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The Will to Power
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Frühjahr 1884 25 [101-200]

25 [101]

Von den Mitteln der Verschönerung. Eine Albernheit, die dem alten Kant zur Last zu legen ist: “es gefällt ohne Interesse.” Und da weist Mancher noch mit Stolz darauf hin, daß er beim Anblick einer griechischen Venus usw. Dagegen habe ich den Zustand beschrieben, den das Schöne hervorbringt: das Wesentlichste ist aber vom Künstler auszugehn. Sich den Anblick der Dinge erträglich zu machen, sie nicht zu fürchten, und ein scheinbares Glück in sie hineinlegen—Grundempfindung, daß der glückliche, Sich selber Liebende Mensch kein Wehethäter ist.— Dieses Umdeuten des Thatsächlichen  in’s Glückliche “Göttliche” hat nun der Mensch auch auf sich verwandt: diese[s] Mittel der Selbst-Verschönerung und der Verschönerung des Menschen überhaupt ist Moral. Darin ist: 1) Wegsehn 2) Sehen, was gar nicht da ist—Zusammenfassen Vereinfachen 3) Sich verstellen, so daß Vieles nicht sichtbar wird 4) sich verstellen, so daß das Sichtbarwerdende einen falschen Schluß ergiebt.— Das Produkt ist der “gute Mensch,” wozu immer eine Gesellschaft gehört. Es ist also im Wesen der Moral Etwas, das wider die Redlichkeit geht: weil sie Kunst ist. Wie ist es nun möglich, daß es eine “Redlichkeit” giebt, welche die Moral selber zersetzt?— 1) Diese Redlichkeit muß aus dem Thatsachen-Sinn abzuleiten sein: nämlich man hat zu viel Schaden gehabt von dieser Heuchelei der Verschönerung, die Geschädigten reißen die Maske herunter 2) es giebt einen Genuß des Häßlichen, wenn es furchtbar ist: die Emotion des furchtbaren Anblicks der wahren menschlichen Natur ist oft gesucht worden von den Moralisten 3) der christliche Affekt der Selbst-Zerstörung, der Widerspruch gegen alles Verschönernde hat gearbeitet: die Lust der Grausamkeit. 4) der alte Sklaven-Sinn, welcher sich niederwerfen will und schließlich vor der nackten “Thatsache” niederwirft, nachdem nichts übrig geblieben ist, Vergötterung der facta, der Gesetze usw. ein Ausruhen nach langer Arbeit der Zerstörung von Göttern, Aristokratien, Vorurtheilen usw., und Folge eines Blicks ins Leere)

Das Gesammt-Resultat aller Moralisten: der Mensch ist böse—ein Raubthier. Die “Verbesserung” geht nicht auf den Grund, und ist mehr äußerlich, das “Gute” ist wesentlich Decoration, oder Schwäche.

Dabei aber standen die Moralisten selber unter der Nachwirkung der moral[ischen] Urtheile, oder des Christenthums, der Welt-Verneinung: Niemand noch hat ein Vergnügen an diesem Resultat gehabt. Das heißt: sie haben die Werthschätzung der “Guten” selber!

“Man muß den Menschen verschönern und erträglich machen”: dagegen sagte das Christenthum und der Buddh[ismus]—man muß ihn verneinen. Es hat also im Grunde nichts so gegen sich als den guten Menschen: den haßt es am meisten. Deshalb suchen die Priester Selbst-Zerstörung des Genusses an sich mit allen Mitteln.

Die griechischen Philosophen suchten nicht anders “Glück” als in der Form, sich schön zu finden: also aus sich die Statue zu bilden, deren Anblick wohlthut (keine Furcht und Ekel erregt)

Der “häßlichste Mensch” als Ideal weltverneinender Denkweisen. Aber auch die Religionen sind noch Resultate jenes Triebs nach Schönheit (oder es aushalten zu können): die letzte Consequenz wäre—die absolute Häßlichkeit des Menschen zu fassen, das Dasein ohne Gott, Vernunft usw.—reiner Buddhismus. Je häßlicher, desto besser.

Diese extremste Form der Welt-Verneinung habe ich gesucht. “Es ist alles Leiden,” es ist alles Lüge, was “gut” scheint (Glück usw.) Und statt zu sagen “es ist alles Leiden” habe ich gesagt: es ist alles Leiden-machen, Tödten, auch im besten Menschen.

“Es ist alles Schein”—es ist alles Lüge

“Es ist alles Leiden”—es ist alles Wehe-Thun, Tödten, Vernichten, Ungerecht-Sein

Das Leben selber ist ein Gegensatz zur “Wahrheit” und zur “Güte”—ego

Das Leben-Bejahen—das selber heißt die Lüge bejahen.— Also man kann nur mit einer absolut unmoralischen Denkweise leben. Aus dieser heraus erträgt man dann auch wieder die Moral und die Absicht auf Verschönerung.— Aber die Unschuld der Lüge ist dahin!

Die Griechen als Schauspieler. Ihr “Idealismus.”

Die Ver-Griechung einmal darstellen als Roman. Rückwärts—auch die Sinnlichkeit, immer höher strenger. Endlich bis zur Offenbarung des Dionysischen. Entdeckung des Tragischen: “Bock und Gott.”

25 [102]

Inwiefern die absolute Wissenschaftlichkeit noch Etwas von Christenthum an sich trägt, eine Verkleidung ist — —

25 [103]

A)Zuerst: der Verfall der modernen Seele in allen Formen in wiefern von Socrates an der Verfall beginnt—meine alte Abneigung gegen Plato, als antiantik.

die “moderne Seele”: war schon da!
  
B)Darzustellen: die zunehmende Härte
 Sinnen-Kraft
Schamlosigkeit.
das Unhistorische
Wettkampf
Gefühl gegen das
Barbarische
Haß des Unbe-
stimmten Unge-
formten der Wöl-
bung
die Schlichtheit
der Lebensweise.
Götter schaffen,
als seine höhere Ge-
sellschaft.
 

C) — — —

25 [104]

Auf die Schule des romantisme ist in Frankreich gefolgt l’école du document humain. Der Urheber des Ausdrucks ist Edmond de Goncourt. [Vgl. Edmond Huot de Goncourt, La Faustin. Paris: Charpentier, 1882:ii.]

wissenschaftliche Hysterie—sage ich.

Consequenz: die wissenschaftliche Lust des Menschen an sich selber.—

Das Unwissenschaftliche daran ist die Lust am Ausnahmefall.

25 [105]

Man muß von den Kriegen her lernen: 1) den Tod in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft—das macht uns ehrwürdig 2) man muß lernen, Viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen nicht zu schonen. 3) die starre Disciplin, und im Krieg Gewalt und List sich zugestehn.

25 [106]

Die Perspektiven der griechischen Moralisten: die Moralität die Folge von Urtheilen (und von falschen Urtheilen)—“warum?” falsche Frage und Entwicklung, das eigene Glück als Ziel alles Handelns (es muß das höchste Glück sein als Folge der höchsten Einsicht—voller Hypocrisie folglich)—die Schamlosigkeit im Präsentiren der Tugend (Vergöttlichung bei Plato) das Verleumden aller unbewußten Regungen, die Verachtung der Affekte—

unbewußt streben sie alle nach der schönen Bildsäule—sie wollen vor Allem Tugend repräsentiren, es ist das große Schauspielerthum der Tugend.

aber sie sind Kinder ihrer Zeit—nicht mehr tragische Schauspieler, nicht Darsteller des Heroen-thums, sondern “Olympier,” oberflächlich. Viel plebejischer Ehrgeiz und Parvenu-thum ist darin. “Rasse” soll nichts sein: das Individuum fängt mit sich an.

Viel Ausländerei—der Orient, der Quietismus, die semitische Erfindung von der “Heiligkeit” wirken.

Eifersucht auf die bildenden Künste

25 [107]

Die alte Sittlichkeit hat jenen Grundglauben, daß es mit den Menschen rückwärts geht: daß Glück Kraft Tugend sehr fern von uns sind. Es ist das Urtheil derer, welche die Auflösung sehen und im Starrwerden das Heil.

Ziel aller großen Moralisten bisher: eine endgültige Form “Denkweise” zu schaffen—in China, im Brahmanenthum, in Peru, im Jesuitism, auch Aegypten; auch Plato wollte es. Eine Kaste schaffen, deren Existenz mit dem Starrwerden der moral[ischen] Urtheile verknüpft ist, als Lebens-Interesse—die Klasse der Guten und Gerechten.

25 [108]

“Die französische Revolution hat eine Gesellschaft geschaffen, sie sucht noch ihr gouvernement.”— [Vgl. Lucien-Anatole Prévost-Paradol, La France Nouvelle. Paris: Michel Lévy, 1868:295.]

25 [109]

“1789: die Menschen ‘des guten Willens,’ von denen die Bibel redet, schienen zum ersten Male die Herren der Dinge der Erde. Ein Volk, sanft, vertrauend, gewohnt seit Jahrhunderten geduldig zu leiden und von seinen Führern Lösung seiner Noth zu erwarten: eine mittlere Klasse, reich, aufgeklärt, honnet; eine noblesse, welche ihren Stolz hinein setzt, Privilegien fahren zu lassen, von der Philosoph[ie] entzückt, glühend für das öffentliche Wohl; ein Clerus, von liberalen Ideen durchdrungen: ein König bereit die Willkür-Macht zu vernichten und restaurateur de la liberté française zu werden”— [Vgl. Lucien-Anatole Prévost-Paradol, La France Nouvelle. Paris: Michel Lévy, 1868:297f.]

Und warum mißräth Alles? Weil alle diese guten Leute willensschwach waren! le roi trop défiant, trop faible; die Königin in blindem Haß gegen die révol[ution], die noblesse durch die Gefahr der Krone zu ihren alten Instinkten zurückgerufen, sieht jetzt in ihr einen Irrthum und comme une lâcheté ses concessions premières (ja! das ist die Art der Schwachen!) la maladresse janséniste macht einen unheilvollen Versuch, die Kirche durch den Staat zu organisiren und entfremdet so die Geistlichkeit: und auf dem Lande und den Städten gab es lange aufgehäuften Todhaß gegen die Feudalzeit (jetzt noch größer als die Furcht vor dem “rothen Gespenst”) [Vgl. Lucien-Anatole Prévost-Paradol, La France Nouvelle. Paris: Michel Lévy, 1868:300f.]

25 [110]

[Vgl. Lucien-Anatole Prévost-Paradol, La France Nouvelle. Paris: Michel Lévy, 1868:303-309.]

Napoleon einer anderen Art Wesen zugehörig, bei denen die Kraft der Berechnung, die Macht der Combinationen, die Fähigkeit der Arbeit unsäglich entwickelter ist als bei uns, während man vergeblich gewisse moralischen Qualitäten suchen würde, die bei uns gewöhnlich sind:—fremd den Ideen der Gerechtigkeit, wenig gemacht die Geschichte und seine Zeit selber zu begreifen, ganz vom persönlichen Interesse beherrscht und dick blind über dies Interesse: Mangel an Unterscheidung von Gut und Böse, cette soif impérieuse de succès, absolute Gleichgültigkeit gegen die Mittel, alles das, was Verbrecher macht—: in moralischer Beziehung nicht besser und schlechter als unsers Gleichen. Aber was ihm am meisten fehlte, die wunderbarste Lücke: la grandeur d’âme (magnanimité) die noble Eigenschaft, die oft im Erfolge selber ihren Ursprung nimmt und sich mit unserem Glück in gleichem Schritt entwickelt und die schrittweise oft vulgären und des moralischen Sinnes entblößten Naturen auf die Höhe der Ereignisse hebt à la hauteur de la destinée imprévue. Gewiß, Größe der Conception existirte bei ihm, wenn das Maaßlose groß heißt (das was außer Proportion zu den Mitteln ist, mit denen wir hier unten handeln)

Größe der Seele ist nicht: daß er, sonst so hart, nicht zu seinen Stunden indulgent war, bisweilen bonhomie bienveillante, welche die Menge bei ihren Herren immer mit bonté verwechselt: aber ces rares relâchements eines immer gespannten Geistes, cette facilité intermittente d’un coeur indifférent.

Er sah in Frankreich, “diese rührende Creatur voll sublimer Instinkte, aber unter dem Gewicht seiner Leiden und Fehler niedergesunken” nur seine Beute. Der erste Consul war vor das größte Schauspiel gestellt, er hätte die tiefste und désinteressée émotion fühlen müssen vor dieser Scene, die einzig in der Geschichte ist: denn Caesar fand eine alte und ausathmende Republik vor sich. Aber er dachte an sich!

esprit mal cultivé, imagination méridionale—er nahm bald Cäsar bald Karl den Großen als Modell, imbu surtout du féticisme monarchique, il rêve pourpre, trône et couronne pour les siens, fast wie jene Barbarenchefs, welche glaubten sich zu vergrößern, indem sie den Hof von Constantinopel nachahmten.

25 [111]

Zeigen, wo Alles es Grausamkeit giebt: wo Habsucht: wo Herrschsucht usw.

25 [112]

Erste Frage: die Herrschaft der Erde—angelsächsisch. Das deutsche Element ein gutes Ferment, es versteht nicht zu herrschen. Die Herrschaft in Europa ist nur deshalb deutsch, weil es mit ermüdeten greisen Völkern zu thun hat, es ist seine Barbarei, seine verzögerte Cultur, die die Macht giebt.

Frankreich voran in der Cultur, Zeichen des Verfalls Europas. Rußland muß Herr Europas und Asiens werden—es muß colonisiren und China und Indien gewinnen. Europa als das Griechenland unter der Herrschaft Roms.

Europa also zu fassen als Cultur-Centrum: die nationalen Thorheiten sollen uns nicht blind machen, daß in der höheren Region bereits eine fortwährende gegenseitige Abhängigkeit besteht. Frankreich und die deutsche Philosophie. R. Wagner von 1830-50 und Paris. Goethe und Griechenland. Alles strebt nach einer Synthese der europäischen Vergangenheit in höchsten geistigen Typen — — — —

— eine Art Mitte, welche das Krankhafte an jeder Nation (z. B. die wissenschaftliche Hysterie der Pariser) ablehnt.

Die Gewalt ist einmal getheilt zwischen Slaven und Angelsachsen. Der geistige Einfluß könnte in den Händen des typischen Europäers sein (dieser zu vergleichen dem Athener, auch dem Pariser—siehe die Schilderung Goncourt’s in Renée Mauperin) Bisher sind die Engländer dumm, die Amerikaner werden nothwendig oberflächlich (Hast) — — — —

Wenn aber Europa in die Hände des Pöbels geräth, so ist es mit der europäischen Cultur vorbei! Kampf der Armen mit den Reichen. Also ist es ein letztes Aufflackern. Und bei Zeiten bei Seite schaffen, was zu retten ist! Die Länder bezeichnen, in welche sich die Cultur zurückziehen kann—durch eine gewisse Unzugänglichkeit, z.B. Mexico. — — — —

25 [113]

Sklavenhafte Moral
Herrenhafte Moral.
}und ihr Gegensatz der Werthe.
   
Grausamkeit
Wollust
Herrschsucht
Habsucht
Neid
ü
ú
ý
ú
þ
und was davon in den Guten ist, und in
Gerechtigkeit, Mitleid, Wahrhaftigkeit,
Treue, Fleiß usw.

Krankhafte Tugenden und Tugendhafte—und das Gesunde am Raubthier.

Unverhältnißmäßig wenig Bewußtsein über unsere Wirkungen. (Die Absichten und Zwecke als willkürliches Auslesen von Wirkungen)

Falsche Voraussetzungen über unsere Beweggründe (Grund-Zweifel: ob unsere bewußten Gefühle und Gedanken “bewegen”)

Der Leib als Lehrmeister: Moral Zeichensprache der Affekte.

Der Schaden der Guten: Die Guten als zweiten Ranges, Entartung. Verdummung, Haß auf geistige Entwicklung.

Individuum und Gemeinde.

Das “Individuum” als Vielheit und Wachsthum.

“Böse” als organische Funktion. Mitleiden. Für Andere.

Die Religionen als Moralen mit Voraussetzung anderer Welten: aber herrenhaft oder sklavenhaft.

25 [114]

In wiefern unsere jetzt übliche Ordnung der Werthe auf lauter falsche Voraussetzungen hinausläuft: Ursprung der herrschenden Grundschätzungen. NB!

25 [115]

Die Deutschen verderben, als Nachzügler, den großen Gang der europäischen Cultur: Bismarck—Luther z. B.; neuerdings, als Napoleon Europa in eine Staaten-Association bringen wollte (der einzige Mensch, der stark genug dazu war!), haben sie mit den “Freiheits-Kriegen” Alles vermanscht und das Unglück des Nationalitäten-Wahnsinns heraufbeschworen (mit der Consequenz der Rassenkämpfe in so altgemischten Ländern wie Europa!) So haben Deutsche (Carl Martell) die saracenische Cultur zum Stehen gebracht—: immer sind es die Zurückgebliebenen!

25 [116]

Die seiende Welt ist eine Erdichtung—es giebt nur eine werdende Welt.— So könnte es sein! Aber setzt die Erdichtung nicht den Dichter als seiend voraus?— Vielleicht ist die erdichtete andere Welt erst eine Ursache davon, daß der Dichter sich für seiend hält und gegenüberstellt.— Wenn das Wesentliche des Fühlens und Denkens ist, daß es Irrthümer (“Realitäten”) ansetzen muß:

Es giebt Fühlen und Denken: wie ist es aber in der Welt des Werdens nur möglich?— Die negativen Eigenschaften Oberflächlichkeit Stumpfheit der Sinne Langsamkeit des Geistes haben sich in positive Kräfte verwandelt (das Böse ist auch hier der Ursprung des Guten.)

ein Bild setzen, fertig machen auf Grund weniger Indicien, etwas als blei[b]end setzen, weil man die Veränderung nicht sieht.

Die Fähigkeit zu leben begünstigt durch diese dichtende Kraft.

25 [117]

Man hat für “unpersönlich” angesehen, was der Ausdruck der mächtigsten Personen war (J. Burckhardt mit gutem Instinkt vor dem palazzo Pitti): “Gewaltmensch”—ebenso Phidias—das Absehen vom Einzel-Reize.— [Vgl. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. 2. Aufl. bearbeitet von A. v. Zahn. Leipzig: 1869:175.] Aber die Herren möchten sich gerne verstecken und loswerden z. B. Flaubert (Briefe) [Vgl. Gustave Flaubert, Lettres de Gustave Flaubert à George Sand. Précédées d'une étude par Guy de Maupassant. Paris: Charpentier, 1884.]

25 [118]

Man muß gut und böse sein! Und wer nicht gut aus Schwäche war, war auch immer böse in hervorragendem Grade.

25 [119]

Nach Absichten einen Menschen abschätzen! Das wäre als wenn man einen Künstler nicht nach seinem Bilde, sondern nach seiner Vision taxirte! Wer hat nicht seine Mutter getödtet, seinen Freund verrathen, wenn es auf Gedanken ankommt! Man würde in einer artigen Einsamkeit leben, wenn Gedanken tödten könnten!

25 [120]

Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen in uns: der Dichter verräth sich in seinen Gestalten. Die Umstände bringen Eine Gestalt an uns heraus: wechseln die Umstände sehr, so sieht man an sich auch zwei, drei Gestalten.— Von jedem Augenblick unseres Lebens aus giebt es noch viele Möglichkeiten: der Zufall spielt immer mit!— Und gar in der Geschichte: die Schicksale jedes Volks sind nicht nothwendig in Hinsicht irgend einer Vernunft: es liegen in jedem Volke viele Volks-Charaktere, und jedes Ereigniß nährt den einen mehr als den anderen

25 [121]

Die zahme Barbarei

Die thatsächliche Barbarei Europa’s—und zunehmend:

die Verdummung (“der Engländer” als Normal-Mensch sich anlegend) die Verhäßlichung (“Japanisme”) (der revoltirende Plebejer) die Zunahme der sklavischen Tugenden und ihrer Werthe (“der Chinese”)

die Kunst als neurotischer Zustand bei den Künstlern, Mittel des Wahnsinns: die Lust an dem Thatsächlichen (Verlust des Ideals)

die Deutschen als Nachzügler (in der Politik der Centralisation des Monarchischen, wie Richelieu: in der Philosophie mit Kant Skepsis (zu Gunsten der Biedermännerei und Beamten-Tugend), mit Hegel Pantheism zu Gunsten der Staats-Anbetung, mit Schopenhauer Pessimism zu Gunsten der christlichen Mystik “Pascalismus”),

die schlechte Ernährung des ganzen europäischen Südens. England’s bessere Gesellschaft ist durch Ernährung voran,

“der gute Mensch” als das Heerdenvieh, aus dem Raubthier umgewandelt,

die historische Krankheit als Mangel der bildenden idealen Kraft—“Gerechtigkeit” bleibt übrig und “Unschädlichkeit” im äußerlichen Sinne.

Es ist die zahme Barbarei, die heraufzieht!

die Geltung der Dummen, der Frauen usw.

25 [122]

Man will den Leser zur Aufmerksamkeit zwingen “vergewaltigen”: daher die vielen packenden kleinen Züge des “Naturalisme”—das gehört zu einem demokratischen Zeitalter: grobe und durch überarbeit ermüdete Intellekte sollen gereizt werden!

25 [123]

ich halte diese Gemeinheit Shakespeare’s und Balzac’s mit Mühe aus: ein Geruch von pöbelhaften Empfindungen, ein Cloaken-Gestank von Großstadt, kommt überall her zur Nase.

25 [124]

Ich will die Weiber wieder zurückformen: die Sand und M[adame] de Staël beweisen gegen sie. (Sévigné und Eliot sollten mehr sein als Schriftstellerinnen und waren es auch—zum Theil Nothbehelf) Ich verdamme sie zum Handel: der commis soll in Verachtung!

25 [125]

Maler wie Dickens, V. Hugo, Gautier—auch dies heißt das Wort mißverstehn.

Der Gegensatz des Malers ist der Beschreiber (wie Balzac)

25 [126]

(Taine über Balzac:)

“Die Tugend als Umformung oder Entwicklungsstufe einer Leidenschaft oder einer Gewohnheit”: l’orgueil, la raideur d'ésprit, la niaiserie obéissante, la vanité, le préjugé, le calcul. Die Laster dienen dazu sie zu bilden (wie ein Parfum mit substances infectes) Der liebt die Armen wie ein Spieler das Spiel: Jener ist treu wie ein Hund. Der rechtschaffene aus Geschäftsstolz, Enge von Geist und Erziehung. Alle die kleinen Misères, die großen Häßlichkeiten des Tugendhaften. Die reinste Quelle der Tugend: la grandeur d’âme (M[arc] Aurel) und la délicatesse d’âme (P[rincesse] de Clèves) [Vgl. Hippolyte Taine, "Balzac." In: Nouveaux essais de critique et d'histoire. Deuxième édition. Paris: Hachette, 1866:130-132.]

25 [127]

Früher suchte man Gottes Absichten in der Geschichte: dann eine unbewußte Zweckmäßigkeit z. B. in der Geschichte eines Volkes, eine Ausgestaltung von Ideen usw. Jetzt erst hat man, durch Betrachtung der Thier-Geschichte, angefangen, den Blick für die Geschichte der Menschheit sich zu schaffen: und die erste Einsicht ist daß es keinen Plan bisher [gab], weder für den Menschen, noch für ein Volk. Die allergröblichsten Zufälle sind das Gebieterische im Großen gewesen—sie sind es noch.

Bei jedem noch so zweckbewußten Thun ist die Summe des Zufälligen Nicht-Zweckmäßigen Zweck-Unbewußten daran ganz überwiegend, gleich der unnütz ausgestrahlten Sonnen-Gluth: das was Sinn hätte, ist verschwindend klein.

25 [128]

“Nützlich” ist nur ein Gesichtspunkt für die Nähe: alle fernen Folgen sind nicht zu übersehen, und jede Handlung kann gleich nützlich und gleich schädlich taxirt werden.

25 [129]

1. Alle bisherigen Werthschätzungen stammen aus Zuständen tiefster Unwissenheit.

2. In den gegenwärtigen Schätzungen gehn die verschiedensten Moralen durch einander.

25 [130]

Rousseau, in seiner Bevorzugung der Armen, der Frauen, des Volks als souverän, ist ganz in der christlichen Bewegung darin: alle sklavenhaften Fehler und Tugenden sind an ihm zu studiren, auch die unglaublichste Verlogenheit. (Der will Gerechtigkeit lehren!)

Sein Gegenstück Napoleon—antik, Menschen-Verächter

25 [131]

Wer bisher mit dem M[enschen] im großen Stile zu thun hatte, taxirte ihn nach den Grund-Eigenschaften: es hat keinen Sinn, die zarteren Nuancen zu berücksichtigen. So that es Napoleon. Er machte sich nichts aus den christlichen Tugenden, nahm sie als gar nicht vorhanden (—er hatte ein Recht dazu)

25 [132]

Dies Jahrhundert, wo die Künste begreifen, daß die Eine auch Wirkungen der anderen hervorbringen kann: ruinirt vielleicht die Künste! z.B. mit Poesie zu malen (Victor Hugo, Balzac, W. Scott usw.

mit Musik poetische Gefühle erregen (Wagner)

mit Malerei poetische Gefühle, ja philosophische Ahnungen zu erregen (Cornelius)

mit Romanen Anatomie und Irren-Heilkunde treiben usw.

25 [133]

“ce talent (Philosophie der Geschichte) ne consistait pas, à l’allemande, dans l’improvisation risquée de théories sublimes” Taine [Vgl. Hippolyte Taine, "M. Guizot. Histoire de la révolution d'Angleterre." In: Essais de critique et d'histoire. 2 édition. Paris: Hachette, 1866:80.]

25 [134]

Princip:

die Eroberung
der Menschheit
:
die Herren
der Erde
”:
   1) Tiefe Verachtung gegen die
an der Presse Arbeitenden
.
2) Eine Gattung von Wesen zu schaffen, die
den Priester Lehrer und Arzt ersetzen.
3) Eine Geistes- und Leibes-Aristokratie,
die sich züchtet und immer neue Elemente in sich hinein
nimmt und gegen die demokratische
Welt der Mißrathenen und Halbgerathenen [sich] abhebt.

25 [135]

In diesem Zeitalter, wo man begreift, daß die Wissenschaft anfängt, Systeme bauen, ist Kinderei. Sondern lange Entschlüsse über Methoden fassen, auf Jahrhunderte hin!—denn die Leitung der menschlichen Zukunft muß einmal in unsere Hand kommen!

Methoden aber, die aus unserem Instinkte von selber kommen, also regulirte Gewohnheiten, die schon bestehen

z. B. Ausschluß der Zwecke.

25 [136]

Darstellung der Maschine “Mensch”

Cap. 1. Im Gesammt-Geschick der Menschheit herrschte absolut der Zufall: aber die Zeit kommt, wo wir Ziele haben müssen!!

Cap. II. die Ziele sind nicht da, die Ideale widersprechen sich—sie sind Consequenzen viel engerer Verhältnisse und auch aus zahllosen Irrthümern geboren. Kritik der Werthe—Selbstzersetzung der Moral.

Cap. III. Bisheriges Mißverständniß der Kunst: sie schaute rückwärts. Aber sie ist die Ideal-bildende Kraft—Sichtbarwerden der innersten Hoffnungen und Wünsche

25 [137]

Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für die “Herren der Erde.”

Die Religionen als Tröstungen, Abschirrungen gefährlich: der Mensch glaubt sich nun ausruhen zu dürfen.

Im Theages Plato’s steht es geschrieben: “jeder von uns möchte Herr womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.” [Vgl. Plato, Theages 125e-126a. Hippolyte Taine, "Platon.— Les dialogues." In: Essais de critique et d'histoire. 2 édition. Paris: Hachette, 1866:248.] Diese Gesinnung muß wieder da sein.

Engländer, Amerikaner und Russen — — — —

25 [138]

Der große Landschafts-Maler Turner, der statt zu den Sinnen, zur Seele und zum Geiste reden will—philosophische und humanitäre Epopeen. Er hielt sich für den ersten der Menschen, und starb toll. “In Mitte eines Sturms, die Sonne in den Augen, den Schwindel im Kopf” so fühlt sich der Zuschauer. “In Folge der tiefen Aufmerksamkeit auf le moral de l’homme ist seine optische sensibilité désaccordée. Unangenehm fürs Auge! übertrieben, brutal, schreiend, hart, dissonant.” Taine. [Vgl. Hippolyte Taine, Notes sur l'Angleterre. Paris: Hachette, 1871:350-52.]

25 [139]

“Die Kunst will höhere Bewegungen hervorbringen, das Sinn-Vergnügen ist nur die Basis des Eindrucks, aber es muß mit Freude begleitet sein 1) Gefühl der Liebe für das gemalte Objekt 2) Begriff der Güte einer höheren Intelligenz 3) ein Aufschwung von Dankbarkeit und Verehrung für diese Intelligenz: Ruskin Freund Turners” [Vgl. Hippolyte Taine, Notes sur l'Angleterre. Paris: Hachette, 1871:355f.]

25 [140]

NB. Der höchste Mensch als Abbild der Natur zu concipiren: ungeheurer Überfluß, ungeheure Vernunft im Einzelnen, als Ganzes sich verschwendend, gleichgültig dagegen: — —

25 [141]

Ingres: l’inventeur au 19me siècle de la photographie en couleur pour la reproduction des Pérugin et des Raphaël. Delacroix c’est l’antipôle—Bild der décadence dieser Zeit, le gâchis, la confusion, la littérature dans la peinture, la peinture dans la littérature, la prose dans les vers, les vers dans la prose, les passions, les nerfs, les faiblesses de notre temps, le tourment moderne. Des éclairs du sublime dans tout cela. [Vgl. Edmond & Jules Huot de Goncourt, Manette Salomon. Tome premier. Paris: Lacroix, 1867:197.]

Delacroix eine Art Wagner.

25 [142]

M[anette] Salomon I p. 197. [Vgl. Edmond & Jules Huot de Goncourt, Manette Salomon. Tome premier. Paris: Lacroix, 1867:197.]

Delacroix—er hat Alles versprochen, Alles angekündigt. Seine Bilder? foetus von Meisterwerken; der Mensch, der, après tout, am meisten Leidenschaften erregen wird comme tout grand incomplet. Ein fieberhaftes Leben in allem, was er schafft, une agitation de lunettes, un dessin fou— —er sucht la boulette du sculpteur, le modelage de triangles qui n’est plus contour de la ligne d’un corps, mais l’expression, l’épaisseur du relief de sa forme—harmoniste désaccordé, tragische Unterfarben, Höllendämpfe wie bei Dante. Es giebt keine Sonne.— Ein großer Meister für unsere Zeit aber, im Grunde la lie de Rubens. [Vgl. Edmond & Jules Huot de Goncourt, Manette Salomon. Tome premier. Paris: Lacroix, 1867:197f.]

25 [143]

Das Beste, was gegen die Ehe gesagt ist vom Gesichtspunkt des schaffenden Menschen Man[ette] Salomon I 200 sq. und 312. [Vgl. Edmond & Jules Huot de Goncourt, Manette Salomon. Tome premier. Paris: Lacroix, 1867:200f., 312.]

25 [144]

1840 geht der romantisme einen Verband mit der Litteratur ein. peintres poètes. Vager Symbolism dantesque bei den Einen. Andere, mit deutschem Instinkt, durch die Lieder jenseits des Rheins verführt, wurden träumerisch, melancholisch, Walpurgis-Nacht. Ary Scheffer an der Spitze, malt weiße und lichte Seelen geschaffen durch Gedichte: Engel. Le sentimentalisme. Am anderen Ende un peintre de prose, Delaroche: geschickter Theater-Arrangeur, Schüler Walter Scotts und Delavigne’s, mit täuschenden Lokal-Farben—aber das Leben fehlt.— Solche Maler im Grund sterile Persönlichkeiten: sie könnten keinen Strom schaffen, keine eigentliche Schule.— Die Landschaft blieb gering geschätzt: sie hatte die Ideen der Vergangenheit gegen sich—Niemand wagte sich an das moderne Leben, Niemand zeigte den jungen Talenten ce grand côté dédaigné de l’art: la contemporanéité.— In dieser Ermüdung, und Verachtung der anderen Gattungen, schlossen sich alle Jungen an die beiden extremen Naturen an—die viel kleinere Zahl an Delacroix (le beau expressiv—), die Meisten an Ingres comme sauveur du Beau de Raphaël, römische Schule. [Vgl. Edmond & Jules Huot de Goncourt, Manette Salomon. Tome premier. Paris: Lacroix, 1867:18-23.]

25 [145]

Rückkehr des Menschen zur nature naturelle, in der sich alte Culturen erfrischen.— Bruch mit der historischen Landschaft. [Vgl. Edmond & Jules Huot de Goncourt, Manette Salomon. Tome second. Paris: Lacroix, 1867:63.]

25 [146]

Wir wollen doch ja uns die Vortheile nicht entgehen lassen, die es hat, das Meiste nicht zu wissen und in einem kleinen Welt-Winkel zu leben. Der Mensch darf Narr sein—er darf sich auch Gott fühlen, es ist Eine Möglichkeit unter so vielen!

25 [147]

Man wird mir, sagen, daß ich von Dingen rede, die ich nicht erlebt, sondern nur geträumt habe: worauf ich antworten könnte: es ist eine schöne Sache, so zu träumen! Und unsere Träume sind zu alledem viel mehr unsere Erlebnisse als man glaubt—über Träume muß man umlernen! Wenn ich einige Tausend Mal geträumt habe zu fliegen—glaubt ihr nicht, daß ich auch im Wachen ein Gefühl und ein Bedürfniß vor den Meisten M[enschen] voraus haben werde—und — — —

25 [148]

Ich mußte Zarathustra, einem Perser, die Ehre geben: Perser haben zuerst Geschichte im Ganzen Großen gedacht. Eine Abfolge von Entwicklungen, jeder präsidirt ein Prophet. Jeder Prophet hat seinen hazar, sein Reich von tausend Jahren. [Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre premier. Vie de Jésus. Paris: Michel Lévy fréres, 1867:49.]— — —

25 [149]

Die Solidarität des jüdischen Volks als Grundgedanke: man dachte nicht an eine Vertheilung nach den Verdiensten des Einzelnen. Renan I p. 54. [Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre premier. Vie de Jésus. Paris: Michel Lévy fréres, 1867:54-56.] Keine persönliche Vergeltung nach dem Tode: das Hauptmotiv der Märtyrer ist die reine Liebe zum Gesetz, der Vortheil, welchen ihr Tod dem Volke bringen wird.

25 [150]

Lue. 6, 25 der Fluch auf die, welche lachen[Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre premier. Vie de Jésus. Paris: Michel Lévy fréres, 1867:186.]

25 [151]

“Seid gute Bankhalter!” Dem Armen geben—das ist Gott leihen. [Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre premier. Vie de Jésus. Paris: Michel Lévy fréres, 1867:187.]

25 [152]

Die Europäer verrathen sich durch die Art, wie sie colonisirt haben—

25 [153]

Jesus, mit der Melancholie der schlechten Ernährung.

25 [154]

“Schön”—c’est une promesse de bonheur. Stendhal. [Vgl. Stendhal, Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:30: "La beauté n'est jamais, ce me semble, qu'une promesse de bonheur."] Und das soll “unegoistisch” sein! “désintéressé”!

Was ist da schön? Gesetzt, daß St[endhal] recht hätte, wie!

25 [155]

Man muß sich klar machen, was eigentlich die Meisten interessirt: was aber die höheren Menschen interessirt, das erscheint den niederen uninteressant, folglich die Hingebung daran etwas “Unegoistisches”!

Der Sprachgebrauch der modernen Moralität ist durch die niederen Menschen gemacht, die den Blick von unten herauf zur Moralität heben:

“aufopfernd”—aber wer wirklich Opfer bringt, weiß, daß es keine Opfer waren!

wer liebt, der erscheint schon anti-egoistisch! Aber das Wesen des ego-Gefühls zeigt sich ja nur im Haben-wollen,—man giebt weg, um zu haben (oder zu erhalten) Wer sich weggiebt, der will etwas damit erhalten, was er liebt.

25 [156]

Jesus: will, daß man an ihn glaubt, und schickt Alles in die Hölle, was widerstrebt. Arme, Dumme, Kranke, Weiber eingerechnet Huren und Gesindel, Kinder—von ihm bevorzugt: unter ihnen fühlt er sich wohl. Das Gefühl des Richtens gegen alles Schöne Reiche Mächtige, der Haß gegen die Lachenden. Die Güte, mit ihrem größten Contrast in Einer Seele: es war der böseste aller Menschen. Ohne irgend welche psychologische Billigkeit. Der wahnsinnige Stolz, welcher die feinste Lust an der Demuth hat.

25 [157]

Die höchsten Menschen leiden am meisten am Dasein—aber sie haben auch die größten Gegen-Kräfte.

25 [158]

Den ungeheuer zufälligen Charakter aller Combinationen erweisen: daraus folgt, daß jede Handlung eines Menschen einen unbegränzt großen Einfluß hat auf alles Kommende. Dieselbe Ehrfurcht, die er, rückwärts schauend, dem ganzen Schicksal weiht, hat er sich selber mit zu weihen. Ego fatum.

25 [159]

[Vgl. Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development. London: Macmillan, 1883:213.]

Den vollkommenen Pessimism imaginiren (Schopenhauer hat ihn verdorben?) Unerkennbarkeit.— in wie fern betrübend? (nur für eine dogmatisch geübte Menschheit!)

der Gedanke des Todes: “Todesfurcht” angezüchtet, “europäische Krankheit” (Mittelalterliche Todes-Sucht)

die Nutzlosigkeit alles Ringens—betrübend unter Voraussetzung moralischer Grundurtheile d. h. wenn etwas festgehalten wird als Maaßstab,—es könnte auch Anlaß zum Lachen sein!

der vollkommene Pessimism wäre der, welcher die Lüge begreift, aber zugleich unfähig ist, sein Ideal abzuwerfen: Kluft zwischen Wollen und Erkennen. Absoluter Widerspruch—der Mensch ein Dividuum zweier feindseligen Mächte, die zu einander nur Nein sagen.

Begehren absolut unentrinnbar, aber zugleich als dumm begriffen und geschätzt (d. h. ein zweites Gegen-Begehren!)

es gehört also zum Pessimism, daß er an gebrochenen, zweitheiligen Wesen hervortritt—es ist ein Zeichen des Verfalls—als Zeit-Krankheit. Das Ideal wirkt nicht belebend, sondern hemmend.

25 [160]

Die Consequenzen absterbender Rassen verschieden z. B. pessimistische Philosophie, Willens-Schwäche

wollüstige Ausbeutung des Augenblicks, mit hysterischen Krämpfen und Neigung zum Furchtbaren

Zeichen des Alters kann auch Klugheit und Geiz sein (China), Kälte.

Europa unter dem Eindrucke einer sklavenhaft gewöhnten furchtsamen Denkweise: eine niedrigere Art wird siegreich—seltsames Widerstreiten zweier Principien der Moral.

25 [161]

“Gleich den unsterblichen Göttern die Freunde, die Anderen alle Aber als Nieten zu achten, des Nennens nicht würdig, noch Zählens.” [Vgl. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Übersetzt von Dr. Adolf Wahrmund. Zweite verbesserte, in den Anmerkungen vermehrte Auflage. Bd. 1. Stuttgart: Krais & Hoffmann, 1866:117. Vgl. Julius Leopold Klein, Geschichte des griechischen und römischen Drama's. Erster Band. Einleitung. Griechische Tragödie. Leipzig: Weigel, 1874: 73.]

25 [162]

Die Deutschen sind vielleicht nur in ein falsches Klima gerathen! Es ist Etwas in ihnen, das hellenisch sein könnte—das erwacht bei der Berührung mit dem Süden—Winckelmann Goethe Mozart. Zuletzt: wir sind noch ganz jung. Unser letztes Ereigniß ist immer noch Luther, unser einziges Buch immer noch die Bibel. Die Deutschen haben noch niemals “moralisirt.” Auch die Nahrung der Deutschen war ihr Verhängniß: die Philisterei

25 [163]

Charakteristik des Europäers: der Widerspruch zwischen Wort und That: der Orientale ist sich treu im täglichen Leben.

Wie der Europäer Colonien gegründet hat, beweist seine Raubthier-Natur.

Der Widerspruch erklärt sich daraus, daß das Christenthum die Schicht, aus der es wuchs, verlassen hat.

Dies ist unsere Differenz mit den Hellenen: ihre Sittlichkeit ist in den herrschenden Kasten gewachsen. Thukydides’ Moral ist die gleiche, die überall bei Plato explodirt.

Ansätze zur Ehrlichkeit z. B. in der Renaissance: jedes Mal zum Besten der Künste. M[ichel]Angelo’s Conception Gottes als “Tyrannen der Welt” war ehrlich.

Das Übergewicht des Weibes folgt daraus: und folglich eine ganz lügnerische “Schamhaftigkeit.” Es gehört beinah Verderbniß der Weiber dazu (wie in Paris), daß die Schriftsteller ehrlicher werden.— Der sklavenhafte Charakter der Moralität als einer von außen her gekommenen, nicht von uns geschaffenen, erzeugt fortwährend neue Formen ähnlicher Sklavereien z. B. die aesthetische (in Bezug auf das Alterthum) Es gehört fast Verderbniß des Charakters und Schwäche dazu beim Europäer, daß er sich von den Autoritäten emancipirt und “Geschmack” gewinnt.

Unsere “Allschmeckerei” ist die Folge der verschiedenen Moralen: wir sind in der “historischen Krankheit.”

25 [164]

Das “Objektiv-sein-wollen” z.B. bei Flaubert ist ein modernes Mißverständniß. Die große Form, die von allem Einzelreiz absieht, ist der Ausdruck des großen Charakters, der die Welt sich zum Bilde schafft: der von allem “Einzelreiz weit absieht”—Gewalt-Mensch. Es ist Selbst-Verachtung aber bei den Modernen, sie möchten wie Schopenhauer sich in der Kunst “los werden”—hineinflüchten in’s Objekt, sich selber “leugnen.” Aber es giebt kein “Ding an sich”—meine Herren! Was sie erreichen, ist Wissenschaftlichkeit oder Photographie d. h. Beschreibung ohne Perspektiven, eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und alles überfüllt.— In der That ist sehr viel Unlust in der ganzen modernen historischen und naturhistorischen Wuth—man flüchtet vor sich und auch vor dem Ideal-bilden, dem Besser-Machen, dadurch daß man sucht, wie Alles gekommen ist: der Fatalism giebt eine gewisse Ruhe vor dieser Selbst-Verachtung.

Die französischen Romanschriftsteller schildern Ausnahmen und zwar theils aus den höchsten Sphären der Gesellschaft, theils aus den niedrigsten—und die Mitte, der bourgeois, ist ihnen allen gleich verhaßt. Zuletzt werden sie Paris nicht los.

25 [165]

Negativer Charakter der “Wahrheit”—als Beseitigung eines Irrthums, einer Illusion. Nun war die Entstehung der Illusion eine Förderung des Lebens — —

25 [166]

Man soll in der Historie ja nicht nach Nothwendigkeit in Hinsicht auf Mittel und Zweck suchen! Es ist die Unvernunft des Zufalls die Regel! Die große Summe der Ereignisse repräsentiren Grund-Begierden eines Volks, eines Standes—das ist wahr! Im Einzelnen geht alles blind und dumm zu. Wie in einem Bache ein Blatt seinen Weg läuft, ob es schon hier und da aufgehalten wird.

25 [167]

Die Personen des Thucydides reden in Sentenzen des Thukydides: sie haben, nach seinem Begriff, den höchstmöglichen Grad von Vernunft, um ihre Sache durchzuführen. Da entdeckte ich den Griechen (manche Worte aus Plato dazu)

25 [168]

Erst Bilder—zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte angewandt auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte giebt—ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort) Das klein Bischen Emotion, welches beim “Wort” entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die Ein Wort da ist—diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffs. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundthatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarten Empfindungen in der Constatirung dieser Empfindungen—wer aber constatirt? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Thätigkeit! Ein “Für-wahr-halten” im Anfange! Also zu erklären: wie ein “für-wahr-halten” entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter “wahr”?

25 [169]

“Il n’a pas peur d’être de mauvais goût, lui.” Stendhal. [Vgl. Stendhal, Le Rouge et le Noir. Réimpression textuelle, préface de Léon Chapron. Vol. 2. Paris: L. Conquet, 1884:299-300: "Ce serait un Danton!" ajouta-t-elle après une longue et indistincte rêverie. "Eh bien! la révolution aurait recommencé. Quels rôles joueraient alors Croisenois et mon frère? Il est écrit d'avance: la résignation sublime. Ce seraient des moutons héroïques, se laissant égorger sans mot dire. Leur seule peur en mourant serait encore d'être de mauvais goût. Mon petit Julien brûlerait la cervelle au jacobin qui viendrait l'arrêter, pour peu qu'il eût l'espérance de se sauver. Il n'a pas peur d'être de mauvais goût, lui."]

25 [170]

Die Frau bei den Griechen von Homer bis Pericles immer mehr zurückgedrängt: dies gehört zur Cultur der Griechen—eine gewisse Gewalt geübt gegen die weichen milden Gefühle. Ausbrechen der Gegenströmung z. B. Pythagoras und die Thiere. Der Schwache Leidende Arme—es giebt Sklaven-Aufstände, die Armut treibt zum Äußersten (Thucydides) Sonst sind alle großen Verbrechen die des Bösen aus Stärke.

25 [171]

Grund-Irrthum: wir legen unsere moral[ischen] Gefühle von heute als Maaßstab an und messen darnach Fortschritt und Rückschritt. Aber jeder dieser Rückschritte wäre für ein entgegengesetztes Ideal ein Fortschritt.

“Vermenschlichung”—ist ein Wort voller Vorurtheile, und klingt in meinen Ohren beinahe umgekehrt als in euren Ohren.

25 [172]

Für die stete Wiederholung — ÈÈ usw. den Rhythmus der Reim-Dichtung sind wir musikalisch zu anspruchsvoll (vom mißverstandenenen Hexameter noch abgesehen!) Wie wohl thut uns schon die Form Platens und Hölderlins! Aber viel zu streng für uns! Das Spiel mit den verschiedensten Metren und zeitweilig das Unmetrische ist das Rechte: die Freiheit, die wir bereits in der Musik, durch R[ichard] W[agner], erlangt haben! dürfen wir uns wohl für die Poesie nehmen! Zuletzt: es ist die einzige, die stark zu Herzen redet!— Dank Luther!

25 [173]

Die Sprache Luthers und die poetische Form der Bibel als Grundlage einer neuen deutschen Poesie—das ist meine Erfindung! Das Antikisiren, das Reim-wesen—alles falsch und redet nicht tief genug zu uns: oder gar der Stabreim Wagners!

25 [174]

Eine Kriegs-Erklärung der höheren Menschen an die Masse ist nöthig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen! Alles, was verweichlicht, sanft macht, das “Volk” zur Geltung bringt oder das “Weibliche,” wirkt zu Gunsten des suffrage universel d. h. der Herrschaft der niederen Menschen. Aber wir wollen Repressalien üben und diese ganze Wirthschaft (die in Europa mit dem Christenthum anhebt) ans Licht und vor’s Gericht bringen.

25 [175]

Goethe’s vornehme Isolirtheit—es bedarf für die Höchstgeborenen eine Art Burgen- und Raubritterthum. Ich will mich Napoleon’s annehmen: er gehört in seiner Verachtung der “christlichen Tugenden” und der ganzen moralischen Hypokrisie zum Alterthum (Thucydides). Friedrich der Große vielleicht—aber als Deutscher zu sehr Mensch der Hintergedanken mit Hinter-seelen.

25 [176]

Die Tartüfferie der Macht seit dem das Christentum siegreich war. Der “christliche König” und “Staat.” Geschichte des Machtgefühls.

25 [177]

Der Character der Europäer zu beurtheilen nach ihrem Verhältniß zum Ausland, im Colonisiren: äußerst grausam

25 [178]

Die Ritterlichkeit als die errungene Position der Macht: ihr allmähliches Zerbrechen (und zum Theil: Übergang in’s Breitere Bürgerliche). Bei La Rochefoucauld ist Bewußtsein über die eigentlichen Triebfedern der noblesse des Gemüths da—und christlich verdüsterte Beurtheilung dieser Triebfedern.



Fortsetzung des Christenthums durch die französische Revolution. Der Verführer ist Rousseau: er entfesselt das Weib wieder, das von da an immer interessanter—leidend dargestellt wird. Dann die Sklaven und M[istre]ss [Harriet Beecher] Stowe. [Anspielung auf Harriet Beecher Stowe, Uncle Tom's Cabin (1852).] Dann die Armen und die Arbeiter. Dann die Lasterhaften und Kranken—alles das wird in den Vordergrund gestellt (selbst um für das Genie einzunehmen, wissen sie seit 500 Jahren es nicht anders als den großen Leidträger darzustellen!) Dann kommt der Fluch auf die Wollust (Baudelaire und Schopenhauer), die entschiedenste Überzeugung, daß Herrschsucht das größte Laster ist, vollkommene Sicherheit darin, daß Moral und désintéressement identische Begriffe sind, [daß das] “Glück Aller” ein erstrebenswerthes Ziel [sei] (d. h. das Himmelreich Christi). Wir sind auf dem besten Wege: das Himmelreich der Armen des Geistes hat begonnen.



Zwischenstufen: der Bourgeois (in Folge des Geldes parvenu) und der Arbeiter (in Folge der Maschine)



Vergleich der griechischen Cultur und der französischen zur Zeit Louis XIV. Entschiedener Glaube an sich selber. Ein Stand von Müssigen, die es sich schwer machen und viel Selbstüberwindung üben. Die Macht der Form, Wille, sich zu formen. “Glück” als Ziel eingestanden. Viel Kraft und Energie hinter dem Formenwesen. Der Genuß am Anblick eines so leicht scheinenden Lebens.— Die Griechen sahen den Aeg[yptern] wie Kinder aus.

25 [179]

Der Mensch, als organisches Wesen, hat Triebe der Ernährung (Habsucht)

NB

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Hier nur die Innere Welt ins Auge gefaßt!

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Triebe der Ausscheidung (Liebe)
(wozu auch die Regeneration gehört)

und im Dienste der Triebe einen Apparat der Selbstregulirung (Intellekt) (dahin gehört die Assimilation der Nahrung, der Ereignisse, der Haß usw.

25 [180]

Mein Begriff von “Aufopferung.” Ich mag diese Hypocrisie nicht! Natürlich, um durchzusetzen, was mir am Herzen liegt, werfe ich viel weg: manches auch, das mir “auch am Herzen liegt”! Aber die Hauptsache ist immer: dieses Wegwerfen ist nur Folge, Neben-Consequenz—die Hauptsache ist, daß mir Etwas mehr als alles Andere am Herzen liegt.

25 [181]

Die Fülle pöbelhafter Instinkte unter dem jetzigen aesthetischen Urtheil der französischen Romanschriftsteller.— Und zuletzt: es giebt viel Verborgenes, was sie nicht heraussagen wollen, ganz wie bei R[ichard] W[agner] 1) ihre Methode ist leichter bequemer, die wissenschaftliche Manier der Stoff-Masse und der Colportage, es bedarf des großen Principien-Lärms, um diese Thatsache zu verhüllen—aber die Schüler errathen es, die geringeren Talente 2) der Mangel an Zucht und schöner Harmonie in sich macht ihnen das Ähnliche interessant, sie sind neugierig mit Hülfe ihrer niedrigen Instinkte, sie haben den Ekel und die Aegide nicht 3) ihr Anspruch auf Unpersönlichkeit ist ein Gefühl, daß ihre Person mesquin ist z. B. Flaubert, selber seiner satt, als “bourgeois” 4) sie wollen Viel verdienen und Skandal machen als Mittel zum großen momentanen Erfolg.

25 [182]

Die Psychologie dieser Herren Flaubert ist in summa falsch: sie sehen immer nur die Außen-Welt wirken und das ego geformt (ganz wie Taine?)—sie kennen nur die Willens-Schwachen, wo désir an Stelle des Willens steht.

25 [183]

Ich will einmal zeigen, wie Schopenhauers Mißverständniß des Willens ein “Zeichen der Zeit” ist—es ist die Reaction gegen die Napoleonische Zeit, man glaubt nicht mehr an Heroen d. h. Willensstärke. (In “Stello” steht das Bekenntniß: “es giebt keine Heroen und Monstra”—antinapoleonisch) [Vgl. Alfred de Vigny, Stello. Par le comte Alfred de Vigny de l'académie française. Douzième édition. Revue et corrigés. Paris: Calmann Lévy, 1880:93. s. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Alfred de Vigny.]

25 [184]

Die Malerei an Stelle der Logik, die Einzel-Beobachtung, der Plan, das überwiegen des Vordergrundes, der tausend Einzelheiten—alles schmeckt nach den Bedürfnissen nervöser Menschen, bei R[ichard] W[agner] wie bei den Goncourts.

R[ichard] W[agner] gehört in die französische Bewegung: Helden und Monstra, extreme Passion und dabei lauter Einzelheiten, momentaner Schauder.

25 [185]

(Psychologie)

§ Über “Inneres” und “Äußeres” umzulernen.

§ “Sein” unbeweisbar, weil es kein “Sein” giebt. Aus dem Gegensatz zum “Nichts” ist der Begriff Sein gebildet.

§ Begriffe entstehn, als Hörbilder, die eine Vielheit von symbolischen Seh-Bildern zusammenfassen.

§ Affekte als Gegenstück zu physiologischen Gruppen, die eine Art von Einheit des Werdens, einen periodischen Verlauf haben.

§ Der Intellekt als Mittelreich der Sinne, die Impressionen mit Hülfe des alten Materials verarbeitend, eine Art Magen aller Affekte (welche ernährt werden wollen.)

§ Wille? Das eigentliche Geschehen alles Fühlens und Erkennens ist eine Explosion von Kraft: unter gewissen Bedingungen (äußerste Intensität, so daß ein Lustgefühl von Kraft und Freiheit dabei entsteht) nennen wir dies Geschehn “Wollen.”

§ “Zweck” als vages Bild, ungenügend zu bewegen.

§ Das Aufeinanderwirken der Gedanken (im Logischen) ist scheinbar—es ist ein Kampf der Affekte.

§ Die Verschwendung von Kraft der wesentliche Charakter auch bei den zweckmäßigsten Handlungen.

§ Ursache und Wirkung—diese ganze Kette ist eine Auswahl vorher und hinterdrein, eine Art Übersetzung des Geschehens in die Sprache von unseren Erinnerungen, die wir zu verstehen meinen.

25 [186]

Der Anblick großer Gebärden als Ursachen großer Handlungen—Folge von Corneille und Racine.

25 [187]

Voltaire, als er Mahomet mißverstand, ist in der Bahn gegen die höheren Naturen; Napoleon hatte Recht, sich zu entrüsten. [Vgl. Emmanuel-Auguste-Dieudonné Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, ou Journal où se trouve consigné, jour par jour, ce qu'a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois. Vol. 3. Paris: L'auteur, 1823:102f.]

25 [188]

Napoleon: Religion als Stütze guter Moral, wahrer Principien, guter Sitten. Et puis l’inquiétude de l’homme est telle, qu’il lui faut ce vague et ce merveilleux qu’elle lui présente. Es ist besser, er sucht es da, als bei Gaunern und Cagliostro’s. [Vgl. Emmanuel-Auguste-Dieudonné Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, ou Journal où se trouve consigné, jour par jour, ce qu'a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois. Vol. 4. Paris: L'auteur, 1823:160.]

25 [189]

Die Bergpredigt: il se disait ravi, extasié de la pureté, du sublime et de la beauté d’une telle morale. [Vgl. Emmanuel-Auguste-Dieudonné Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, ou Journal où se trouve consigné, jour par jour, ce qu'a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois. Vol. 4. Paris: L'auteur, 1823:165.]

25 [190]

“J’ai refermé le gouffre anarchique et débrouillé le chaos. J’ai déssouillé la révolution, ennobli les peuples et raffermi les rois. J’ai excité toutes les émulations, récompensé tous les mérites et reculé les limites de la gloire. Tout cela est bien quelque chose!” [Vgl. Emmanuel-Auguste-Dieudonné Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, ou Journal où se trouve consigné, jour par jour, ce qu'a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois. Vol. 3. Paris: L'auteur, 1823:240.]

25 [191]

Zur Erklärung der Erfolge Muhamet’s in 13 Jahren: “vielleicht gab es lange Bürgerkriege vorher (meint Napoleon) unter welchen sich große Charaktere, große Talente, unwiderstehliche Impulsionen usw. gebildet hatten—” [Vgl. Emmanuel-Auguste-Dieudonné Las Cases, Mémorial de Sainte-Hélène, ou Journal où se trouve consigné, jour par jour, ce qu'a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois. Vol. 3. Paris: L'auteur, 1823:104.]

25 [192]

Die “erste Ursache” ist, wie “das Ding an sich,” kein Räthsel, sondern ein Widerspruch.

25 [193]

Die Nachtheile der Vereinsamung, da der sociale Instinkt am besten vererbt ist—die Unmöglichkeit, noch sich selber zu bestätigen durch anderer Zustimmung, das Gefühl von Eis, der Schrei “Liebe mich”—die cas pathologiques wie Jesus. Heinrich von Kleist und Goethe (Käthchen von Heilbronn)

25 [194]

Andrea Doria— Eins liegt ihm am Herzen, dem opfert er Alles Andere. Verräther seiner Freunde, Freund seiner Feinde. Ganz vereinsamt und eisig. Der Hund. Grausam gegen seine Neffen. [Vgl. Émile Montégut, Poètes et artistes de l'Italie. Paris: Hachette, 1881:353-58.]

25 [195]

Idealisten—z. B. am Himmel das Maaß, die Ordnung, die ungeheure Art von System und Einfachheit schaudernd-bewundernd, stellen die Dinge fern, sehen das Einzelne hinweg. Die Realisten wollen den entgegengesetzten Schauder, den des Unzählig-Vielen: deshalb überhäufen sie den Vordergrund, ihr Genuß ist der Glaube an den Überreichthum der schöpferischen Kräfte, die Unmöglichkeit, zählen zu können.

25 [196]

Vielheit der Eigenschaften und deren Band—mein Gesichtspunkt. Die Doppel-Zwillings-Kräfte z. B. bei Wagner Poesie und Musik; bei den Franzosen Poesie und Malerei; bei Plato Poesie und Dialektik usw. Die Vereinzelung einer Kraft ist eine Barbarei—“umgekehrte Krüppel.”

25 [197]

Der Natur-Geschmack des vorigen Jahrhunderts erbärmlich. Voltaire Ferney. Caserta. Rousseau Clarens!

25 [198]

Die höheren Naturen haben alle Verbrechen begangen: nur daß sie nicht so thierisch-sichtbar sind. Aber Verrath, Abfall, Tödtung, Verleugnung usw.

25 [199]

Den ganz großen Menschen ist die Lippe über ihr Innerstes geschlossen—keine Möglichkeit, Jemandem zu begegnen, dem sie sich öffneten—Napoleon z. B. Düster—

25 [200]

Wie sich die aristokratische Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht! Vermöge ihrer noblen Instinkte wirft sie ihre Vorrechte weg und vermöge ihrer verfeinerten Über-Cultur interessirt sie sich für das Volk, die Schwachen, die Armen, die Poesie des Kleinen usw.

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel