. B. daß ich zu viel unter Deutschen gelebt habe, welche von jeher, in aller Unschuld, moralische Tartüffs gewesen sind, mehr als alles Andere. In der Hauptsache aber glaube ich, daß die Verlogenheit in moralischen Dingen zum Charakter dieses demokratischen Zeitalters gehört. Ein solches Zeitalter nämlich, welches die große Lüge “Gleichheit der Menschen” zum Wahlspruch genommen hat, ist flach, eilig, und auf den Anschein bedacht, daß es mit dein Menschen gut stehe, und daß “gut” und “böse” kein Problem mehr sei.

26 [365]

Moral “du sollst” als falsche Ausdeutung von bestimmten Triebgefühlen.

26 [366]

Die Stärksten an Leib und Seele sind die Besten—Grundsatz für Zarathustra—aus ihnen die höhere Moral, die des Schaffenden: den Menschen nach seinem Bilde umzuschaffen. Das will er, das ist seine Ehrlichkeit.

26 [367]

Zarathustra 5.

Die singende Säule, welche ein Strahl der Morgensonne trifft.

26 [368]

Bei einer außerordentlichen Aufregung wirken heftige Schmerzen (Selbst-Verwundungen) nur als Stimulantia.

26 [369]

[Vgl. William Henry Rolph, Biologische Probleme: zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik. Leipzig: Engelmann, 1884:72-97.]

Vorausgesetzt, daß man sich von den Naivetäten Kant’s frei gemacht hat, welcher dort, wo er Instinkte, im Geistigen und Moralischen, entdeckt, sofort schloß, “das ist nicht von dieser Welt.” Die gleiche Naivetät herrscht noch bei den Engländern den “Instinktiven” und “Intuitiven.”

Aber wo ich bedenklich werde, das ist: alle die physiologisch-historischen Forscher der Moral urtheilen: weil die moralischen Instinkte so und so reden, so sind diese Urtheile in Bezug auf die Erhaltung der Gattung wahr d. h. nützlich: weil sie übrig geblieben sind! Auf gleiche Weise sage ich, daß die unmoralischen Instinkte wahr sein müssen: nur prägt sich darin etwas anderes aus als gerade der Wille zur Erhaltung, nämlich der Wille zum Vorwärts, zum Mehr, zum — — — Ist denn Erhaltung das Einzige, was ein Wesen will?

Und ihr denkt “Erhaltung der Gattung,” ich sehe nur, “Erhaltung einer Heerde, einer Gemeinde.”

26 [370]

Man ist reicher als man denkt, man trägt das Zeug zu mehreren Personen im Leibe, man hält für “Charakter,” was nur zur “Person,” zu Einer unserer Masken, gehört. Die meisten unserer Handlungen kommen nicht aus der Tiefe, sondern sind oberflächlich: wie die meisten vulkanischen Ausbrüche: man muß sich durch den Lärm nicht täuschen lassen. Das Christenthum hat darin Recht: man kann einen neuen Menschen anziehen: freilich, dann noch einen neueren. Man irrt, wenn man einen Menschen nach einzelnen Handlungen beurtheilt: einzelne Handlungen erlauben keine Verallgemeinerung.

26 [371]

Eine Philosophie, welche nicht verspricht, glücklicher und tugendhafter zu machen, die es vielmehr zu verstehen giebt, daß man in ihrem Dienste wahrscheinlich zu Grunde geht, nämlich in seiner Zeit einsam wird, verbrannt und abgebrüht, durch viele Arten von Mißtrauen und Haß hindurch muß, viele Härte gegen sich selber und leider auch gegen Andere nöthig macht: eine solche Philosophie schmeichelt sich niemandem leicht an: man muß für sie geboren sein—und ich fand noch Keinen, der es war (sonst würde ich keine Gründe haben dies zu schreiben) Zum Entgelt verspricht sie einige angenehme Schauder; wie sie dem kommen, der von ganz hohen Bergen aus eine Welt neuer Aspekte sieht; und sie macht nicht am Ende blödsinnig, was die Wirkung des Kantschen Philosophirens war (man ist grausam genug gewesen, neuerdings noch das übrig gebliebene Hauptwerk seines Blödsinns festlich herauszugeben—was ist doch unter Deutschen möglich!)

