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The Will to Power
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Herbst 1880 6 [201-300]

6 [201]

Was sich—nicht vererbt, ist noch wichtiger für die Crystallisation des Charakters als was sich vererbt. Ein edler Charakter d. h. eine Anzahl Gewohnheiten Gesichtspunkte nicht zur Hand haben, die Anderen bequem sind.

6 [202]

Wenn wir essen spazierengehen gesellig oder einsam leben, es soll bis ins Kleinste die hohe Absicht unserer Leidenschaft uns dabei bestimmen, und zwar so daß sie die Vernunft und die Wissenschaft in ihren Dienst genommen [hat] und mit tiefer Gluth die gerade für sie passenden Weisungen von ihr abfragt. Nicht blind seinen wenn auch großen Trieben folgen: sondern die ganze bisherige Erkenntniß heranziehen: so allein denkt man hoch genug von sich: Alles, was bisher erkannt wurde, ist werth deiner Leidenschaft zu dienen. Wer sich leicht mit der Wissenschaft abfindet oder phantastisch wird bei ihrem Gebrauche, hat nicht die Tiefen untrüglicher Ehrfurcht vor seiner Leidenschaft, der kein Opfer zu groß ist. Unser Wesen auf die ganze Welt bisheriger Erfahrungen der Menschheit stützen!— Ihr macht Partei und übt Liebe und Haß—hättet ihr mehr Ehrfurcht vor eurem Werk, hieltet ihr es ernstlich für eine wichtige Angelegenheit, so würde[t] ihr Grauen empfinden, euer Urtheil so zu blenden, ihr müßtet mit Gluth die Erkenntniß befragen und über euch selber redlich werden. Die Leidenschaft treibt uns immer wieder aus unserer Ruhe hinaus: unser Ideal will immer höhere Bestätigungen und Opfer, und dadurch selber immer wachsen und sich reinigen.— Ihr seid in euch verliebt, aber es ist eine vorübergehende Laune, ein kleines Stückchen Geschlechtstrieb, ihr ahnt es auch, daß man Launen mit Launen befriedigen muß, ihr seid nur beliebig! Oder ihr seid ehrgeizig verliebt in euer Ideal und thut für dasselbe alles, was unter Menschen Aufsehen und Ansehen macht, es ist euch Öffentlichkeit eurer Leidenschaft nöthig, im Stillsten und Geheimsten langweilt ihr euch dabei. Ihr schafft euer Werk, aber das Spiegelbild eurer selbst in den Köpfen Anderer ist das Ziel, das hinter dem Werke steht, es ist ein Vergrößerungsglas, das ihr den Anderen vor die Augen haltet, wenn sie nach euch hinblicken!— Viele machen ihr Werk ordentlich, wie sie es gewöhnt worden sind bei strengen Lehrern, sie sprechen von Pflichtgefühl und fordern Pflicht—aber sie haben einen Gewissensbiß, denn sie sollten nur etwas Außerordentliches thun!

6 [203]

Nicht daß wir den Menschen helfen und nützen wollen: nein, daß wir Freude haben an den Menschen, das ist das Wesentliche am sogenannten guten Menschen und an der Moralität. Es ist das Neue, das Späterreichte. Unsere “guten Handlungen” verstehen sich bei dieser Freude von selber: wenn wir sie nicht fürchten und nicht anfeinden und doch zahllose Relationen zu ihnen haben, so können dies keine anderen sein als solche, welche unsere Freude an ihnen vermehren d. h. wir bemühen uns, sie im Streben nach stilisirter Individualität zu fördern, mindestens den Anblick des Häßlichen (Leidenden) zu beseitigen. Liebe zu den Menschen?? Aber ich sage: Freude an den Menschen! Und damit diese nicht unsinnig ist, muß man helfen, daß es das giebt, was uns erfreut.— Man sieht: die Redlichkeit über uns und die Anerkennung der fremden Natur, die Geschmacksentwicklung, welche den Anblick schöner freudiger Menschen nöthig hat, muß vorausgehen. Hier findet eine Selection statt: wir suchen die aus, die uns Freude machen und fördern sie und fliehen vor den Anderen—das ist die rechte Moralität! Absterbenmachen der Kläglichen Verbildeten Entarteten muß die Tendenz sein! Nicht aufrechterhalten um jeden Preis! So schön die Gesinnung der Gnade gegen die unser Unwürdigen ist, und das Helfen gegen die Schlechten und Schwachen—im Ganzen ist es eine Ausnahme, und es würde die Menschheit dabei im Ganzen gemein werden (wie z. B. durch das Christenthum) Immer ist auf die natürlichen Triebe zu bauen: “Freude zu machen dem, der uns erfreut, und Leid dem, der uns verdrießt.” Wir vertilgen die wilden Thiere, und wir züchten die zahmen: dies ist ein großer Instinkt. Wir entarten selber beim Anblick des Häßlichen und der Berührung mit ihm; Schutzdämme aufwerfen! Es nivelliren zu einer Nutzbarkeit! und dergleichen.

Wenn man nur mit denen verkehrt, deren Berührung uns erfreut und erhebt, so werden sich Gruppen und Schichten bilden, die wiederum in einem solchen Verhältniß von näherer oder fernerer Entfremdung stehen. Dies ist sehr gut, ein nothwendiger Bau der Gesellschaft, aus Redlichkeit!

6 [204]

An sich sind die Triebe weder gut noch böse für die Empfindung. Aber es bildet sich doch eine Rangordnung, dadurch daß die Befriedigung einiger mit Furcht verbunden ist, und diese stehen im Gefühle niedriger als die welche lustvoll sind. Dieser Gradunterschied wird im moralischen Urtheil zu einem Gegensatz. Wenn ein Trieb immer mit dem Gefühl des Verbotenen und der Angst befriedigt wird, so entsteht eine Aversion vor ihm: wir halten ihn nun für böse. Wir haben eine Nebenempfindung untrennbar an ihn geknüpft, es ist eine Einheit entstanden. “Eine böse Handlung.” Wer sich nichts verboten fühlt und alles thut, was er will, der weiß nichts von gut und böse. Wer sich vieles verboten fühlt und nichts davon thut, fühlt sich gut, gleichgültig wer verbietet, ob einer die Gewalt über uns hat oder wir selber!—der vollkommene Mensch verbietet sich sehr viel (unendlich mehr als Andere ahnen können!) und fühlt sich deshalb gut: es ist die kunstvoll gebändigte und umgedeutete Natur: denn sie ist werdend, und nicht um Einmal bauen oder Niederreißen handelt es sich—es ist ein schwebender Garten.

6 [205]

Man soll durchaus nicht in Verhältnissen bleiben, wo unsere kleinlichen Erregungen täglich geübt werden—es ist der stärkste Grund, eine Ehe, eine Partei, eine Freundschaft zu lösen, ein Amt aufzugeben. Wenn du in der Einsamkeit groß bist, so wisse, daß du dich anderwärts verdirbst. Machtvolle Milde—wo diese Stimmung dich ergreift, da bist du in dir—und dort gründe dein Haus!

6 [206]

Ich rede nicht zu den Schwachen: diese wollen gehorchen und stürzen überall auf die Sklaverei los. Wir fühlen uns Angesichts der unerbittlichen Natur immer noch selber als unerbittliche Natur!— Aber ich habe die Kraft gefunden, wo man sie nicht sucht, in einfachen milden und gefälligen M[enschen] ohne den geringsten Hang zum Herrschen—und umgekehrt ist mir der Hang zum Herrschen oft als ein inneres Merkmal von Schwäche erschienen: sie fürchten ihre Sklavenseele und werfen ihr einen Königsmantel um (sie werden zuletzt doch die Sklaven ihrer Anhänger, ihres Rufs usw.) Die mächtigen N[aturen] herrschen, es ist eine Nothwendigkeit, sie werden keinen Finger rühren. Und wenn sie bei Lebzeiten in einem Gartenhaus sich vergraben!

6 [207]

Fehler in der Sorrentiner Landschaft.— Oelbäume schöner als die Orangen.

6 [208]

Temperanz-Bewegung nöthig für Deutschland: die große Mehrzahl der Verbrechen stehen mit Alcohol in Verbindung und ebenso die, Selbstmorde!

6 [209]

Kein deutscher Künstler hat bisher genug Geist gehabt, um seine Praxis zu erklären: die klügsten haben nur verstanden, sie zu beschönigen, wie als ob sie ein schlechtes Gewissen hätten: thatsächlich haben sie ihre Wirkung verdorben, insofern sie ihre Beschränktheit in die Wagschale warfen, ihre Werke sanken dadurch etwas und übten Einfluß auf die geringeren Nachahmer. Begreift man nämlich die Tendenz einer Kunst als eine persönliche Verherrlichung oder Apologie oder Versteckspielerei, so greifen viele nach ihr, die es nöthig haben, ihre Natur zu verherrlichen oder zu verstecken.

6 [210]

Handlungen, die eine lange Zeit als Ausnahmen empfunden werden und Ehre bringen, werden endlich Übung und gelten dann als anständig. Ebenso könnte die Redlichkeit in Betreff alles Wirklichen einmal Anstandssache werden, und der Phantast einfach als unanständig außer Betracht kommen.

6 [211]

In diesem Jahrhundert haben sich die Franzosen einen Geschmack an der Malerei anerzogen (durch Zeichnen), der dem vorigen Jahrhundert fehlte. Die Italiäner haben ihr Ohr für den Gesang verloren, die Deutschen haben politische Leidenschaft gelernt, die Engländer haben sich an die Spitze der Wissenschaft gestellt.

6 [212]

Unsere Triebe widersprechen sich häufig, darüber ist nichts zu wundern! Vielmehr wenn sie harmonisch sich auslösten, das wäre seltsam. Die Außenwelt spielt auf unseren Saiten, was Wunder, daß diese oft dissoniren!

6 [213]

Nach Austerlitz war der Krieg mehr das Resultat seines Systems als der Zug seines Geschmacks: — — — [Vgl. Madame de Rémusat: Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 2. Paris: Calmann Lévy, 1880:274.]

6 [214]

Junge Menschen, deren Leistungen ihrem Ehrgeize nicht gemäß sind, suchen sich einen Gegenstand zum Zerreißen aus Rache, meistens Personen, Stände, Rassen, welche nicht gut Wiedervergeltung üben können: die besseren Naturen machen direkten Krieg; auch die Sucht zu Duellen ist hierher gehörig. Das Bessere ist, wer einen Gegner wählt, der nicht unter seiner Kraft und der achtungswerth und stark ist. So ist der Kampf gegen die Juden immer ein Zeichen der schlechteren, neidischeren und feigeren Natur gewesen: und wer jetzt daran Theil nimmt, muß ein gutes Stück pöbelhafter Gesinnung in sich tragen.

6 [215]

Das Ende aller großen Denker und Künstler ist düster, bei denen die Redlichkeit gegen sich immer abgenommen hat. Das freudige Ausleben und Hineinströmen in die andere Welt fehlt ihnen.

6 [216]

Die Meinungen der Menschen ebenso nothwendig wie ihre Handlungen—aber deshalb nicht “für sie wahr”! Nur eine ungeheure Art, über sich hinaus zu gehen und andere Denkweisen in sich aufzunehmen, giebt uns die Möglichkeit, zwischen wahr [und] falsch zu unterscheiden. Das Ideal: eine Meinung, die unabhängig ist von jedem Persönlichen und deren Schranke eben nur noch “der Mensch” ist. Es sind die Meinungen, die “dem Menschen” am nützlichsten sein müssen, seine strenge Relation zu den Dingen (deren Narr er nicht mehr ist.)

Auf die Dauer muß die Menschheit jeden Irrthum furchtbar büßen—denn damit er aufrecht erhalten bleibe, muß eine hundertfache Fälschung anderer Dinge eintreten (Nicht-einsehen-wollen d. h. Verschlechterung der Redlichkeit, Abnahme des Intellekts, Zunahme der Gefährlichkeit des Lebens —

6 [217]

“zu dem kolossalen Schwulst der Pozzo und Bibiena hatte seit 1730 niemand mehr die erforderliche Leidenschaft und Phantasterei.” J B [Vgl. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Leipzig: Seemann, 1869: 396.]

6 [218]

Unter allen, die sich um Gründung und Verbreitung von Religionen verdient gemacht haben, hat es noch keinen ausgezeichneten Kopf und ebenso wenig einen redlichen Menschen gegeben. Diese großen Massen-Leidenschaften sind von den gröbsten Köpfen, solchen die blinden Glauben an sich haben, wie die Thiere, gemacht worden.

6 [219]

Die Kraft hat die Milde.

6 [220]

das Verlangen nach den Genies wie nach Kraftbrühen.

6 [221]

der kaufmännische Geist und sein Produkt

6 [222]

der Geschmack der englischen Gartenkunst—“die freie Natur mit ihren Zufälligkeiten nachahmen” J.B.—ist der ganze moderne Geschmack. Solche Menschen wollen die Dichter: während ein anderes Ziel ist, die Menschen “den Gesetzen der Kunst dienstbar machen.” Gegen die elegische Natursentimentalität NB diese habe ich mir abzugewöhnen. “Der Contrast der freien Natur, welche von außen in die italiänischen Gärten hineinscheint” J.B. Grundbedingung des Eindrucks. Solche Menschen des Stils wirken am stärksten unter einer halbwilden Umgebung. [Vgl. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Leipzig: Seemann, 1869: 399.]

6 [223]

Bei der Liebesleidenschaft kann man sehen, wie weit die Redlichkeit vor uns selber fehlt: ja man setzt das voraus und gründet darauf die Ehe (mit Versprechen, wie sie kein Redlicher gegen sich geben kann!) So früher bei der Treue von Untergebenen gegen Fürsten oder gegen das Vaterland, oder die Kirche: man schwor die Redlichkeit gegen sich feierlich ab!

6 [224]

Wir sind geneigter, von den Dingen das zu glauben, was uns angenehm ist. Die Thiere, welche dazu weniger streng geneigt sind, die vorsichtigen, erhalten sich besser. Die Furchtsamkeit ein erster Schritt der Redlichkeit.

6 [225]

Man  sagt  “Fortschritt,”  meint  aber  Entwicklung d. h. Werden und Vergehen. Auch das V[ergehen] können wir nur als ein Fortschreiten empfinden: denn es ist mit Lust verknüpft, wie alle Entwicklung. Nur die Hemmung der Entwicklung macht Schmerz.

6 [226]

Jene spitzigen Geschöpfe welche selbst ihr Wohlwollen nicht ohne Stiche äußern können.

6 [227]

Es bedarf unendlicher Verstellung, um ein liebevoller Mensch zu werden.

6 [228]

Werth der Wissenschaft und Reiz derselben, gegen die Verstellung. Nimmt man sie halb, so versteht man ihren heroischen Zauber nicht.

6 [229]

Wenn in die Seele eines Kindes in einer abergläubischen Umgebung und Zeit der Gedanke fällt “du bist der Sohn Gottes” und es [von] früh an durch die Frömmigkeit seiner Mutter belehrt wird, daß dieser Gott heilig ist und Heiligkeit will: dazu ein sanftes Temperament und eine glühende visionäre Phantasie, ein durch Enthaltsamkeit und Einsamkeit erzogenes Vertrauen zu sich selber: so einer kann zum Glauben sündlos zu sein kommen, sobald er als Sohn Gottes sich glaubt und somit seinen eigenen Befehlen gehorcht—sublime Art des Stolzes. Als Gesetzgeber ist er dem Gesetz überlegen, er kann Höheres darüber hinaus zeigen, es vollenden: wie ungereimt für ihn, etwas zu thun, das wider seine fixe Idee geht! Von dieser Höhe aus sehnt er sich nach Liebe—die Menschen sollen an ihn glauben: dies ist das Einzige was ihm fehlt, und dafür will er ihnen alles geben, was er kann z. B. Gottes Gnade. Die: Kinder, die Armen, die Dummen, die Verachteten, die sich selber Verachtenden sind seine Lieblinge. Er dichtet sich seinen Gott nach seinem Bilde, so daß er Liebe erweisen kann als Gott: er eliminirt und schwächt Vorstellungen, aus denen ein anderer Gott sich ergiebt. Seine Redlichkeit gegen sich ist sehr gering, er hat weder in Bezug auf seinen Glauben als Gottessohn ein feines Gewissen, noch in Bezug auf seine Erkenntniß der Natur und des Menschen. Er belügt sich, ganz im Dienste seiner Leidenschaft: was er nicht kennt, schätzt er nicht, er behandelt sich als Maaß der Dinge, mit der Unerfahrenheit eines einsamen Schäfers, der nur Schafe um sich hat. Sein wunder Punkt ist, daß die Menschen ihm nicht glauben wollen, während er sich selber glaubt: und hierbei wird seine Phantasie grausam und düster, und er dichtet die Hölle für die, welche nicht an ihn gl[auben]. Sein Mangel an Bildung schützt ihn davor, sich die Entstehung einer Leidenschaft vorzustellen und sich selber einmal objektiv zu sehen: er steht nie über sich (wie z. B. Napoleon) Das Furchtbarste, ewig Unsühnbare der Menschen wurde das Verschmähen seiner Liebe—dies ist ein gemeiner Zug. Ebenso seine Verdächtigung der Reichen, des Geistes, des Fleisches—seine Milde und Nachsicht ist kurz und ganz egoistisch.

6 [230]

Bei Erzählern vermeiden die feineren, die Erlebnisse ihrer Helden selber in’s Ungeheuerliche, Criminalistische Grobe zu steigern: vielmehr erniedrigen und glätten sie die Ereignisse und zeigen, was feinere Naturen schon an diesem Wenig zu leiden haben: oder daß hier erst ihre Erlebnisse anfangen: für grobe Naturen giebt es da keine Probleme.— Daß man seinem Helden gegenüber festhält, er sei nicht non plus ultra, sondern ein tüchtiger Mensch, zeichnet jeden guten Dichter aus.— Die Halbgötter-geschichten bedürfen wenig Talent, grobe Farben—sie werden der Masse erzählt. Es sind ideale Räuber- und Gespenster-Geschichten.— Wer sich in seine Helden und deren Erlebnisse verliebt, ist nicht ersten Ranges—denn er muß arm sein.— Mit prächtigen entzückenden Stoffen und Helden geben sich die Armen ab, welche nicht ohne Weiteres glauben, daß andere sie für reich halten.

6 [231]

Wir erreichen unser Maximum nicht: denn in der Periode des raschesten Wachsthums müssen alle anderen günstigen Bedingungen da sein. Wir sind kurzstämmig und knorrig.

6 [232]

Hüteten wir uns auch gegen Personen vor blinden Liebe- und Haß-Anfällen—wie viel weniger haben wir gut zu machen d. h. einen Irrweg zurückgehen! (wobei unser Weg Zeit verloren hat) Größere Redlichkeit gegen uns selber hält uns in Hut: gewöhnlich geben wir unseren zurückgehaltenen Trieben einmal plötzlich nach, in dieser Liebe und Haß zu Personen.

6 [233]

das Christenthum hat der geistigen Armut das Himmelreich verheißen: aber der erste gebildete und geistreiche Christ hat dem Christenthum seine Dialektik und Rhetorik gegeben, ohne diese wäre es an seiner geistigen Armut zu Grunde gegangen.

6 [234]

Die Triebe haben wir alle mit den Thieren gemein: das Wachsthum der Redlichkeit macht uns unabhängiger von der Inspiration dieser Triebe. Diese Redlichkeit selber ist das Ergebniß der intellektuellen Arbeit, namentlich wenn zwei entgegengesetzte Triebe den Intellekt in Bewegung setzen. Das Gedächtniß führt uns in Bezug auf ein Ding oder eine Person bei einem neuen Affekt die Vorstellungen zu, die dies Ding oder [diese] Person früher, bei einem anderen Affekt in uns erregte: und da zeigen sich verschiedene Eigenschaften, sie zusammen gelten lassen ist ein Schritt der Redlichkeit d. h. es dem, welchen wir jetzt hassen, nachtragen, daß wir ihn einst liebten und sein früheres Bild in uns mit dem jetzigen vergleichen, das jetzige mildern ausgleichen. Dies gebeut die Klugheit: denn ohne dies würden wir, als Hassende, zu weit gehen und uns in Gefahr bringen. Basis der Gerechtigkeit: wir gestehen den Bildern desselben Dinges in uns ein Recht zu!

6 [235]

Die Übung mehrere Eigenschaften an einem Dinge anzuerkennen, abseits von unserem Affekt, constituirt eine Reihe von festen Dingen, die immer größer wird, und immer feiner. Diese Übung bildet ein Bedürfniß: nach der Erkenntniß der Dinge in ihrer Vielheit: Basis des intellektuellen Triebes.

6 [236]

Die Redlichkeit gegen uns selber ist älter als die R[edlichkeit] gegen Andere. Das Thier merkt, daß es oft getäuscht wird, ebenso muß es sich oft verstellen. Dies leitet es zu unterscheiden zwischen Irren und Wahrsehen, zwischen Verstellung und Wirklichkeit. Die absichtliche Verstellung ruht auf dem ersten Sinne der Redlichkeit gegen sich.

6 [237]

Christus “fromm traurig und egoistisch”

6 [238]

Was heißt “einen Gedanken verstehen”? Er regt eine Vorstellung, diese regt Wahrnehmungen, diese regen Gefühle auf, so giebt endlich der Stein einen dumpfen Ton, wenn er unten im Grunde angelangt ist: diese Erschütterung des Grundes nennen wir “verstehen.” Ursache und Wirkung finden hier nicht statt, nur Association: bei diesem Wort ist diese Vorstellung gewöhnt erregt zu werden: wie das möglich ist, weiß niemand. Unser “Verstehen” ist etwas Unverständliches, und jene letzte Resonanz in unseren Trieben ist doch nicht mehr als ein neues großes Unbekanntes. —

Lüge ist die Erregung jenes Grundes unseres Nächsten in der Art, daß ein Trieb bei ihm wach wird, zu dessen Befriedigung er nicht kommen kann, weil gerade die Natur der Dinge eine andere ist: also ein unerfüllbares Bedürfniß erregen ist lügen.

6 [239]

Die Menschen sehen allmählich einen Werth und eine Bedeutung in die Natur hinein, die sie an sich nicht hat. Der Landmann sieht seine Felder mit einer Emotion des Werthes, der Künstler seine Farben, der Wilde trägt seine Angst, wir unsere Sicherheit hinein, es ist ein fortwährendes feinstes Symbolisiren und Gleichsetzen, ohne Bewußtsein. Unser Auge sieht mit all unserer Moralität und Cultur und Gewohnheiten in die Landschaft.— Und ebenso sehen wir auf andere Charaktere: sie sind für mich etwas anderes als für dich: Relationen und Phantasmen, unsere Grenzen gegen einander sind darin.— Was heißt da Gerechtigkeit! Die Fülle der Relationen wächst fortwährend, alles was wir sehen und erleben, wird bedeutungstiefer. Beim Anblick der Sonne z. B.—aber eine Unzahl von alten Bedeutungen und Symbolen sterben auch fortwährend ab, es entleert sich zugleich—und wenn wir auf dem Wege der Gerechtigkeit sind, so sterben die willkürlichen phantastischen Auslegungen, womit wir den Dingen wehe und Gewalt thun: denn ihre wirklichen Eigenschaften haben ein Recht, und endlich müssen wir dies höher ehren als uns.

6 [240]

Lob der Philologie: als Studium der Redlichkeit. Das Alterthum gieng am Verfall derselben zu Grunde.

6 [241]

Der verhängnißvolle “zweite Sinn” hinter den Naturereignissen, den Erlebnissen, den Begierden, dem Unrecht! Arme Menschheit!

6 [242]

Die “moralische Weltordnung”—eine Art Astrologie.

6 [243]

Unsere größten Erhebungen Erschütterungen den reinsten Himmel verdanken wir uns selber: wir leihen davon an die Werke der Kunst und so werden sie größer, wir verbessern sie und mitunter verkennen wir sie zu ihren Gunsten.

6 [244]

Redlichkeit in der Kunst—nichts zu thun mit Realismus! Wesentlich Redlichkeit der Künstler gegen ihre Kräfte: sie wollen sich selber nicht belügen, noch berauschen—keinen Effekt auf sich machen, sondern das Erlebniß (den wirklichen Effekt) nachahmen.

6 [245]

Erwägt man, wer zu jeder Zeit den großen Ruhm macht: so wird es wahrscheinlich, daß die ausgezeichnetsten Geister im zweiten oder dritten Range stehen werden: und die besten Meister bleiben unbekannt.

6 [246]

Mein Pathos: das entsetzliche Leid des Sündengefühls nachempfinden NB.

6 [247]

Glaube nur niemand, daß wenn Plato jetzt lebte und platonische Ansichten hätte, er ein Philosoph wäre—er wäre ein religiös Verrückter.

6 [248]

Die schlechte Übung im Sehen und Sehen wollen des Wirklichen hat auch in den Beziehungen der Menschen, in ihrem Urtheil über einander und sich selber eine Mythologie entstehen lassen, die “moralische Welt.”

6 [249]

Der Zweifel, was das Wirkliche ist, macht nicht gegen die Phantasmen geneigter: sondern zerstört allmählich den guten Willen, der zur Ausdichtung eines Phantasmas gehört.

6 [250]

Allgemein hält man keine Handlung für verständlich, außer der nach Zwecken: und überhaupt keine Bewegung in der Welt. Deshalb gieng das frühere Denken darauf aus, alle Bewegung in der Welt als zweckmäßig und zweckbewußt zu erklären (Gott) Es ist der größte Wendepunkt der Philosophie, daß man die Handlung nach Zwecken nicht mehr begreiflich fand; damit sind alle früheren Tendenzen entwerthet.

6 [251]

Wenn wir verantwortlich machen, so setzen wir gleiche Kraft bei den Anderen voraus, und das gleiche Wissen um diese Kraft—was doch Mythologie ist.

6 [252]

Die spontane Masse von Energie unterscheidet die Menschen, nicht ein Individual-Atom. Sodann die eingeübten Bewegungen dieser Masse, durch Vererbung mitgetheilt. Dieselbe Kraft ist es, die bald durch die Muskeln, bald durch die Nerven verbraucht wird.

6 [253]

Der Gedanke ist ebensowohl wie das Wort, nur ein Zeichen: von irgend einer Congruenz des Gedankens und des Wirklichen kann nicht die Rede sein. Das Wirkliche ist irgend eine Triebbewegung.

6 [254]

Jede Handlung ist von dem bleichen Bewußtseinsbild, das wir von ihr während ihrer Ausführung haben, etwas unendlich Verschiedenes. Ebenfalls ist sie von dem vor der That vorschwebenden Bewußtseinsbild (das Ende der Handlung = Zweck und der Weg dahin) verschieden, unzählige Stücke des Wegs, die schließlich gemacht werden, werden nicht gesehen und der Zweck selber ist ein kleines Theilchen von dem wirklichen Erfolg der Handlung. Zwecke sind Zeichen: nichts mehr! Signale! Während sonst die Copie hinter dem Vorbild nachfolgt, geht hier eine Art Copie dem Vorbild voraus. In Wahrh[eit] wissen wir nie ganz, was wir thun z. B. wenn wir einen Schritt thun wollen oder einen Laut von uns geben wollen. Vielleicht ist dies “Wollen” nur ein bleicher Schatten davon, was wirklich schon im Werden ist, ein nachkommendes Abbild von unserem Können und Thun: mitunter ein sehr falsches, wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen. Unser “Wollen” war hier ein irregeleitetes Phantasma unseres Kopfes, wir hatten irgend ein Zeichen falsch verstanden.— Wenn einer befiehlt, und wir wollen es thun, finden uns dann zu schwach—? so gab Furcht (oder Liebe) uns einen Impuls, bei dem sehr viel Kraft in Bewegung gerieth.— Das erste Gelingen auf den ersten Nerven- und Muskelbahnen giebt die verfrühte Vorstellung des Könnens, und daraus resultirt das verfrühte Bild des gewollten Zwecks: die Zweckvorstellung entsteht, nachdem schon die Handlung im Werden ist!

6 [255]

Der Glaube an uns ist die stärkste Fessel und der höchste Peitschenschlag—und der stärkste Flügel. Das Christenthum hätte die Unschuld des Menschen als Glaubensartikel aufstellen sollen—die Menschen wären Götter geworden: damals konnte man noch glauben.

6 [256]
[Vgl. George Eliot, Middlemarch. Aus dem Leben der Provinz von George Eliot. Mit Bewilligung des Verfassers übersetzt von Emil Lehmann. Vierter Band. Berlin: Duncker, 1873:290f. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: George Eliot.]

“Um Härte Kälte Erschöpfung” flehen—Marter, wenn man seinem Lebensziele nicht mehr traut. “Erhabener Zorn, zuckende Vorwürfe”—schluchzend einschlafen—in Kälte und Grauen hineinblickend kalt erwachend—“enge Zelle ihres Elends”—nur ein Blick heraus auf das Leben eines Anderen, nicht mehr. “Die Fülle sympathischer Erfahrung stellte sich als eine Gegenmacht ein”—Gerechtigkeit seinen eigenen Schmerz verstoßen.

“Bedürfniß der Gerechtigkeit.”

“Das Gute Anderer überschätzen” blind für die guten Wirkungen, die wir in Anderen hervorrufen.

6 [257]

Wir müssen es dahin bringen, das Unmögliche Unnatürliche Gänzlich-Phantastische in dem Ideale Gottes Christi und der christlichen Heiligen mit intellektuellem Ekel zu empfinden. Das Muster soll kein Phantasma sein!

6 [258]

Für jeden Abfall eines Freundes eine höhere Seele eintauschen. [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858:225.]

6 [259]

Habt ihr euch geübt, an Andere zu denken und für sie etwas zu thun, so bleibt, wenn euch unmöglich ist, euer Ziel zu erreichen, sehr viel übrig: nämlich das der Anderen zu fördern. Es ist gut und klug, diese zwei Saiten zum Spielen zu haben. Den Anderen begreifen und auf uns von ihm aus hinzusehen ist unentbehrlich für den Denker.

6 [260]

Ich sehe es eurer Toleranz gegen die Wissenschaft 100 Schritte weit an: ihr meint, ihr habt sie nicht nöthig, ihr bildet euch etwas darauf ein, trotzdem ihre Fürsprecher zu sein, selbst wenn sie gegen eure Meinungen kämpft:—denn ihr habt kein so strenges Gefühl für das Wirkliche, daß es euch quält und martert, sie im Widerspruch zu euch zu finden: ebensowenig ihr gierig umschaut, was alles gegenwärtig erkannt wird und auf dem Wege ist, erkannt zu werden.

6 [261]

Die Übung im Erkennen hat zuletzt ein Bedürfniß der Wahrhaftigkeit erzeugt, welches jetzt eine neue große Macht ist, mit Gefahren und Vortheilen.

Titel vielleicht: “das Bedürfniß der Wahrhaftigkeit.”

6 [262]

Allen moralischen Systemen, welche befehlen, wie der Mensch handeln soll, fehlte die Kenntniß und Untersuchung, wie der Mensch handelt. Aber man meinte diese Kenntniß zu haben.

6 [263]

Das Bedürfniß der Aktivität trennt uns von der indischen Weisheit.

6 [264]

Auch dem feinsten Gedanken entspricht eine Verhäkelung von Trieben.— Die Worte sind gleichsam eine Claviatur der Triebe, und Gedanken (in Worten) sind Akkorde darauf. Jedoch ist die anregende Kraft des Wortes für den Trieb nicht immer gleich, und mitunter ist das Wort fast nichts als ein Laut.

6 [265]

1. Zeit der Triebe ohne Gedanken 2. Zeit der Triebe mit Gedanken (Urtheile) Hier werden Triebe und Trieb-Verhäkelungen vorgestellt. Die häufige Wiederholung, das Zustimmen und Verwerfen solcher Vorstellungen, übt eine Rückwirkung auf die Triebe selbst, einige werden sehr geübt, andere außer Übung gesetzt und ausgedorrt. Allmählich entsteht durch ungeheure Übung des Intellekts die Lust an seiner Aktivität: und  daraus  endlich  wieder  die  Lust  an  der  Wahrhaftigkeit  in  seiner  Aktivität. Urspr[ünglich] sind die intellektuellen Funktionen sehr schwer und mühselig. Nachmachen ist das Beste, Haß gegen das Neue. Spät endlich ist umgekehrt der Ekel am Nachmachen schnell da und die Lust am Neuen und am Wechsel sehr groß.

6 [266]

Die Menschen gehen an der Verfeinerung des Intellekts zu Grunde: physisch und vielleicht auch moralisch.— Wir Glücklichen! Wir sind in dem Reich der Mitte!

6 [267]

Die Vollkommenheit eines Napoleon, eines Cagliostro entzückt: unser Verbrecherthum hat nicht Musterbilder vor sich, sie haben kein fröhliches Gewissen. Ein guter Räuber, ein guter Rächer, Ehebrecher—das zeichnete das italienische Mittelalter und [die] Renaissance aus, sie hatten den Sinn für Vollständigkeit. Bei uns fürchten sich die Tugenden und die Laster, die öffentliche Meinung ist die Macht der Halben und Mittelmäßigen, der schlechten Copien, der zusammengestohlenen Allerweltsmenschen.

6 [268]

Wir wollen keinen Gott aus uns machen, wir gelüsten nicht nach den Idealen früherer Völker. Gerade die Ungöttlichkeit, die Freude an den zahllosen Einzelnen mit höchster Verschiedenheit, die wohl Gegner sein werden, aber wie Griechen und Trojaner!

6 [269]

Der leidenschaftliche Hang, Anderen zu helfen, verleidet das eigene Behagen.

6 [270]

Vor Menschen mit großer Seele zeigen wir den großen Zusammenhang unser selbst und glauben vor ihnen an denselben mehr als allein. Deshalb sind sie uns nöthig. Unsäglich viel kleine verschobene Linien können wir preisgeben—das thut wohl! Andere können nur diese Kleinigkeiten sehen, vor ihnen müssen wir sie eingestehen oder läugnen, in beiden Fällen ohne Genugthuung.

6 [271]

Mit einem großen Ziele ist man nicht nur seiner Verleumdung, sondern auch einem großen Verbrechen überlegen und erhaben.

6 [272]

Einen Menschen vor niedrigen Erfahrungen zu hüten ist das Schönste—niedrig ohne Rücksicht auf uns, aber auf ihn.

6 [273]

Eine Gattin als Hemmung, ein Gatte als Entartungsmittel.

6 [274]

Unserem ganzen Organism ist das vorschnelle Zuneigen und Abneigen die Verstellung usw. eingeformt worden: allmählich kann ihm auch die Wahrhaftigkeit angebildet werden und immer tiefer einwurzeln, mit welchen Wirkungen? Einstweilen ist er ein bewegtes Netz von Lüge und Trug und deren Fangarmen: ganz thierisch-nützlich. Die Erziehung zur Wahrheit—ist sie eine Verbesserung des Thieres, eine höhere Anpassung an die Wirklichkeit?— Unser Wohlwollen Mitleid, unsere Aufopferung, unsere Moralität ruht auf demselben Unterbau von Lüge und Verstellung wie unser Böses und Selbstisches! Dies ist zu zeigen! Der unangenehme, ja tragische Eindruck dieser Entdeckung ist unvermeidlich zunächst. Aber alle unsere Triebe müssen zunächst ängstlicher mißtrauischer werden, allmählich mehr Vernunft und Redlichkeit in sich aufnehmen, hellsichtiger werden und immer mehr so den Grund zum Mißtrauen gegen einander verlieren: so kann einmal eine größere Freudigkeit entstehen, eine fundamentalere: einstweilen wäre diese Freudigkeit nur dem Unredlichen möglich. Resignation und jene heroische Lust am Trotz und am Siege sind die einzigen Formen unserer Freudigkeit: wenn wir Erkennende sind. NB NB NB!!! Wie kommt es nur, daß wir gegen die gründliche Verlogen- und Verstelltheit ankämpfen? Ein Gefühl der Macht, welche in der Entwicklung und im Wirken unseres Intellekts frei wird, treibt uns: es macht Appetit.

6 [275]

Das verfluchte Lehrer- und Reformatoren- und Bußprediger-Pathos “und unsere Pflicht gebeut, die Menschen unglücklich zu machen.”

6 [276]

Die zunehmende Lügnerei der Pathetiker (Hr. Lipiner) oder der Toleranten (Frl. v[on] M[eysenbug])

6 [277]

Die wortkarge Leidenschaft mit düsteren Augen bei Calvin wird leicht verleumdet. Grazie und Geist in der Leidenschaft wird in Deutschland nicht geglaubt.

6 [278]

in Form einer Tragödie:

1 Der Pfad
2 die furchtbare Aussicht
3 das Ausruhen

6 [279]

Die Todesangst: “ich bin der Holzwurm”
Verlust des Kindes
Verlust der Ehre
Krankheit

6 [280]

In wiefern es nützlich ist zu versuchen den Feind zu lieben? Es bricht das unbefriedigte Gefühl und giebt einen Sieg über uns.

6 [281]

Das höchste Todesziel der Menschheit auszudenken—irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentriren. Nicht leben, um zu leben.

6 [282]

Die Alten trauten den Frauen in der Leidenschaft das eigentlich Unmenschliche und Unglaubliche zu—zur Zeit des Aeschylus.

6 [283]

Wenn jemand zu den Juden übergeht (nach Tacitus) muß er die Götter verachten, seinem Vaterland entsagen und Eltern Kinder Geschwister verleugnen. [Vgl. Tacitus, Hist. V, 5, 9.] Die Seelen derer, die in der Schlacht oder durch Hinrichtung umkommen, sind unsterblich (Märtyrer-Gedanke des Christenthums) Verachtung des Todes daher. Als Kaligula befahl sein Bildniß im Tempel aufzustellen, griffen sie zu den Waffen.

6 [284]

“sie essen mit niemand, schlafen allein und enthalten sich, so geil sie sind, aller fremden Weibsbilder”

“jeder schlechteste Mensch schickte Abgaben und Almosen nach Jerusalem, mit Hintansetzung des Landes, in dem er lebte.” [Vgl. Tacitus, Hist. V, 5.]

6 [285]

Tacitus spricht höhnisch davon, wie sehr die Juden (und Christen) dem Aberglauben ergeben seien. Rom gieng in sein Extrem über als es christlich wurde: es ist ein Zeichen der impotentia der damaligen Menschen, dieses schroffe Umspringen. Die Wuth des Hasses machte zuletzt die Juden (Christen) interessant. [Vgl. Tacitus, Hist. V, 4, 5, 13.]

6 [286]

Man nimmt verschiedene “beste Dinge” vom Urtheil Anderer an (die selber sehr verschieden sind) und entdeckt, daß sie sich widersprechen: d. h. man glaubt sein Gewissen in Unruhe.

6 [287]

Die guten Menschen haben in schweren Augenblicken keine Skrupel.

6 [288]

Eine Art Gerechtigkeit: “ich habe sein Glück mit ihm genossen. Nun auch die Zeit seiner Schmach und Schuld.”

6 [289]

So zu leben, daß unsere Energie am größten und freudigsten ist—und dafür alles zu opfern. NB

6 [290]

das metaphysische Bedürfniß ist nicht die Quelle der Religionen, sondern die Nachwirkung nach ihrem Untergange. Man hat sich an die Vorstellung einer anderen Welt gewöhnt und vermißt sie (und aus diesem Triebe können neue Pflanzen aufwachsen “Nachreligionen”) aber das, was zur Annahme einer anderen Welt trieb, waren Irrthümer in der Auslegung bestimmter Vorgänge, also falsche Urtheile des Intellekts. DasBedürfnißist das Resultat nicht Ursprung. Durch Mangel an Befriedigung kann es absterben! So giebt es ein Bedürfniß, das Glockenläuten zu hören, welches mit dem ursprünglichen Zweck des Glockenläutens gar nichts zu thun hat.— Man hat sich gewöhnt, die Bedürfnisse an den Anfang zu stellen.

6 [291]

Gegen das Christenthum: die vollkommene Moralität ist weder möglich, noch wünschenswerth. Ihr Werth ruht auf falschen Ansichten der Biologie.

6 [292]

Da seit uralters moralische Urtheile gefällt worden sind (als Irrthümer über Handlungen) so haben sich daraus jedenfalls moralische Empfindungen, Neigungen Abneigungen gebildet. Also diese sind wirklich. Aber wie verhalten sie sich zu der Wirklichkeit der Handlungen, über welche die moralischen Urtheile irrthümlich gefällt werden?— Die Handlungen, über welche bei den Menschen zuerst moralische Urtheile gebildet wurden, sind die, welche sich alle bei den Thieren finden: deren Motive somit nicht erst zu schaffen waren. Man wähnte, diese Handlungen zu verstehen, moralische Urtheile sind “Erklärungen derselben nach Zwecken,” ein Ansatz der Wissenschaft. Indem man sie benannte (bös gut gerecht usw.) zweifelte man nicht, sie durch und durch zu verstehen. Socrates gerieht erst in das Mißtrauen, ob er sie verstünde. Aber er zweifelte nicht, daß den Worten gut böse usw. etwas Wesentliches entspräche!

6 [293]

“Wie soll der Mensch handeln?” Das ist nur nach einem Ideal zu messen, entweder was die Menschheit erreichen soll, oder was der Einzelne erreichen soll. Bisher gab es solche Muster, die vor Völkern herschwebten (theils lebendige, theils erdichtete) oder vor Religionsgemeinden. Oder vor Parteien (oder der vollkommene Kaufmann Soldat Beamte). Oder vor philosophischen Sekten. Aber immer bisher vor Mehrheiten. Das Ziel ist aber: daß jeder sein Musterbild entwerfe und es verwirkliche—das individuelle Muster. Im Entwerfen alle Zeugungskraft und Jugend und Männlichkeit nöthig, alle Einsicht in seine Kraft, Selbsterkenntniß. Jetzt ist es noch nicht möglich!

6 [294]

Wir müssen unsere Fehler und Triebe nicht abrechnen beim Entwerfen unserer Muster, sondern ihre sublime Form zu finden wissen.

6 [295]

Es kann Tragödie sein! Unsere Milde und Mitleid und—unser Sinn für Wahrhaftigkeit im Kampfe mit einander in Bezug auf die Meinungen Anderer.

6 [296]

Eine Frau, die begreift, daß sie den Flug ihres Mannes hemmt, soll sich trennen—warum hört man von diesem Akt der Liebe nicht?

6 [297]

Mit den Gedanken steht es wie mit den körperlichen Bewegungen: ich muß warten, ob sie sich ereignen, wenn ich sie auch will, es hängt davon ab, ob sie eingeübt sind. Das Wollen ist hier nicht das Vorstellen des Zieles, sondern die Vorstellung logischer Formen (Gegensatz eines Gedankens, parallel, ähnlich, Prämisse Schluß usw.) in der Form des Wunsches. Das Gedächtniß muß den Inhalt geben—Bei Gelegenheit eines Satzes versucht das Gedächtniß zu den einzelnen Worten etwas Zugehöriges anzuhängen, und unser Urtheil entscheidet, ob es dazu paßt und wie. So versucht der Fuß eine Menge Lagen im Augenblick des Stolperns. Wir wählen aus diesen plötzlich auftauchenden Gedanken-Embryonen aus: wie wir aus den zu Gebote stehenden Worten unsere Gedanken in Formel bringen. Das Wesentlichste des Prozesses geht unter unserem Bewußtsein vor sich. Unser Charakter entscheidet, ob zugehörige Gedanken wesentlich die des Widerspruchs der Beschränkung der Zustimmung sind: das Entstehen jedes Gedankens ist ein moralisches Ereigniß.— Die logischen Formen erscheinen so als der allgemeinste Ausdruck unserer Triebe, Zuneigung, Widerspruch usw.— Bis in die Zelle hinein giebt es keine Bewegungen als solche “moralischen” in diesem Sinne.

6 [298]

Wer nach 2 Tagen strengen Fastens einen Schluck Champagner trinkt, der empfindet etwas, das der Wollust ganz nahe kommt. Der Blick eines Menschen, der wochenlang in einer dunklen Höhle gelebt hat, in die Natur ist ein Rausch des Auges. Und nach Jahren wieder unsere Musik hören!— Die Asketen wissen allein, was Wollüste sind.

6 [299]

Die Christen, nach Tacitus nicht der Mordbrennerei, aber odio generis humani “des Hasses gegen die Menschheit” überwiesen. Das ist wahr! “So schuldig sie waren und ob sie schon die härtesten Strafen verdienten”—“in Rom, wo alles Unnatürliche und Schändliche zusammenfließt” “wegen Schandthaten flagitia verhaßte Menschen” (so werden die Christen definirt. Man traute ihnen alles zu—weshalb? Pessimisten [Vgl. William Edward Hartpole Lecky, William Edward Hartpole Lecky's Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Grossen. Nach der 2. verbesserten Auflage mit Bewilligung des Verfassers übersetzt von Hermann Jolowicz. Zweite, rechtmässige Auflage, mit den Zusätzen der 3. englischen vermehrt, und durchgesehen von Ferdinand Löwe. Bd. 1. Leipzig; Heidelberg: Winter, 1879:373.]

6 [300]

Immer so handeln, daß wir mit uns zufrieden sind—da kommt es auf die Feinheit der Wahrhaftigkeit gegen uns selber an. Zweitens auf den Maaßstab, mit dem wir messen. Ein gutes Gewissen kann also ein sehr starkes Anzeichen von Gemeinheit und intellektueller Grobheit sein: ein schlechtes Gewissen von intellektueller Delikatesse.

Wenn die Anderen mit uns nicht unzufrieden wären, und nicht Vieles schief abliefe, so wäre die Zufriedenheit mit sich selber die Regel. Die unerwarteten unangenehmen Nachwirkungen stören diese Zufriedenheit: beim Unangenehmen suchen wir nach einer Entladung unseres Rachegefühls und treffen damit zumeist uns selber. Das Mißgeschick ist es, das dem Menschen sein böses Gewissen giebt “es hätte anders sein können.” Da tadeln wir uns und schätzen unseren Scharfsinn und unsere Absichten gering. Wären wir nicht M[enschen] der Rache, so wären wir viel zufriedener: wie es im allgemeinen die Frauen sind, da in diesen das Rachegefühl nicht so stark ist.— Das Gewissen wird also durch den Erfolg bestimmt: es verurtheilt nachträglich die Absichten, ja es verfälscht nachträglich die Absichten: die ganze Unmoralität und Unredlichkeit eines Menschen zeigt sich in dern Prozesse, den ihm sein Gewissen macht. Das schlechte Gewissen ist ebenso wie das gute Gewissen eines Menschen so dumm, verleumderisch oder lobrednerisch schmeichlerisch bequem—als der ganze Mensch ist. Man hat ein Gewissen nach seinem Niveau.

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel