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The Will to Power
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Herbst 1880 6 [301-461]

6 [301]

Manche sind glücklich mit dem Hintergedanken, daß die Anderen, die nach anderen Principien leben, sich an ihrem Glück ärgern sollen: sie wollen mit ihrem Glücke jene widerlegen. (Pique-bonheur) [Vgl. Stendhal, De l'amour. Vol. 1. Paris: Lévy, 1857:?.]

6 [302]

Plötzliche christliche Strenge läßt auf tiefe innere Nothstände, also begangene Unthaten schließen.— —

6 [303]

Man kann seine Leidenschaften von einem Augenblick an mißverstehen und umtaufen—Wiedergeburt.

6 [304]

Man kann seine Gedanken nicht wiedergeben in Worten, sie sind zu schattenhaft schnell hinter den Empfindungen zu[rück].

6 [305]

Wenn man noch so genau den Bewegungen siedenden Wassers mit den Augen folgt, man begreift damit das Motiv des Siedens um nichts mehr. So auch bei Handlungen, wenn man das heftig bewegte Netz von Vorstellungen sich klar macht, welche uns dabei überhaupt bewußt werden. Es sind alles Wirkungen, welche auf ein verborgenes Feuer rathen lassen: aber es ist lächerlich, es definiren zu wollen.

6 [306]

Die Bewunderung für die Person Jesu ist wenig bedeutend, wenn sie von der Basis ausgeht, auf welche Christus sich gestellt hat: die tiefe Sündhaftigkeit der Menschen. Was würde ein Grieche um Perikles darüber gedacht haben?

6 [307]

Für einen, der ein Musterbild erreichen will, besteht das Angenehme darin, Menschen zu sehen, die das ihre erreicht haben. Die unreinen unklaren hybriden Gebilde sind ihm peinlich! Das tritt dann an die Stelle von “guten” und “bösen” Menschen!

6 [308]

Die allgemeinen öffentlichen Musterbilder, nach denen bisher moralisches Lob und Tadel ertheilt wurde, machten einseitig und ließen eine Menge Eigenschaften unbelobt: man verlor die Anerkennung des Individuums und der schönen Proportion der Kräfte in ihm aus dem Auge. Es war barbarisch: aus jedem Material dasselbe Bild arbeiten wollen!

6 [309]

Die Vorstellung musterhafter Typen wäre ein Hauptverdienst der Künstler: den Sinn für das Einheitliche und Proportionirte zu entwickeln. Der Künstler wählt aus und lobt dadurch! Die Griechen waren groß in der Lust an Charakteristischem: Thukydides und Sophocles Blüthe des Geschmacks!

6 [310]

Kaum spricht man von den “nicht absoluten Wahrheiten,” so begehren alle Schwärmer wieder Eintritt oder vielmehr: die gutmüthigen Seelen stellen sich an’s Thor und glauben Allen aufmachen zu dürfen: als ob der Irrthum jetzt nicht mehr Irrthum sei! Was widerlegt ist, ist ausgeschlossen!!

6 [311]

Den Unterschied zwischen Juden und Römern drückt Tacitus so aus: “bei ihnen ist alles heilig, was bei uns unheilig ist, so wie gegentheils bei ihnen alles erlaubt ist, was bei uns verabscheut wird” Diese Paradoxie wurde von den Christen verbreitet, sie machten Propaganda, “sie sind sich unentwegbar treu und unterstützen sich in der Noth, so wie sie alle anderen Menschen als Feinde hassen.” [Vgl. Tacitus, Hist. V, 4, 5.]

6 [312]

die durch Verdruß und Sorge vergeudete Energie, bewußt geworden: das Kleinwerden dabei

6 [313]

die Frauen sehen in der Wissenschaft einen Vampyr bei einem Manne.

6 [314]

Den angenehmen Rausch geistiger Getränke, die Lust am Spiel sehe ich mit Geringschätzung an—aber die Griechen?

6 [315]

vor mir selber warnen

6 [316]

Schauer und Umwandlung beim Anblick einer schönen That: wie bei großen Felsen und plötzlich entzückenden Ausblicken auf eine blühende Vegetation.

6 [317]

Nicht die Handlung sondern unser Urtheil über die Handlung (sei es auch ein Irrthum) macht unser Gewissen, die private Geschichte unser selbst

6 [318]

Es ist beschränkt, die Pharisäer als Heuchler aufzufassen, sie leben immer in dem festen Zutrauen zu ihren Handlungen, sie sehen sie nicht tiefer und wahrhaftiger an und kennen durch Gewohnheit bei sich nur gute Motive: die anderen sehen sie nicht, ihr Auge ist dafür blind.— Gesetzt, man setzte ihnen ein neues Auge ein und machte sie mit sich unzufrieden: nun, so mehrte man den allgemeinen Jammer. Die Handlungen blieben dieselben in ihren Wirkungen für Andere, und somit wäre es eine überflüssige Menschenquälerei. Diese will das Christenthum.

6 [319]

Gesetzt, wir empfinden eine Handlung als gut, so spielt sich der ganze Vorgang ab. Was eine Handlung an sich ist, ob nützlich oder schädlich, hat damit nichts zu thun. Deshalb ist es so wichtig, daß die guten Handlungen wirklich ausführbar sind und häufig: sonst die moralische Hölle, und das Moralische als Fernblick auf die Heiligen—auch bewunderungswürdige Beleuchtungen und Färbungen hervorrufend!

6 [320]

Deine Moralität ist Sache deines Glücks. Dein gutes Gewissen ist Sache deines Glücks! Bei manchen Dingen überrascht und in die Öffentlichkeit gebracht, wärst du tief zerstört. Daß dein Charakter sich verbessert, ist Sache des Glücks! Die kleinen Schritte und die zahllosen kleinen Unzufriedenheiten sind am mächtigsten! |Nicht nur Mitleid thut noth, sondern wir müssen Weltbetrachtungen für die Bösen und Unglücklichen machen oder dulden! | An Stelle der Beichtiger müssen wir Philosophen stellen wie Sonnen für jede Art von Menschen, während bis jetzt die höchsten Exemplare am meisten für sich Moralen gemacht haben. |

6 [321]

Was andere von uns denken und wissen, kann plötzlich über uns herstürzen. Was wir von uns wissen (im Gedächtniß haben) ist nicht entscheidend!

6 [322]

Die welche an ihrem Leben und Charakter keine Freude haben, suchen sie vielleicht in ihrem Geiste: wie Sch[openhauer]. Aber wer vollständig ist, sollte doch auch an allen zusammen erst froh werden können! Und wie froh! Wir steigen alle zusammen unseren Berg und wollen nicht einzeln auf dem Gipfel ankommen! Mancher ersteigt ihn als Charakter aber sein Geist ist der Situation nicht angemessen (z. B. Bismarck).

6 [323]

Sein Erlebniß so streng und wahrhaftig ansehen, wie ein wissenschaftliches Experiment—da darf man nicht von Wundern und “Engeln um uns” und der Hand des Herrn fabeln: das erscheint einem unredlich.

6 [324]

Die That ist durch die Absolution nicht ausgelöscht. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, unsere Thaten sind unser Sein und ebenso gehört das zukünftige Thun bereits zu uns. Das Gedächtniß entscheidet nichts.

6 [325]

“Narrenstreiche machen aus einer tiefen und leidenschaftlichen Träumerei” wie Stendhal [Vgl. Stendhal, Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:255.] sagt. Ist dies das “Werk des Genie’s”?

6 [326]

“Die Alten haben nichts gethan, um zu schmücken, und das Schöne ist bei ihnen nur la saillie de lutile.” [Vgl. Stendhal,Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:255.]

6 [327]

Tiefe und Energie des Gefühls, nicht vergessen; Verzeihen ist ein Opfer (nicht ein lässiges gutmüthiges Fahrenlassen eines Gedankens, mit Lust daran daß man ihn nicht mehr zu tragen hat.) Italiänische Einfachheit, fast Kälte als Mantel dieser leidenschaftlichen Naturen.

6 [328]

In Frankreich möchte sich der esprit gern Genie geben. In Deutschland möchte das Genie sich gern esprit geben. [Vgl. Stendhal, Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:387f.]

6 [329]

“der gespannte Stil”! [Vgl. Stendhal, Correspondance inédites. Précedée d'une introduction par Prosper Mérimée de l'Academie française. Ornée d'un beau portrait de Stendhal. Paris: Michel Lévy frères, 1855:77.]

6 [330]

Novella d’Andrea lehrte in Bologna (14. Jhr.) Hinter einem Vorhange lehrend wegen ihrer Schönheit. [Vgl. Karl Baedeker, Italien. Handbuch für Reisende. Erster Theil. Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ravenna, nebst der Insel Corsica und den Reise-Routen durch Frankreich, die Schweiz und. Oesterreich. Mit 8 Karten und 32 Plänen. Neunte verbesserte Auflage. Leipzig: Baedeker, 1879:285. Achte verbesserte Auflage. Leipzig: Baedeker, 1877:266.]

6 [331]

Das Schöne scheint uns zuletzt nur ein Zustand, den das allseitig Nützliche hervorbringt: ein tiefes Wohlergehen, welches aus allen Linien und Bewegungen unserer Handlungen Worte hervorbricht: eine Harmonie vieler Nützlichkeiten, die zum Klingen kommt.

6 [332]

Das Problem der Wahrhaftigkeit hat noch niemand erfaßt. Das, was gegen die Lüge gesagt wird, sind Naivetäten eines Schulmeisters, und zumal das Gebot “du sollst nicht lügen”!

6 [333]

Jeder ausblühende Gedanke treibt zuletzt seine Art Luxus hervor, es ist seine letzte Erscheinung. In Künsten wie in der Kunst des Verkehrs. Jede reife Cultur hat ihren Luxus.— Aber zeigt mir einen Erfinder einer Idee, der nicht Einfachheit und Dürftigkeit auch äußerlich, auch in Worten hatte.— der luxuriirende Gedanke schreibt sich auf jedes Gefäß, zeichnet sich in jede Gebärde hinein (z. B. Größe und Schlichtheit und Anmuth im alten Athen)

6 [334]

Den Deutschen fehlt es an esprit, weil sie keinen Überschuß von Geist besitzen: haben sie den ihren angewendet, so sind sie arm und sitzen da. Sie hassen ihn, und doch fühlen sie, daß ohne ihn die Geselligkeit eine langweilige Flegelei ist:—daher “Gemüth.”

6 [335]

Das Effekt-machen-wollen ist eine deutsche Krankheit. [Vgl. Stendhal, Rome, Naples et Florence. Paris: Lévy, 1854:387.]

6 [336]

Ein Mann mit Geist erhebt sich in Deutschland zu hoch über seine Mitbürger und wird zum Narren; der Nebel umhüllt seinen Kopf.— Er entartet so leicht, weil nichts neben ihm ihn in Schranken hält, er schießt aus nach allen Seiten und ist von einer häßlichen Fruchtbarkeit.

6 [337]

Das Lächerliche ist in Deutschland nicht furchtbar für den, der Geist hat. Denn es ist nicht das Lachen der geistreichen Leute sondern der jungen Esel, welches hier den Begriff des Lächerlichen macht.— Diese Zucht fehlt.

6 [338]

Von einem Gedanken glühen, von ihm verbrannt werden—das ist französisch. Der Deutsche bewundert sich und stellt sich mit seiner Passion vor den Spiegel, und ruft andere hinzu.

6 [339]

Unsere Meinungen: die Haut, die wir uns umlegen, in der wir gesehen werden wollen, oder in der wir uns sehen wollen; das Äußerlichste, der Schuppenpanzer um die Gedanken eines Menschen. So scheint es. Andererseits ist die Haut ein Erzeugniß wir wissen nicht welcher Kräfte und Triebe, eine Art Ablagerung, fortwährend sich stückweise lösend und neubildend.— Lautbilder und Sehbilder als Hieroglyphen für bestimmte Eindrücke und Gefühle sind das Material der Meinungen, Verfeinerungen des Ohr- und Gesichtssinnes und eine Relation zwischen beiden.

6 [340]

Unser Bewußtsein hinkt nach und beobachtet wenig auf einmal und während dem pausirt es für Anderes. Diese Unvollkommenheit ist wohl die Quelle, daß wir Dinge glauben und im Werden etwas Bleibendes annehmen: ebenso daß wir an ein Ich glauben. Liefe das Wissen so schnell wie die Entwicklung und so stätig, so würde an kein “Ich” gedacht.

6 [341]

Es ist eine Beschränktheit, aber so empfinde ich. Das Bedürfniß [nach] Luxus scheint mir immer auf eine tiefe innerliche Geistlosigkeit hinzudeuten: wie als ob jemand sich selber mit Koulissen umstellt, weil er nichts Volles Wirkliches ist, sondern nur etwas, das ein Ding vorstellen soll, vor ihm und vor Anderen. Ich meine, wer Geist habe, könne viel Schmerzen und Entbehrung aushalten und dabei noch glücklich sein, ja er müsse sich im Verhältniß zu einem, der Ehren und Luxus und Kameradschaft nöthig hat, schämen, weil er bei der Vertheilung der Güter zu gut weggekommen ist. Ich habe eine tiefe Verachtung gegen einen Banquier. Wer Luxus um sich hat, nun, mitunter muß er sich so stellen, daß er Anderer wegen hineinpaßt, aber dann soll er auch die Ansichten dieser Anderen haben und ertragen. Freisinnige kühne neue Ansichten halte ich für Schwindel oder eine widerliche Art Luxus, wenn sie nicht zur Armut und zur Niedrigkeit drängen. Mit einer Art von weißer Wäsche hat sich z. B. Las[s]alle für mich widerlegt. Leute mit solchen Bedürfnissen sollten fromm werden und als Magistratspersonen Ansehen erstreben, es giebt so viel Gutes zu erhalten und zu repräsentiren. Aber den Geist sollen sie nicht repräsentiren wollen! Wer geistig reich und unabhängig ist, ist so wie so auch der mächtigste Mensch, es ist, wenigstens für so humane Zeiten, schimpflich, wenn er noch mehr haben will: es sind die Unersättlichen. Einfachheit in Speise und Trank, Haß gegen geistige Getränke—es gehört zu ihm, wie die Getränke zu jenen gehören, welche sagen könnten “das Leben wäre völlig reizlos” usw.— Es drängt mich zu einer idealen Unabhängigkeit.— Ort Gesellschaft Gegend Bücher können nicht hoch genug gewählt werden, und anstatt sich zu akkommodiren und gemein zu werden muß man entbehren können, ohne Dulderfalten.

6 [342]

Auch im Intellektuellen z. B. in der Abschätzung von Meinungen führen wir nicht immer Gründe ins Feld, sondern sehr häufig einen intellektuellen Ekel, weil wir sehen, aus kleinen Anzeichen, wie stumpf und kurz und genügsam einer ist, oder wie weit das Selbstvertrauen des Unwissenden und des Neulings geht. D. h. wir beurtheilen die Methode des Erkennens als: schleimig verwest übelriechend Unrath ausgespieen, wiedergekäut, madenzerfressen, schaal, abgestanden, dumpf usw.

6 [343]

“Ich will dies”: man unterscheidet “Gegenstand, Schätzung des Gegenstands und Übung,” aber im Grunde ist es nicht ein Gegenstand, den man will, sondern einen angenehmen Zustand von uns, der uns in irgend einer Verbindung mit dem Gegenstand vorgekommen ist: und die Schätzung des Gegenstands ist ein Versuch, die thatsächlich angenehme Empfindung zu erklären, dadurch daß wir das Angenehme als Folge einer Einsicht darstellen (z. B. Essen als Stillung des Hungers, als Erhaltung usw.): während die angenehme Empfindung meistens nicht die Folge der Einsicht in die Zweckmäßigkeit ist. “Ich will” heißt “ich mache etwas mir Angenehmes, soweit ich es machen kann” Uns schwebt ein Zustand von uns vor (z. B. als Schlagenden Essenden) dies Bild ahmen wir nach. [Vgl. Johann Julius Baumann, Handbuch der Moral. Nebst Abriss der Rechtsphilosophie. Leipzig: Hirzel, 1879.]

6 [344]

Gedächtniß hat Ursachen der Moralität—und wir haben es nicht in der Hand! NB.

6 [345]

Neugierde, etwas Nachtheiliges herauszufinden, ebenfalls in Bezug auf die Dinge möglich und schämenswerth. NB

6 [346]

Hauptvergnügen, Andere zu kränken—warum unmoralisch? Necken ist nur ein Grad. Hier ist die Unterscheidung von moralisch und unmoralisch nicht auch ein Gegensatz.

6 [347]

Aber muß denn Moralität, wenn sie nothwendig auf Freiheit ruht nach Kant, überhaupt existirt haben? Genügt nicht die Einbildung der Freiheit? Und wenn diese Einbildung nicht mehr möglich ist, ist dann es absolut nöthig, die Moralität aufrecht zu erhalten? Könnte sie nicht ihre Rolle gespielt haben? (gegen [— — —]

6 [348]

Ich weiß, wie armselig ihr euch neben dem Schwunge dieses Idealism ausnehmt (der den Materialismus und die Skepsis auf seinen Rücken nimmt und gegen die Sonne trägt) aber ich gehe mit euch um und stelle mich euch gleich, mehr noch, ich mache mich schlecht.

6 [349]

Das Subjektgefühl wächst in dem Maaße, als wir mit dem Gedächtniß und der Phantasie die Welt der gleichen Dinge bauen. Wir dichten uns selber als Einheit in dieser selbstgeschaffenen Bilderwelt, das Bleibende in dem Wechsel. Aber es ist ein Irrthum: wir setzen Zeichen und Zeichen als gleich und Zustände als Zustände.

6 [350]

Nur was wir von Anderen denken und was wir von uns denken, bestimmt unser Verhalten, so weit es bewußt ist. Also die Vorstellung von Anderen und von uns: diese sind aber wieder das Resultat von dem, was die Anderen uns gelehrt und beigebracht haben. Die Interpretation unserer Zustände ist das Werk der Anderen uns angelehrt. Darin bleibt das Moralische hängen, es ist Schatten.

6 [351]

Ich sprach eine halbe Stunde eitel und war zuletzt etwas beschämt und müde—aber ich hatte mich erniedrigen wollen um Jemandem Gelegenheit zu geben von sich weniger erbärmlich zu denken, durch den Ausruf: ach die erbärmliche Welt!—denn er dachte von mir augenblicklich so; daß er sich nicht mehr vor mir schämte, es erleichterte ihn sichtlich.

6 [352]

das “doppelte Gelächter” (Epictet) wenn er eine erhabenere Position als er ertragen konnte einnimmt und wieder verläßt. Ach, auch dies wollen wir ertragen, ja wir wollen zum Schein zurückkehren und unseren Mitmenschen zu ihrem Leben Muth machen, dadurch daß wir ihnen Gelegenheit geben, doppelt über uns zu lachen.— Wir wollen unser Ziel auf Umwegen erreichen und, indem wir uns den Anderen nähern, sie täuschen, um ihretwillen.— Die geradlinigen Wege z. B. Christus Napoleon setzen Verachtung der Menschen voraus, wie weit auch die Liebe Ch[risti] zu den Menschen gieng (denn die gnädige Liebe Chr[isti] ist doch fern davon, ein Sünder sein zu wollen um der Sünder willen) [Vgl. Epiktet, Epiktets Handbuch: aus dem Griechischen. Mit erläuternden Anmerkungen von Gottlieb Christian Karl Link. Nürnberg: bei Johann Eberhard Zeh, 1783:32f.]

6 [353]

Eine Umgebung, vor der man sich gehen läßt, ist das Letzte, was man sich wünschen sollte, eine Art Krone für den Überwinder seiner selbst, der sich selber vollendet hat und Vollendung ausströmen möchte. Andere werden zu Scheusälern. Vorsicht in der Ehe. Der Mangel an Pathos und Form in der Familie, in der Freundschaft ist ein Grund der allgemeinen Erscheinung von Schlumperei und Gemeinheit (Eigenschaften des Gebahrens nicht nur sondern auch der modernen Charaktere)—man läßt sich gehen und läßt gehen.

6 [354]

Die eigentliche Unverschämtheit der Güte habe ich am besten bei Juden beobachtet. Man denke an die Anfänge des Christenthums.

6 [355]

Mit den Fürsten der Unterwelt selber habe ich Würfel gespielt.

6 [356]

Skepticismus! Ja, aber ein Scepticismus der Experimente! nicht die Trägheit der Verzweiflung

6 [357]

Die Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und dem immer sündiger gedachten Menschen—einer der größten Kraftversuche der Menschheit. Die Liebe Gottes zum Sünder ist wundervoll. Warum haben die Griechen nicht eine solche Spannung von göttlicher Schönheit und menschlicher Häßlichkeit gehabt? Oder göttlicher Erkenntniß und Menschlicher Unwissenheit? Die vermittelnden Brücken zwischen zwei solchen Klüften wären Neuschöpfungen, die nicht da sind (Engel? Offenbarung? Gottessohn?)

6 [358]

Jeden Augenblick kann eine moralische Empfindung so stark werden, daß sie partielle Unfruchtbarkeit erzeugt z. B. der Trieb nach Wahrheit könnte die Kunst tödten und den geselligen feinen Verkehr, ebenso die Beredsamkeit. Die Keuschheit. Die Freigebigkeit. Der Fleiß. Die Reinlichkeit. (Puritaner gegen das Theater. Xenophon gegen die Agone. Plato

6 [359]

Gesetzt, unsere Cultur müßte die Frömmigkeit entbehren. Sie könnte sie aus sich nicht erzeugen. Eine gewisse letzte innere Entschlossenheit und Beschwichtigung wird fehlen. Mehr als je kriegerische und abenteurerische Geister! Die Dichter haben die Möglichkeiten des Lebens noch zu entdecken, der Sternkreis steht dafür offen, nicht ein Arkadien oder Campanerthal: ein unendlich kühneres Phantasiren an der Hand der Kenntnisse über Thierentwicklung ist möglich. Alle unsere Dichtung ist so kleinbürgerlich-erdenhaft, die große Möglichkeit höherer Menschen fehlt noch. Erst nach dem Tode der Religion kann die Erfindung im Göttlichen wieder luxuriiren.

6 [360]

Eins thut noth: die Isolation der begabten Menschen, ihre Selbsternährung, ihre Abstinenz von Ruf und Amt, die Geringschätzung aller aus großen Menschen-Haufen resultirenden Menschen und Vorgänge. Eine Großstadt-Emeute und -Zeitung ist durch und durch “Schauspiel,” “unecht.”

6 [361]

Unser System angenehmer und unangenehmer Empfindungen verzweigt und verfeinert sich, und unser Gedankenleben auch. Letzteres glaubt lange Zeit das Bewußtsein ganz zu sein und den Grund aller angenehmen und unangenehmen Dinge zu wissen. Naive Leute glauben es noch, daß wir wissen, warum wir wollen. Wir haben auch vor einer Handlung eigentlich nur Möglichkeiten vorzustellen, welche unsere Handlung erklären können, je nach dem Grade unserer Kenntniß von uns: aber was uns bewegt, das wissen wir auch durch die That selber noch nicht, ja nie! Wir interpretiren unsere Handlung vor und nach der That nach dem Kanon unserer Annahmen über menschliche Motive. Diese Interpretation kann das Rechte treffen, aber in der Interpretation selber liegt nichts, was die That wirklich bewegt oder thut. Sich einen Zweck setzen: d. h. einem Triebe ein Gedankenbild entgegenhalten, welches ihn denken soll. Dies ist vollständig nie der Fall! Das Gedankenbild besteht aus Worten, ist etwas höchst Ungenaues, es hat gar keine Hebel, um Bewegungen zu veranlassen—an sich. Nur durch Association, durch eine logisch unzugängliche und absurde Beziehung zwischen einem Gedanken und dem Mechanism eines Triebes (sie begegnen sich vielleicht in einem Bilde z. B. dem eines streng Befehlenden) kann ein Gedanke (z. B. beim Commandowort) eine Handlung “hervorbringen.” Eigentlich ist es ein Nebeneinander. Es ist nichts von Ursache und Wirkung zwischen Zweckbegriff und Handlung, sondern dies ist die große Täuschung, als ob es so wäre!

6 [362]

Wir denken in Worten! Weiß man, was Worte sind, wie kann man glauben, daß Denken Bewegungen direkt hervorbringen kann! Es sind lauter kleine Irrthümer, aber unsere Triebe sind so nahe an dieser Region des Irrthums angelegt, und jedem Triebe entspricht eine Anzahl dieser bunten willkürlichen Dinge genannt “Worte,” daß ein Wort oft ein Signal ist, keine Ursache, zur Bewegung (wie ein Hornton die Lokomotive stehen macht) Je strenger wir erkennen, je fester wir die Worte begrenzen, es sind Bilder auf dem Spiegel, ja Abbilder dieser Bilder! Der Übergang zur Erkenntniß von Ursache und Wirkung ist nie zu machen. Unser Erkennen ist Beschreiben, mehr oder weniger ungenau, das genaue Nacheinander und Nebeneinander, ein Gedächtniß zu einer Art von Bild (einer zeitlosen Einheit) scheinbar vereinigt: — — —

6 [363]

Da hinten im Holze, wo die Bäume noch nichts von der Stadt gehört haben, da fängt der Knabe an, über die Stadt hinweg zu denken.

6 [364]

Unendlichkeit! Schön ist’s “in diesem Meer zu scheitern.” [Vgl. Giacomo Leopardi. Deutsch von Paul Heyse. Th. 1: Nerina. Gedichte. Berlin: Hertz (Besser), 1878:32.]

6 [365]

Alle Triebe ursprünglich relativ zweckmäßig in ihrer Wirkung (“gut” und “böse”). Moral ensteht a) wenn ein Trieb über andere dominirt z. B. Furcht vor einem Gewaltigen oder Trieb zum geselligen Leben. Da müssen schwächere Triebe gespürt, aber nicht befriedigt werden. Die Antworten auf das hier entstehende Warum? sind so roh und falsch wie möglich, aber sie sind Anfang moralischer Urtheile, einen Werthunterschied der Handlungen zwischen nöthig zulässig unzulässig festsetzend. Einen Trieb haben und vor seiner Befriedigung Abscheu empfinden ist das “sittliche” Phänomen. Oder z. B. die Liebe zu den Jungen zum Eigenthum, derentwegen man selber hungert, sich Gefahren aussetzt. Junge und Eigenthum sind etwas so Angenehmes: aber wenn man Gründe wollte, so genügte dies nicht zu sagen “sie sind angenehm”—die Vernunft der Moral ist das Bemühen, die Instinkte zu übersehen und uns den Schein zu geben als ob wir nach Zwecken handelten, also unser Bestes wollten. Thatsächlich ist das Angenehme meistens unser Bestes, aber dies Beste vermochte man nicht zu erfassen, dazu hatte man die Kenntnisse der Natur und des Menschen nicht. Man construirte ein Bestes nach seiner Annahme über Natur und Mensch. Dazu gehört z. B. das Heil der Seele. Oder die Ehre. Oder die Gebote eines Gottes. Der Mensch affektirt überall nach Zwecken zu handeln—diese große Komödie geht durch, er thut “verantwortlich.” Aber zu den Motiven der Instinkte kommen die Zweckbegriffe hinzu und hinterdrein und treffen fast nie den bewegenden Punkt. Die menschliche Maschine würde fast stille stehen, falls sie einmal nur von den vermeintlichen Motiven geleitet werden sollte. Auch jetzt noch ist die Täuschung sehr groß.

6 [366]

Nicht die vergessenen Motive und die Gewöhnung an bestimmte Bewegungen ist das Wesentliche—wie ich früher annahm. Sondern die zwecklosen Triebe von Lust und Unlust, man will das Angenehme und nicht wegen des damit zu erlangenden Vortheils, sondern weil die Handlung selber angenehm ist. Der Zweck wird erreicht, aber nicht gewollt. Die Arten von lustvollen Bewegungen, welche dem Zweck der Erhaltung dienen, sind durch Selektion erhalten.

6 [367]

Wenn er [Richard Wagner] mich sehr bäte oder ich erriethe, daß er meiner sehr bedürfte, ich würde, trotz allem besseren Wissen, auf seine Seite treten. Dies wäre meine Schwäche. Lieber uns im Stiche lassen und die, die unser bedürfen! Und wir sind vieler Verstellung fähig: und folglich auch vieler Umbildung und zweiter Ehrlichkeit.

6 [368]

Empfindet ihr nichts von der Noth, gegen einen Menschen Recht zu haben und es öffentlich zu bezeugen? Wird euch Kritik so leicht? Ist es nur, daß ihr euch aufstellt, nachdem jener sich aufstellte? Merkt ihr nicht, daß er euch sein Bestes geben wollte und daß ihr es annehmen solltet, selbst wenn es euch nicht werthvoll, ja schädlich schiene? Aber ihr thut, als solche die in der Nothwehr leben, ihr habt auch Recht. Mit Mühe haltet ihr euch aufrecht, und jener will euch etwas auflegen, das ihr nicht tragen könntet. Er sagt: ein Geschenk!, ihr sagt: eine Aufgabe

6 [369]

Das Leben von euch Beamten und Politikern hat etwas Rauschendes, ein Bad und Mühlenräder tönen um euch, sie machen mit ihrem Lärm euer Denken kraftlos: wie wollt ihr noch eurer Seele Melodien hören! Ihr werdet hohl und hart: und oberflächlich! Und eure “Pflicht” wird zum Schrecken für Andere und führt sie irre, es scheint ein edles Selbstopfern, aber es ist nur eine Selbstvergeßlichkeit; von dem Augenblick an, wo das bischen “Selbst” eben sichtbar werden wollte: mehr Nachlässigkeit als Opfer.

6 [370]

In Anbetracht, daß jagen die Hauptbeschäftigung war, viele Jahrtausende: so ist auch unser wissenschaftlicher Trieb nichts anderes. Wie Knaben immer auf der Jagd sind.

6 [371]

Wenn ich von Bosheiten Anderer gegen mich höre, so ist eine meiner nächsten Empfindungen eine Art Genugthuung: es scheint mir billig, daß Leute, mit denen ich so wenig übereinstimme, und gegen die ich so viel Recht auf meiner Seite habe, ihrerseits sich einen guten Tag machen. Auch glaube ich es nie an Handlungen und Gedanken fehlen zu lassen, welche diesen Anderen das Gefühl ihrer eigenen Überlegenheit und ein gutes Recht auf dies Gefühl geben. Denn so ist die Natur der Dinge: wir machen mit unseren Fehlern und Versehen viel Freude und vielleicht mehr.

6 [372]

Vor diesem Menschen und beim Denken an ihn fühlen wir Produktivität ebenso bei dieser Landschaft usw., nach dieser Nahrung.

6 [373]

Wenn wir einen Zweck verfolgen, so würden wir nie mit voller Energie die Mittel handhaben; aber unsere Instinkte geben uns die nöthige Blindheit. Alle Männer des Glaubens sind solche Instinktive, ihr Glaubensartikel ist nicht aus Gründen entstanden: sondern sie haben innerliche unberechenbare Freude an ihm. Die Neigung zu Gedanken wird vererbt und angezogen d. h. zu Gedankentrieben. [Vgl. Georg Heinrich Schneider, Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre. Leipzig: Abel, 1880:147-149, 292-294, 412-415.]

6 [374]

Der Mensch handelt immer nach der ihm verhältnißmäßig angenehmsten Vorstellung. Aber diese Rechnung ist oft sehr schwer, und die Übung im Unterscheiden der zahllosen Grade zu gering, namentlich da die Phantasie die Kraft haben müßte, zukünftige Freuden und Leiden als voll anzusetzen, gleich dem gegenwärtigen Genuß, der vielleicht schon in Aktivität ist.

6 [375]

Wenn ich über Motive bestimmter Personen rede, so ist es eine Ehrensache für mich. NB.

6 [376]

Ich will den Leuten keine neue große Last auflegen, sondern ihnen eine Last abnehmen NB

6 [377]

So wenig als möglich Staat! Ich bedarf des Staates nicht, ich hätte mir, ohne jenen herkömmlichen Zwang, eine bessere Erziehung gegeben, nämlich eine auf meinen Leib passende, und die Kraft gespart, welche im Sichlosringen vergeudet wurde. Sollten die Dinge um uns etwas unsicherer werden, um so besser! ich wünsche, daß wir etwas vorsichtig und kriegerisch leben. Die Kaufleute sind es, die uns diesen Ohne-Sorgenstuhl Staat so einladend machen möchten, sie beherrschen mit ihrer Philosophie jetzt alle Welt. Der “industrielle” Staat ist nicht meine Wahl, wie er die Wahl Spencer’s ist. Ich selber will so viel als möglich Staat sein, ich habe so viele Aus- und Einnahmen, so viele Bedürfnisse, so viel mitzutheilen. Dabei arm und ohne Absicht auf Ehrenstellen, auch ohne Bewunderung für kriegerische Lorbeeren. Ich weiß, woran diese Staaten zu Grunde gehen werden, an dem Nonplusultra-Staat der Socialisten: dessen Gegner bin ich, und schon im jetzigen Staate hasse ich ihn. Ich will versuchen, auch im Gefängniß noch heiter und menschenwürdig zu leben. Die großen Jammerreden über menschliches Elend bewegen mich nicht, mitzujammern, sondern zu sagen: das fehlt euch, ihr versteht nicht als Person zu leben und habt der Entbehrung keinen Reichthum und keine Lust an der Herrschaft entgegenzustellen. Die Statistik beweist, daß die M[enschen] zunehmen im Gleichwerden d.h. daß —

6 [378]

Um den Menschen umzubilden: müssen wir einmal davon ausgehen, daß unsere Werthschätzung von guten und bösen Handlungen falsch und willkürlich ist, alles muß neu untersucht werden, Jahrhunderte lang, wie es zur Heilung des Körpers noth that, alle Theorien der Medizin gleichmäßig zu verwerfen! Die Instinkte auf diesem Gebiete sind zu entwurzeln, zunächst ist Achtung für den zu pflanzen, welcher hier auf Versuch lebt—es ist die wichtigste Gattung von Menschen, wie für den Arzt das Versuchsthier die wichtigste Gattung von Thier ist.

6 [379]

1) Es ist so schwer den Menschen wehe zu thun! O daß es nöthig ist! Was nützt es mir, mich zu verbergen, wenn ich nicht für mich behalten will, was den Menschen Ärgerniß giebt?

6 [380]

An unseren größten Qualen und Sorgen andere theilnehmen lassen, die dieselben nicht haben, sondern nur leiden machen—ist das nicht grausam? Ist es nicht aus jenem Gefühle entsprungen, welches bei allem Schlimmen was uns trifft, etwas leidend sehen will, eine feine Emanation der Rache? Und ist also nicht die Ehe und die Freundschaft voller Gefahr, weil sie solche Grausamkeit der Übertragung von Leid fördert? Es ist schwer, ein Leid nicht mitzutheilen—also sollten wir uns die Gelegenheit dazu nehmen und in der Einsamkeit leben.

6 [381]

Ich finde Schopenhauer etwas oberflächlich in seelischen Dingen, er hat sich wenig gefreut und wenig gelitten; ein Denker sollte sich hüten, hart zu werden: woher soll er dann sein Material bekommen? Seine Leidenschaft für die Erkenntniß war nicht groß genug, um ihrethalben leiden zu wollen: er verschanzte sich. Auch sein Stolz war größer als der Durst nach Erkenntniß, er fürchtete für seinen Ruf, im Widerrufen.

6 [382]

Bisher gab es Verherrlicher des Menschen und Verunglimpfer desselben, beide aber vom moral[ischen] Standpunkte aus. La Rochefoucauld und die Christen fanden den Anblick des Menschen häßlich: dies ist aber ein moralisches Urtheil und ein anderes kannte man nicht! Wir rechnen ihn zur Natur, die weder böse noch gut ist und finden ihn dort nicht immer häßlich, wo ihn jene verabscheuten, und da nicht immer schön, wo ihn jene verherrlichten. Was ist hier schön und häßlich? Das Complicirt-Zweckmäßige, was den Verstand irrt und überlistet, das Taschenspielerhafte daran; dann die Ausdrucksfähigkeit und die Macht des Ausdrucks selber: der große Bogen seiner Pläne und Ideale. Seine Geschichte . Seine Art sich zu berauschen. Es ist ein Studium ohne Ende, dieses Thier! Es ist kein Schmutzfleck in der Natur, das haben wir erst hinein gelegt. Wir haben diesen “Schmutz” zu oberflächlich behandelt. Es gehören Niederländer-Augen dazu, auch hier die Schönheit zu entdecken.

6 [383]

Antike Merkmale: die Freundschaft, die Orakel, die Sklaven, otium, keine Sündengötter und keine gesellschaftliche Scham. Thukydides ist mir der Typus, der mir am nächsten steht: er hat die Freude an den Typen, findet, daß zu jedem Typus ein Quantum von guter Vernunft gehört, und sucht dies zu entdecken: das ist seine praktische Gerechtigkeit.

6 [384]

Auch wenn ich mir Wort für Wort überlege, was ich sagen will und es nachher mit vollem Bewußtsein thue, so ist doch das Gesprochene hundertfältig reicher und anders (z. B. im Tone, in den Pausen, in den begleitenden Gebärden), und das Überlegte daran ist ein kleiner Theil davon. Was ist denn nun das Unüberlegte davon, das Improvisirte?

6 [385]

Großer Unterschied: einem Anderen gefallen wollen, um jenes willen oder um unsertwegen. Etwas um seinetwillen lieben—warum moralisch?

6 [386]

Der Selbstmord als Maßstab der Cultur: deutsch. Der Verbrauch der Seife: englisch.

6 [387]

Manche mögen sagen und schreiben, was sie wollen—es ist immer etwas darin von guter Musik. Und bei anderen etwas von schlechter. Bei den Meisten fehlt alle Musik.

6 [388]

Die feinsten Farben in Litteratur und Musik sind nur beruhigten Menschen sichtbar und voller Lust—was wollen sie in unserer Zeit!

6 [389]

Das Widerwärtige wird jetzt sehr genau gemalt—warum?— Dahin gehört auch der Pessimismus. Nicht Entartung der Sitten, sondern Überbeschäftigung ist der Grund.

6 [390]

Man leidet an der Schande, nicht am Verbrechen. Wenige sind so fein, hierzu unterscheiden.

6 [391]

Das Bedürfniß zu beten, auch das des Bußredens, Lobpreisens, Segnens, Fluchens, alle religiösen Gewohnheiten brechen heraus, sobald ein Mensch pathetisch wird: zum Beweis, daß pathetisch werden heißt eine Stufe zurück treten. Wann sind wir davon am entferntesten? Wenn wir spielen, Geist zeigen, und austauschen, freudig-heiter sind und schalkhaft dabei, im Scherz über alles Emphatische in Wort, Ton, Trieb—vielleicht erreichen wir hier einen Vorsprung über unsere Zeit. Der heroische Mensch, der vom Kampf und den Strapatzen und dem Hasse ausruht und sich des Pathos schämt—und dort der Priester!

6 [392]

Der moralische Fanatism der antiken Philosophen hat dem Christenthum vorgearbeitet, es ist viel zu viel Werth auf das Heil der Seele gelegt worden. Wir sind tief unmoralisch im Verhältniß zum Alterthum, und das ist unser Vorzug. Und tief unreligiös gegen das Christenthum.

6 [393]

Die Naturen, welche überhaupt nicht über sich denken, namentlich aber gewisse Dinge an sich nicht ins Auge fassen mögen (Frauen z. B. schon die Thätigkeit des Magens nicht, geschweige den Geschlechtstrieb)—diese deuten sich alle Phänomene anders und wollen den einfachen Grund nicht sehen und nicht zugeben. So erlangt ihre Passion etwas Träumerisches und für sie selber Mystisches, sie unterliegen ihr viel eher und heftiger, weil sie idealistisch von sich denken. Was wissen unvermählte Frauen von dem abartenden Geschlechtstrieb, in ihrer Leidenschaft für die Kunst und gewisse Richtungen derselben, oder im Mitleid oder in der Art von blinder Hingebung an einen Gedanken!

6 [394]

Die Liebe Gottes zum Menschen ist die Ausschweifung des Gedankens von ungeschlechtlich lebenden Menschen, dem Alterthum konnte so etwas nicht einfallen.

6 [395]

Die vollkommene Zufriedenheit (Epiktets, und Christus ebenso!) mit allem, was geschieht—denn alles kann er benutzen. Der Weise benutzt es als Werkzeug, nur für die Unweisen giebt es Übel. Die Consequenz wäre freilich, daß die Welt dem Weisen keine Milderung des Übels, keine Beseitig[ung] verdankt. Er begreift das Übel als Übel nicht—das die Folgen der Lehre vom freien Willen! von der absol[uten] Seele!

6 [396]

Das Alterthum schließt mit einem moralischen und religiösen Quietismus—das müde Alterthum und das Individuum allmächtig und einzig sich wichtig haltend, es legt die Ereignisse aller Welt zu seinem Heil aus, alles was geschieht, hat für es Sinn. Es ist die Astrologie, auf Staaten, Naturereignisse, Umgang und den Ziegel auf dem Dach bezogen: alles hat nur für das Individuum einen Sinn, den dies finden kann, davon abgesehen ist es der Aufmerksam[keit] des Weisen unwürdig. Die moralisch-religiöse Benutzung und Ausdeutung des Geschehens—alles andere wurde gleichgültig und verächtlich. Der wissenschaftliche Sinn unterlag!

6 [397]

Erhebt euch und geht, Freunde, schon viel zu lange habt ihr mich reden lassen. Der Wind wird kühler und lebhafter, das Gras auch—diese stille Höhe zittert, und es geht gen Abend. Geht und thut sofort, ich bitte euch, wenn ihr in das Thal kommt, eine kleine Thorheit, damit alle Welt sehe, wessen ihr hier von mir belehrt seid.

6 [398]

Man wird von seinen Meinungen über die Leidenschaften mehr gequält als von den Leidenschaften selber.— Wo die Menschen nicht den Zweck eines Triebes als nothwendig zur Erhaltung mit Händen greifen, wie beim Koth- und Urinlassen, Nahrungnehmen usw., da glauben sie ihn als überflüssig beseitigen zu können z. B. den Trieb zu neiden, zu hassen, zu fürchten. Und das Nicht-loswerden-können betrachten sie als ein Unrecht, mindestens Unglück: während man so bei Hunger und Durst nicht denkt. Er soll uns nicht beherrschen, aber wir wollen ihn als nothwendig begreifen und seine Kraft zu unserem Nutzen beherrschen. Dazu ist nöthig, daß wir ihn nicht in seiner ganzen vollen Kraft erhalten, wie einen Bach, der Mühlen treiben soll. Wer ihn nicht ganz kennt, über den fällt er her, wie nach den Winterzeiten ein Gebirgsbach zerstörend herunterkommt.

6 [399]

Wir können unseren Leidenschaften ein höheres Leben geben, wenn wir ihre direkten Entladungen verhindern. Aber mitunter ist es ekelhaft z. B. beim Geschlechtstrieb.

6 [400]

Die Thatsache war, daß im griechisch-römischen Alterthum der Mensch an seinen Leidenschaften wie an seinen unrechten Handlungen nicht intensiv genug litt, es war zumeist das Leiden von der Art, wie man sagt “wie dumm war ich, dies zu thun!” Etwas dem Sündengefühle Ähnliches konnte nur bei Philosophen entstehen, auf Grund von der reinen göttlichen Seele und deren Verunreinigungen: nicht nur eine Dummheit und ein wirklicher Nachtheil, sondern ein Gefühl der Erniedrigung und Beschmutzung, eine Beleidigung einer erhabenen Vorstellung von uns. Seine Meinung über die Leidenschaften und das Böse verstörte den Philosophen, nicht so sehr die üblen Folgen. Aber alles ging auf Einem Gleise vorwärts in dieser Richtung, das Christenthum brachte den stärksten Ausdruck, indem es die wirklichen Folgen ganz außer Acht ließ und beinahe als indifferent behandelte. Also die Wirkung des Handelns selber für das Organ des Handelns. Das Ideal Epiktets: sich selber wie einen Feind und Nachsteller immer im Auge haben: der kriegerische Einsiedler, der ein kostbares Gut zu vertheidigen und vor Verderbniß zu wahren hat, nachdem er es errungen hat. Nicht auf die Menschen giebt er Acht, er glaubt sie zu kennen, er hat von dem Interesse des Individuellen keine Ahnung: sie sind die Schatten, das Wahre in ihnen sind ihre Gedanken und Triebe, welche er philosophisch rubrizirt hat. In dieser Geisterwelt lebt er und kämpft seinen Kampf. Er hat nur Freude als Krieger. Ebenso hat das Christenthum keinen Genuß am Menschen. Wir aber rechnen ihn wieder zur Natur und genießen die Natur: wir sind nicht nur gerecht gegen alle Natur, wir finden sie reich, erstaunlich, unerkannt, forschungswürdig. Der Roman und die psychologische Beobachtung aus Lust am Menschen ist unser! Wir verzeihen uns viel mehr, wir verachten uns viel weniger, wir wünschen vieles nicht weg, wenn wir gleich gelegentlich daran leiden. Wir mögen die entsetzliche Simplifikation des tugendhaften Menschen nicht: so wenig wir nur fruchtbare Felder wollen.

6 [401]

Wir können nur die Charaktere begreifen, die wir aus uns bilden können, und nur so viel von ihnen. Wie unser Auge nur sehen kann, wozu es sich geübt hat.

6 [402]

Ich sehe einen Baum und halte es für ein Kind. Ich sehe Gesichtszüge ganz deutlich im Gespräch, aber ich imaginire sie in dieser Schärfe.

6 [403]

Eine Trivialität, die diesem Jahrhundert eigen ist: Gott ist nicht damit zu beweisen, daß einer die Guten belohnen, die Bösen bestrafen muß. Daran, daß dies nöthig sei, glaubt niemand (wie noch Kant) Über Gerechtigkeit denken wir anders.

6 [404]

seinen guten Glauben heirathen

6 [405]

Wer sein höheres Selbst nicht angehört hat, sondern der Gesellschaft dient oder einem Amte oder seiner Familie, der spricht immer von “Pflichterfüllung”—damit sucht er sich zu beschwichtigen. Namentlich aber fordert er von den Anderen den Gehorsam gegen die bestehende Ordnung: er rechtfertigt sich, indem er Gewalt vermöge seiner Handlungsart ausübt.

6 [406]

Der neue Gedanke entzückt mich, ich verlerne immer mehr zu empfinden, daß er von mir oder einem anderen ist. Wie albern hierin eifersüchtig zu sein! Und doch welche furchtbare Geschichte für die Verdunkelung des Wahren hat diese Eifersucht!

6 [407]

Die Menschen mit der Maske, die sogenannten Charaktere, die sich nicht schämen, ihre Maske zu zeigen.

6 [408]

2) Durch nachgiebiges Wohlwollen vor sich wieder gut machen, daß man ein großes anmaaßliches Ziel verfolgt: und eitel mit den Eiteln, verliebt mit den Verliebten, häuslich mit den Häuslichen und schwärmerisch mit den Schwärmern sein. An den Einzelnen es sühnen, was wir an Allen sündigen, durch Abweichen, Wehe thun usw. Ja es gern sehen, wenn die Menschen an uns ihre Rache nehmen—es ist billig bei einem solchen übermüthigen Grade von Abweichung.

6 [409]

Ehemals bewies man die Unfreiheit des Willens durch den Hinweis auf die Wahrsager. Dies hat die Lehre in Mißkredit gebracht, als die W[ahrsager] in M[ißkredit] kamen.

6 [410]

Wir verstehen von einem uns fremdartigen Wesen eben nur die Eindrücke, die seine Form auf uns hinterläßt: also wir erleben eine Formveränderung an uns und dieses Negativum verstehen wir als Positiv: wir nennen z. B. den, welcher uns schädlich ist, böse.

6 [411]

Wie grausam wir unsere paar Tugenden den anderen Menschen anrechnen und sie auf diesem Punkte zwicken und plagen! Ich will’s auch mit dem Sinn für Wahrheit menschlich treiben NB. Sobald wir es mit ihm übertreiben und ihn wie im Treibhaus schnell wachsen lassen, so verdirbt uns das Leben, und die Menschen werden uns ekelhaft, ja wir uns selber!

6 [412]

Ursache und Wirkung sind für uns unbegreiflich, weil beide nur als negative Abbilder uns bewußt werden und zwischen denen giebt es nur Succession. Aus solchen Successionen besteht der “Körper” “das Ding.” Wir nehmen keine Bewegung wahr, sondern mehrere gleiche Dinge in einer gedachten Linie, wir nehmen auch keine Zeitdauerlinie wahr, sondern unsere Empfindung hat bewußte Momente (getrennt von einander) und diese fügen wir aneinander, legen sie an sich und bauen so einen bestehenden dauernden Körper aus einzelnen Empfindungen. Aber wie das gleiche Ding in der Bewegung eine Illusion ist, also die Bewegung, welche wir construiren, jedenfalls etwas anderes ist als die “Wirklichkeit” so ist auch dies Gebilde aus mehreren negativen Eindrücken auf uns construirt und zurechtphantasirt, jedenfalls etwas anderes als die Wirklichkeit. Es kann nicht vollständig sein, denn es besteht nur aus Relationen zu uns, und das an uns, wozu es keine Relationen haben kann, verhindert einen vollen Abdruck Selbst als Abbild ist es nicht vollständig. Sodann hat es zur Voraussetzung, daß das Ding in diesem Augenblick, wo es einen Eindruck auf uns macht, dasselbe Ding ist, welches in einem anderen Augenblick (im “nächsten”—sagen wir, und täuschen uns) wieder einen neuen Eindruck d. h. eine zweite Relation auf uns macht. Ein Baum der lang, dann rund, dann grün usw. erscheint.

6 [413]

Der Raum von drei Dimensionen gehört in die Vorstellung, ebenso wie die Bewegung, die dritte Dimension “vollendet sich nur in der Zeit.” Wir verbinden Flächen zu einer Einheit, die uns nach einander sichtbar werden. Wir selber als erkennende Wesen sind eine immer neue rotirende Kraft und bringen so ein Nacheinander hervor, auch bei festen Objekten.

Wir sind die Bewegten, welche sich um die Dinge bewegen: wir stehen nicht still, das Umgekehrte ist wahr von dem, was der Augenschein ist.

6 [414]

“Seien wir nur natürlich! Die Natur ist böse—um so mehr macht sie Effekt”—so denken die Großen, die alle unverschämt sind!

6 [415]

Wie schwach ist die Verantwortlichkeit bei indirekten oder entfernten Wirkungen! Dagegen fällt die nahe Wirkung furchtbar über uns her, und was um uns geschieht, das macht uns ein Gefühl des Schuldtragens, auch wenn wir nichts dazu können. Optik!

6 [416]

Sobald wir die Gerechtigkeit zu weit treiben und den Felsen unserer Individ[ualität] zerbröckeln, unsern festen ungerechten Ausgangspunkt ganz aufgeben, so geben wir die Möglichkeit der Erkenntniß auf: es fehlt dann das Ding, wozu alles Relation hat (, auch gerechte Relation) Es sei denn, daß wir alles nach einem anderen Individ[uum] messen, und die Ungerechtigkeit auf diese Weise erneuern—auch wird sie größer sein (aber die Empfindung vielleicht reiner, weil wir sympathisch geworden sind und im Vergessen von uns schon freier)

6 [417]

sie verstecken sich ins Innere und ihr Äußeres wird maskenhaft und wie gelähmt. Ah der Blick—ganz Oberfläche, kalt.

6 [418]

Wir erkennen nur die negative Seite aller wirkenden Dinge, gleichsam wie den Abdruck und Eindruck derselben auf uns: nicht das Wesen dieser Dinge, sondern unsere Natur allein in einer bestimmten Hemmung und Begrenzung.

6 [419]

Ein anderer Mensch wird von uns nicht anders verstanden als durch die Hemmung und Beschränkung, die er auf uns ausübt d. h. als Abdruck in das Wachs unseres Wesens. Wir erkennen immer nur uns selber, in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung; manche Menschen wirken nicht auf uns, weil hier unser Wachs zu hart ist oder zu weich. Und zuletzt erkennen wir die Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr.

Ebenso steht der “Mensch an sich” zu allen eterogenen Dingen: sie drücken ihre Form an ihm ab, so weit er sie annehmen kann, und er weiß nichts von ihnen, als durch die Veränderung seiner Form.

6 [420]

Die Zeitdauerempfindung wie die Raumempfindung des Menschen ist gewiß von der jedes Thiers verschieden, ja hierin wird jeder Mensch von jedem Menschen verschieden sein. Eine Stunde ist nie gleich einer anderen Stunde in einem anderen Kopfe: ja auch nie für uns selber wieder. Aber auch die Durchschnittsempfindung einer Stunde ist für jeden Menschen anders! und für alle Menschen zusammen anders als für eine Ameise.

6 [421]

Der gute Gedanke ist nur eine Ausnahme, die meisten originellen Gedanken sind Narrheiten. Die gewohnten Gedanken sind deshalb so hoch geachtet, ja zur Pflicht gemacht, weil sie eine Art Bewährung haben, mit ihnen ist der Mensch nicht zu Grunde gegangen. Dies “nicht zu Grunde gehen” gilt als der Beweis für die Wahrheit eines Gedankens. Wahr heißt “für die Existenz des Menschen zweckmäßig.” Da wir aber die Existenzbedingungen des Menschen sehr ungenau kennen, so ist, streng genommen, auch die Entscheidung über wahr und unwahr nur auf den Erfolg zu gründen. Woran ich zu Grunde gehe, das ist für mich nicht wahr d. h. es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es giebt nur individuelle Wahrheiten—eine absolute Relation ist Unsinn. Die Art zu denken, die Anspannung und Häufigkeit, die Gegenstände, das Nichtsehenkönnen, Nichtfühlen vieler Dinge alles ist eigentlich eine Bedingung unserer Existenz. Jeder Fehler ist ihr schädlich. Meistens also machen wir Fehler, meistens sind wir fortwährend irgendwie krank durch unser Denker, wir können ja nur experimentiren, und das ganz individuell uns Nothwendige im Erkennen ist die Ausnahme.

6 [422]

Das Wahre an einem historischen Ereigniß: alles geht in Köpfen vor sich, die sich gegenseitig falsch und unvollständig sehen.

6 [423]

Niemals Jemandes Sünden mittheilen! Aber unseren Verkehr abbrechen!

6 [424]

Was an uns bemerkbar ist, das wächst oder verwelkt unter dem Einflusse des Lichtes das von den anderen Menschen auf uns strahlt: gleichsam als ob die Augen der Menschen für uns nothwendige Wärme- und Lichtquellen wären. Als bemerkbar und bemerkt, regulirt sich das Wachsthum nach den Anderen z. B. unsere Haltung Miene.— Dann was wir bemerken, aber andere nicht wissen können!—und endlich das, was auch wir nicht bemerken! Die Grenzen sind verschieden, vieles ist mir im Licht, was anderen im Dunkel ist und entwickelt sich folglich anders, z. B. Religiosität, Sinn für Wahrheit, Sympathie, Laster. Vgl. Karl Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere. Th. 1. Leipzig: Brockhaus, 1880:86ff.; 123ff.]

6 [425]

Während einer Sonnenfinsterniß fallen die Tagthiere rasch in Schlaf. [Vgl. Karl Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Thiere. Th. 1. Leipzig: Brockhaus, 1880:93.]

6 [426]

Die Nachtthiere werden erst beim Eintreten der Dunkelheit munter. Sie, haben so gut entwickelte Augen wie die Tagthiere. Warum fliegen sie nur in der Nacht herum? Die Thiere hängen vom Lichte ab durch Vermittlung der Augen.

6 [427]

“Es war Mode, daß die jungen Frauen, wenn sie Voltaire begegnen, erbleichen, sich aufregen, gerührt und selbst unwohl werden, sich ihm in die Arme werfen, stammeln, weinen, kurz in einen Zustand gerathen, der der leidenschaftlichsten Liebe ähnelt.” Huldigen! [Vgl. Hippolyte Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich. Autor. deutsche Bearb. von Leopold Katscher. Bd. 1. Das vorrevolutionäre Frankreich. Leipzig: Günther, 1877:161. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Hippolyte Taine.]

6 [428]

Die Aneignung der Vergangenheit—wie viel Sympathie, Leidenschaft, Selbstvergessen, ja Selbstverachtung ist nöthig, um die Seele der Vergangenheit wieder entstehen zu lassen! Es ist ein Anfang, es ist eine Schwärmerei dabei, viel Trotz und Fanatism. Voran die Deutschen—worauf weist es!— Zu vergleichen die Reformation Luthers (ebenfalls Historie!): Widerwille gegen die Vernunft, die Helligkeit, das Pietätlose, Traditionslose, gegen den Mangel an festem Halt.

Aber die Historie, aus dem genannten Motiv betrieben, bringt eine ungewollte Wirkung! Die Vergangenheit bewies nicht, was man suchte!

6 [429]

Alle die Relationen, welche uns so wichtig sind, sind die der Figuren auf dem Spiegel, nicht die wahren. Die Abstände sind die optischen auf dem Spiegel, nicht die wahren. “Es giebt keine Welt wenn es keinen Spiegel giebt” ist Unsinn. Aber alle unsere Relationen, mögen sie noch so exakt sein, sind Beschreibungen des Menschen, nicht der Welt: es sind die Gesetze dieser höchsten Optik, von der uns keine Möglichkeit weiter führt. Es ist nicht Schein, nicht Täuschung, sondern eine Chiffreschrift, in der eine unbekannte Sache sich ausdrückt,—für uns ganz deutlich, für uns gemacht, unsere menschliche Stellung zu den Dingen. Damit sind uns die Dinge verborgen.

6 [430]

Die Fliege die nicht durch das Glas kann

6 [431]

Wir sehen den Spiegel nicht anders als die darauf sich spiegelnde Welt.

6 [432]

Der Mensch verhüllt uns die Dinge.

6 [433]

Auf diesem Spiegel geht es regelmäßig zu, ein Ding folgt immer wieder auf das andere—wir nennen’s Ursache und Wirkung, aber begreifen können wir nichts, weil wir die Bilder der Ursache und der Wirkung allein sehen.

Wir reden, als ob es seiende Dinge gebe, und unsere Wissenschaft redet nur von solchen Dingen. Aber ein seiendes Ding giebt es nur nach der menschlichen Optik: von ihr können wir nicht los. Etwas Werdendes, eine Bewegung an sich ist uns vollen[d]s unbegreiflich. Wir bewegen nur seiende Dinge—daraus besteht unser Weltbild auf dem Spiegel. Denken wir uns die Dinge fort, so auch die Bewegung. Eine bewegte Kraft ist Unsinn—für uns.

Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir nichts als Dinge. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf nichts als den Spiegel.

Unser Denken ist wirklich nichts als ein sehr verfeinertes zusammengeflochtenes Spiel des Sehens Hörens Fühlens, die logischen Formen sind physiologische Gesetze der Sinneswahrnehmungen. Unsere Sinne sind entwickelte Empfindungscentra mit starken Resonanzen und Spiegeln.

6 [434]

Wenn wir beachten, zu welchen Irrungen uns die Sinne am liebsten verführen, können wir errathen, welcher Art ihre Grundirrthümer sein werden (z. B. der Glaube an Körper

6 [435]

Ein Spiegel, auf dem die Dinge nicht als Flächen sondern als Körper sich zeigen.

6 [436]

Der Enthusiasmus nimmt sich bei denen ganz anders aus, welche sich vergessen müssen, um glücklich zu sein—Selbstentäußerung. Die Übung des Bewußtseins ist bei ihnen dem Glücksgefühl entgegengesetzt und sie nehmen an, daß der Verstand und die Gluth der Empfindung sich ausschließen. Mit scharfen Adlersaugen sich aufschwingen—das können sie nicht, sie wollen Blindheit, Überwältigtsein!

6 [437]

Wir wähnen, allmählich stelle sich die Wahrheit fest—aber nur der Mensch in seiner Relation zu anderen Kräften stellt sich fest. Er bildet sich die Fülle der Relationen aus: d. h. die Fülle von Beschränktheiten und Irrthümern. Es sind keine absoluten Irrthümer, sondern von der Art der optischen. Wir fördern die Wissenschaft? nein, den Menschen! er wird fester dauerhafter dadurch.

6 [438]

Wäre nach irgend einem Moralsystem streng gelebt worden, so wäre die Menschheit zu Grunde gegangen. Ebenso am Christenthum. Wir leben auch durch die Unmoralität.

6 [439]

Wir thun nicht mehr mit der Erkenntniß als die Spinne mit Netz und Jagd und Aussaugen: wir stellen unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung fest, dazu gehören Sonne Sterne und Atome, es sind Umwege zu uns, ebenso die Ablehnung eines Gottes. Auf die Dauer leiden wir Schaden an jeder fehlerhaften Relation (Annahme einer Relation) Deshalb hat an sich unsere Erkenntniß keinen Werth: es sind lauter optische Gesetze (gleichnißweise) Der Mensch selber, in seinem Raum von 5 Fuß Länge, ist eine willkürliche Annahme, auf Schwäche der Sinnesorgane hin construirt.

6 [440]

Das Nachbilden (Phantasiren) wird uns leichter als das Wahrnehmen, Nur-percipiren: weshalb überall wo wir meinen, bloß wahrzunehmen (z. B. Bewegung) schon unsere Phantasie mithilft, ausdichtet und uns die Anstrengung der vielen Einzelwahrnehmungen erspart. Diese Thätigkeit wird gewöhnlich übersehen, wir sind nicht leidend bei den Einwirkungen anderer Dinge auf uns, sondern sofort stellen wir unsere Kraft dagegen. Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus.

6 [441]

Unser Erkennen und Empfinden ist wie Ein Punkt im Systeme: wie Ein Auge, dessen Sehkraft und Sehfeld langsam wächst und mehr umfaßt. Damit ändert sich nichts in der wirklichen Welt, aber diese beständige Thätigkeit des Auges versetzt alles in eine beständige wachsende herzuströmende Thätigkeit

Wir sehen unsere Gesetze in die Welt hinein und wiederum können wir diese Gesetze nicht anders fassen als die Folge dieser Welt auf uns. Der Ausgangspunkt ist die Täuschung des Spiegels, wir sind lebendige Spiegelbilder.

Was ist also Erkenntniß? Ihre Voraussetzung ist eine irrthümliche Beschränkung, als ob es eine Maaßeinheit der Empfindung gebe; überall wo Spiegel und Tastorgane vorkommen, entsteht eine Sphäre. Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntniß auch weggedacht—ein Auffassen von “absoluten Relationen” ist Unsinn. Der Irrthum ist also die Basis der Erkenntniß, der Schein. Nur durch die Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins.— Ebenso ist die Sprache eine angebliche und geglaubte Basis von Wahrheiten: der Mensch und das Thier bauen zunächst eine neue Welt von Irrthümern auf und verfeinern diese Irrthümer immer mehr, so daß zahllose Widersprüche entdeckt werden und dadurch die Menge der möglichen Irrthümer verringert wird, oder der Irrthum weiter getrieben wird. “Wahrheit” giebt es eigentlich nur in den Dingen, die der Mensch erfindet z. B. Zahl. Er legt etwas hinein und findet es nachher wieder—das ist die Art menschlicher Wahrheit. Sodann sind die meisten Wahrheiten thatsächlich nur negative Wahrheiten “dies und das ist jenes nicht” (obschon meist positiv ausgedrückt.) Letzteres ist die Quelle alles Fortschrittes der Erkenntniß. Die Welt ist also für uns die Summe der Relationen zu einer beschränkten Sphäre irriger Grundannahmen. Die Gesetze der Optik sind sämtlich Irrthümer, ebenso die des Ohrs. Gesetzt, es giebt zahllose empfindende Punkte in dem Dasein: jeder hat eine Sphäre, wie weit und wie stark er Relationen wahrnimmt, d. h. eine Sphäre der Beschränktheit und des Irrthums. Ebenso hat jede Kraft ihre Sphäre, sie wirkt so weit und so stark und nur auf das und jenes, auf anderes nicht, eine Sphäre der Beschränktheit. Ein eigentliches Wissen um alle diese Sphären und Beschränktheiten ist ein unsinniger Gedanke, weil hier ein Empfinden ohne ein “wie weit” “wie stark” “auf dies und jenes” gedacht werden soll: und ebenso eine Kraft ohne Grenzen, und zugleich mit allen Grenzen, die alle Relationen schafft—das wäre eine Kraft ohne bestimmte Kraft, ein Unsinn.— Also die Beschränktheit der Kraft, und das immer weiter in Verhältniß Setzen dieser Kraft zu andern ist “Erkenntniß.” Nicht Subjekt zu Objekt: sondern etwas Anderes. Eine optische Täuschung von Ringen um uns, die gar nicht existiren, ist die Voraussetzung. Erkenntniß, ist wesentlich Schein.

6 [442]

Unsere Handlungen sind, da wir Skeptiker sind, Experimente, Rechnungen mit einigen unbekannten Größen—also sehr interessant, weil es nicht alberne Äußerungen unserer Macht sind, die, wenn sie mißrathen, uns ärgern, sondern Versuche, irgend worüber einen Aufschluß zu erhalten, durch den Erfolg. Wir lassen uns weder durch unsere Handlungen noch durch unsere Erfolge tyrannisiren.

6 [443]

Bei dem nimmt sein wohlwollender Trieb zu, wenn sein Gefühl der Macht zunimmt: seine Freudigkeit und seine größere Verantwortung machen ihn ausspähend nach guten Handlungen.

6 [444]

Wir glauben Alle, in der Empfindung des Neides, Hasses usw. zu wissen, was Neid Haß usw. ist—ein Irrthum! ebenso im Denken: wir glauben zu wissen, was Denken ist. Aber wir erleben einige Symptome einer uns wesentlich unbekannten Krankheit und meinen, hierin eben bestehe die Krankheit. Alle moralischen Zustände bemessen und nennen wir nach dem, was wir dabei bewußt empfinden—und auch dies nicht fein, sondern ganz grob.— Nun haben wir gelernt, daß wir das Wollen nach Zwecken fundamental mißverstehen. Es ist also auch möglich, daß wir alle moralischen Affekte mißverstehen; daß wir die Symptome schon falsch auslegen, nämlich nach den Vorurtheilen der Gesellschaft, welche ihren Nutzen und Schaden im Auge hat.

6 [445]

Moralische Zustände sind physiologische Zustände—deutlich z. B. bei der Liebe. Fast alle wesentlich angenehm, wesentlich nöthig für den Organismus des Einzelnen.

6 [446]

Die Liebe, die auf Einen ablegt, was Vielen zukommt, ist trotzdem verherrlicht, als antiegoistische Macht: als was sie gröblich angesehen erscheint und weil sie wohlthun will. Indessen: sie entzieht allen übrigen Menschen und Dingen beinahe alles Interesse, und häuft dies auf Einen; ihre Folge ist also nicht-wohlthuend, im Ganzen betrachtet.

6 [447]

Die Musiker und Schriftsteller, die immer etwas vorstellen, was sie nicht sind, die Rhetoriker und Schauspieler

6 [448]

Diese Dinge kennt ihr als Gedanken, aber eure Gedanken sind nicht eure Erlebnisse, sondern das Nachklingen von denen Anderer: wie wenn euer Zimmer zittert, wenn ein Wagen vorüberfährt. Ich aber sitze im Wagen, und oft bin ich der Wagen selber.

6 [449]

Die Sünden-Betonung hat den egoistischen Gedanken an die persönlichen Folgen jeder Handlung hundertfach verschärft, und davon abgelenkt, die Folgen für Andere auszudenken. Das Unrecht gegen Gott—dadurch ist die Gedankenlosigkeit über Handlungen und allgemeine Nachwirkung[en] derselben für [die] Menschheit groß geworden. Die Reue der Gewissensbiß! Der Christ denkt nicht an den Nächsten, er ist ungeheuer mit sich beschäftigt.

6 [450]

Wenn wir ein Buch nicht um des Anderen Willen zu lesen wissen, wie arm wird es sein! Wir müssen es empfinden wie der Autor—ist das moralisch?— Die ganze Küste mit Gebirge Meer und Oelbäumen und bezaubernden einsamen Pinien, alles müssen wir entdecken. Und so aus uns herausgehend können wir auch mit den Menschen umgehen, als ihre Bereiser und Entdecker, Gutes und Böses ihnen erweisen, damit sie die ihnen eigene Schönheit zeigen, sonnenhaft oder gewitterhaft.

Bleiben wir in uns hängen, woran sollten wir wachsen und reicher werden! Zur Nahrung haben wir die Lust am Fremden, eben an der Nahrung nöthig. Die Lust am Menschen ist unserer Nahrung wegen nöthig —

6 [451]

Die Freundschaft höher herauf heben. NB E 149 [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858:149.]

6 [452]

NB. Die brüderliche Empfindung mit den großen Geistern aufnehmen und die Rivalität ablehnen! Keine Isolation!

6 [453]

Das Herz wird zusammengeschnürt, wenn man ansieht, wie die Menschen sich ihrer Antipathie gegen etwas gar nicht schämen. Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, wir sind die Opfer seiner Rache. Wir müssen ihn zur Liebe zu sich verführen.

6 [454]

Der unverschämte Egoism der Liebe, das allein Besitzenwollen das allein Geschätzt-werden-wollen—es hätte nicht diesen Ruf, wenn es nicht so angenehm wäre!

6 [455]

Handlungen werden als sittlich erst dann empfunden, wo ihre Nützlichkeit nicht mehr eingesehen wird: also befohlene, vererbte, geheiligte Nützlichkeit. Wohl wird mit Strafe und Lohn gewinkt: aber nicht um der Strafe und des Lohnes willen werden sie gefordert, sondern weil eine Autorität sie fordert, aus unbekannten Gründen!

6 [456]

Es ist nicht wahr, daß gut und schlecht die Ansammlung von Erfahrung über zweckmäßig und unzweckmäßig ist. Alle bösen Triebe sind in eben so hohem Grade zweckmäßig und arterhaltend als die guten! NB gegen Spencer. Auch das, was der Gemeinschaft zweckmäßig ist, ist nicht der einzige Gesichtspunkt. Das wichtigste: blindes Gehorchen, wo befohlen wird, und Übergang der Furcht in Verehrung. Heiligung des Verehrten!

6 [457]

Zur Geschichte der
Redlichkeit
.

6 [458]

Vertraulichkeiten
mit dem nächsten Freund und dem
nächsten Feinde.

6 [459]

Die Leidenschaft der
Redlichkeit.

6 [460]

Die Emigranten.

6 [461]

Passio nova
oder
Von der Leidenschaft der Redlichkeit.

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel