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The Will to Power
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Ende 1880 7 [201-313]

7 [201]

Die Deutschen haben das Wort “Leidenschaft” kaum hundert Jahre—sie haben es dem Griechischen nachgemacht, ein Übersetzer hat es gefunden. —

7 [202]

Tiefes Gelb der Gebäude und das schwarze Grün der Cypressen darüber—ein Kloster, und invalide Soldaten darin.

7 [203]

Wir suchen die Situationen, welche unsere Kraft auf das Höchste anspannen: aber dies sind oft entgegengesetzte: dieser sucht Einsamkeit und bemüht sich aus dem Munde der Menschen zu entschlüpfen. Und jener präsentirt sich einer Nation und fühlt sich am meisten durch die Vorstellung getrieben, daß diese in ihm sich selber verehren wolle—er kann es nicht hoch genug treiben. Ein dritter will seiner Geliebten gefallen, und da er sie für etwas Unvergleichliches hält, thut er sich nie genug.— Andere suchen die Situationen, welche ihnen erlauben träge zu sein.

7 [204]

Ich hasse jene unfeinen Menschen, welche kaum daß wir uns ihnen genähert haben, mit ihrer tölpelhaften Herrschsucht auf uns ihre Hand legen, wie als ob wir Geräthschaft und Werkzeug für sie seien. Schon der Anspruch, daß sie nunmehr meinen, uns zu kennen um ein Urtheil fällen zu dürfen, ist eine Unverschämtheit des schlechtesten Geschmacks. Es ist die Art der geistigen Parvenus; die adelige Natur ist nicht in ihrem Grunde.

sie haben keinen Begriff von der Herablassung, welche nöthig ist, um ihnen von uns aus Ehre und Auszeichnung zu erweisen, mögen sie nun sein, wer sie wollen

7 [205]

Zum Plan.

Ein Bild des Griechenthums als der Zeit, die die meisten Individualitäten hervorgebracht hat. Das Fortleben in der Renaissance!

Polemik gegen mittelalterlich, höfisch, liberal-parlamentarisch, socialistisch. Ich sehe die socialistischen Körper sich bilden, unvermeidlich! Sorgen wir, daß auch die Köpfe für diese Körper anfangen zu keimen! jene Organisationen bilden den zukünftigen Sklavenstand, mit allen ihren Führern—aber darüber erhebt sich eine Aristokratie vielleicht von Einsiedlern! Es ist die Zeit des Gelehrten vorbei, der wie alle Anderen lebt und glaubt (als Werkzeug der Kirchen, der Höfe, der kaufmännischen Parteien usw.)! Der große Heroism thut wieder noth!

Die einzige erobernde Macht großen Stils ist Rußland (ohne dies Erobern-wollen sind die Staaten kastrirt! Es gehört dazu, überschüssige Kraft nach außen zu wenden!) Folglich wird es Europa nöthigen sich zu einigen. Aber den Socialismus ergreift der endliche Ekel dieses Kriegszustands ohne Ende und überbrückt den Völker- und Dynastienhader! Wir gehen wilderen Zeiten entgegen! Das ist ein Vorzug, denn diese übernervöse Gegenwart ist nichts mehr werth, eine Reinigung von Hyperchristlich-Moralischen thut noth, ein Zu-Grunde-gehen und Ohnmächtig-werden der Eleganten Unkräftigen Verzärtelten, usw.!

7 [206]

Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen!

7 [207]

Was trieb die Alten, Stoiker zu werden (da keine Höllenstrafen, keine Verachtung des Menschen, keine göttliche Heiligkeit ihnen die Entsagung nothwendig machte)? Die furchtbare Möglichkeit großer plötzlicher Leiden, und die furchtbare Kraft ihrer Leidenschaften—sie litten an sich und an der Welt der Unsicherheit (Sklave und Cäsar!) Dann der Ehrgeiz, in der Tugend die Ersten zu sein—Neid. Es war ein Mittel, bis an die Höfe hinauf beachtet und angerufen zu werden als Tröster.

7 [208]

Pascal verspricht, im geheimen Blatt, Gott “sogar seine Rache zu opfern.” [Vgl. Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. In zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Th. 1. Leipzig: Wigand, 1865:369. Auf französisch: “Je promets même de lui sacrifier toutes les vengeances.” In: Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Vol. 1. Paris: Andrieux, 1844:407.]

7 [209]

Unwissende Menschen, die nichts anderes gesehen haben, machen aus ihren Gewohnheiten für ihre Umgebung einen Zwang, ein Gesetz—so wachsen die Jungen auf in Verehrung dagegen—und es ist das Neue: so wird die Sitte “Sittlich.”

7 [210]

Jede Leidenschaft (im historischen Verlaufe) so hoch pflegen, bis sie ihre individuelle Blüthe zeigt. NB.

7 [211]

Wir haben es in der Hand, unser Temperament wie einen Garten auszubilden. Erlebnisse hineinpflanzen, andere wegstreichen: eine schöne stille Allee der Freundschaft gründen, verschwiegener Ausblicke auf den Ruhm sich bewußt sein,—Zugänge zu allen diesen guten Winkeln seines Gartens bereit halten, daß er uns nicht fehle, wenn wir ihn nöthig haben!

7 [212]

Die intellektuelle Großmuth besteht darin, den Durst nach absoluter Gültigkeit und nach ewigen Dingen zu brechen durch die Einsicht in die Relativität und Liebe zum Kurzleben und Wechselnden (statt Verachtung dafür). Ein Stück Grausamkeit.

7 [213]

Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes, gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten—ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen! Nicht durch Erkenntniß, sondern durch Übung und ein Vorbild werden wir selber! Die Erkenntniß hat bestenfalls den Werth eines Mittels!

7 [214]

Apollo und die Moral der Mäßigkeit gehören zusammen: wer Wagner’s ideale Schönheit fände, würde sie gedunsen riesenhaft und nervös machen müssen.

7 [215]

Die sittliche Delikatesse und der hohe Geschmack in den Erzählungen von Jesus wird vielleicht von uns nicht abzuschätzen sein, weil wir damit geimpft worden sind, daß hier der höchste Geschmack des Guten sei. Was würde Aristoteles empfinden! Was Buddha!

7 [216]

Die Deutschen geben sich den Eindrücken ohne Kampf hin, aus Schwäche—deshalb hat gerade bei ihnen eine Religion des Mitleids so wenig Werth, weil sie der allgemeinen Schwäche schmeichelt, statt ihr zu widerstreben. Kant war es, der mit seinem kategorischen Imperativ dem Deutschen nützlich war. Jene Schwäche hat jetzt in der Musik ihren frappantesten Ausdruck bekommen—das unendlich Herumschweifen der Seele nach Emotionen, die äußerste Nervosität als Folge. Wir leiden daran, hinterdrein. Und was für Würzen braucht eine so empfindliche Rasse! die gröbsten! es ist die Rasse der Trunkenbolde! Vielleicht hat dies Trinken sie so schwach und sentimental gemacht.— Lob des Soldatenthums, entgegengesetzt dem Künstlerthum und seiner Schmeichelgier.

7 [217]

Den M[enschen] auf Ein ewiges Ideal beschränken—Stoiker Christenthum Kant Comte—das ist der noch nicht verstorbene Classicismus. Absolute Moral!

7 [218]

eine angenehme Handlung thue ich nicht, weil ihr Zweck, ihr Ende eine angenehme Empfindung mit sich bringt: sie ist nicht Mittel zu diesem Ende. Sondern das Angenehme ist so in sie gedrungen, daß sie sofort, nicht erst am Ende, angenehm ist. Mit den Zwecken machen wir Menschen uns vernünftiger als wir sind! “Warum schmeckt uns diese Speise? Quem in finem?” Keine Antwort!— Überall wo unsere Triebe reden, ist der “Zweck” eine Großthuerei!

7 [219]

Habt ihr es nicht erlebt? man thut sein Äußerstes an Selbstüberwindung und kommt wie ein halber Leichnam aber siegesfroh aus seinem Grabe—und die guten Freunde meinen, wir seien recht lustiger und absonderlicher Laune, merken nichts, aber meinen ein Recht zu haben, mit uns ihren Scherz zu treiben? Ich glaube, die Jünger in Gethsemane schliefen nicht, aber sie lagen im Grase und spielten Karten und lachten

7 [220]

Warum haben wir gerade bei der schwersten und schmerzhaftesten Art von Schaffen und Kunstform unsere Freude? Warum schämen wir uns bei jeder flachen und leichteren? Es ist Stolz, besiegte Schwierigkeit, der Wille, vor uns selber zum Helden zu werden!

7 [221]

Es giebt einen christlichen Zug im alten Testament—man begreift die Entstehung des Gottes der Liebe!

7 [222]

Socrates’ Skepsis in Betreff alles Wissens um die Moral ist immer noch das größte Ereigniß—man hat es sich aus dem Sinne geschlagen.

7 [223]

Was ist denn nun der wirkliche Unterschied des Guten und Schlechten in Bezug auf ihre gemeinsamen Triebe? Der Schlechte fühlt sein Urtheil über gut und böse als dasselbe wie das seiner Umgebung und thut das Böse, indem er Scham vor dem Urtheil Anderer und vor sich selber hat—Widerspruch im Wissen und Thun. Oder er stellt sich gut, um diese Vortheile zu haben und im Geheimen die Vortheile des Bösen.— Dies ist alles nichts! was macht sein Nervensystem anders, daß er diesen Widerspruch erträgt oder aufsucht?

7 [224]

Die Liebe zur Brut nichts Einfaches! wie man glaubt! sondern Produkt, Besitz, Unterhaltung, etwas Ungefährliches, etwas Unterwürfiges, worüber man herrscht, etwas Warmes—viel Gründe zur Annehmlichkeit!

7 [225]

Unsere Sicherstellung des Nächsten durch sociale Maßregeln beweist nicht mehr Mitleiden, aber mehr Vorsicht und Kälte.

7 [226]

Der Anblick der Welt wird erst erträglich, wenn wir sie durch den sanften Rauch des Feuers angenehmer Leidenschaften hindurch sehen, bald verborgen als einen Gegenstand des Errathens, bald verkleinert und verkürzt bald undeutlich, aber immer veredelt. Ohne unsere Leidenschaften ist die Welt Zahl und Linie und Gesetz und Unsinn in alledem das widerlichste und anmaaßlichste Paradoxum.

7 [227]

“Wir kommen nie zum Kern der Dinge”: ich sage, wir kommen nie zum letzten Zipfel unserer Leidenschaften und sehen höchstens vermittelst der Einen über die andere hinaus.

7 [228]

Für Racine war den Leidenschaften edel nachhängen schon eine Ausschweifung, man muß ihn mit Port Royal im Hintergrunde lesen.

7 [229]

Mir thut das amerikanische Lachen wohl, diese Art von derben Seeleuten wie Marc Twain. Ich habe über nichts Deutsches mehr lachen können.

7 [230]

“Classicism der Moral” herrscht noch. Seinem Gefühl hier folgen: das thaten auch die Anhänger der 3 Einheiten.

7 [231]

Die moralischen Phänomene machen die Geschichte der Krankheiten durch: erst etwas von außen her, Wirkungen übernatürlicher Mächte. Dann ganz menschlich, aber etwas für sich, das “Moralische.” Endlich erkennt man, daß es ebenso ungenau bezeichnete Vorgänge sind, wie die Krankheiten (über welche Jeder seine Meinung hat, und der Verständigste sich dadurch auszeichnet zu schweigen)—daß die Zeit der großen Skepsis da ist! Es giebt nichts “Moralisches an sich”: es sind Meinungen von Trieben erzeugt und diese Triebe wieder beeinflussend.

7 [232]

“aufgezogen in angeblichen philosophischen Systemen, welche etwas wie dunkle und schlecht geschriebene Poesie sind, aber in moralischer Hinsicht von der höchsten und heiligsten Sublimität. Sie haben vom Mittelalter nicht den Republikanismus, das Mißtrauen und den Dolchstoß geerbt, sondern einen starken Hang zum Enthusiasmus und zum guten Glauben. Dafür bedürfen sie alle 10 Jahre einen neuen großen Mann, der alle anderen auslösche, nicht.” [Vgl. Stendhal, De l'amour. Vol. 1. Paris: Lévy, 1857:150f.]

7 [233]

Der Hauptfehler Pascals: er meint zu beweisen daß das Christenthum wahr ist, weil es nöthig ist—das setzt voraus, daß eine gute und wahre Vorsehung existirt, welche alles Nöthige auch wahr schafft: es könnte aber nöthige Irrthümer geben! Und endlich! Die Nöthigkeit könnte nur so erscheinen, weil man sich an den Irrthum schon so gewöhnt hat, daß er wie eine 2te Natur gebieterisch geworden ist. [In Nietzsches Bibliothek: 1) Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. In zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Leipzig: Wigand, 1865. 2) Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844.]

7 [234]

Der Zustand Pascal’s ist eine Passion, und hat ganz die Anzeichen und Folgen von Glück Elend und tiefstem dauerndem Ernste. Deshalb ist es eigentlich zum Lachen, ihn so gegen die Passion stolz zu sehen—es ist eine Art von Liebe, welche alle anderen verachtet und die Menschen bemitleidet, ihrer zu entbehren. [In Nietzsches Bibliothek: 1) Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. In zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Leipzig: Wigand, 1865. 2) Blaise Pascal, Pensées, fragments et lettres: publiés pour la première fois conformément aux manuscrits originaux en grande partie inédite von Prosper Faugère. Paris: Andrieux, 1844.]

7 [235]

Was sind mir Freunde, welche nicht wissen, wo unser Schweres und wo unser Leichtes liegt! Es giebt Stunden, in denen wir unsere Freundschaften wiegen.

7 [236]

Man wird älter, es ist mir schwer mich von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen. Die bleichsüchtige Schönheit des lago maggiore im Spätherbst, welche alle Linien vergeistigt und die Gegend halb zur Vision macht, entzückt mich nicht, aber redet traulich-traurig zu mir—ich kenne dergleichen nicht nur aus der Natur.

7 [237]

Ich muß zu den Dingen reden, ich bin zu lange allein und ohne Zwiegespräch gewesen; ich will ihnen schmeicheln und ihnen Gutes nachsagen.

7 [238]

Charakterzüge der Deutschen 1) sie exaltiren sich durch die Meditation, statt sich zu beruhigen 2) sie sterben vor Begierde, einen Charakter zu haben. Stendhal [Vgl. Stendhal, De l'amour. Vol. 1. Paris: Lévy, 1857:150.]

7 [239]

Die Hoffnung hatte für die Alten ein anderes Aussehen als für uns—Hesiod. Ebenso der Neid. Bei andern Völkern hat die Lüge ein Ansehen (z. B. noch bei Napoleon) Die Fähigkeit zu trinken ist unter Deutschen oft ehrenvoll.

7 [240]

Für Aeschylus war das Weib in der Leidenschaft etwas Abscheuliches und Schauerliches, wie die Thiere des Meeres—etwas Unzeigbares.

7 [241]

Die Urtheile über Mozart verschieben sich, nach der Entwicklung der Musik, d.h. sie treffen seinen Charakter und sein Temperament—dieses scheint sich zu wandeln in Folge der neuen Beleuchtung und der Gegensätze, die er immer wieder erhält. Ein Wink für Künstler und Denker aller Art! Am urtheilfähigsten sind einzelne Zeitgenossen, die alles miterkämpft und [sich über alles] mitgefreut haben, was der große Schöpfer gegeben hat.

7 [242]

Plato hat den Erkenntnißtrieb als idealisirten aphrodisischen Trieb geschildert: immer dem Schönen nach! Das höchste Schöne offenbart sich dem Denker! Dies ist doch ein psychologisches Faktum: er muß beim Anblick und Denken seiner Allgemeinheiten einen sinnlichen Genuß gehabt haben, der ihn an den aphrodisischen erinnerte. —

7 [243]

Die Worte bleiben und machen uns zu Narren, so daß wir Verschiedenes gleich benennen und hinterher meinen, es sei dasselbe (z. B. ridiculum)

7 [244]

Die Entstehung der Abgrenzung moralischer Handlungen von allen übrigen Handlungen. Wichtig! Essen Gehen ist nicht moralisch. Wo hört die Indifferenz auf?

7 [245]

Die Verachtung und die Achtung hat die Dinge in den Augen der Menschen geformt, bald so, bald so. Die erste macht erbleichen verkümmern, folglich den Hang darnach absterben und die Phantasie auf diesem Gebiete müde oder giftig werden. Die Andere umgekehrt.

7 [246]

Diese Naivetät aller Moralisten jetzt! sie glauben, die Empfindungen für Andere, die sympathischen seien an sich moralisch! sie merken nichts, daß es nur eine Stufe der Cultur ist, welche diese Empfindungen in der Schätzung voranstellt: andere haben andere, ja die entgegengesetzten vorangestellt! “An sich” moralisch!— Man lobt die Mitleidigen, man tadelt die Hartherzigen—just! Schon die Worte werden mit diesem Beigeschmack empfunden. Und doch hätten die Stoiker den unbeugsamen erbarmungslosen Menschen, auf den kein Anblick Eindruck macht, gelobt und den Mitleidigen getadelt! Und das war wohl auch eine Moral! die etwas Größeres geleistet hat als die unsere!

7 [247]

In England meint man Wunder, wie freisinnig die höchste Nüchternheit in Sachen der Moral mache: Spencer, Stuart Mill. Aber schließlich thut man nichts als seine moralischen Empfindungen zu formuliren. Es erfordert etwas ganz anderes: wirklich anders einmal empfinden zu können und Besonnenheit hinterher zu haben, um dies zu analysiren! Also neue innere Erlebnisse, meine werthen Moralisten!

7 [248]

Ich sage zu oft “ihr”? Aber die Dinge reden zu mir und ich antworte ihnen, sie haben mich verwöhnt.

7 [249]

Der Mangel am Edelmüthigen in den Voraussetzungen des Christenthums 1) wozu mußte die Gerechtigkeit Gottes ein Opfer haben? Der Martertod Chr[isti] war nicht nöthig außer bei einem Gott der Rache (der sich überdieß den Stellvertreter gefallen läßt: ohne Generosität!) 2) wozu ist der Glaube an Chr[istus] nöthig, wenn es sein Wille ist, den Menschen zu helfen! 3) wozu der deus absconditus!

7 [250]

der servile Idealismus Gellert’s, der schwärmerische Schillers, der lebens- und thatenlüsterne des jungen Deutschlands, der malerisch-mystische Wagners, der Idealismus der Unterwelts-Schatten: der meine!

7 [251]

Die Sünde erfinden und dann den erlösenden Zustand ist die unvergleichlichste Leistung der Menschheit. Diese Tragödie macht die anderen sehr blaß!

7 [252]

Euer Leben sei durch eine hohe Gartenmauer von der Landstraße getrennt: und wenn der Rosenduft aus euren Gärten hinüber weht, so mag Jemandem das Herz einmal sehnsüchtig werden.

7 [253]

Seid ihr nie erröthet, wenn es euch durch den Kopf flog, jenes Ding, dem ihr euer Herz geschenkt habt, sei eures Herzens nicht würdig? Und schämtet ihr euch nicht gleich hinterher über euer Erröthen und batet dem geliebten Dinge euren unverschämten Stolz ab?

7 [254]

Pascal hat keine nützliche Liebe vor Augen, sondern lauter vergeudete, es ist alles egoistische Privatsache. Daß aus dieser Summe von Thätigkeiten sich eine neue Generation erzeugt, mit ihren Leidenschaften Gewohnheiten und Mitteln (oder Nicht-Mitteln) sie zu befriedigen—das sieht er nicht. Immer nur den Einzelnen, nicht das Werdende. [Vgl. Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. In zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Th. 1. Leipzig: Wigand, 1865:111-125.]

7 [255]

Für viele Maler war schön der Ausdruck der Frömmigkeit. Und da eine gewisse Armut an Fleisch, eine peinliche Haltung an den Frommen zu sehen war, übertrug[en] diese die Empfindungen des Schönen auch gerade auf diese Formen. Eine sehr lange und strenge Gewohnheit würde zuletzt sogar den Geschlechtssinn irre führen: der sehr fern davon ist, unbewußte Zweckmäßigkeit zu Gunsten des zu Erzeugenden zu verfolgen.

7 [256]

Zum Plan.

Wodurch ist das Bedürfniß nach einem festen Halt so groß geworden? Weil wir angelehrt worden sind, uns zu Mißtrauen: d. h. weil wir keine Leidenschaft mehr haben dürfen, ohne schlechtes Gewissen! Durch diese Verlästerung unseres Wesens ist der Trieb nach Gewißheit außer uns so groß geworden: 1) religiöser Weg 2) wissenschaftlicher Weg 3) Hingebung an Geld Fürsten Parteien christliche Sekten usw.: welche wir fanatisch nehmen müssen, also falsch verstehen müssen, damit sie uns das Begehrte leisten. Die Juden hatten diese Verachtung von sich und vom Menschen überhaupt!

Ziel: 1) die noch so sehr sichergestellte Welt ist zuletzt einer individuellen Messung unterworfen: so lange wir forschen, können wir das Indiv[iduum] oft ausschließen: zu dem was wir zuletzt finden, giebt es immer eine subjektive Stellung! 2) wir müssen stolz genug von uns denken, um eine subjektive Stellung nur zu wirklichen Dingen einzunehmen, nicht zu Schemen! und lieber den Zweifel und die Meerfahrt ertragen als zu schnell Gewißheit wollen! 3) die Ehre der eigenen Seele wieder herstellen!

7 [257]

Sobald ihr den christlichen Glauben oder eine Metaphysik zu Hülfe nehmt, dort wo eine Wissenschaft aufhört, so nehmt ihr euch die Kraft des Heroismus: und eure Wissenschaftlichkeit ist tief erniedrigt! Ihr höchster Accent steht nicht mehr euch zu! Ihr seid kalt und nicht mehr bewegt, ihr opfert nichts! Daher der abscheuliche Anblick des “Gelehrten”—er war ohne Großartigkeit der letzten Absichten, er gieng nicht ans Ende, sondern knickte dort um und warf sich der Kirche oder dem Regimente oder der öffentlichen Meinung in die Hände, oder der Dichtkunst und der Musik. Er bedarf jener Entsagung —

7 [258]

Man lernt zu sprechen, aber man verlernt zu schwätzen, wenn man ein Jahr lang schweigt.

7 [259]

Bist du denn ruhmbegierig? Ich habe es nie geglaubt. Aber das fällt mir auf, daß ich es unerträglich finde, nicht mit dem beschäftigt und verwachsen zu sein, was mir das Wichtigste auf der Welt scheint.— Als ich dies von der Kunst nicht mehr glaubte, trat ich sehr abgekühlt bei Seite, mit einer Art von Haß—sie schien mir eine Betrügerin, die mich dem Wichtigsten entziehen wollte.

7 [260]

Pascal glaubte, daß die kleine Périer durch die wirkliche Stimme Christi geheilt worden sei cette voix sainte et terrible, qui étonne la nature et qui console l’église. [Vgl. Eugène Auguste Ernest Havet, "Des Provinciales de Pascal." Revue des deux mondes. Oct. 1, 1880:516-553. S. Nietzsche’s Library. New Sources of Nietzsche’s Reading: Eugène Auguste Ernest Havet.]

7 [261]

“der Demosthenes der passionirten Logik” [Vgl. Eugène Auguste Ernest Havet, "Des Provinciales de Pascal." Revue des deux mondes. Oct. 1, 1880:516-553. S. Nietzsche’s Library. New Sources of Nietzsche’s Reading: Eugène Auguste Ernest Havet.]

7 [262]

Vergleich mit Pascal: haben wir nicht auch unsere Stärke in der Selbstbezwingung, wie er? Er zu Gunsten Gottes, wir zu Gunsten der Redlichkeit? Freilich: ein Ideal, die Menschen der Welt und sich selber entreißen, macht die unerhörtesten Spannungen, ist ein fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten, ein seliges Ausruhen über sich, in der Verachtung alles dessen, was “ich” heißt. Wir sind weniger erbittert und auch weniger gegen die Welt voller Rache, unsere Kraft auf einmal ist geringer, dafür brennen wir auch nicht gleich Kerzen zu schnell ab, sondern haben die Kraft der Dauer. [Vgl. Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. In zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Th. 2. Leipzig: Wigand, 1865:270.]

7 [263]

Ihr Stolz war durch ihre Schüchternheit verbittert.

7 [264]

Die große Frage, ob es in der M[ensch]h[eit]s-Cultur eine Kreisbewegung giebt, klein und größer? Wir im ersten?

7 [265]

Der Zauber der Dialektik für eine poetisch-ungestüme und springende Seele wie Plato’s. Der Zauber des Halbdunkels im Christenthum für Pascal’s helle logische Seele—das ist schwer nachzufühlen

7 [266]

Die großen moralischen Naturen entstehen in Zeiten der Auflösung, als Selbstbeschränker. Zeichen des Stolzes, es sind die regierenden Naturen (Heraclit Plato usw.) in einer veränderten Welt, wo sie nur sich zu regieren haben. Ganz anders die Moralität der Unterwerfung.

7 [267]

Das Vergnügen der Gesellschaft Molière’s, wenn einer sich enthüllt und nicht mehr täuscht, wenn der Charakter sich verräth—die Verachtung zugleich gegen den, der seine Rolle nicht festzuhalten versteht—das tiefe Verständniß alles Komödienspielens im Leben, ja der Glaube daß es die Aufgabe sei Komödiant zu sein und daß alles Lächerliche darin bestehe daß ein Komödiant sich verräth!

7 [268]

Die Naivetät ist keine deutsche Eigenschaft. Aber eine altfranzösische!

7 [269]

Aristoteles: “im Allgemeinen thun die Menschen das Böse, wenn sie es können.” [Vgl. Eugène Auguste Ernest Havet, "Des Provinciales de Pascal." Revue des deux mondes. Oct. 1, 1880:516-553. S. Nietzsche’s Library. New Sources of Nietzsche’s Reading: Eugène Auguste Ernest Havet.]

7 [270]

In Inquisitionsländern wagt der Gewohnheitssünder nicht sich dem Abendmahle zu entziehen, aus Furcht denunzirt zu werden, excommunicirt, am Ende eines Jahres der Häresie verdächtigt und von der Justiz verfolgt zu werden—deshalb sind da die laxesten Casuisten entstanden.

War man zu streng, so wurde die Lauterkeit des Bekenntnisses beseitigt und das Bekenntniß selbst zu Null gemacht—das mächtige Mittel zur Erhaltung der Kirche. (Auch gegen sich sind die rigorösesten Menschen am verlogensten)

Der Ostracismus der Tugend (des Jansenismus) [Vgl. Eugène Auguste Ernest Havet, "Des Provinciales de Pascal." Revue des deux mondes. Oct. 1, 1880:516-553. See: Nietzsche’s Library. New Sources of Nietzsche’s Reading: Eugène Auguste Ernest Havet.]

7 [271]

Zu sagen: “es ist Gott, der dies in uns thut” wie Pascal, ist nicht den Menschen zu nichte machen und Gott an seine Stelle setzen: sondern die Gnade die er anruft, ist die höchste Anstrengung der menschlichen Natur. Gott nennt er was er Exaltirtes und Reineres an sich fühlt.

7 [272]

“Die Seele zu entziehen von der Welt, um sie sich selber sterben zu machen, um sie einzig und unveränderlich an Gott zu knüpfen—das ist nur einer allmächtigen Hand möglich.” Pascal [Vgl. Eugène Auguste Ernest Havet, "Des Provinciales de Pascal." Revue des deux mondes. Oct. 1, 1880:516-553. See: Nietzsche’s Library. New Sources of Nietzsche’s Reading: Eugène Auguste Ernest Havet.]

7 [273]

Der große Condé Richelieu Pascal
Bossuet nennt La Bruyère — — —
[Vgl. Eugène Auguste Ernest Havet, "Des Provinciales de Pascal." Revue des deux mondes. Oct. 1, 1880:516-553. See: Nietzsche’s Library. New Sources of Nietzsche’s Reading: Eugène Auguste Ernest Havet.]

7 [274]

Auch in den Siegen über uns selbst gehört ein gutes Theil dem Zufall an: deshalb sehen wir mit scharfer Kritik auf die siegreichen Tugendhaften und finden mitunter den Geist derselben in der moralischen Taktik nicht auf der Höhe ihres Glücks.

7 [275]

Napoleon der Machtlüsterne giebt den Typus des Stoikers, nach innen gesehen; durchzuführen NB. die Theile seines Wesens, die er durch Verführung unterworfen, behandelt er hinterdrein kalt und gleichgültig despotisch.

7 [276]

“Und alle diese Freiheit des Blicks ist zu nichts nütze?”

Wie? Ist ein Teleskop zu nichts nütze?

7 [277]

Die großen Unthiere der Eitelkeit, welche die Kraft haben uns anzugreifen, doch nicht uns zu halten.

7 [278]

Pascal gegen die Jesuiten: das ist Demosthenes gegen Philipp: da sieht man die Abirrung vom allgemeinen Interesse der Menschheit!

7 [279]

Ich halte es nicht in Deutschland aus, der Geist der Kleinheit und der Knechtschaft durchdringt alles, bis in die kleinsten Stadt- und Dorfblätter herab und ebenso hinauf bis zum achtenswerthesten Künstler und Gelehrten—nebst einer gedankenarmen Unverschämtheit gegen alle selbständigen Menschen und Völker. Dazu ist man eilig und ängstlich für die Gegenwart, mißtrauisch für das Kommende und gegen einander so vorwurfsvoll, und schlägt sich mit einem pomphaften Scheingenuß die Sorgen scheinbar aus dem Kopfe.

7 [280]

Es giebt wirklich Menschen welche eine Sache damit geehrt zu haben glauben, daß sie dieselbe deutsch nennen. Es ist der Gipfel der nationalen Verdummung und Frechheit. [Vgl. Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München: Oldenbourg, 1874:821.]

7 [281]

Unsere Maaßstäbe nach dem Christenthum: nach jenem unerhörten Sich-ausspannen aller Muskeln und Kräfte unter dem höchsten Stolze sind wir alle verurtheilt, die Schwächeren Geschwächteren darzustellen: es sei denn, daß wir eine unerhörte Art von Männlichkeit gewinnen, welche diesen Zustand der menschlichen Erniedrigung noch stolzer als das Christenthum zu tragen wüßte. Kann hierzu uns nicht die Wissenschaft dienen? Wir müssen dem Phantasie-Effekt des Christenthums für die edelmüthigen Naturen etwas Überbietendes entgegenstellen—eine Entsagung und Strenge!

7 [282]

Das Verlangen nach Ruhe nicht falsch zu deuten mit Pascal! und das nach Bewegung! [Vgl. Blaise Pascal, Pascal's Gedanken, Fragmente und Briefe. Aus dem Französischen nach der mit vielen unedirten Abschnitten vermehrten Ausgabe P. Faugère's. In zwei Theilen. Deutsch von C. F. Schwartz. Th. 2. Leipzig: Wigand, 1865:29f.]

7 [283]

Glückliches Zeitalter der Russen! Energie des Willens und Übergang zu den Künsten!

7 [284]

Wenn ich den Anblick eines fremden Nothstandes oder Glücksstandes nicht mehr ertrage und handle, um dem abzuhelfen, sei es daß ich mich entferne, sei es daß ich das fremde Loos abändere (wenn schon der Gedanke daran mich quält): so ist ein gleichartiger Vorgang da. Daß mir fremdes Glück weh thut, während einem Anderen sein Anblick wohl thut: dies wäre ein Unterschied (ebenso der Anblick fremder Unabhängigkeit). Wehethun: ein Ausdruck, daß wir unsere Entwicklung gehemmt fühlen. Wir fühlen uns einer Kraft geraubt: ebenso andere Menschen beim Anblick des fremden Unglücks. Das Mitgefühl macht uns leidend, der Neid ebenso: beide sind uns nachtheilig. Freude an fremdem  Unglück  und  fremdem  Glück  ist  uns  vorteilhaft,  eine  Quelle  stärkerer  Entwicklung (N[apoleon] wurde heiter, als er seinen Hof durch ein neues Ceremoniell genirt fand) [Vgl. Madame de Rémusat, Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1880:395.] Der Leidende Andere wird erbittert über unsere Freude an seinem Leide und verunglimpft einen solchen: er als die Quelle des Urtheils, des tadelnden und lobenden, er verlangt Gleichgefühl, aber er selber übt es nicht, sonst würde er den Sich-freuenden an seinem Leide nicht tadeln, sondern sich mit ihm freuen (wie die, welche mit über sich lachen) d. h. er gesteht durch seine Praxis zu, daß der Andere ein Recht hat, zu sein, wie er ist, so wie er ein Recht habe, sich über ihn zu ärgern. Es ist unangenehm für die Anderen, “aber an sich nicht verwerflich”! wie alles Bittere und Schmerzhafte in der Natur.

Der welcher sich im Glück fühlt und sieht, daß der Andere darüber leidet (als Neidischer) verlangt nicht, daß dies sich ändre; er genießt es, aber er genießt es auch, wenn der Andere sich mitfreut, d. h. sein Glück macht ihn bereitwillig, sich das Verhalten des Anderen zu einer Vermehrung seines Glücks auszulegen. Sein Unglück, im Verhalten des Anderen eine Erleichterung zu suchen: indem man es ihm mitzutragen giebt oder indem man sich durch Tadel über ihn erhebt. Der Haß gegen die Nicht-Mitleidigen ist wesentlich Rache: also die Forderung des Mitleidens ebenfalls, es ist der nothwendig hervorgerufene Gefühls-Gegensatz zu jenem Haß.

7 [285]

Zur Ableitung des Mitleids.

Sobald das Mitleiden gefordert und gelobt wird, so bekommt es einen moralischen Charakter als gut. Man giebt sich ihm hin, man scheut nicht seine Kundgebung—unter anderen Verhältnissen gilt es als Schwäche. Die Philosophen sehen im Mitleide wie in jedem Sich-verlieren an einen schädigenden Affekt eine Schwäche. Es vermehrt das Leid in der Welt: mag [es] indirekt das Leiden vermindern, diese Folge darf es nicht im Wesen rechtfertigen! Gesetzt, es herrschte: so gienge sofort die Menschheit zu Grunde.

Dagegen vermehrt die Mitfreude die Kraft der Welt. Die Freude an dem Individuum, welches selber, was ihm auch geschehe, die Freude an sich oben erhält, ist ein sehr hoher Gedanke! Man muß helfen, um sich wieder mitfreuen zu können—aber seine Seele so lang im Zaume haben und kalt stellen, daß sie nicht vom Jammer angesteckt werde: wie der rechte Arzt.

Es giebt ein auszeichnendes Mitleiden, welches außerordentlich entlegene Arten des Leidens erfaßt: es ist zu ehren als Zeichen eines höheren Intellektes, nicht an sich!

Daß wir dem gut sind, der uns Mitleiden bezeugt, ist eine Erbärmlichkeit: wir sollten sagen: seid tapfer, daß mein Leid euch nicht eure freudige Art nimmt: wir sollten wünschen, den Ausblick auf das freudige Element um uns nicht zu verlieren! Aber wir sind Tyrannen!

7 [286]

Die Freude unserer Feinde an unserem Unglück mitgenießen ist möglich.

7 [287]

Vielen Erkenntnissen wissen die Menschen nichts Kräftigendes abzugewinnen, es sind verbotene Speisen z. B. mein Buch.

7 [288]

Es ist eine Feinheit, seine Beispiele der Geschichte und der Wissenschaft gemäß der allgemeinen Unkenntniß und Mangelhaftigkeit am Wissen zu wählen—sonst beweist man nichts und erweckt Haß, weil man beschämt. Man muß niedersteigen zu den Armen an Geiste, nicht in den Gedanken und Zielen, aber im Material. Mit lauter ungeheuer bekannten Dingen argumentiren: es ist überdies Stolz, denn die großen Wahrheiten sollen nicht mit Thatsachen aus dem Winkel und der gelehrten Grübelei bewiesen werden.

7 [289]

Ich höre euren Sirenengesang, ihr Weisen! Ach, nichts bewegt mich so! Aber ich sage euch: ihr selber habt ihn euch vorgesungen, ihr waret wie ich! Ihr waret die Narren dieser schönen Paradiese “Gerechtigkeit, Mäßigung”: in Wahrheit sind es Utopien.

7 [290]

Um in der Kunst ein Mittel der Macht zu sehen: wie muß man da die Dinge verdrehen oder den Umsturz des Bestehenden erstreben! Wie viel Enttäuschung!

7 [291]

wie ein Drama sein Inneres leiden sehen ist ein höherer Grad als nur leiden.

7 [292]

Compensation des Dichters, seine Leiden und die Lust des Ausdrucks derselben [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso, V 5. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 13. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856. "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide."]

7 [293]

Das Zusammenbrechen der Berechnungen eines Greises ist mitleidswürdiger als—

den Vorwand seines Lebens und Wirkens verlieren, z. B. seine Kinder

7 [294]

1) O über das Sündengefühl! Wie hat es das Leid vermehrt! 2) wie hat es von der natürl[ichen] Folge der Schuld den Blick abgewandt, also die Vernunft in der Anwendung auf das Leben stillgestellt! 3) wie hat es egoistisch gemacht und die Folgen für Andre (auch durch Vererbung) sich aus dem Sinne schlagen heißen!

7 [295]

Ihr glaubt nicht mehr Leidenschaft für etwas empfinden zu können, weil es nur kurz lebt oder weil es relativ werthvoll ist! Denkt doch an die Liebe zu einem Weibe! Zu Geld! Zu Ehrenstellen! Wenn es auch keinen ewigen Geschmack, keine ewige Schönheit und Tugend giebt, so kann das kurz Geltende erst recht Entzücken erregen, um es [zu] umarmen, es so gut es geht, dem Strom zu entreißen! Es mischt sich von nun an die Zärtlichkeit für das Hinfällige hinein!! NB.

7 [296]

Wir werden leicht trocken, weil wir nur für die Feinheiten der seelischen Bewegung ein Auge haben. Der große train!

7 [297]

Warum für Dinge Gesetze diktiren wollen, die wir nur aus zweiter Hand kennen! “Wollt ihr denn durchaus universal sein? Überlaßt doch diese bizarre Prätension den armen Teufeln, welche nicht selber etwas Eigenes sind.” Stendhal [Vgl. Stendhal, Racine et Shakespeare: études sur le romantisme. Paris: Lévy, 1854:104.]

7 [298]

Wenn die Menschen über die Heftigkeit ihrer inneren verkleideten Triebe erröthen, da ändert sich die Kunst. Die Kundgebung tiefer Gefühle gilt als plump und roh. Zuerst ceremoniöse Manieren. Dann heitere Manieren, noch freier von jedem Gefühl (Louis XV): aller Enthusiasmus und alle Energie verschwunden! [Vgl. Stendhal, Histoire de la peinture en Italie. Paris: Lévy, 1868:402. Stendhal, Racine et Shakespeare: études sur le romantisme. Paris: Lévy, 1854:246f.]

7 [299]

Den Menschen des Mittelalters unsere Sensibilität und Sympathie leihen. [Vgl. Stendhal, Histoire de la peinture en Italie. Paris: Lévy, 1868:405. Stendhal, Racine et Shakespeare: études sur le romantisme. Paris: Lévy, 1854:252.]

7 [300]

Das Gefühl der Macht, das Jemand aus dem Staube erhebt, Findelkinder zu Erben macht usw. ist ganz gleichwerthig mit der Grausamkeit, und ich kann thun, was ich will, namentlich in Hinsicht auf die, welche es ärgert.

7 [301]

Die D[eutschen] haben die Bewunderung für das Fremdartige—aus Langeweile; die Franzosen die Eitelkeit—aus Langeweile—die Italiäner Liebe Haß usw.—aus Langeweile.

Der Franzose höhnt das Fremdartige, Gegenstand des Lächerlichen.

7 [302]

Die Leidenschaft der Erkenntniß kann ein tragisches Ende nehmen: fürchtet ihr Euch? Wie bei jeder Leidenschaft!— Gewöhnlich aber habt ihr Gelehrten gar keine Leidenschaft, sondern eine Gewohnheit gegen eure Langeweile!— Die Stellung der verschiedenen Völker dazu! —

7 [303]

Die Wissenschaft kann weder beweisen, daß alle M[enschen] gleich sind, noch daß ein Verfahren nach diesem Grundsatz auf die Dauer nützlich ist.

7 [304]

“Wissenschaft!” Was ist sie! Alle Kräfte in ihren Dienst! Die Erfahrung der Menschheit aus ihren Trieben, und ein Trieb, von den Trieben zu wissen.

7 [305]

Die Sitten spiegeln die Ereignisse von 100 Jahren wieder—nicht die der Gegenwart. [Vgl. Stendhal, Racine et Shakespeare: études sur le romantisme. Paris: Lévy, 1854:82; 119-120. Stendhal, Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:383.]

7 [306]

Die (nord)deutsche Cultur stammt nicht von einem Adel wie die französische, sondern von Lehrern (Professoren Organisten usw.) und Predigern. Ganz andere Unterwerfung, immer mit dem Hintergedanken, daß es etwas Höheres giebt als Fürsten (Luther). Bewunderung für das Fremdartige eines Fürsten, einer Staatsleitung, des Heeres: naiv. Man läßt sich drücken, aber nimmt Rache in Gedanken über die Dinge.— Wie unfruchtbar ist der Adel! das deutsche Rasse-Element

7 [307]

Das schnelle Tempo in der Musik und im Leben schleift viele Charaktere und Handlungen aus: wenn sie nicht unerträglich werden sollen: nämlich der Wechsel der Affekte—das schnelle Tempo ist die Sache der dauernden Stimmungen, des ³h@l.

7 [308]

Der deutsche Adel: selbst im Luxus, im Pomp, Gartenkunst Baukunst Mauerei unproduktiv

7 [309]

Und wenn wir uns auch für die schwierigsten Fälle der moralischen Rechnung und Vorrechnung nicht trauten, so meinten wir doch alle das moralische Einmaleins zu kennen und hielten uns hierin für sicher

7 [310]

Meine Gedanken sind meine Ereignisse geworden: das Andere ist die Krankheits-Geschichte jedes Tags.

7 [311]

Ein Sturm: ich empfinde ihn gegen 4 Stunden vorher, bei dem heitersten Himmel. Ist er da, so verbessert sich mein Zustand.

7 [312]

Das augenblickliche politische Übergewicht Deutschland’s ist nicht aufrecht zu erhalten: es verdankt es der Willenskraft eines Einzelnen, der außerdem von dem schwachen Charakter aller Deutschen so überzeugt war daß er weder Parteien noch Fürsten fürchtete. Sie mögen die beste Organisation und den trefflichsten Gehorsam haben—aber die Befehlenden werden in diesem Lande so selten geboren, und noch seltener, die welche befehlen und Geist haben.— Deshalb ist die Überlegenheit eine große Gefahr—sie erzieht in der Anmaaßung und in den Ansprüchen.— Mit Parteien kann man machen, was man will, wenn man nämlich will: aber velle non discitur. Und wahrhaftig, es gehört nicht einmal der Wille eines Richelieu dazu, sondern der eines Bismarck—das will sagen, ein viel launischeres und leidenschaftlicheres Ding.

7 [313]

Der friedliebende Deutsche, man kann auf seine Unterwerfung vor dem Regimente und der Religion rechnen—weil er die wirkliche Unruhe und Gefahr haßt: um so mehr bedarf er leichter gefährlich scheinender Schwärmereien, um sich als Held vorzukommen. Er wechselt damit sehr oft, weil er nicht die That will!

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