26 [372]

So wie ich über moralische Dinge denke, bin ich zu langem Stillschweigen verurtheilt gewesen. Meine Schriften enthalten diesen und jenen Wink; ich selber stand kühner dazu; schon in meinem 25. Jahre verfaßte ich für mich ein pro memoria “über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.” Ich bin sogar mit Menschen umgegangen, welche sich auf ihre Art mit Moral beschäftigten: sie werden mir bezeugen, daß ich nie auf meine Art mit ihnen von Moral gesprochen habe. Jetzt, wo ich einen freieren Überblick über diese Zeit habe, und Vieles mir erlaube, was ich früher für unerlaubt gehalten hätte, sehe ich keine Gründe mehr, hinter dem Berge zu halten. “Daß die ‘Wahrheit’ in diesen Dingen schädlich ist,” um mich der Sprache der moralischen Hypokriten zu bedienen, und daß sie Viele zu Grunde richten kann, gebe ich zu: aber “schädlich sein” und “zu Grunde richten” gehört so gut zu den Aufgaben des Philosophen wie “nützlich sein” und “aufbauen.”

26 [373]

Es giebt einen Hang zur Wahrheit: so unwahrscheinlich es klingt: bei einigen Menschen wenigstens. Es giebt auch einen entgegengesetzten Hang z. B. bei den Künstlern. Und wir wollen froh darüber sein, es ist aus Beiden viel Gutes und Schlimmes gewachsen. Im Ganzen ist der zweite Hang wichtiger, es hat gute Gründe daß die Philosophen selten sind, und daß ihr Einfluß stark zurückgedämmt wird.

26 [374]

Aus der Selbstbespiegelung des Geistes ist noch nichts Gutes gewachsen. Erst jetzt, wo man auch über alle geistigen Vorgänge sich am Leitfaden des Leibes zu unterrichten sucht z. B. über Gedächtniß, kommt man von der Stelle.

26 [375]

Der alte Kant stellt einige geistige Instinkte fest, welche vor allem Räsonnement und vor aller Sinnesthätigkeit wirken: ebenso später einen moralischen Instinkt, nämlich den, zu gehorchen. Daß damit eine Brücke geschlagen sei zu “einer anderen Welt,” war eine Übereilung. Selbst wenn festgestellt wäre, daß die Existenz des Menschen an diese Instinkte geknüpft ist, ist über ihre “Wahrheit” nichts ausgemacht. Es ist eben unsere Welt.

26 [376]

Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchlem zuletzt jede andere Denkweise zu Grunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt; die, welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn.

26 [377]

Die intellektuelle Charakterlosigkeit

Als Richard Wagner mir gar von dem Genusse zu sprechen begann, den er dem christlichen Abendmahle (dem protestantischen) abzugewinnen wisse, da war es aus mit meiner Geduld. Er war ein großer Schauspieler: aber ohne Halt, und inwendig die Beute von allen Sachen, welche stark berauschen. Er hat alle Wandlungen durchgemacht, welche die guten Deutschen seit den Tagen der Romantik durchgemacht haben: Wolfsschlucht und Euryanthe, Schauer-Hoffmann, dann “Emancipation des Fleisches” und Durst nach Paris, dann den Geschmack für große Oper, für Meyerbeersche und Bellinische Musik, Volkstribune, später Feuerbach und Hegel—die Musik sollte aus der “Unbewußtheit” heraus, dann die Revolution, dann die Enttäuschung, und Schopenhauer, und eine Annäherung an deutsche Fürsten, dann Huldigungen vor Kaiser und Reich und Heer, dann auch vor dem Christenthum, welches seit dem letzten Kriege und seinen vielen “Todtenopfern” wieder in Deutschland zum guten Geschmack gehört—, mit Verwünschungen gegen die “Wissenschaft.”

26 [378]

Allen seinen natürlichen Hängen zu widerstehen und es zu versuchen, ob nicht auch vom entgegengesetzten Hange Etwas in uns ist: eine nützliche Sache, obwohl sie viel Unbehagen mit sich bringt. Wie wenn ein Mensch aus einer gewohnten trockenen Luft in ein feuchtes Klima versetzt wird. Es verlangt einen unerschütterlichen Willen—und wenn meine Denkweise nichts verlangt als dies, so ist es schon ein Grund, weshalb sie wenige Anhänger haben wird. Ein solcher starker und doch geschmeidiger Wille ist zu selten.

26 [379]

Das Volk von Willensschwachen (wie Sainte-Beuve) hat einen innerlichen Widerwillen vor der entgegengesetzten Rasse z. B. vor Stendhal.

26 [380]

Wie viel viehische Gemeinheit im Engländer, daß er jetzt noch nöthig hat, mit aller Gewalt das utile zu predigen! Es ist sein höchster Gesichtspunkt: sein dulce ist gar zu gering.— Auch die Heils-Armee!

26 [381]

“une croyance presque instinctive chez moi, c’est que tout homme puissant ment, quand il parle, et à plus forte raison, quand il écrit.” préface “Vie de Napoleon” p. XV Stendhal. [Vgl. Stendhal, Vie de Napoléon. Fragments. Paris: Calmann-Lévy, 1876:xv.]

26 [382]

Man spricht mir bei Tisch von Eugen Dühring, man “entschuldigt” Vieles, denn, sagt man: er ist blind. Wie? Ich bin’s beinahe. Homer war es ganz. Muß man deshalb schlechter Laune sein? Und voller Würmer? Und aussehen, wie ein Tintenfaß? Eugen Dühring hat neuerdings uns sein Leben erzählt: er hat keinen Verdruß vergessen, keine Kränkung von Kindesbeinen an, ich glaube, er kann stundenlang schlechte kleine kleinliche Geschichtchen von seinen Lehrern und Gegnern erzählen, von der Zeit her, wo er noch nicht blind [war]: zum Mindesten macht er ein Gesicht darnach, wenn anders das Bild gut ist, mit dem er sein Buch geschmückt und seine Philosophie widerlegt hat.— Er sagt uns, daß das Bild gut ist.

26 [383]

Nachwirkungen des alten Gottes 1) —

So wenig ich mit dem bekannt bin, was heute unter Deutschen philosophirt wird: so bin ich, Dank einigen glücklichen Zufällen, dahinter gekommen, daß in Deutschland jetzt es an der Mode ist, zwar nicht an Schöpfung der Welt, aber doch an einen Anfang zu denken: man wehrt sich gegen eine “Unendlichkeit nach hinten”— Sie verstehen doch meine abgekürzte Formel? Darin stimmen Mainländer, Hartmann, Dühring usw. überein. Den unanständigsten Ausdruck für die entgegengesetzte Ansicht, daß die Welt ewig ist, hat Mainländer gefunden, ein Apostel der unbedingten Keuschheit, gleich Richard Wagner.

Nachwirkungen des alten Gottes 2) ewig neu.

26 [384]

Raum eine Abstraktion: an sich giebt es keinen Raum, namentlich giebt es keinen leeren Raum. Vom Glauben an den “leeren Raum” stammt viel Unsinn. —

26 [385]

Daß wir einen Zeitinstinkt haben, einen Raum-Instinkt, einen Gründe-Instinkt; das hat nichts mit Zeit Raum und Causalität zu thun.

26 [386]

Sieg der antiteleologischen mechanistischen Denkweise als regulativer Hypothese 1) weil mit ihr allein Wissenschaft möglich ist 2) weil sie am wenigsten voraussetzt und unter allen Umständen erst ausprobirt werden muß:—was ein paar Jahrhunderte braucht 3)— — —

26 [387]

Kampf gegen Plato und Aristoteles.

26 [388]

Hegel’s gothische Himmelstürmerei (—Nachzüglerei). Versuch, eine Art von Vernunft in die Entwicklung zu bringen:—ich am entgegengesetzten Punkte, sehe in der Logik selber noch eine Art von Unvernunft und Zufall. Wir bemühen uns [zu begreifen], wie bei der allergrößten Unvernunft, nämlich ganz ohne Vernunft die Entwicklung bis herauf zum Menschen vor sich gegangen ist.

26 [389]

Gegen den Altruismus: derselbe ist eine Illusion.

Das désintéressement in der Moral (Schopenhauer Comte)
in der Erkenntnißlehre (die “Objektiven”—wie Taine),
in der Kunst (die ideale Schönheit, an welche z. B. Flaubert glaubt)

26 [390]

Als ich 12 Jahre alt war, erdachte ich mir eine wunderliche Drei-Einigkeit: nämlich Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel. Mein Schluß, war, daß Gott, sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schuf: daß aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte.— Damit fieng ich an, zu philosophiren.

26 [391]

Die vielen falschen “Gegensätze” (über die Verwandlung der Affekte, ihre Genealogie usw.

26 [392]

Unzählig viele Einzelne höherer Art gehen jetzt zu Grunde: aber wer davon kommt, ist stark wie der Teufel. Ähnlich wie zur Zeit der Renaissance.

26 [393]

Der Schauspieler.

Der historische Sinn: davon hat Plato und alle Philosophie keinen Begriff. Es ist eine Art von Schauspieler-Kunst, zeitweilig eine fremde Seele anzunehmen: Folge der großen Rassen- und Völker-Mischungen, vermöge deren in Jedem ein Stück von Allem ist, das war. Ein Künstler-Sinn, auf dem Gebiete der Erkenntniß. Zugleich ein Zeichen von Schwäche und Mangel der Einheit.

Exotismus, Cosmopolitismus usw. Romantik. Der Sinn hat sich verschärft, z. B. jetzt ist Walter Scott uns nicht mehr möglich. Ebensowenig Richard Wagner.

Rousseau, George Sand, Michelet, Sainte-Beuve—ihre Art von Schauspielerei. Die einen vor dem Volke, andere (wie Voltaire) vor der Gesellschaft.

Ganz andere Schauspieler die Mächtigen, wie Napoleon, Bismarck.

26 [394]

Wissen Sie, was ein Sumpf ist?— Der Zufall erlaubte es mir, wieder alles das bei einander zu sehen, was Richard Wagner und seine Leute zusammen in Worten gepredigt haben: in den übel berufenen Bayreuther Blättern. Sehen Sie, das ist ein Sumpf: Anmaaßung, Unklarheit, Unwissenheit und—Geschmacklosigkeit durcheinander. Wie der Alte singt, so zwitschern die Jungen; darüber wird sich Niemand wundern. Und wäre es nur ein Gesang! Aber es ist ein Gewinsel, die Wichtigthuerei eines alten Oberpriesters, der sich vor nichts mehr fürchtet als vor hellen deutlichen Begriffen. Und das will in Dingen der Philosophie und Historie mitreden!— Il faut être sec, sagt, mir nach dem Herzen, mein Freund Stendhal. [Zitiert von Prosper Mérimée in "Notes et souvenirs" zu Stendhal, Corréspondance inédites, précedée d'une introduction par Prosper Mérimée (Paris: Lévy, 1855):87.] Man soll den Morast nicht aufrühren. Man soll auf Bergen wohnen: also sprach mein Sohn Zarathustra.

26 [395]

Es scheint, ich bin etwas von einem Deutschen einer aussterbenden Art. Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen—habe ich einmal gesagt: aber das will man mir heute nicht zugeben. Goethe hätte mir vielleicht Recht gegeben.

26 [396]

Pour être bon philosophe, il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier, qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c’est-à-dire pour voir clair dans ce qui est. [Zitiert von Prosper Mérimée in "Notes et souvenirs" zu Stendhal, Corréspondance inédites, précedée d'une introduction par Prosper Mérimée (Paris: Lévy, 1855):87.] Nicht täuschen wollen—das ist etwas ganz Anderes, das mag moralisch sein. Sich nicht täuschen lassen, namentlich wenn man den größten Hang dazu hat!

26 [397]

Stendhal präcisirt (18. Dezember 1829) die moralischen Probleme. [Vgl. Stendhal, Mémoires d'un touriste. Vols. 1-2. Paris: Lévy, 1877.]

Was sind die Motive der menschlichen Handlungen: est-ce la recherche du plaisir, comme dit Virgile (trahit sua quemque voluptas) Est-ce la sympathie? Was ist der Gewissensbiß? Kommt er von Gesprächen, die wir gehört haben? ou naît-il dans la cervelle, comme l’idée de becqueter le blé qui vient au jeune poulet?

26 [398]

Die Vergeistigung als Ziel gesetzt: so ist die scharfe Gegensetzung von Gut und Böse, Tugend und Laster ein Zucht-Mittel, den Menschen zum Herrn über sich zu machen, eine Vorbereitung zur Geistigkeit.— Aber wenn nicht Versinnlichung dabei ist, so wird der Geist sehr dünn.

26 [399]

Die Deutschen sind ein gefährliches Volk: sie verstehen sich auf das Berauschen. Gothik, vielleicht auch Rococo (nach Semper), der historische Sinn und Exotismus, Hegel, Richard Wagner—Leibnitz auch heute noch gefährlich—die Bedientenseele (idealisirt als Gelehrten- und Soldatentugend) auch als historischer Sinn. Die Deutschen mögen wohl das gemischteste Volk sein.

“das Volk der Mitte,” die Erfinder des Porzellans und einer chinesenhaften Art von Geheimräthen.

26 [400]

Das tiefe Wohlwollen gegen alle Dinge. Es kostet mich eine Komödie, auf Menschen, die ich kenne, böse zu sein: vorausgesetzt daß ich nicht krank bin.

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel