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The Will to Power
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Herbst 1880 6 [101-200]

6 [101]

Napoleons Mutter war von sehr mittelmäßigem Geiste. [Vgl. Madame de Rémusat: Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1880:128.]

6 [102]

romantische Einbildungskraft mit völliger Trockenheit des Herzens verbunden bei Louis Bonaparte. “Seine erheuchelten Tugenden geben mir ebensoviel Hinderniß wie die Laster Luciens” sagte Napoleon von ihm. [Vgl. Madame de Rémusat: Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1880:136.]

6 [103]

Lafontaine: “Et la grâce plus belle encore que la beauté.” [Vgl. Madame de Rémusat: Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1880:139.]

6 [104]

Die wilden Thiere sollen über sich weg sehen lernen, und in den Andern (oder Gott) zu leben suchen, sich möglichst vergessend! So geht es ihnen besser! Unsere Moraltendenz ist nur noch die der wilden Thiere! Sie sollen Werkzeuge großer Maschinerien außer ihnen werden und lieber das Rad drehen als mit sich zusammen sein. Moralität war bisher Aufforderung sich nicht mit sich zu beschäftigen, indem man sein Nachdenken verlegte und sich die Zeit raubte, Zeit und Kraft. Sich niederarbeiten, müde machen, Joch tragen unter dem Begriff der Pflicht oder der Höllenfurcht—große Sklavenarbeit war die Moralität: mit der Angst vor dem ego.

6 [105]

Es wäre eine Zeit zu denken, wo die Menschheit um die Gattung zu erhalten—und das soll ja eine Pflicht sein!—alle Arten höheren Lebens von sich werfen müßte, und sich auf immer niedrigere beschränken, weil jene zu kostspielig und unfruchtbar machend ausfallen: wie ein alter Mann seinen besten Thätigkeiten entsagen muß, um zu leben. Aber wie! ist denn Leben eine Pflicht! Unsinn! ihr Physiologen! die Menschen sind so erbärmlich geworden, daß auch die Philosophen gar nicht die tiefe Verachtung merken, mit der das Alterthum und das Mittelalter diesen “selbstverständlichen Werth der Werthe, das Leben” behandeln!

6 [106]

Der Haupterfolg der Arbeit ist die Verhinderung des Müssigganges der gemeinen Naturen, auch z. B. der Beamten, Kaufleute, Soldaten usw. Der Haupteinwand gegen den Socialismus ist, daß er den gemeinen Naturen den Müssiggang schaffen will. Der müssige Gemeine fällt sich und der Welt zur Last.

6 [107]

die Nachtfröste einer Geliebten

6 [108]

Ich schlage das Bild vor: reizt es euch, so werdet ihr es nachahmen müssen. Nicht die Ziele, sondern die Befriedigung des bereits vorhandenen Triebes zwingt zu dieser oder jener Moral. Nicht die Vernunft! wenn nicht im Dienste eines Triebes!

6 [109]

Aus welchen erbärmlichen Elementen der deutsche Socialismus besteht in seinen Führern, ist daraus zu ersehen, daß keiner die volle Enthaltung von geistigen Getränken gefordert hat—und doch ist diese Plage viel verhängnißvoller als irgend ein socialer Druck!

6 [110]

die bösen Triebe sind durchaus nicht unangenehm, sondern böse und gute sind angenehm. Sie werden unangenehm nur durch das 1) Übermaß und 2) in ihrem Gehemmtsein durch andere Triebe. Beherrscht uns z. B. die Meinung von der Schändlichkeit der Wollust (der Trieb der Ehe als Grundlage) oder die von den bösen Folgen im jenseits, so wird der Trieb uns unangenehm beigemischt, ja er kann wie etwas rein Ekelhaftes empfunden werden. Ebenso kann der Hang zum Mitleid als erbärmliche Schwäche und als unangenehm empfunden werden. Das Denken, maßlos, wirkt als Schmerz, selbst beim Enthusiasten des Denkens; das Übermaaß ist eine erzwungene Äußerung des Triebes, d.h. die Hemmung des vergehenwollenden (müden) Triebes—also auch Hemmung der Entwicklung. Alle Entwicklung lustvoll.

6 [111]

das Genie das Erzeugniß glücklicher Zufälle: seine Bedingungen weiß man nicht voraus. Die reine Begünstigung im Sinne der bisherigen Moralität macht durchaus kein Genie und keine Fruchtbarkeit; von der Erziehung und Verwendung der bösen Triebe und Zufälle weiß die Moral nichts, desto mehr die praxis. Es ist unmöglich, Genies absichtlich zu fördern—dann müßte man sie durch und durch kennen. Frauen, in ihrer Absicht der Förderung, richten sie gewöhnlich zu Grunde.

6 [112]

Welche entsetzliche Lage früher! Unsicherheit der Erkenntniß auch in der Moral, und ewige Gefahren! Das war eine ruhige unbefangene Art dem Gedanken und der Wahrheit nachzuhängen!! Unter der Peitsche der Furcht vor der Hölle! Oder in der Furcht vor der Sünde gegen die ewige Liebe, vor dem Zweifel an der Offenbarung!!

6 [113]

Die paradoxe Tugend z. B. Großmuth als ein Wunder angestaunt und sehr verehrt!

Anders jene, die den Zwang eines Triebes fühlen und deren Herrschsucht stolz sich gegen ihn wehrt, die deshalb ins Gegentheil umschlagen.

Anders, die welche mehr von der Befriedigung erwarteten und, enttäuscht, an dem Triebe sich rächen.

Anders: sich schwach feige gezwungen vor der Todesfurcht fühlen und in Verachtung seiner selbst das Gegentheil von dem thun, was die Todesfurcht räth.

6 [114]

die Motive der Moralgesetzgeber für ein Gesetz und deren Umwandlung in denen, welchen das Gesetz gegeben wird NB

6 [115]

Die angeblichen Wirkungen moralischer Gefühle, während deren Erscheinen selber schon eine Wirkung des beruhigten Nervensystems usw. ist, nicht die Quelle der Beruhigung NB.

6 [116]

Alle Menschen bemühen sich, ihrer Pflicht einen unbedingten Charakter zu geben: sie fühlen sich erniedrigt bei dem Gedanken, daß sie einem Menschen, Fürsten Staate Partei aus Furcht sich opfern und einem anderen Intell[ekt] ihren Int[ellekt] unterordnen: sie wünschen, daß eine nicht mehr beschämende Übergewalt existirt, die ihnen gebietet, sich so unter[zu]ordnen, eine absolute Pflicht, ein Wort Gottes (z. B. seid gehorsam der Obrigkeit) Auch jetzt noch suchen die Moralphilosophen die Ethik endgültig zu fundamentiren: ohne dies, fühlen sie, hat man kein Recht zum großen Pathos, zu schönen Attitüden als Politiker und Socialist. “Man muß ein Wesen haben, dem man unbedingt sich anvertraut” sagt Luther d. h. wir wollen uns selber unbedingt vertrauen dürfen und unsere Handlungen als indiskutabel und absolut erhaben der Welt gegenüber stellen. Eitelkeit!

6 [117]

Das was uns oft zwingt (und zwar mit dem Gefühl der Zustimmung, obschon es kein angenehmer Zwang ist!) nennen wir Pflicht. Durch häufige Übung entsteht daraus eine angenehme Gewöhnung: und dann ist es Lügnerei, noch von seiner Pflicht zu reden. Aber es geschieht fast immer. Fast jeder stellt seine Thätigkeit als eine unangenehme Sache vor, er will wegen seiner Selbstüberwindung d. h. wegen seiner Macht bewundert werden. Es giebt so viele erlogene Unannehmlichkeiten des Daseins! Ebenso viele erlogene Annehmlichkeiten, bei Fürsten Frauen Festen Müssiggängern Reisenden Christen Tugendhaften Völkern Parteien Philosophen Schriftstellern: man stellt sein “Glück” aus, meist um damit weh zu thun, Neid zu erregen.

6 [118]

Der Versud sämmtliche moralischen Triebe in den religiösen Tr[ieben] aufzulösen: Gott befiehlt und seinetwegen thut man etwas. Es ist nicht moralisch mehr. Daß man Gott fürchtet oder liebt, ist nicht eine Folge der Moralität, sondern eine Überlegung des Vortheils. Dies ist der christliche Standpunkt. Es soll nur religiöse Handlungen geben, alle Motive sind egoistisch, und die religiöse Handlung selber wird aus Egoismus gethan. Oder: jede Handlung ist böse. Also auch die religiöse. Deshalb Gnadenwahl! Dagegen sagen die Quietisten: ich handle nicht mehr um meinetwillen, sondern um Gottes willen. Welcher Tiefstand der Selbstkenntniß! Welche Unredlichkeit gehört dazu! Man ermesse es an der Frau, die sagt “ich thue alles um meines Geliebten willen!” Es ist nicht wahr! ja selbst dies “um des G[eliebten] willen” thut sie um ihrem Triebe zu folgen und nicht seinem. Denn da würde sie handeln wie er: was unmöglich ist. Sie kann nur nach dem Bilde des Geliebten handeln, das sie sich von ihm macht: ihr Erzeugniß wird gewiß nicht = dem Geliebten, sondern ein Stück von ihr.

6 [119]

In jedem kleinsten Augenblick giebt es in uns eine absolute Nothwendigkeit des Geschehens. Könnten wir diese einsehen, so könnten wir sie für jeden Fall mit dem Namen unbedingter Pflicht belegen, wenn wir durchaus uns frei lügen wollten! Wir sagen: ich will, wo wir [sagen] müßten: “ich muß”: und sagten voraus, was eben geschehen wird, mit der Miene eines Wahrsagers und Pflichthelden. Dies wäre die Spitze aller Verlogenheit. Glücklicherweise weiß man jene Causalität nie : und “ich will” heißt immer “wenn ich kann.” “Es ist meine Pflicht” heißt: “unter der Bedingung daß ich die Kraft habe, wird es gehen.” Der Sonne befehlen aufzugehen, wenn sie gerade aufgeht, das ist die Freiheit unserer Tugendhaften. Wenn wir fühlen, daß ein belobtes und beliebtes Motiv in uns wirkt, dann zu sagen “ich will”! (soll heißen: “ich befehle mir”)— — —

6 [120]

da alle unsere Handlungen absolute Nothwendigkeiten sind, und ebenso absolute Unbekannte für uns, so ist jedes “du sollst unbedingt” in den Wind geredet. Weder können wir anders als wir müssen, noch können wir im Einzelnen controliren, ob etwas geschehen ist, was wir sollten.

6 [121]

Die unangenehmen, an sich leidenden Individuen sollen die Tendenz zum Staate, zur Gesellschaft, zum Altruismus haben! Und die angenehmen, sich trauenden Individuen sollen den entgegengesetzten Trieb von jener Moralität weg, haben! NB NB

6 [122]

Die Skepsis hat ihre Parallele: “lieber hungern als etwas Ekelhaftes essen.” Die Ansichten der Autoritäten sind uns ekelhaft geworden—lieber verhungern! Dies ist eine seltene Passion: die Skepsis ist eine Passion.

6 [123]

Zu wissen, “dies ist gesund, dies erhält am Leben, dies schädigt die Nachkommen”—ist durchaus noch kein Regulativ der Moral! Warum leben? Warum durchaus froh leben? Warum Nachkommen?— Gesetzt, es wäre dies alles angenehmer als das Gegentheil, sterben, krank sein, ohne Nachkommen isolirt sein: so wäre vielleicht irgend etwas angenehmer als diese Annehmlichkeiten z. B. das Gefühl seiner Ehre oder einer Erkenntniß oder einer Wollust, deretwegen wir das Sterben oder die Krankheit oder die Einsamkeit wählen müßten. Warum die Gattung erhalten? Man verweist uns an die Triebe: aber es giebt weder einen Trieb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der Gattungs-Erhaltung. Das Nicht sein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein: dann hat die physiologische Ethik nichts zu sagen. Oder wir uns selber als der Staat die Gesellschaft, die Menschheit. Was bestimmt denn dies Wertherscheinen? Ein Trieb. Die Moral kann nur befehlen—d. h. durch Furchterregung sich durchsetzen (also mit Hülfe eines Triebes), oder sie kann mit Hülfe eines anderen Triebes sich legitimiren—sie setzt immer schon ihre unmittelbare Bewiesenheit und überzeugende Kraft voraus, sie kommt, wenn der Trieb und die Werthschätzung bestimmter Art schon da ist. Dies gilt von allen Ethiken. Auch ein Trieb, individuell zu leben, ist da: ich denke in seinen Diensten. Andere, die ihn nicht haben, werden zu nichts von mir verpflichtet werden können. “Pflicht” ist der Gedanke, durch den ein Trieb sich souverän über die anderen Triebe stellt—immer mit Benebelung des Verstandes! mit einem bestochenen Diener!

6 [124]

“Arrangire dich so, daß du das größtmögliche Glück von deinen Eigenschaften hast” das ist albern! Denn ohne allen Befehl: genau dies erreicht ein Jeder, er mag leben, wie er will—nämlich muß! Daß er Vorschriften und Kenntnisse des Nützlichen erlangt, erwerben will, verlernt, abweist, das alles ist ein nothwendiges Wirken seiner Natur. Die Moral kann nichts thun als Bilder des Menschen aufzustellen wie die Kunst: vielleicht daß sie auf diesen und jenen wirken. Sie kann sie, streng genommen, nicht beweisen. “Höher” und “tiefer”—das sind schon Illusionen unter dem Eindruck eines moralischen Musters. Diese Bilder nämlich wirken als Reize, entzünden einen Trieb und verführen den Intellekt, ihm zu dienen. Nun ist unser Intellekt schon in einer bestimmten Höhe, ebenso unser Geschmack: also werden wir sehr viele Bilder abweisen,—sie ekeln uns an: in einem gegebenen Augenblicke unserer Kräfte können wir nicht anders als diese Bilder nachahmen. Dieser psychologische Zwang erscheint uns oft als “Pflicht”: das Gefühl der unbedingten Nothwendigkeit, der Ausdruck der Causalität. Das innere Müssen. Z. B. in Hinsicht auf das Einmaleins, die Mechanik empfinden wir als Denker Pflicht, ebenso bei A = A : Menschen eines schlechten Intellekts fühlen hier den Zwang nicht. Natürlich ist dies subjektive Gefühl des Zwanges eben nur subjektiv. Viele Personen haben in nichts ein solches strenges Gefühl. Aber der Ekel, der uns befällt, beim Anblick von Maden, ist ein Zwang: einen solchen Zwang verschönern wir uns mit dem Worte Pflicht, wo wir genau wissen, daß gegenstrebende Zwange da sind.(??)

6 [125]

“Werde ein vernünftigerer freierer gefühlsvollerer, vollkommenerer Mensch, strebe nach der Vervollkommnung deiner Gattung?” Worauf dies Gesetz gründen? Auf den Nutzen des Individuums oder des Collectivums.

Manche sagen: alle Fähigkeiten entwickeln, indem man die welche Mittel und Organe sind denen unterordnet, die das eigentümliche Ziel der Menschen machen. Unsere Natur ist complex: man muß in ihr Thatsachen höherer und niederer Ordnung unterscheiden. Aber wodurch bin ich verpflichtet einem Ziele der Gattung zu folgen, wenn zufällig für mein Individuum die gewöhnliche Ordnung der Ziele und Mittel umgedreht ist? z. B. wenn ich mehr Hang zu den Freuden des Fleisches als denen des Geistes habe und einen eigenen Kopf, und das Bischen Geist eben das Mittel ist für meine Begierden? Hier hilft man mit metaphysischen Einfällen: die wahre Natur des Menschen, seine geistige Bestimmung und dergleichen.

“Du darfst ein Ziel wollen, wenn du es kannst.” Ohne diese Bedingung: heißt es dem Menschen ein unbedingtes Vermögen geben, eine Kraft ohne Bedingung. Eine unbedingte Pflicht implicirt ein unbedingtes Vermögen sie zu erfüllen: sonst ist es eine Pflicht für ein anderes Wesen als ich, eine in der Luft aufgehängte Pflicht.— Wer von Pflicht und Freiheit redet, setzt metaphysische Principien voraus.

6 [126]

Es ist unwahr, daß die Religion die Moral gegeben hätte—umgekehrt! Wir beweisen die Religion mit der Moral als wahr oder unwahr.

6 [127]

Unsere moralischen Triebe drängen den Intellekt, sie zu vertheidigen und absolut zu nehmen, oder sie neu zu begründen. Unsere Selbsterhalt[ung]striebe treiben den Intellekt, die Moral als relativ oder nichtig zu beweisen. Es ist ein Kampf der Triebe—im Intellekt abgespielt. Der Trieb der Redlichkeit tritt dazwischen—nebst den Trieben nach Aufopferung, Stolz, Verachtung: ich.

6 [128]

“der Erde Lust, der Erde Weh zu tragen” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. 1, 465. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 11. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1854:22.]

6 [129]

Unser nervöses Zeitalter prätendirt, daß eine ewige Erregtheit und Ungleichheit der Stimmung die großen Menschen auszeichne: sie wissen nichts von dem gleichmäßigen tiefen mächtigen Strömen nach einem Ziele zu: sie plätschern und machen Getöse und fühlen nicht die Erbärmlichkeit dieser launischen Erregbarkeit.

6 [130]

Der Intellekt ist das Werkzeug unserer Triebe und nichts mehr, er wird nie frei. Er schärft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thätigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch. In unserer größten Gerechtigkeit und Redlichkeit ist der Wille nach Macht, nach Unfehlbarkeit unserer Person: Skepsis ist nur in Hinsicht auf alle Autorität, wir wollen nicht düpirt sein, auch nicht von unseren Trieben! Aber was eigentlich will denn da nicht? Ein Trieb gewiß!

6 [131]

Wie ein Baum sich entfalten kann, ist nur durch ein Musterexemplar zu beweisen. Ohne solches hat man keinen Begriff, ihn über das herkömmliche Maaß hinaustreiben zu wollen, und ist zufrieden. Die ausgezeichneten Menschen machen die anderen mit sich unzufrieden: — — —

6 [132]

wie Sand zwischen den Zähnen

6 [133]

Ich höre den Ton eifersüchtiger Kater, in diesen neidischen Äußerungen

6 [134]

Der Moralist, der eine Moral gründen will, wird getrieben, einen letzten Zweck anzugeben. “Wenn ihr gesund sein wollt, so müßt ihr mäßig sein. Aber ihr müßt gesund sein wollen: denn es ist eine Bedingung, um glücklich zu sein oder um seine Ziele zu erfüllen oder usw.” Ein neues Ziel zeigt sich hinter jedem Ziele: und der Moralist endet, den Zweck des Daseins angeben zu müssen. Ich könnte sagen: Zwecke des Daseins giebt es nicht, also ist eine Moralität um einen Zweck des Daseins zu erreichen nicht möglich. Aber man glaubte an solche Zwecke: und folglich konnte man eine Moral mit Forderungen gründen. Zuletzt entstehen nothwendig Arten und Gewohnheiten des Lebens und üben einen Zwang aus, weil es unangenehm ist, ihm zu widerstreben.

6 [135]

“Pflicht” heißt: ein Ziel wollen nicht um eines anderen willen, sondern um seiner selbst willen: also ein absolutes Ziel. Der kategorische Imperativ, ein Befehl ohne Bedingungen. Darauf gründete Kant eine Metaphysik: denn giebt es ein Ziel ohne Bedingung, so kann dies nur das Vollkommene oder das unendliche Gut sein: gäbe es noch etwas Vollkommeneres, oder ein höheres Gut, so wäre es nicht ein Ziel ohne Bedingung. Also: eine metaphysische Annahme zu machen, wie Kant!

6 [136]

“Was ist das Gute für ein Wesen? Die Vollendung seines Zieles. Was ist das Ziel eines Wesens? Die Entwicklung seiner Natur.” Natur, Ziel, Gut eines Wesens—drei Fragen, die sich logisch nachziehen: so daß das Gut durch das Ziel, das Ziel durch die Natur bestimmt wird. Wenn man die menschliche Natur durch Beobachtung und Analyse kennt, kann man davon das Ziel, das Gut, das Gesetz des Menschen ableiten. Denn das Gute zieht den Gedanken der Verpflichtung nach sich. Vacherot.

Das heißt: das Ziel des Menschen ist die Entwicklung seiner Natur. “Mensch sein und nicht Pferd.” Das ist nichts. Da hilft man sich mit der “wahren Natur” einer Natur wie sie ihm sein soll, nicht wie sie ist. [Vgl. Alfred Fouillée, “La morale contemporaine. — II. — Le positivisme français et la morale indépendante. I. E. Littré, La science au point de vue philosophique. — II. H. Taine, Les philosophes classiques en France. — L’intelligence. — III. E. Vacherot, Essais de philosophie critique. — La métaphysique et la science.” In: Revue des deux mondes. Sept. 15, 1880:273-306 (299f.). S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Alfred Fouillée.]

6 [137]

Ein Trieb ist stärker als der andere und bringt ihn sich zum Opfer z. B. wenn eine Mutter für ein Kind hungert und sorgt. Ganz falsch mit Spencer hierin, in der Pflege der Brut und schon in der Zeugung eine Äußerung des altruistischen Triebes zu sehen: nicht daß es ein Anderes ist, macht einen Unterschied. Man opfert seiner Rache z. B. sein eignes Kind. Oder man opfert seinem Kinde seine Rache—je nachdem ein Gefühl stärker ist. Das Opferbringen hat nichts Altruistisches. [Vgl. Alfred Fouillée, “La morale contemporaine. — II. — Le positivisme français et la morale indépendante. I. E. Littré, La science au point de vue philosophique. — II. H. Taine, Les philosophes classiques en France. — L’intelligence. — III. E. Vacherot, Essais de philosophie critique. — La métaphysique et la science.” In: Revue des deux mondes. Sept. 15, 1880:273-306 (283f.) S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Alfred Fouillée.]

6 [138]

Wer sehr abweichend denkt und empfindet, geht zu Grunde, er kann sich nicht fortpflanzen. Somit könnte es für den Grad der Individuation eine Grenze geben. In Zeiten, wo sie peinlich empfunden wird, wie in unserer (und wie in aller bisherigen moralischen Geschichte der Menschheit), vererbt sich der Trieb dazu schlecht. In Zeiten, wo sie lustvoll empfunden wird, übertreibt sie sich leicht und macht die äußerste Isolation (und verhindert dadurch die allgemeine Fruchtbarkeit der Menschheit) Je ähnlicher, desto mehr nimmt die Fruchtbarkeit zu, jeder trifft auf ein genügendes Weibchen: also Übervölkerung im Gefolge der Moral. Je unähnlicher, desto —

6 [139]

Unsere Musterbilder sind construirt nach dem, was uns an uns das meiste Vergnügen machen würde, wenn wir es erreichten, und was wir andererseits für möglich (im Bereich unserer Kräfte und unserer Lage) halten, zu erreichen. Ein Überblick über unsere Lustempfindungen, und über unsere Kraft und den Prozeß nebst Bedingungen ist die Voraussetzung—eine hohe Leistung des Intellekts: meistens wird es eine Verzeichnung sein müssen! Deshalb lassen sich die Meisten ein Musterbild geben: und den Zwang dazu, es nachzubilden (“Pflicht,” eine Art geglaubter Kraft, anstatt einer erkannten) Das Verfehlen seines Bildes und die Verfehlung der Nachbildung macht viele schwere Unzufriedenheit—diese Malerei hat auch selten Meister. Man zeichnet sein Leben lang herum, um ein nachbildungsfähiges Muster zu erlangen: wir formen es nach dem, was wir erreicht haben und dekretiren es als das Muster—oft aus Verzweiflung.

6 [140]

Ehemals fragte man: ist der Gedanke wahr? jetzt: wie sind wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft? Entdecken wir — — —

6 [141]

Die Zeugung ist eine oft eintretende gelegentliche Folge einer Art der Befriedigung des geschlechtlichen Triebes: nicht dessen Absicht, nicht dessen nothwendige Wirkung. Der Geschlechtstrieb hat zur Zeugung kein nothwendiges Verhältniß: gelegentlich wird durch ihn jener Erfolg mit erreicht, wie die Ernährung durch die Lust des Essens.

6 [142]

Die Verfeinerung der Intelligenz verfeinert auch unsere Bosheit, und die Lust am Intellekt giebt uns zuletzt auch Lust an der verfeinerten Bosheit der Anderen. Der Fortschritt besteht in dem Grade, als der Mensch Bosheit vertragen kann, ohne zu leiden.

6 [143]

Christus trug nicht nur Gott, sondern auch den Satan in seinem Busen: das ist die Gegenrechnung bei diesem moralischen Hyperidealismus: die absolute Verdammung des Menschen, das odium generis humani. Um die Menschheit eines solchen Opfers eines Gottes werth zu fühlen, mußte man sie in’s Tiefste verachten und vor sich herabwürdigen.

6 [144]

die Moralität ist eine Summe von Irrthümern, welche sich an die Triebe angeschmolzen haben, so daß wenn der Irrthum gesagt wird, der Trieb sich regt—übrigens wechselnd und ohne concordia. Diese Irrthümer beziehen sich auf das Handeln des Menschen vom Gesichtspunkt des Lobens- und Tadelnswerthen aus: und hinter Loben und Tadeln liegt die Voraussetzung, daß man den Zweck des Menschen  kennt  und  ebenso  daß  man  die Art des  Handelns  kennt  und  daß  man  an die Freiheit des H[andeln]s glaubt: ebenso daß man an die Identität der Menschen oder bestimmter Gruppen glaubt, also mit gleichwerthigen Pflichten und Handlungen: daß man wisse, was jenem letzten Zweck nützlich ist, was nicht. Es sind lauter Anmaaßungen des Intellekts. Aber die dadurch modificirten Triebe wollen ihre Befriedigung, und dies treibt Moralsysteme auch heraus, immer neue Versuche, diese Triebe nachträglich mit der Wahrheit im Einklang zu finden—während die naiven Menschen alle anderen Erkenntnisse nach den moralischen Trieben auf ihre Wahrheit hin messen. Das Grundvorurtheil ist:—“das Moralische allein ist wahr.”

6 [145]

NB NB. Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb—sondern das Angenehme suchen, dem Unangenehmen entgehen erklärt alles, was man jenem Trieb zuschreibt. Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie (noch bei Spencer und Littré). Die Generation ist eine Sache der Lust: ihre Folge ist die Fortpflanzung d. h. ohne Fortpflanzung würde sich diese Art Lust und keine Art Lust erhalten haben. Die geschlechtliche Begierde hat nichts mit der Fortpflanzung der Gattung zu thun! Der Genuß der Nahrung hat nichts mit der Erhaltung zu thun!

6 [146]

Zu beweisen, daß egoistischer Herkunft sind a) die Liebe b) die Elternliebe c) der Wahrheitssinn d) die Gerechtigkeit. Allerdings ist die Voraussetzung, daß das Sinnenbild der Welt in allen Menschen nahe zu gleich ist, daß diese Art Irrthum mit höchster Gewalt sich vererbt hat.

6 [147]

Wir können aus allen unseren Kräften viele Gestalten formen, oder auch die Absenz der Gestalt. Es giebt eine gewisse künstlerische Freiheit in der Vorstellung unserer Muster, die wir erreichen können.

6 [148]

“Moralisches Gesetz, Pflicht, moralische Freiheit, Unverletzlichkeit, absoluter Respekt vor der Person”—alles uns verboten, damit darf man sich nicht nähren. Ebenso Zwecke der Menschheit, Zweck des Individuums—das ist nicht außer ihm zu bestimmen: es ist eine Annahme, ein mehr oder weniger willkürliches Programm—willkürlich in Bezug auf das Material, das zufällige Material seiner Kenntnisse von sich. —

6 [149]

Es giebt kein Gutes, kein Böses an sich. Die “allgemeinen Wahrheiten” der Moral wollten die Menschen einander identisch formen—durch tief mit den Trieben verbundene Irrthümer. Wie der patriotische Irrthum sie gleich macht in der Beschränktheit von Liebe und nationalem Haß.

6 [150]

“Die wahre Natur des Menschen”—verbotene Wendung!

6 [151]

Ich bin kein Mittel zu einem Zweck—es giebt in der Natur weder Mittel, noch Zwecke.

6 [152]

Es ist Unsinn, uns als Ursachen zu fassen—was wissen wir von Ursache und Wirkung!

6 [153]

Lust und Schmerz: ist es wahr, daß das individuellste Wesen von sich am meisten Lust hätte? Ja, und noch mehr, wenn es den Reiz von lauter individuellen Wesen um sich hat. “Wie aber verhindern, daß sie sich einander in die Sphäre greifen?” Aber warum verhindern! Es muß Feindseligkeit geben, damit das I[ndividuum] ganz herrlich herauskommt, alle bösen Affekte müssen da sein. Die Moralität fortgedacht! Aber die zunehmende Erkenntniß, die zunehmende Lust aneinander, die überlegene Miene bei allen schlimmen Erlebnissen, die Ressourcen der vollen Individuen in Nothfällen, im Kampfe mit dem Unveränderlichen! Zuletzt: es giebt eben nur eine Zeit für das Aufblühen der Individuation—und vielleicht muß die Menschheit an der—Moral zu Grunde gehen.

6 [154]

“Du sollst nicht tödten”—aber fortwährend tödten wir die Gedanken und Produkte Anderer, es ist nöthig, fortwährend lassen wir in uns etwas sterben, damit etwas anderes lebe. Wie das Leben des Menschen mit einem fortwährenden Absterbenlassen Hand in Hand geht: die Menschheit muß sich immer häuten.

6 [155]

Der Geschlechtstrieb macht die großen Schritte der Individuation: für meine Moral wichtig, denn er ist antisocial, und leugnet die allgemeine Gleichheit und den gleichen Werth von Mensch zu Mensch. Er ist der Typus individueller Leidenschaft, die große Erziehung dazu: der Verfall eines Volkes geschieht in dem Maaße als die individuelle Passion nachläßt, und die socialen Gründe bei der Verheiratung überwiegen.— Die Scheidung der Geschlechter ist nicht fundamental, die Zeugung ist nicht essentiell geschlechtlich, und gehört nicht zum Wesen des Lebendigen. Es ist ein sehr starker Ausdruck der individuellen Lust; je höher die Wesen sind, um so stärker wird das Individuelle daran.

“Generation ist die Wiederholung einer Zelle durch sich selber, eine Verlängerung und Reproduktion” eine Art Überfülle, wo ein Theil der vollkommenen und reichlich ernährten Masse sich trennt und oft folgt eine Fortsetzung der Ernährung auch nach der Abtrennung.

Die Generation ist eine Folge der Ernährung.

6 [156]

Die Wurzel des Verstandes ist A = A? nein! A = B, der Glaube, daß zwei gleiche Dinge da sind. Die höchste Entwicklung des Verstandes geht darauf hin, es zu leugnen und sich selber somit anzuzweifeln und zu beschränken.

6 [157]

Ist das letzte Ziel die Lust oder die Pflicht? so fassen jetzt alle das Problem. Einige sagen, es sei die logische Identität.

Keine Handlung, die überhaupt möglich ist, ist ungereimt unlogisch im Sinne der Mathem[atiker] Physiker und Mechaniker.

6 [158]

Sobald wir den Zweck des Menschen bestimmen wollen, stellen wir einen Begriff vom Menschen voran. Aber es giebt nur Individuen, aus den bisher bekannten kann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift,—also den Zweck des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, allgemein zu werden. Sollte nicht umgekehrt jedes Individuum der Versuch sein, eine höhere Gattung als den Menschen zu erreichen, vermöge seiner individuellsten Dinge? Meine Moral wäre die, dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung für sie)

6 [159]

Entwickle alle deine Kräfte—aber d. h. entwickle die Anarchie! Gehe zu Grunde!

6 [160]

Unsere Liebe zum Ideal ist die letzte Steigerung des Ernährungstriebes (ebenso Eigenliebe Eigenthumsliebe, das Bedürfniß der Macht, nach Mitteln für Leben und Gesundheit) L[ittré] [Vgl. Alfred Fouillée, “La morale contemporaine. — II. — Le positivisme français et la morale indépendante. I. E. Littré, La science au point de vue philosophique. — II. H. Taine, Les philosophes classiques en France. — L’intelligence. — III. E. Vacherot, Essais de philosophie critique. — La métaphysique et la science.” In: Revue des deux mondes. Sept. 15, 1880:273-306 (275). S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Alfred Fouillée.]

6 [161]

Die Entwicklung des Geschlechtstriebes bis zur Höhe der Menschenliebe, des Mitleids, der Aufopferung—nicht ein feindliches, sondern das höchste Gefühl der Menschheit. Littré. Non! non! [Vgl. Maximilien Paul Émile Littré, La science au point de vue philosophique. Paris: Didier, 1876.]

6 [162]

Die Identität des einen Menschen mit dem anderen erkennen—soll Grundlage der Gerechtigkeit sein? Dies ist eine sehr oberflächliche Identität. Für die, welche Individuen erkennen, ist Gerechtigkeit unmöglich—ego. [Vgl. Émile Littré, La science au point de vue philosophique. Paris: Didier, 1876:339f., 346.] Vgl. Alfred Fouillée, “La morale contemporaine. — II. — Le positivisme français et la morale indépendante. I. E. Littré, La science au point de vue philosophique. — II. H. Taine, Les philosophes classiques en France. — L’intelligence. — III. E. Vacherot, Essais de philosophie critique. — La métaphysique et la science.” In: Revue des deux mondes. Sept. 15, 1880:273-306 (277). S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Alfred Fouillée.]

6 [163]

Der Fortschritt der Moral bestünde in dem überwiegen altruistischer Triebe über egoistische und ebenso der allgemeinen Urtheile über die individuellen? Ist jetzt der locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, welches seine wohl verstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt (Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches anerkennt und fördert); ich sehe die Urtheile individueller werden und die allgemeinen Urtheile flacher und schablonenhafter werden. Ich sehe die altruistischen Triebe am stärksten beim groben Egoism der Thiere (es ist eine Gattung von Bejahung der eigenen Lust), der altruistische Trieb ist ein Hinderniß für die Anerkennung des Individuums, er will den Anderen als uns gleich haben und machen. Ich sehe in der staatlichen und gesellschaftlichen Tendenz eine Hemmung für die Individuation, ein Ausbilden des homo communis: aber der gemeine und gleiche Mensch wird nur deshalb so begehrt, weil die schwachen Menschen das starke Individuum fürchten und lieber die allgemeine Schwächung wollen, statt der Entwicklung zum Individuellen. Ich sehe in der jetzigen Moral die Beschönigung der allgemeinen Schwächung: wie das Christenthum die starken und geistigen Menschen schwächen und gleichmachen wollte. Die Tendenz der altruistischen Moral ist der sanfte Brei, der weiche Sand der Menschheit. Die Tendenz der allgemeinen Urtheile ist die Gemeinsamkeit der Gefühle, das ist ihre Armut und Mattigkeit. Es ist die Tendenz nach dem Ende der Menschheit. Die “absoluten Wahrheiten” sind das Werkzeug der Nivellirung, sie fressen die charaktervollen Formen hinweg.

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der Geschlechtstrieb, drängt die Menschen von den anderen Menschen fort, er ist ein wüthender Egoism und keine Quelle socialer Gefühle—nicht altruistisch!!

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Das Junge ist abhängig vom Erzeuger, ihm ähnlich, ihm verständlich, unterhaltend, sein Werk—mehr noch, es ist 1. nichts Feindliches, 2. nichts Fremdes, 3. nichts Todtes: diese letzteren negativen Gründe mögen erst den Reiz für das Junge geschaffen haben. Es gab so wenig oder nichts in der Welt, welches in diesen 3 Punkten ihm glich.

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Die Redlichkeit in Betreff des Eigenthums nöthigt uns zu sagen, daß wir ganz zusammengestohlen sind, und daß wir allzustumpf und unfein hierin empfinden. Das Individuum hat einen falschen Stolz in Bezug auf Stoff und Farben: aber es kann ein neues Bild malen, zum Entzücken der Kenner—damit macht es sein Vergreifen an den Gütern der Welt wieder gut. Unsere Existenz so auffassen, daß wir etwas dafür zu leisten haben—nicht als “Schuld,” aber als Vorschuß und Schulden! Wir nähren uns von Allem, es ist billig, daß wir etwas zur Nahrung Aller zurückgeben. (Christus war nicht fein in diesem Gefühle, er theilte als Eigenes mit, was Andere vor ihm erdacht hatten)

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Man leidet und verunglimpft Dinge und Menschen!. Eine schöne Art Rache zu nehmen!, indem wir unser Urtheil schädigen! Wir sind es, die an uns selber die Rache üben, wenn wir Anderes verunglimpfen und ihm schaden. Wir trüben unsere Seele, gewöhnen sie an das Falschsehen—und endlich — —

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Edel: bezeichnet, einer Auswahl angehören, Ausnahme sein. Für andere sich opfern ist ein Gelüst, mit dem man zur Ausnahme wird. In Hinsicht auf alle Anderen, welche dasselbe thun, ist man aber nicht edel, sondern gemein. Unter den “Guten” ist das Gute nicht als individuell taxirt, sondern als Regel, und wird deshalb nicht angestaunt, nicht gelobt.— Einige sehnen sich nach einer Gemeinschaft, wo ihr Individuellstes als Regel empfunden wird, wo es aufhört I[ndividuellstes] zu sein. Andere sind wüthend bei der Vorstellung solchen Gemeinwerdens. Die Ersten leiden an dem Fatum ihrer Einzigkeit, die Anderen genießen ihre Einzigkeit. Andere merken sie gar nicht.

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Zwei Interessen für Sachen: 1. zu wissen, was sie sind 2: was daraus zu machen ist.

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Im Ganzen habe ich, wie blind im Wasser schwimmend, mich der Reihe nach der mir nöthigen Nahrung genähert: Schärfung des Intellektes, nachher Aufschwung und Aufopferung des Selbst, nachher Gerechtigkeit und Selbstständigkeit, nachher umsichtige Milde gegen alles Selbständige usw. Nicht mit Urtheil: sondern das Übermaaß trieb mich immer wieder davon und der neue Geschmack that mir wohl. Der Schmerz lehrte mich, die verstreute Freude in dem Dasein würdigen, die Partei lehrte mich die Einsamkeit: der Gelehrte in mir trieb mich den Künstler zu verstehen usw.

6 [171]

Goethes vorsichtige Haltung zur Musik: sehr vortheilhaft, daß die deutsche Neigung zur Unklarheit nicht noch einen künstlerischen Rückhalt bekam.

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der angenehme Schauder beim Glockenton

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Diese handeln ganz egoistisch, aber ihr moralisches Urtheil ist erzogen, alles sofort unter dem Gesichtspunkt des Löblichen und Tugendhaften zu sehen: sie sind vollendet in ihrer Unredlichkeit gegen sich und präsentiren in der Gesellschaft das “gute Gewissen.” Andere sind höher, aber ihr Urtheil ist pessimistischen Gewohnheiten hingegeben, sie legen sich alles egoistisch aus und sie verachten alles Egoistische. Ihre edelsten Handlungen hinterlassen in ihnen einen Bodensatz von Ekel. Es sind die, welche an eine Tugend glauben, die es nicht giebt und geben kann! Sie sind redlich, aber haben von ihrer Redlichkeit nur Qual, und Ekel an sich: weil ihr Lustgefühl auf Handlungen beschränkt ist, deren sie selber sich nicht fähig wissen: aber sie schließen, es müßten Anderen diese Handlungen möglich sein: was nicht wahr ist. Der welcher sagte “ich habe das Gesetz erfüllt” war gewiß nicht sehr anspruchsvoll in der Ausdeutung desselben und kein Grübler.

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“Du sollst nicht stehlen!” Aber wo hört denn das Eigenthum auf? Ein Gedanke, ein Antrieb, ein Gesichtspunkt, der Ausdruck eines Bildes, eines Gebäudes, eines Menschen—ist es nicht alles Eigenthum? Und alles stehlen wir fortwährend. Wir stehlen alle Dinge und Sonnen in uns hinein, wir tragen alles für uns fort, was da ist, ja ehemals geschehen ist. Wir denken nicht an die Anderen dabei. Jeder individuelle Mensch sieht zu, was er alles für sich bei Seite schaffen kann.

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Die höhere Natur ist unvernünftiger als die gemeine, und hat einige Lust- und Unlusttriebe so stark, wie jener sie kaum glaublich sind. In Bezug auf diese pausirt ihr Denken mitunter oder tritt ganz in den Dienst. Man spricht von Leidenschaft; ihre Befriedigung ist ihr wichtiger als das Leben. Aber so auch die Trinker die Wollüstigen die Rachsüchtigen. Es muß das Objekt der Leidenschaft sein, was sie adelt und zum Zeichen der höheren Natur macht. Nicht Essen Trinken Wollust: sondern Dinge, welche selten stark empfunden werden z. B. Gedanken, Erkenntniß, das Wohl einer Stadt, eines Staates, der Menschheit, das Heil der Seele, das Glück Anderer. Also etwas, das gewöhnlich kalt läßt, ist hier Objekt der Leidenschaft—das macht die höhere Natur: ihr Geschmack richtet sich auf Ausnahmen. Es ist der individuelle Geschmack, der hier hervortritt: zu begreifen ist so eine Leidenschaft nicht, so wenig das Individuum zu begreifen ist. Die höhere Natur hat eine Singularität der Passion: sie ist nicht gemein, folglich nicht berechenbar. Ihre Unvernunft ist hierin groß; sie bringt einer Sache die größten Opfer, für die sie allein ein Werthmaaß hat: sie kehrt sich nicht an das Werthmaaß Anderer. Also: ein singuläres Werthmaaß im Gefühle haben macht die höhere Natur: entweder andere Dinge schätzen als geschätzt werden oder Dinge anders schätzen als sie g[eschätzt] W[erden].— Die gemeinen Naturen glauben nicht an die Verschiedenheit der Maaßstäbe d. h. sie glauben nicht an Individuen? “Ich glaube an Individuen”—so die höhere Natur?— Und sie betrügt sich oft, insofern sie individuelle Urtheile und Maaßstäbe bei Anderen voraussetzt und nicht jenen praktischen Kniff in der Hand hat, sie als Niveau-menschen zu verstehen (: wie Napoleon, der selber ein solcher war).

Eine Unterart: höhere Naturen, welche überall ihr eigenes Individuum, und ihren Maaßstab des Gefühls voraussetzen, ihre eigene Geschichte also—und nicht das Individuelle anerkennen, ebenso wenig als sie das Gemeine verstehen (z. B. Christus). Sie wissen sich selber nicht als individuell.— Die andere Art: sie wissen sich individuell, sie verstehen Individuen, aber sehen nur die Gemeinheit—diese müssen sie lernen. Vielleicht haben sie selbst die Gluth dafür, die Gemeinheit zu ergründen—es ist eine mögliche Passion (La Rochefoucauld?)

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Fortwährend ist eine Bewegung da zur Bildung von Gattungen, von Menschen mit gemeinsamem Gepräge: Städte Staaten Culturen arbeiten darauf hin. Die Statistik ist der Beweis. Die abweichenden Übergangsnaturen (zwischen zwei Gattungen) oder die entartenden sind die individuellen oder die Versuche, innerhalb der Gattungen eine Species aufzustellen.

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“Man ist nicht das, was man immer ist, man ist das, was man sehr oft ist” Rémusat. [Vgl. Madame de Rémusat: Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1880:113.]

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Also: nicht das Aufopfern macht den Edlen, damit gehört er erst in die Kategorie des Leidenschaftlichen (wie z. B. der rasend Wollüstige sich aufopfert) es giebt niedrige Leidenschaften d. h. gemeinsame und höhere individuelle. Der Edle opfert hier eine individuelle Leidenschaft: nicht daß er für Andere sich opfert, macht ihn edel, sondern die Seltenheit dieses Triebes für Andere—eine individuelle Sonderheit, wie viele andere Sonderheiten, die auch edel machen.

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Das Christenthum verlangte eigentlich nichts als ein intellektuelles Opfer: daß an Christus geglaubt werde.— Wer solchen Werth darauf legt, daß an ihn geglaubt werde, daß er den Himmel dafür garantirt—muß einen furchtbaren Zweifel gehabt haben? Oder?

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Die geflügelte Göttin, die auf einen ehernen Schild deine That einschreibt und welche die Menschen anbeten

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dieser kann die Verwandtschaftsgrade nicht fassen, geschweige daß er ein feines Gefühl der Verpflichtung für die verschiedenen hätte! ego

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Das Peinlichste für mich ist, mich vertheidigen zu müssen. Dabei werde ich inne, daß ich erst meine Art zu sein mit der Anderer vergleichen müsse und daß ich ihr verständliche Motive unterschieben müsse: daran nicht gewöhnt, weiß ich, daß es mir mißlingt. Ja jede Präsentation meines Bildes durch Andere setzt mich in Verwirrung “das bin ich ganz gewiß nicht!” ist meine Empfindung; wenn ich mich bedanken wollte, erschien ich mir unredlich.

6 [183]

Die Lehre der Mäßigung ist eine Beobachtung der Natur, was hoch und stark werden soll, muß seine Kraft immer wie ein Capital vergrößern und darf selber davon nicht leben wollen.

6 [184]

Unsere Gedanken sind als Gebärden anzusehen, unseren Trieben entsprechend, wie alle Gebärden. Darwins Theorie ist heranzuführen.

6 [185]

Wie streng ist man gegen Calvin wegen Einer Hinrichtung! Und Christus verwies alle, die nicht an ihn glaubten, in die Hölle—und Menschen, noch furchtbarer als er, fügten hinzu: “mit rückwirkender Kraft.”

6 [186]

Es giebt eine gierige und athemlose Art zu denken. Auch hier ist Moralität nöthig

6 [187]

Die Unabhängigkeit ist kein Genuß mehr, wenn ihr der Stachel fehlt.— Und bei der absoluten Unmöglichkeit eines Blicks auf die Unabhängigkeit verliert die Abhängigkeit ihr Unangenehmes. So bei der Unfreiheit des Willens—wir haben den Stachel der uralten Illusion abzubrechen! dann sind wir ganz froh und zufrieden.

6 [188]

“Das Bedürfniß über seinen Herrn Illusionen zu unterhalten, weil die menschliche Eitelkeit nicht liebt, zu erröthen über den, dem man sich unterworfen hat”

6 [189]

Ein Reich ganz unmenschlicher Necessität enthüllt sich immer mehr! Endlich lachen wir selber mit, zu sehen, wie wir ehemals mit unseren Trieben und Triebchen das zu ersetzen und verstehen meinten, mit Neigung und Haß, Wille oder Zweck usw. Die Welt als eine Menschen-Welt ist uns ein Gelächter geworden: wie die Astrologie. Unsere Stellung zu dieser Welt möglichst pathetisch einzunehmen war das Bestreben aller Philosophen: die Idealisten zuletzt wußten uns zur Hauptsache zu machen und die Welt zu einer Art Erzeugniß von uns: als ob der Spiegel sagte: “ohne mich ist nichts, ich bin der Urheber.” Zuletzt sind wir selber in das ungeheure System eingeflochten und bewegen uns in ihm: immer aber bleibt uns noch genug des Unerkannten an uns, und das bleibt der Tummelplatz unseres Hochmuthes. Ja, nachdem wir so viel von der Position des Menschen in der Welt preisgegeben, findet auf dieser letzten Stätte ein Kampf um die “höchsten Rechte der Menschheit,” einer um Leben und Tod statt. Es ist der ganze Stolz, und alle Triebe dienen ihm dabei! Der höhere Werth der Moralität wird kühn dem ganzen Weltgesetz entgegengesetzt, und menschliche Ziele als Ziel der Welt gesetzt. Mit “gut” und “schön” und “wahr” meint man die Ausnahmestellung, seine Göttlichkeit bewiesen zu haben: die Wissenschaft im Dienste der alten Triebe kämpft und vertheidigt den Gott im Menschen, nachdem sie ihn sonst hat fahren lassen—den freien Gott.

6 [190]

Napoleons Streben gieng nach Macht: er hätte den Frieden vorgezogen, wenn der ihm Vergrößerung der Macht geben würde. [Vgl. Madame de Rémusat: Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 2. Paris: Calmann Lévy, 1880:274.]

6 [191]

Niemals sich lieben lassen, sondern wo man nicht den Impuls der Gegenliebe fühlt, dann die Liebe des Anderen verhindern, und wenn es nöthig wäre, ihn zu verspotten, ja uns vor ihm zu erniedrigen! Künstler (und Weiber!) werden durch nichts gemeiner als durch das Sich-lieben-lassen. Wir sollen verhindern, daß wir das Ideal eines Anderen werden: so vergeudet er seine Kraft, sich selber sein ganz eigenes Ideal zu bilden, wir führen ihn irre und von sich ab—wir sollen alles thun, ihn aufzuklären oder wegzustoßen.— Eine Ehe eine Freundschaft sollte das Mittel sein, das seltene!! unser eigenes Ideal durch ein anderes Ideal zu stärken: wir sollten das Ideal des Anderen auch sehen und von ihm aus das unsrige!

6 [192]

Wo sind die großen Seelen hin? Was man jetzt so nennt—da sehe ich nicht mehr als Menschen, die mit einem ungeheuren Aufwand von Kraft vor sich selber Komödie spielen, vor sich selber Effekt machen wollen, und mit einer kaum erdenklichen Gier nach dem Publikum hinhorchen, weil dessen Applaus und Vergötterung ihnen selber den Glauben an sich geben soll. Ihre Wirkung auf Andere ist für diese durch allzugroße Anstrengung immer Erschöpften eine Kraftbrühe. Es ist eine Krankheitsgeschichte!

6 [193]

In Frankreich hat jede persönliche Beziehung (Liebe Freundschaft) eine Tagesgeschichte. “Beständig veränderlich”—sonst langweilig. Dies wäre für Italiener eine Marter, sie haben das ruhige Vertrauen, wie Kühe—die geringste Nuance, die sie wahrnehmen—die meisten würden sie nicht wahrnehmen—bringt sie fast um. St[endhal]

6 [194]

“Mist thut mehr Wunder als die Heiligen”—Sicilien. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, 19. April 1787. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 23. Stuttgart; Tübingen: J. G. Cotta, 1856:338.]

6 [195]

In Deutschland fehlt alle moralische Erziehung.

6 [196]

Schweigen lernen und weggehen lernen. Überall wo ein bestimmter Widerspruch zum Leben gehört und unserem Wesen die Luft nimmt, soll man weggehen.

6 [197]

“das Gefühl der Wasserwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurythmie ist” Goethe [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, 9. April 1787. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 23. Stuttgart; Tübingen: J. G. Cotta, 1856:304.]

6 [198]

Es giebt nichts Alberneres als jemanden in dem zu verhöhnen, was die Tüchtigkeit seines Berufs z. B. des Gelehrten ausmacht: wie es die verwöhnten Kinder, die Künstler sich erlauben.

6 [199]

Wirkliche Größe des Charakters bei einem Musiker hat nur S. Bach.

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der kaufmännische Geist hat die große Aufgabe, den Menschen, die der Erhebung unfähig sind, eine Leidenschaft einzupflanzen, die ihnen weite Ziele und eine vernünftige Verwendung des Tages giebt, zugleich aber auch sie so aufbraucht, daß sie alles Individuelle nivellirt und vor dem Geiste wie vor einer Ausschweifung schützt. Er bildet eine neue Gattung Menschen welche die Bedeutung haben wie die Sklaven im Alterthum. Daß sie reich werden, giebt ihnen so lange Einfluß, als die Geistmächtigen ihren Vortheil nicht kennen, und Politik machen wollen. Dieser Arbeiterstand zwingt auf die Dauer die höheren Nat[uren] sich auszuscheiden und eine Aristokratie zu bilden. Einstweilen gehören die Künstler und Gelehrten zu diesem Arbeiterstande, sie dienen ihm, weil sie viel Geld wollen. Die Unfähigkeit der Muße und der Leidenschaft ist Allen zu eigen (folglich eine große Affektation von beiden bei den Künstlern, weil diese durch etwas Ungewöhnliches unterhalten wollen) Das Geldinteresse zwingt ihnen ein politisches Interesse auf, und dies ein religiöses Interesse: sie müssen Theile von sich selber in Abhängigkeit und Respekt erhalten—deshalb die englische Bigotterie, als die des kaufmännischen Geistes.

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel