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Sommer-Herbst 1884 26 [101-200]

26 [101]

Ein prachtvoller Intellekt ist die Wirkung einer Menge moralischer Qualitäten z. B. Muth, Willenskraft, Billigkeit, Ernst—aber zugleich auch von vieler B@8LJk@B\", Verstellung, Verwandlung, Erfahrung in Gegensätzen, Muthwille, Verwegenheit, Bosheit, Unbändigkeit.

Damit ein prachtvoller Intellekt entstehe, müssen die Vorfahren eines Menschen in hervorragendem Grade beides gewesen sein, böse und gut, geistig und sinnlich.

26 [102]

Daß ein guter Mensch einen außerordentlichen Geist haben könne, müßte immer erst noch bewiesen werden: die großen Geister waren bisher böse Menschen.

26 [103]

Diese guten friedfertigen fröhlichen Menschen haben keine Vorstellung von der Schwere derer, welche von Neuem die Dinge wägen wollen und zur Wage heranwälzen müssen.

26 [104]

Die Menge der Mißrathenen erschüttert, noch mehr die Behaglichkeit und Sicherheit (der Mangel an Mitgefühl für die ganze Entwicklung “Mensch”)—wie Alles schnell zu Grunde gehen kann!

26 [105]

Es ist nicht zu verwundern, daß ein paar Jahrtausende nöthig sind, um die Anknüpfung wieder zu finden—es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden!

26 [106]

Der Erkennende hat Freude an allen seinen schlechten Affekten, Begierden, Handlungen; er benutzt Krankheiten, Demüthigungen, er läßt den Schmerz tief graben und springt dann plötzlich zurück, sobald er seine Erkenntniß hat.

26 [107]

Die Absicht, den guten Menschen darzustellen, hat bisher am meisten der Erkenntniß der Philosophen geschadet. Große Verlogenheit, am größten bei den Moralisten.

26 [108]

Darüber giebt es heute keine wesentliche Verschiedenheit des Urtheils, was gut und was böse ist. Man fragt nur, warum giebt es keine wesentliche Verschiedenheit. Daß es so und so ist, daran zweifelt man nicht.— Socrates fragt “warum?” aber auch, er zweifelt nicht—und es gehört bisher zur Eitelkeit des Menschen, daß er wisse, warum er etwas thue—daß er auf bewußte Motive handle.— Von Plato an glaubte jeder, es genüge “gut” “gerecht” usw. zu definiren, da wisse man’s, und nun müsse man darnach handeln.

26 [109]

NB. Werden gute, gerechte Menschen mit Recht gelobt? 1) Hat der Lobende ein Recht, überhaupt zu urtheilen? 2) Ist sein Urtheil richtig—und nach welchem Maaßstabe richtig?

26 [110]

Es ist viel bisher geurtheilt und verurtheilt worden, wo das Wissen fehlte z. B. über Hexen; oder bei der Astrologie. Es hat sich viel “Urtheilen mit bestem Gewissen” als unberechtigt ergeben. Könnte es nicht mit “gut” und “böse” so sein, da die Begründung bisher eigentlich keine Kritik in sich schloß—man stimmte überein.

Auch könnte man fragen: sind die Guten für die Entwicklung neuer und starker Typen nützlicher oder die Bösen? Sind die Guten für die Erkenntniß nützlicher usw. Sind die Guten gesünder und ausdauernder, in Hinsicht auf Erhaltung einer Rasse?— Sind sie im Verhältniß zum Glück heiterer oder trübseliger?— Der äußerst vielfältige, vielspältige Thatbestand erst hinzustellen. Sind sie für die Künste nützlicher? Für die Dauer des menschlichen Geschlechts?

Vor allem: was ist das Merkmal, daß Einer gut oder böse ist? Ist es ein Verhalten in sich? Oder zu Anderen?

26 [111]

Der Weise erschrickt, wenn er dahinter kommt, wie wenig den Allermeisten an der Wahrheit liegt, welche sich für gute Menschen halten—und er wird sich vornehmen, die tiefste Verachtung gegen die ganze moralische Tugend-Sippschaft zu wenden. Der Schlechte ist ihm lieber.— Was hat er für Opfer gebracht! Und nun merkt er, daß die Menschen glauben zustimmen oder nein sagen zu können.— Ein Buch, das “gefällt”!

26 [112]

Ich habe eine tiefe Verachtung gegen alles moralische Urtheilen, Loben und Verurtheilen—

In Bezug auf das gewöhnliche moralische Urtheilen frage ich 1) ist der Urtheilende überhaupt berechtigt zu urtheilen? 2) hat er Recht oder Unrecht, so zu urtheilen?

steht er hoch genug

hat er Einsicht, Phantasie, Erfahrung genug, sich ein Ganzes vorzustellen

26 [113]

NB außerhalb der Städte leben!

26 [114]

Es giebt keine unmittelbaren Thatsachen! Es steht mit Gefühlen und Gedanken ebenso: indem ich mir ihrer bewußt werde, mache ich einen Auszug, eine Vereinfachung, einen Versuch der Gestaltung: das eben ist bewußt werden: ein ganz aktives Zurechtmachen.

Woher weißt du das?—

wir sind uns bewußt der Arbeit, wenn wir einen Gedanken, ein Gefühl scharf fassen wollen—mit Hülfe von Vergleichung (Gedächtniß).

Ein Gedanke und ein Gefühl sind Zeichen irgend welcher Vorgänge: nehme ich sie absolut—setze ich sie als unvermeidlich eindeutig, so setze ich zugleich die Menschen als intellektuell gleich—eine zeitweilig erlaubte Vereinfachung des wahren Thatbestandes.

26 [115]

Wir arbeiten mit allen Kräften, uns von der Unfreiheit zu überzeugen: um uns so frei vor uns selber zu fühlen wie vor der Natur — — Es kostet die äußerste Anstrengung, ein Gefühl dieser Art aufrecht zu erhalten und nicht herauszufallen.

26 [116]

Der “Unwerth” eines Menschen ist nur ein Unwerth in Hinsicht auf bestimmte Zwecke (der Familie Gemeinde usw.): man soll ihm einen Werth geben und ihn empfinden machen, daß er nützlich ist z. B. der Kranke als Mittel der Erkenntniß; der Verbrecher als Vogelscheuche usw. Die Lasterhaften als Gelegenheiten, an ihnen usw.

26 [117]

Um mich zu erhalten, habe ich meine schirmenden Instinkte, von Verachtung, Ekel, Gleichgültigkeit usw.— sie treiben mich in die Einsamkeit: in der Einsamkeit aber, wo ich alles als nothwendig verbunden fühle, ist mir jedes Wesen göttlich.

NB. um irgend Etwas schätzen und lieben zu können, muß ich es begreifen als absolut nothwendig verbunden mit allem, was ist—also um seinetwillen muß ich alles Dasein gutheißen und dem Zufalle Dank wissen, in dem so kostbare Dinge möglich sind.

Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen vom höchsten Wirthe! Es ist tausend Mal zu complizirt, und die Wahrscheinlichkeit des Mißrathens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben!— Scepsis.

— Dagegen: Muth, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Unverantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der Wage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hülfe kommen. —

26 [118]

— alle Tendenzen haben nur auf einen gewissen Gesichtskreis hin Sinn z. B. es ist werthvoll, wenn die Vernunft verfeinert wird, es ist auch werthvoll, wenn sie vergröbert wird: der Weise begreift die Nothwendigkeit entgegengesetzter Maaßstäbe, er will den buntesten Zufall unter vielen Gegensätzen.

Um zu leben, muß man schätzen. Etwas schätzen hat als Consequenz alles gutheißen, also auch das Geringgeschätzte, Verabscheute: d. h. zugleich schätzen und nichtschätzen.— Scepsis, also das Recht- und Unrechtschätzen als sich bedingend schätzen.

26 [119]

Einsicht: bei aller Werthschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspective: Erhaltung des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines Glaubens, einer Cultur

— vermöge des Vergessens, daß es nur ein perspektivisches Schätzen giebt, wimmelt alles von widersprechenden Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in Einem Menschen. Dies ist der Ausdruck der Erkrankung am Menschen, im Gegensatz zum Thiere, wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen.

— dies widerspruchsvolle Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntniß: er fühlt viele Für und Wider—er erhebt sich zur Gerechtigkeit—zum Begreifen jenseits des Gut- und Böseschätzens.

Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke grandiosen Zusammenklangs—der hohe Zufall auch in uns!

— eine Art planetarischer Bewegung —

26 [120]

Fragen eines Fragwürdigen.

26 [121]

Ich habe ein Mißtrauen gegen alle moralischen Menschen: ihr Mangel an Selbst-Erkenntniß und Selbst-Verachtung macht mich nicht nur gegen ihren Verstand ungeduldig—ihr Anblick beleidigt mich.

26 [122]

Der Mann von hoher Seele ist nicht geneigt zur Bewunderung, denn das Größte ist ihm ja eigen und verwandt, es giebt für ihn nichts Großes.— Die äußeren Güter Reichthum Macht kommen nicht in Betracht, sie sind ja nicht von eigenem Werthe, sondern nur zu Besserem nützlich.

“Der Hohe, dem man die Bewunderung durch nichts Anderes als Verehrung ausdrücken kann, wird durch diese Ehren nicht sonderlich erfreut (weil sie immer zu gering sind, für den Werth seiner Tugend): aber er wird sie nicht ablehnen, weil die Menschen ihm ja doch nichts Größeres zu geben im Stande sind.” [Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1124 a6-9, 1125 a3, 1124 a13-15. Vgl. Gustav Teichmüller, Aristotelische Forschungen. Bd. 2: Aristoteles Philosophie der Kunst. Halle: G.E. Barthel, 1867:289.]

26 [123]

Spaaß und Scherz dient der Erholung, ist eine Art Heilung, wodurch wir wieder Kraft zu neuer Thätigkeit bekommen.

“besser ist das Ernste”—ist Aristotelisch. [Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177a, 1-5. Vgl. Gustav Teichmüller, Aristotelische Forschungen. Bd. 2: Aristoteles Philosophie der Kunst. Halle: G.E. Barthel, 1867:182f.]

26 [124]

Daß ein unbegrenzter Wille zur Erkenntniß eine große Gefahr ist, haben noch Wenige begriffen. Das Zeitalter des suffrage universel lebt unter den gutmüthigen und schwärmerischen Voraussetzungen des vorigen Jahrhunderts.

26 [125]

Es gab noch niemals genug Mißtrauen bei den Denkern. Vielleicht war es eine große Gefahr für die Erkenntniß, daß man Tugend und Erkenntniß zusammen finden wollte. Die Dinge sind über die Maaßen bösartig eingerichtet—im Gleichniß zu reden.

26 [126]

Man arbeitet mit Voraussetzungen z. B. daß Erkenntniß möglich ist.

26 [127]

Von der Vielartigkeit der Erkenntniß. Seine Relation zu vielem Anderen spüren (oder die Relation der Art)—wie sollte das “Erkenntniß” des Anderen sein! Die Art zu kennen und zu erkennen ist selber schon unter den Existenz-Bedingungen: dabei ist der Schluß, daß es keine anderen Intellekt-Arten geben könnte (für uns selber) als die, welche uns erhält, eine Übereilung: diese thatsächliche Existenz-Bedingung ist vielleicht nur zufällig und vielleicht keineswegs nothwendig.

Unser Erkenntniß-Apparat nicht auf “Erkenntniß” eingerichtet.

26 [128]

Während ich will, geschieht eine veritable Bewegung: sollte diese mir unbekannte Bewegung nicht als causa efficiens zu betrachten sein? Der Willens-Akt ist ja selber der Abschluß eines “Kampfs der Motive”—diese selber aber — — —

Verwerfung der causae finales

Verwerfung der causae efficientes: sie sind ebenfalls nur Versuche, uns einen Vorgang — — —

26 [129]

“Laub und Gras, Glück, Segen und Regen.” [Vgl. Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittetalters, von Johannes Janssen. Dritter Band. Die politisch-kirchliche Revolution der Fürsten und Städte und ihre Folgen für Volk und Reich bis zum sogenannten Augsburger Religionsfrieden von 1555. Freiburg im Breisgau: Herder, 1881:702. s. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Johannes Janssen.]

26 [130]

Geschichte der Werthschätzungen.
     Vornehm
     Hart

26 [131]

causa efficiens
causa finalis
}beides nur Mittel
der Verständlichung.

26 [132]

Ich denke mir die bösesten kaltblütigsten erbarmungslosesten Menschen.

26 [133]

Befreiung von der Moral:

1) durch Handlungen
2) — — —

26 [134]

NB. Mit Zweckgemäßheit beweist man den Zweck noch nicht.

Bei der Thatsache, daß überall in Sitte und Recht es einen Zweck giebt, ist nicht gezeigt, daß er bezweckt ist bei der Entstehung und oft ist er unzweckmäßig in Hinsicht auf die Mittel eines solchen Zwecks.

Widerspruch in Mitteln geringer Intelligenz und Zweck höchster Intelligenz.

26 [135]

Die secundären Eigenschaften der Dinge unter dem züchtendem Einflusse des uns Nützlichen und Schädlichen (also nicht “an sich angenehm” “unangenehm,” manche Farben bevorzugt: es entwickeln sich unter Umständen Nerven usw. Sinnesorgane usw. Warm, Schwer usw.).

26 [136]

“Ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit” (nicht grausam)—das ist Unsinn, denn nur in lauter Relationen hat er überhaupt eine Beschaffenheit!

26 [137]

Wie weit auch unser Intellekt eine Folge von Existenzbedingungen ist—wir hätten ihn nicht, wenn wir ihn nicht nöthig hätten und hätten ihn nicht so, wenn wir ihn nicht so nöthig hätten, wenn wir auch anders leben könnten.

26 [138]

Die Anpassung an immer neue Verhältnisse und also das Übergewicht der Vererbung und Dauerfähigkeit auf Seiten der anpassungsfähigsten Wesen, der klügsten berechnendsten Einzelnen.

26 [139]

Jenseits von Gut und Böse.

Versuch einer aussermoralischen
Betrachtung der
moralischen Phaenomena.

1. Zurückführung der moralischen Werthschätzungen auf ihre Wurzeln.

2. Kritik der moralischen Werthschätzungen.

3. Die practische Überwindung der Moral.

26 [140]

1) Das Gefühl der Macht
2) Herren- und Sklaven-Moral

26 [141]

Auszugehen von dem Individuum als Vielheit (Geist als Magen der Affekte) so auch Gemeinde.

1. Die Existenz-Bedingungen einer Gemeinde in Gestalt von Werth-Urtheilen über Menschen und Handlungen erscheinend.

2. Die Bedingungen der Fort- oder Zurück-Bildung des Typus in Gestalt von Werthurtheilen.

3. Heerden- und Führer-Tugenden, entgegengesetzt.

26 [142]

Erhaltung einer Art—und Weiterentwicklung.

— Naturen, in denen sich dieser Begriffsunterschied als Widerspruch verkörpert

Problem

Erfindungen, um Erfahrungen zu ersparen (ein vergangenes Leben abzukürzen in immer kürzere Formeln)

Der Philosoph als Herr, aber nicht in seiner Zeit.

Bei Menschen wie Napoleon ist jedes Absehen von sich eine Gefahr und Einbuße: sie müssen ihr Herz verschlossen halten—ebenso der Philosoph. Zarathustra.

Es geht furchtbar zufällig zu: immer mehr Vernunft hinein bringen! Vorsicht usw.

26 [143]

Die Liebe zu Jemandem ist an sich so wenig (und so v[iel]) werthvoll als der Haß oder die Rache. Es giebt in der Liebe so viel Blindheit der Hingebung, so viel Noth und Nöthigung, nämlich durch das Unbehagen im Entbehren der anderen Person, so viel Sklaven-Sinn (im Ertragen aller Art von schlechter Behandlung)—es giebt etwas so Verderbliches und Verderbendes in der Liebe, daß die geliebte Person meistens an Geist und Kraft und Vorsicht durch das Geliebtwerden herunter geht.— Die Mutterliebe an sich nicht werthvoll.— Wie etwas äußerst zweckmäßig sein kann, ohne deshalb auf einen Intellekt zurückzugehn, der deshalb zu verehren wäre: so sind viele Handlungen äußerst nützlich für die Erhaltung der Gesellschaft, oder eines Volkes, aber nicht um dieser Erhaltung willen gethan, noch weniger um ihretwillen entstanden: sie werden irrthümlich verehrt, weil man irrthümlich sie auf die guten Folgen hin abschätzt.

26 [144]

Die Unabhängigen.

26 [145]

Wonach mißt man den Werth (einer Handlung) im Verhältniß zu anderen Handlungen?

Nach dem Erfolge (wie weit erkennbar?) (auch nach dem wahrscheinlichen Erfolge) (auch nach dem Gefühl beim Erfolge)

Nach dem Thäter.

nach der Ausführung

Nach dem begleitenden Gefühle.

Nach der Absicht (abgesehen, ob man’s erreichte)

der Werth einer Handlung, insofern sie Mittel ist (wie weit wohlgewählt oder zufällig als Mittel)

Hauptproblem: wie weit reicht die Erkennbarkeit einer Handlung?

26 [146]

Wo man kein Mißtrauen haben muß, sich gehen lassen darf, Wohlwollen und Gutmüthigkeit aus Augen und Gebärden redet, wo vielleicht gar unsre Fähigkeiten gern oder mit Bewunderung entgegengenommen werden, da pflegt Mancher sein Behagen in ein Lob solcher Menschen zu verwandeln: er nennt sie gut und möchte gern auch ihrem Urtheilsvermögen eine gute Censur geben—man hat sein Vergnügen dabei, hier sich selber zu täuschen.

26 [147]

Die große Complicirtheit der Mittel zu einem “Zwecke” giebt immer Anlaß zum Argwohne, ob hier eine freie Vernunft anordnend gewirkt habe.

26 [148]

“Niemand will freiwillig das Schlimme.” Bei Plato ist das Schlimme das, was einem schädlich ist.

26 [149]

Gerechtigkeit, als Funktion einer weit umherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von gut und böse hinaus sieht, also einen weiteren Horizont des Vortheils hat—die Absicht, etwas zu erhalten, was mehr ist als diese und jene Person.

26 [150]

Wenn man das herausschält, was allen Thatsachen gemeinsam ist, die Grundformen der äußersten Abstraktion—kommt man da auf “Wahrheiten”? Es gab bisher diesen Weg zur Wahrheit, die Verallgemeinerung—man entdeckte so nur die Grundphänomene des Intellekts. Wirklich?

26 [151]

Die Fähigkeit eines guten vorurtheilsfreien außermoralischen Sehens und Urtheilens ist auszeichnend selten.

26 [152]

Wissentlich und willentlich lügen ist mehr werth als unwillkürlich das Wahre zu sagen—da hat Plato Recht. Obwohl die gewöhnliche Werthschätzung umgekehrt ist: nämlich man hält es für leicht die Wahrheit zu sagen. Aber das ist nur für die plumpen und oberflächlichen Menschen, die nicht mit feinen Dingen zu thun haben, so einfach

26 [153]

Von der Entstehung des Philosophen.

1. Das tiefe Unbehagen unter den Gutmüthigen—wie unter Wolken—und das Gefühl, bequem und nachlässig zu werden, auch eitel. Es verdirbt.— Will man sich klar machen, wie schlecht und schwach hier das Fundament ist, so reize man sie und höre sie schimpfen.

2. Überwindung der Rachsucht und Vergeltung, aus tiefer Verachtung oder aus Mitleid mit ihrer Dummheit.

3. Verlogenheit als Sicherheits-Maßregel. Und noch besser Flucht in seine Einsamkeit.

26 [154]

Ich habe überall hin geblickt—aber ein “Du sollst” ist nicht mehr zu finden für Menschen wie mich. Es versteht sich, daß in einem bestimmten Falle z. B. bei einer Wanderung durch Wildnisse ich jedem gehorchen würde, welcher die Fähigkeit hätte, hier befehlen zu dürfen, durch größere Erfahrung. Ebenso einem Arzte. Einem höheren Geiste würde ich mich unterwerfen, in Betreff der Werthschätzungen: einstweilen sage ich “ich will”; und warte darauf, daß mir noch einmal ein höherer Geist über den Weg läuft.

26 [155]

Es ist die Zeit der Gelobenden:—freie Treue-Gelübde zu Gunsten irgend einer Tugend: nicht, weil diese Tugend befiehlt, sondern weil ich sie mir befehle.

Der Werth der Tugenden für den Erkennenden.

Der Nachtheil der Tugenden für den Erkennenden. Die Benutzung des Bösen, der Ausgestoßenheit, des Verurtheiltseins. Man wird nicht Führer, wenn man nicht erst gründlich von der Heerde ausgestoßen ist

26 [156]

Der Prozeß des Lebens ist nur dadurch möglich, daß viele Erfahrungen nicht immer wieder gemacht werden müssen, sondern in irgend einer Form einverleibt werden—das eigentliche Problem des Organischen ist: wie ist Erfahrung möglich? Wir haben nur Eine Form des Verständnisses—Begriff, der allgemeinere Fall, in dem der spezielle liegt. In einem Falle das Allgemeine Typische sehen scheint uns zur Erfahrung zu gehören—insofern scheint alles “Lebendige” nur mit einem Intellekte uns denkbar zu werden. Nun giebt es aber die andere Form des Verständnisses—es bleiben nur die Organisationen übrig, welche gegen eine große Menge von Einwirkungen sich zu erhalten und zu wehren wissen.

26 [157]

Zur Entstehung des menschlichen Bewußtseins könnte man die Entstehung des Heerden-Bewußtseins benutzen. Denn zuletzt ist ja der Mensch auch eine Vielheit von Existenzen: sie haben sich diese gemeinsamen Organe, wie Blutcirculation, Concentration der Sinne, Magen usw. nicht zu diesen Zwecken geschaffen, sondern zufällige Bildungen, welche den Nutzen ergaben, besser das Ganze zu erhalten, sind besser entwickelt worden und erhalten geblieben. Das Zusammenwachsen von Organismen, als Mittel, das einzelne Wesen länger zu erhalten —

— wo Annäherung Anpassung am größten sind, ist die Wahrscheinlichkeit der Erhaltung am größten.

26 [158]

Ich will nicht besorgt sein: der Schutz tiefer Bücher liegt jetzt darin, daß die Meisten keine Zeit haben, sie tief zu nehmen, gesetzt sie hätten selbst die Kraft dazu. Der Mißbrauch der Erkenntniß —

26 [159]

Sch[openhauer] hat es stark und lustig genug gesagt, wie es nicht genug sei, nur mit dem Kopfe Philosoph zu sein. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:264.]

26 [160]

Die Entstehung des Philosophen ist vielleicht die gefährlichste aller Entstehungen: indem ich hier Einiges davon heraus nehme und “zum Besten gebe,” glaube ich ganz und gar nicht diese Gefährlichkeit zu vermindern: und zuletzt hat alle Mittheilung der Erkennenden eben nur den Sinn, zu verhüten, daß nicht jeder neue Erkennende alle die Erfahrungen erst wieder zu machen habe, die schon gemacht sind.

26 [161]

Man könnte noch so Ungünstiges über die Herkunft der moralischen Werthschätzung nachgewiesen haben: jetzt, wo diese Kräfte da sind, können sie verwendet werden und haben als Kräfte ihren Werth. Ebenso wie eine Herrschaft auf List und Gewalt zurückgehn kann: aber der Werth, den sie hat, liegt darin, daß sie eine Herrschaft ist.— Es wäre denn die Sache so, daß alle Kraft der moralischen Werthschätzungen gebunden wäre an die Rechtmäßigkeit ihrer Herkunft oder überhaupt an einen bestimmten Glauben über deren Herkunft: so daß dann, mit dem Durchschauen eines Irrthums, die Kraft der Überzeugung vom Werthe dahinfiele. Indessen: wir sind in allen Stücken auf optische Irrthümer und Werthschätzungen eingerichtet. Die unzureichende Kenntniß eines Beefsteaks wird Niemanden hindern, es sich schmecken zu lassen.

26 [162]

Die Weiber sind viel sinnlicher als die Männer (obschon die angezüchtete Schamhaftigkeit ihnen selber daraus ein Geheimniß macht): für die es zuletzt wichtigere Funktionen gibt als die geschlechtliche. Aber wenn sich ein schöner Mann einem Weibe nähert—Weiber sind überhaupt unfähig, sich ein Verhältniß zwischen Mann und Weib zu denken, das nicht eine Spannung der Geschlechtlichkeit mit sich brächte.

26 [163]

1. Bedeutung der Frage nach der Geschichte der moralischen Empfindungen.

2. Die Möglichkeit eines Wegfalls dieser moralischen Urtheile zu erwägen. Ob Einzelne ihrer entrathen.— Als Zeichen des Verfalls bei Verbrechern.

26 [164]

Die Geschichte der Werthschätzungen und die Entwicklung der Erkennbarkeit der Handlung geht nicht Hand in Hand.

26 [165]

Werth nach dem Erfolge.

Gewöhnlich mißt man den Werth einer Handlung nach einem willkürlichen einzelnen Gesichtspunkte z.B. Werth einer Handlung für mein jetziges oder allgemeines Wohlbefinden

— oder für meine Vergrößerung, Vermehrung von Concentration Selbst-Beherrschung oder Gefühls-Umfänglichkeit (Mehrung der Erkenntniß)

— oder in Hinsicht auf Förderung meines Leibes, meiner Gesundheit Gewandtheit Rüstigkeit

— oder für das Wohl meiner Kinder oder Gemeinde oder Land oder Fürst oder Vorgesetzte oder Amt oder Garten oder Landwirthschaft.

— und jeder Andere kann meine Handlung noch auf sein Wohl usw. ansehn.

auch läßt sich fragen, worauf eine Handlung nicht Einfluß hat

26 [166]

Der Werth einer Handlung liegt in ihrer Alltäglichkeit oder Seltenheit oder Schwierigkeit—Gesichtspunkt der Vergleichung von Handlung mit anderen Handlungen

die Art des Geschehens, wie weit willkürlich oder gehemmt, unterstützt, durch den Zufall vielleicht,

als Glied in einer Kette—und wie gut ausgeführt oder wie halb und unklar.

26 [167]

Meine Werthschätzung der Religionen.

Ursprung jener Moral, welche Ausrottung der sinnlichen Triebe und Verachtung des Leibes fordert: eine Nothmaßregel solcher Naturen, welche nicht Maaß zu halten wissen und welche nur die Wahl haben, Wüstlinge und Schweine oder aber Asketen zu werden. Als persönlicher Ausweg wohl zu gestatten; ebenso wie eine christliche oder buddhistische Denkweise bei solchen, welche sich als Ganzes mißrathen fühlen; man muß es ihnen schon nachsehen, daß sie eine Welt verleumden, in der sie schlecht weggekommen sind.— Aber das ist Sache unserer Weisheit, solche Denkweisen und Religionen als große Irren- und Zuchthaus-Anstalten zu beurtheilen.

26 [168]

Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, allen anderen Thieren durch Klugheit und List unheimlich und furchteinflößend—gebärdet sich oberflächlich, sobald er moralisirt.

26 [169]

Seht euch vor! Martyrium und Angegriffenheit verdirbt leicht den reinen Sinn zur Wahrheit: ihr werdet halsstarrig und macht euch blind gegen Einwände! Geht auch den Anfeindungen aus dem Wege!

26 [170]

Wissenschaft—Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur—das gehört in die Rubrik “Mittel”

aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze

26 [171]

Plato und Aristoteles giengen energisch darauf los, das Reich der Begriffe festzustellen—es war ein Mißverständniß

ein Gegen-Reich zu schaffen d. h. eine Statistik und Werthabschätzung.

26 [172]

der höchste Mensch, der die hellsten und schärfsten Augen, die längsten Arme und das härteste entschlossenste Herz hat, der Mensch der bewußtesten weitesten Verantwortlichkeit

26 [173]

Wenn ich mich jetzt nach einer langen freiwilligen Vereinsamung wieder den Menschen zuwende, und wenn ich rufe: wo seid ihr meine Freunde? so geschieht dies um großer Dinge willen.

ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen, bei denen sich bedrängte Geister und Gewissen Raths erholen können; welche gleich mir nicht nur jenseits der politischen und religiösen Glaubenslehren zu leben wissen, sondern auch die Moral überwunden haben.

26 [174]

Bei allen Fragen nach der Herkunft von Sitten Rechten und Sittlichkeiten muß man sich wohl hüten, die Nützlichkeit, welche eine bestimmte Sitte oder S[ittlichkeit] hat, sei es für die Gemeinde, sei es für den Einzelnen, auch als Grund ihrer Entstehung anzusehn; wie es die Naiven der historischen Forschung machen. Die Nützlichkeit selber nämlich ist etwas Wechselndes, Schwankendes; es wird in alte Formen ein Sinn immer wieder hineingelegt, und der “zunächstliegende Sinn” einer Institution ist oft am letzten erst in sie hinein gebracht. Es steht da wie bei den “Organen” der organischen Welt; auch da glauben die Naiven, daß das Auge um des Sehens willen entstanden sei. [Vgl. Karl Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere. Th. 1. Leipzig: Brockhaus, 1880:18f., 236 f, 241f. Th. 2. Leipzig: Brockhaus, 1880:218f.; 222f., 253.]

26 [175]

Es ist eine Sache der Ehrlichkeit und zwar einer sehr mäßigen und keineswegs bewunderungswürdigen Ehrlichkeit, vom Glauben an Gott sich rein zu erhalten; und was ehemals z. B. noch zu Pascals Zeiten eine Forderung des intellekt[uellen] Gewissens war, kann heute als ein Verbot desselben Gewissens in jedem kräftigen Manneskopfe und Mannesherzen gelten. Die gedankenlose Art, ohne Prüfung überlieferte Meinungen anzulernen und verehren zu lernen, ebenso die Verehrung für das, was unsere Väter geglaubt haben und endlich eine Furchtsamkeit vor den Folgen der Gottlosigkeit—das ist die Ursache

26 [176]

Wer den Werth menschlicher Handlungen nur nach den Motiven Absichten mißt, muß auch als Forscher der Entstehung der Moralität darauf bestehen, daß die Moralität der Menschheit so viel werth sei als die Absichten, welche bei den primitiven moralischen Werthschätzungen, bei den Erfindern derselben gewaltet haben. “Warum ist der Uneigennützige gelobt worden?”

26 [177]

Es giebt eine Überzahl von Familien und Geschlechtern, welche eine Art zu schätzen eben nur fortpflanzen und fortvererben: aber man soll die starken prüfenden und selbständigen Naturen nicht übersehen, welche sich einer Werthschätzung erst nach einer Kritik unterwerfen und noch öfter sie negiren und auflösen. Es giebt auch einen fortlaufenden Strom verneinender und prüfender Kräfte in der Entwicklung des moralischen Urtheilens.

26 [178]

Der Fatalismus und seine Beweisbarkeit.

(causa efficiens ebenfalls wie c[ausa] f[inalis] nur eine populäre Auswahl und Vereinfachung)

Die Erkennbarkeit der Handlungen. Das Wesen der Handlungen wird erschlossen aus Zeugen.

Gut und Böse als perspectivisch.

Entstehung des Gefühls “Schuld.” Was ist Strafe?

Die Beurtheilung von “ich” und “Gemeinde,” neuerdings “der Nächste”

26 [179]

“Verantwortlich für etwas” als Freiheit des Willens verstanden (Heerden-Auffassung!)

“Unverantwortlich, sein eigener Herr”

“vor Niemandem sich verantworten müssen” diese Art Freiheit des Willens geht bis Plato, als Erbschaft der noblesse—absolute Unschuld.

“Herr seiner Tugenden, Herr seiner Schuld” wie Manfred

Unschuld wegen der Beherrschtheit durch das fatum ist die Sklavenauffassung. Der Stolz regt sich, wenn der Mensch für seine Verdienste als Urheber gelten will.

— aber Homers Stolz und aller Inspirirten, nicht selber Urheber, sondern Werkzeuge eines Gottes zu sein!

— man wird für den Erfolg bestraft, nicht für die Absicht—als Schadenanstifter. Da giebt es noch nicht “Schuld” im subjektiven Sinne.

26 [180]

Es giebt Grundthatsachen, auf denen überhaupt die Möglichkeit des Urtheilens und Schließens ruht—Grundformen des Intellekts. Damit aber sind es Wahrheiten,—es könnten Irrthümer sein.

26 [181]

Hymnus auf das fatum und das Glück der Unverantwortlichkeit.

26 [182]

Verschiedenheit der Moralen

1) vom Gesichtspunkte der Fortentwicklung innerhalb des gleichen Stammes (primitive höhere)
2) vom Gesichtspunkte des gleichzeitigen Nebeneinanderherrschens verschiedener Moralen (z. B. 2 Stände)



Bedingungen des Daseins überhaupt.

Bedingungen der Entwicklung zum Höheren:
a) in Hinsicht auf Gemeinden
b) in Hinsicht auf Einzelne.

26 [183]

Wie von Alters her der Mensch in tiefer Unbekanntschaft mit seinem Leibe lebt und an einigen Formeln genug hat, um darüber sich mitzutheilen: so steht es mit den Urtheilen über den Werth von Menschen und menschlichen Handlungen. Ein paar ganz äußerliche und nebensächliche Punkte werden festgehalten und übertrieben betont.

26 [184]

Herren-Moral und Sklaven-Moral.



Wie kostspielig sind alle diese Werthschätzungen der Sittlichkeit! Z. B. die Ehe wird jetzt bezahlt durch die tief greifende Verleumdung und innere Verderbniß des anderen Geschlechts-Verkehrs!



Alle Heerden-Werthschätzungen sind ebenso sehr gegen die niedrigen Naturen gerichtet als gegen die Ausnahms-Weisen, Höheren Naturen.

26 [185]

Damit daß Einer verrufen und von der Heerde in Bann gethan ist, ist er auch jener Verlogenheit enthoben, welche zu den ersten Verpflichtungen des Heerden-Gewissens gehört: und steckt Einer voll von bösen Trieben, wie Socrates, nach seinem eignen Zeugnisse, so leidet er wenigstens an dem nicht, was die Jammergeschichte des guten Menschen ausmacht

26 [186]

Capitel über den Einfluß der Werthschätzungen auf die Entwicklung der Affekte.

Zu unterscheiden: warum wird thatsächlich moralisch so und so geurtheilt? Und welchen Werth hat dies Urtheilen?

Die Voraussetzungen alles moralischen Urtheilens:

a)die Erkennbarkeit der Handlung (Gleichartigkeit von Handlungen, Möglichkeit einer begrifflichen Bestimmung)
b)die Verschiedenheit des moralischen Werths von allen sonstigen Werthen.

Damit aber, daß thatsächlich diese Voraussetzungen von jeher gemacht sind, sind sie nicht bewiesen. Es könnte stehn, wie bei der Astrologie. Dann bliebe noch übrig die Darstellung der bisherigen Art Moral, nebst der Untersuchung ihrer Ursprünge.

26 [187]

Werth des Menschen im Verhältniß zu Thieren oder zu niedersten Wesen.

26 [188]

Ich sah mich um, aber sah bisher keine schlimmere Gefahr für alle Erkenntniß als die moralische Heuchelei: oder, um gar keinen Zweifel zu lassen, jene Heuchelei, welche Moral heißt.

26 [189]

Moral als Heuchelei.

Wenn, bei fortschreitender Verfeinerung der Nerven, gewisse harte und grausame Strafen nicht mehr verhängt oder geradezu abgeschafft werden, so geschieht dies, weil die Vorstellung solcher Strafen den Nerven der Gesellschaft mehr und mehr wehe thut: nicht die wachsende Rücksicht auf den Verbrecher, nicht eine Zunahme der brüderlichen Liebe, sondern eine größere Schwäche beim Anblick von Schmerzen bringt diese Milderung des Strafcodex zu Wege.

26 [190]

Bösartige und verrufene Menschen können der moralischen Erkenntniß ausgezeichnete Dienste leisten, vorausgesetzt daß sie überhaupt Geist und Geistigkeit genug haben, um Lust am Erkennen zu fühlen: während die Schwäche und Folgsamkeit des guten Menschen, sein Mangel an Mißtrauen, sein Hinwegsehenwollen, sein Nicht-genau-sehen-wollen, seine Furcht vor dem Wehethun, das mit allem Seciren von Fleisch und Seele verbunden ist, ebenso viele Gefahren für die moralische Erkenntniß sind. Schon daß einer, durch den Bann, den die Gesellschaft auf ihn legt, sich von der Verlogenheit enthoben fühlt, zu der, als zur ersten Pflicht und Bedingung ihres Daseins, jede Heerde jeden Heerden-Menschen anleitet — — —

26 [191]

Man muß sich zu einer solchen Denkweise (wie die christliche ist) den idealen, ganz zu ihr geschaffenen Menschen denken—Pascal z. B. Denn für den durchschnittlichen Menschen giebt es auch immer nur ein Surrogat-Christenthum, selbst für solche Naturen, wie Luther—er machte sich ein Pöbel- und Bauern-Christenthum zurecht.

26 [192]

Das Leben ist höchst räthselhaft; bisher glaubten alle großen Philosophen durch eine entschlossene Umkehrung des Blicks und der Werthschätzungen eine Lösung zu erzielen.— Ebenso glaubten alle daß für die niedrigen Intellekte ein Surrogat geboten bliebe, z. B. Moral, Glaube an Gott, Unsterblichkeit usw. (Seelenwanderung)

Die Hauptsache ist, daß eine solche Umkehr nicht nur eine Denkweise, sondern eine Gesinnungsweise ist: für Menschen, die einer umwälzenden Gesammt-Werthschätzung nicht fähig sind,—höchster Grad der Selbst-Bestimmung—ist alles gelehrte Wissen um solche Systeme fruchtlos.— Die Fruchtlosigkeit der philosophischen Denkweise, z. B. bei Kant Schopenhauer R. Wagner usw.

26 [193]

Darin, daß die Welt ein göttliches Spiel sei und jenseits von Gut und Böse—habe ich die Vedantaphilos[ophie] und Heraclit zum Vorgänger. [Vgl. Paul Deussen, Das System des Vedânta nach den Brahma-Sûtra's des Bâdarâyana und dem Commentare des Çankara über dieselben als ein Compendium der dogmatik der Brahmanismus vom Standpunkte des Çankara. Aus dargestellt von Dr. Paul Deussen, Privatdocenten der Philosophie an der Universität zu Berlin. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1883:239.]

26 [194]

Gebotene und verbotene Werke = gut und böse. [Vgl. Paul Deussen, Das System des Vedânta nach den Brahma-Sûtra's des Bâdarâyana und dem Commentare des Çankara über dieselben als ein Compendium der dogmatik der Brahmanismus vom Standpunkte des Çankara. Aus dargestellt von Dr. Paul Deussen, Privatdocenten der Philosophie an der Universität zu Berlin. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1883:303.]

26 [195]

[Vgl. Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development. London: Macmillan, 1883:72f., 77.]

Es liegt in der Art der menschlichen Entwicklung, daß ein formales “Du sollst dies und jenes thun, dies und jenes lassen” uns wohl eingeboren sein mag—ein Gehorsams-Instinct, der nach einem Inhalte begehrt; je mehr einer sklavisch oder weiberhaft ist, um so stärker wird dieser Instinkt sein. Nämlich bei den Anderen, Selteneren wird dieser Instinct durch einen anderen überwogen—einen Willen zu befehlen, voranzugehen, mindestens allein zu sein (dies ist die mildeste Form der befehlerischen Natur—)

Wie weit andere Tugend-Instincte angeboren sein mögen —

26 [196]

Es wird aus dem Bösen (Bös-Empfundenen) etwas “Gutes” (als Gut-Empfundenes); und wiederum kann manches Gute, wenn wir auf eine höhere Stufe steigen, in uns als Böse empfunden werden, z. B. der Fleiss für den vollkommenen Künstler, der Gehorsam für den zum Befehlen Gelangten, die Hingebung und die Gnade für den Vertreter großer persönlicher  Ziele  (Napoleon)  Alle  diese  edelmüthigen  Gefühle,  welche  der  junge N[apoleon] mit seiner Zeit gemein hatte, waren Verführungen und Versuchungen, welche die Ausschließliche Verwendung der Kraft in Einer Richtung schwächen wollten.

26 [197]

Daß man sich Tugenden zulegen und Fehler ablegen könne, ist kein Zweifel: was geschieht da eigentlich?

26 [198]

Die Vergeltung der Werke an dem Thäter—ein Grundgedanke der Vedantaphilos[ophie]. Die ganze Welt selber ist nur die Vergeltung der Werke an dem Thäter—aber sie beruht auf dem Nicht-Wissen. [Vgl. Paul Deussen, Das System des Vedânta nach den Brahma-Sûtra's des Bâdarâyana und dem Commentare des Çankara über dieselben als ein Compendium der dogmatik der Brahmanismus vom Standpunkte des Çankara. Aus dargestellt von Dr. Paul Deussen, Privatdocenten der Philosophie an der Universität zu Berlin. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1883:434f.]

26 [199]

“Ihn suchen die Brahmanen zu erkennen durch Vedastudium, durch Opfer, durch Almosen, durch Büßen, durch Fasten: die eigenen Mittel der Erkenntniß sind: Gemütsruhe, Bezähmung, Entsagung, Geduld, Sammlung”—Mittel zu einer mystischen Intuition als der höchsten Seligkeit des Menschen. [Vgl. Paul Deussen, Das System des Vedânta nach den Brahma-Sûtra's des Bâdarâyana und dem Commentare des Çankara über dieselben als ein Compendium der dogmatik der Brahmanismus vom Standpunkte des Çankara. Aus dargestellt von Dr. Paul Deussen, Privatdocenten der Philosophie an der Universität zu Berlin. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1883:444.]

26 [200]

Nämlich: was ist thatsächlich der höchste Glücks-Zustand des Menschen? Das hat in den verschiedensten Systemen den Maaßstab abgegeben. Haschisch

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