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The Will to Power
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Frühjahr 1880 3 [101-172]

3 [101]

165. Vorschriften, wie gehandelt werden soll, sind um so indiskutabler, je mehr die Einsicht der Handelnden unter der des Vorschreibenden steht. Da außer ihm niemand genau weiß, welche Folgen er von den Handlungen erwartet, so sind auch jene Folgen, welche sich thatsächlich aus den Vorschriften ergeben, indiskutabel. So stellt sich der religiöse Mensch zu Gottes Gebot, der moralische Mensch zum Sittengesetz—eine Erbschaft aus Zeiten, in denen es einen Häuptling und blind gehorchende Anhänger gab, welche in ihm ihre Vernunft sahen und ohne ihn keine hatten.

3 [102]

166. Der metaphysische Pessimist, der das Vergnügen und die Sicherheit flieht und dem Unglück und Leiden den höchsten Werth beimißt—nämlich über den Unwerth des Lebens aufzuklären—, wie dürfte er Mitleiden haben, wenn ein Anderer leidet? Er dürfte sich darüber nur freuen, wie er gleichfalls das Mitleiden zurückzuweisen hätte, wenn er in Noth wäre; andererseits würde er, wenn er den Anderen in der Freude fände, Leid über ihn empfinden und ihm die Freude zu vergällen suchen,—so sollte Schopenhauer’s praktische Moral klingen. Das Mitleiden, wie es Schopenhauer schildert, ist, von seinem Standpunkte aus, die eigentliche Perversität, die gründlichste aller möglichen Dummheiten. [Vgl. Herbert Spencer, Die Thatsachen der Ethik. Autor. dt. Ausg. nach der zweiten engl. Aufl. übers. von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart, 1879:28, 49.]

3 [103]

168. Ich weiß nicht zu erklären, wie es kommt, daß die Juden von allen Nationen die sittliche Erhabenheit auf ’s Höchste gebracht haben, im Theoretischen wie im Praktischen. Nur ihnen ist ein Jesus von Nazareth gelungen; nur ihnen ein heiliger Gott, nur ihnen die Sünde an ihm. Dazu der Prophet, der Erlöser—das sind ihre Erfindungen.

3 [104]

169. Was die Römer an den Juden haßten, das war nicht die Rasse, sondern eine von ihnen beargwöhnte Art des Aberglaubens und namentlich die Energie dieses Glaubens (die Römer, wie alle Südländer, waren im Glauben lässig und skeptisch, und nahmen nur die Gebräuche streng). Dasselbe ist ihnen an den Juden anstößig was ihnen an den Christen anstößig ist: der Mangel an Götterbildern, die sogenannte Geistigkeit ihrer Religion, eine Religion, die das Licht scheut, mit einem Gott, der sich nicht sehen lassen kann, dies erweckte Argwohn, noch mehr das, was man vom Osterlamm munkelte, vom Essen des Leibes, Trinken des Blutes und dergleichen.— In summa: die Menschen der Bildung damals meinten, Juden und Christen seien heimliche Kanibalen. Dann traute man ihnen zu, verrücktes Zeug ehrlich zu glauben, das jüdische und christliche Maaß im Glauben-können war den Römern verächtlich; der Jude in Christus war es, der vor allem Glauben forderte; die Gebildeten jener Zeit, vor denen alle philosophischen Systeme einander in den Haaren lagen, fanden dieses Glauben-fordern unausstehlich. “Credat Judaeus Apella” (Horaz).

3 [105]

170. Das Christenthum hält 1. eine fundamentale Verbesserung des Menschen für möglich ohne Verbesserung ihres Wissens, ohne Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Zustände; 2. es will Enthaltung von der Welt, aber nicht Förderung der Welt; 3. es zieht Leid und Trübsal vor, und erweckt Argwohn gegen das Wohlbefinden; 4. es zieht den Glauben dem Wissen und die Unbegreiflichkeit dem Verständniß vor und macht argwöhnisch gegen die Vernuft; 5. es beachtet Geschlecht, Stand, Volk nicht, diese Unterscheidungen sind ihm unwesentlich; wenn aber mit diesen Unterscheidungen Nothstände verbunden sind, so findet es die Aufrechterhaltung der Unterschiede wünschenswerth, um der Nothstände und ihrer Heilswirkungen halber; 6. es setzt die tiefe Verderbtheit aller Dinge und Menschen voraus und sieht den Untergang als bevorstehend an; es will diesen Untergang nicht aufhalten, es will die Welt sich möglichst verleiden.— Dächte man sich das Christenthum, in seiner ganzen Stärke aufgefaßt, als herrschend, dächte man sich, daß keine Kräfte dagegen wirken, so würde es in kurzer Zeit den Untergang des Menschengeschlechtes herbeiführen: es nimmt den Menschen die Gesundheit, die Freude, das Zutrauen, die Absichten für die Zukunft der Welt (also die Thätigkeit). Diese Consequenz geben einige Kirchenväter zu: sie sehen hier keinen Vorwurf und Einwand.

3 [106]

172. Das christliche Mitleid, ganz verschieden von dem der Inder und ihres Jüngers Schopenhauer, entsteht in Hinsicht auf die ewige Verdammniß des Anderen, auf die Ungnade Gottes, auf den Mangel an Glauben, auf die Freude am Weltlichen, auf die Fülle von teuflischem Trug, welche den Nicht-Christen, zum Beispiel den ungetauften Barbaren, ihm unbewußt, umringt: es ist ein Erbarmen über den Anschein von Glück oder über den Irrthum, mit welchem der Andere sein Unglück bejammert, Mitleid mit Unwissenheit und Irrthum also, nicht mit Schmerz—also eigentlich nicht Mit-Leid.

3 [107]

173. Fast überall auf Erden, wo eine Kirche, ein Tempel steht oder stand, hat sich einmal ein Wunder begeben, das heißt der Pilz der sakralen Baukunst schießt überall dort auf, wo religiösen Menschen ein kleiner Irrsinn begegnete. Hat man je schon an einem Orte gebaut, wo einem Menschen eine große Wahrheit zuerst aufleuchtet? wahrscheinlich nicht; aber warum auch, eine solche Wahrheit will kritisirt, nicht angebetet sein.

3 [108]

175. Der Dichter scheint fortwährend Zugänge zu einer neuen oder besseren Erkenntniß von Natur und menschlichen Dingen zu eröffnen: bevor man noch recht begriffen hat, daß was hier so aufregend winkt, ein Irrlicht ist, gaukelt schon wieder ein anderes vor den Sinnen. Die Vergleichungen, die Metaphern des Dichters sind von ihm durchaus nicht als solche gegeben, sondern als neue, bisher unerhörte Identitäten, vermöge deren ein Reich der Erkenntniß sich zu eröffnen scheint. Je weniger noch darüber fest steht, was in der Natur wirklich wahr und erwiesen ist, um so stärker ist die Wirkung des Dichters, um so größer seine Schauspielerkunst, zeitweilig den Ergründer der Natur zu repräsentiren. Die Frage, wie weit etwas, das ein Dichter sagt, wahr ist, ist eine Pedanterie. Aller Werth liegt gerade darin, daß es nur einen Augenblick wahr scheint, und dies gilt von seiner gesammten Weltbetrachtung, seiner moralischen Ordnung, seinen moralischen Sentenzen ebenso sehr wie von seinen Gleichnissen, seinen Charakteren, seinen Geschichten. Eine ernsthafte, der Wissenschaft zugehörige Meinung damit bekräftigen wollen, daß irgend ein Tragiker etwas Ähnliches gesagt hat, ist eine Albernheit: Dichter haben in Dingen der Erkenntniß immer Unrecht, weil sie als Künstler täuschen wollen und als Künstler gar nicht das Bestreben nach höchster Wahrhaftigkeit verstehen; sagen sie zufällig etwas Wahres, so ist ihre Autorität nicht geeignet, Glauben, sondern Mißtrauen zu erwecken. Es ist ein solcher Genuß, daß der erkennen wollende Trieb auch einmal mit sich spielt und von einem Zweige zum andern hüpft, mit reizenden Tönen und bunten Federchen geschmückt—und wir sollten Narren sein und da ein Orakel erwarten, wo ein Vogel singt und tirilirt!

3 [109]

176. Hier wird eine Handlung geschätzt, weil sie dem Handelnden schwer fällt, dort eine andere, weil sie ihm leicht fällt, dort eine, weil sie selten ist, dort eine, weil sie nach der Regel ist, dort eine, weil der Beurtheilende sie bei sich für unmöglich hält, dort eine, weil der Beurtheilende sie überhaupt für unmöglich hält (ein Wunder), dort eine, weil sie für nützlich gilt, dort eine, weil sie keine Rücksicht auf Nutzen zeigt, dort eine, weil der Mensch so für sein bestes Heil sorgt, dort eine, weil er nicht dabei für sich sorgt, dort, weil sie Pflicht ist, dort, weil sie Neigung ist, dort, weil sie ohne Neigung gethan wird, dort, weil sie Instinkt ist, dort, weil sie hellste Vernunft ist—und alles das heißt man gelegentlich sittlich! Man handhabt jetzt die Maaßstäbe der verschiedensten Culturen zugleich und vermag durch diese beinahe jedes Ding als sittlich oder als unsittlich abzuschätzen, wie man eben will, das heißt je nach unserm guten oder bösen Willen gegen die Mitmenschen oder gegen uns selbst; die Moral ist jetzt die große Topik des Lobens und Tadelns—, aber warum immer loben und tadeln? Könnte man sich dessen entschlagen, so hätte man auch die große Topik nicht mehr nöthig.

3 [110]

177. Der trübe Ernst, die Spannung und die Furcht sind allen Leidenschaften gemeinsam: es ist in ihnen kein Überschuß von Leben, ja es scheint, als ob nicht genug davon vorhanden sei.

3 [111]

179. Jetzt sucht man vor allem das Menschenleben zu erhalten: dies giebt unserer Cultur den Anstrich der Feigheit und der Alten-Manns-Gier nach langem Leben; ehemals, wo man das Leben viel zufälliger verlieren konnte, als jetzt, gehörte es zum Wesen der Tugend, daß man das Leben leicht wegwarf und sehr viele Dinge für höher im Preise hielt.

3 [112]

180. Das moderne Leben will so sehr wie möglich vor allen Gefahren geschützt sein: mit den Gefahren aber geht viel Munterkeit, Übermuth und Anregung verloren, unsere groben Remeduren sind Revolutionen und Kriege.

3 [113]

181. Mit dem Almosen unterhält man den Zustand, der als Motiv des Almosens wirkt, man giebt also nicht aus Mitleiden, denn dieses würde den Zustand nicht unterhalten wollen.

3 [114]

181. Der Kraftüberschuß sucht den Kampf und wird darin böse; das Bösesein ist aber hier doch nur Mittel (zum Zweck der Entladung) und deshalb harmloser, als beim Schwachen, der böse ist, um weh zu thun.

3 [115]

183. Will man behaupten, daß der Germane für das Christenthum vorgebildet und vorbestimmt gewesen sei, so darf es Einem nicht an Unverschämtheit fehlen, denn das Gegentheil ist nicht nur wahr, sondern auch handgreiflich. Woher sollte auch die Erfindung zweier ausgezeichneter Juden, des Jesus und des Saulus, der zwei jüdischesten Juden, die es vielleicht gegeben hat, gerade die Germanen mehr anheimeln, als andere Völker? (Beide meinten, das Schicksal jedes Menschen und aller Zeiten, vorher und nachher, nebst dem Schicksal der Erde, der Sonne und der Sterne, hänge von einer jüdischen Begebenheit ab: dieser Glaube ist das jüdische Non plus ultra.) Wie reimt sich die höchste moralische Subtilität, welche ein Rabbiner- und nicht ein Bärenhäuter-Verstand so geschärft hat, und welcher die Erfindung des heiligen Gottes und der Sünde an ihm zuerst gelungen ist, das Gefühl der Unfreiheit und Knechtschaft in einem grenzenlos ehrsüchtigen Völkchen, sein Ausschauen nach dem Erlöser und Vollender aller Hoffnungen, die priesterliche Hierarchie und das volksthümlichere Asketenthum, die überall fühlbare Nähe der Wüste, und nicht die des Bärenwaldes,—wie reimt sich dies alles zum faulen, aber kriegerischen und raubsüchtigen Germanen, zum sinnlich kalten Jagdliebhaber und Biertrinker, der es nicht höher als bis zu einer rechten und schlechten Indianer-Religion gebracht hat und Menschen auf Opfersteinen zu schlachten noch vor zehnhundert Jahren nicht verlernt hatte?

3 [116]

184. Nicht die Sittenverderbniß—diese beschränkte sich auf fünf bis zehn Städte des ungeheuren Reiches—, sondern die Ermüdung, welche überall eintrat, weil man am Ziele zu sein glaubte, in Betreff der Cultur und der staatlichen Formen, führte die alte Welt in die Schlinge des Christenthums; die Menschen wollen lieber untergehen, als sich am Ende wissen, das Ausleben als einziger Zweck des Lebens ist ihnen ein unerträglicher Gedanke; man war seiner selbst und der Welt müde: das Christenthum machte Alles wieder interessant, indem es alle Werthurtheile umdrehte und hinter das Ende aller Dinge ein Gericht setzte.

3 [117]

185. Das Christenthum erscheint als eine epidemische Panik; es war prophezeit worden, daß in Kürze die Erde untergehen würde. An den Gedanken dieser furchtbaren Gefahr rankten sich benachbarte Gedanken an,—Untergang warum? um unserer Sünden halber? also vielleicht ein Gericht? und wo ein Fürsprecher? usw. Zuletzt erschien es als das allgemein Rathsamste, in gewohnter antiker Weise vor die Richtstätte zu treten, das heißt in dem denkbar erbärmlichsten und mitleiderweckendsten Zustande. Dieses Bild des antiken Angeklagten halten später die Anachoreten fest,—sie wollen jeden Augenblick bereit sein und die Vorstellung des plötzlich hereinbrechenden Gerichtes ließ sie Alles ersinnen, wodurch ein Mensch bejammernswürdig erscheint; Gott solle es, wie ein römischer Prätor, nicht aushalten, ein so verkümmertes und entsetzlich leidendes Wesen als schuldig zu behandeln. Das Christenthum kennt nur den würdelosen Schuldigen.

3 [118]

187. Der Dichter läßt den erkennenwollenden Trieb spielen, der Musiker läßt ihn ausruhen,—sollte wirklich Beides neben einander möglich sein? Sind wir ganz der Musik hingegeben, so giebt es keine Worte in unserem Kopfe,—eine große Erleichterung; sobald wir wieder Worte hören und Schlüsse machen, das heißt sobald wir den Text verstehen, ist unsere Empfindung für die Musik oberflächlich geworden: wir verbinden sie jetzt mit Begriffen, wir vergleichen sie mit Gefühlen und üben uns im symbolischen Verstehen,—sehr unterhaltend! Aber mit dem tiefen seltsamen Zauber, der unsern Gedanken einmal Ruhe gab, mit jener farbigen Dämmerung, welche den geistigen Tag einmal auslöschte, ist es vorbei.— Sobald man freilich die Worte nicht mehr versteht, ist Alles wieder in Ordnung: und dies ist glücklicherweise die Regel; immerhin sind billigerweise schlechte Texte den besseren vorzuziehen, weil sie kein Interesse auf sich lenken und überhört sein wollen.— Die Oper will die Augen zugleich beschäftigen, und weil bei der großen Menge die Augen größer sind, als die Ohren, was viel sagen will, so richtet sich die Musik der Oper nach den Augen und begnügt sich, charakteristische Fanfaren zu blasen, sobald etwas Neues zu sehen ist,—Anfang der Barbarei.

3 [119]

189. Ein Mädchen, das ihre Jungfernschaft hingiebt, ohne daß der Mann feierlich vorher vor Zeugen geschworen hat, das ganze Leben nicht mehr von ihr zu lassen, gilt nicht nur für unklug: man nennt sie unsittlich. Sie folgte nicht der Sitte, sie war nicht nur unklug, sondern auch ungehorsam, denn sie wußte, was die Sitte gebietet. Wo die Sitte nicht so gebietet, wird das Betragen eines Mädchens in jenem Falle auch nicht als unsittlich bezeichnet, ja es giebt Gegenden, wo es sittlich genannt wird, seine Jungfernschaft vor der Ehe zu verlieren.— Also den Ungehorsam trifft der Kern des Vorwurfs, dieser ist unsittlich; ist dies genug? Ein solches Mädchen gilt als verächtlich,—aber welche Art des Ungehorsams ist es, die man verachtet? (Die Unklugheit verachtet man nicht.) Man sagt von ihr: sie konnte sich nicht beherrschen, deshalb war sie ungehorsam gegen die Sitte; man verachtet also die Blindheit der Begierde, das Thier im Mädchen. Insofern sagt man auch: sie ist unkeusch—denn damit kann ja nicht gesagt sein, daß sie das thut, was die ehelich angetraute Gattin auch thut, und welche man deshalb doch nicht unkeusch nennt.— Die Sitte fordert demnach, daß die Unlust des unbefriedigten Bedürfnisses ertragen werde, daß die Begierde warten könne. Unsittlich heißt also hier, eine Unlust trotz des Gedankens an die vorschriftengebende Macht nicht ertragen können. Es soll ein Gefühl durch einen Gedanken niedergerungen werden, genauer: durch den Gedanken der Furcht (sei dies die Furcht vor der heiligen Sitte oder vor der Strafe und Schande, welche die Sitte androht). An sich ist es nun keineswegs schimpflich, sondern natürlich und billig, daß ein Bedürfniß sofort befriedigt werde; somit liegt das eigentlich Verächtlich ein jenem Mädchen in der Schwäche ihrer Furcht. Sittlich sein heißt: in hohem Grade der Furcht zugänglich sein; Furcht ist die Macht, von welcher das Gemeinwesen erhalten wird.— Erwägt man andererseits, daß jedes ursprüngliche Gemeinwesen in anderen Stücken auf ’s Höchste gerade die Furchtlosigkeit seiner Mitglieder nöthig hat, so ergiebt sich, daß, was im Falle des Sittlichen schlechterdings gefürchtet werden soll, im höchsten Grade furchtgebietend sein muß, deshalb hat sich die Sitte überall als göttlichen Willen eingeführt und sich unter die Furchtbarkeit von Göttern und dämonischen Strafmitteln zurückgezogen: so daß unsittlich sein bedeutete das unbegrenzt Furchtbare nicht fürchten.— Von Einem, der die Götter leugnete, war man Alles gewärtig, es war dadurch der fürchterlichste Mensch, den kein Gemeinwesen ertragen konnte: weil er die Wurzeln der Furcht ausriß, auf denen das Gemeinwesen gewachsen war. Man nahm an, daß in einem solchen Menschen die Begierde schrankenlos walte: man hielt jeden Menschen ohne diese Furcht für grenzenlos böse.— Nun geht aber völlige Furchtlosigkeit auf einen Mangel an Phantasie zurück; der böse Mensch in diesem Sinne wird immer ein Mensch ohne Phantasie sein. Die Phantasie der Guten war eine Phantasie der Furcht, eine böse Phantasie,—eine andere kannte man noch nicht. Die böse Phantasie sollte die böse Begierde niederhalten, das war das alte Sittengesetz; die beständige Herrschaft der Furcht über die Begierde machte den sittlichen Menschen aus. Daraus entsteht als Anzeichen des Sittlichen die Asketik: Ertragenkönnen, Wartenkönnen, Schweigenkönnen, Hungernkönnen—das ist zum Beispiel die Moralität der Indianer.— Man leitete die verhältnißmäßige Sicherheit der Gemeinschaft von der Fähigkeit ab, sich oft und stark unangenehme Bilder vor die Seele zu stellen, vermöge deren man sich der sofortigen Befriedigung schmerzhafter Bedürfnisse enthalten konnte. Es sind die Bilder der Strafen und der Schande, und zwar vor allen die unbestimmteren, unheimlicheren Strafen von Göttern und Geistern: während bei den Strafen der weltlichen Gerechtigkeit nicht zuerst an die abschreckende Wirkung gedacht werden darf (zumeist handelt es sich bei ihnen um Bußgelder, vermöge deren ein Schaden wieder gut gemacht werden soll). Selbst die Aussicht auf die schmerzhaftesten Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, auf Tod mit Martern und dergleichen, thut in wilderen Zeiten lange nicht die Wirkung, wie die Aussicht auf Götter- und Geister-Strafen: man fürchtete damals den Tod viel weniger, als heute, und war im Ertragen von Martern geübt und stolz; um solcher Gründe willen sein Rachegelüst, sein Raubgelüst, seine Wollust in Schranken zu halten, würde man kaum für männlich gehalten haben; anders ist es, wenn mit Wahnsinn, Furien, Ausschlag, weißen Haaren, mit plötzlichem Altwerden, mit nächtlichen Schrecken gedroht wird: die Drohung solcher Strafen wirkt. Kurz gesagt, die Furcht, auf der damals die Sittlichkeit ruhte, war die abergläubische Furcht: unsittlich sein hieß ohne abergläubische Furcht sein.— Je friedlicher der Zustand eines Gemeinwesens ist, je feiger seine Bürger werden, je weniger sie an das Ertragen von Schmerzen gewöhnt sind, um so mehr werden die weltlichen Strafen als Abschreckungsmittel schon genügen, um so schneller erweisen sich die religiösen Drohungen als überflüssig. Der Friede also verdrängt die Religion, die unbestimmten Angstmittel der Phantasie werden nicht mehr nöthig; denn die Ängstlichkeit vor den bekannten Strafen des Staates und der bürgerlichen Achtung ist schon groß genug. In hoch cultivirten Völkern dürften endlich selbst die Strafen höchst überflüssige Schreckmittel werden; schon die Furcht vor Schande, das Erzittern der Eitelkeit ist so beständig wirksam, daß daraufhin die unsittlichen Handlungen unterbleiben.— Die Verfeinerung der Sittlichkeit nimmt mit der Verfeinerung der Furchtsamkeit zu. Jetzt ist die Furcht vor unangenehmen Empfindungen anderer Menschen fast die stärkste unserer unangenehmen Empfindungen. Man möchte gar zu gerne so leben, daß man nichts mehr thue, als was Anderen angenehme Empfindungen macht und selber an nichts mehr Vergnügen habe, bei dem nicht diese Bedingung mit erfüllt wird.

3 [120]

190. Wir begreifen den allerkleinsten Theil dessen, woraus sich jede Handlung zusammensetzt, und die lange Kette von strenge in einander greifenden Nerven- und Muskelvorgängen dabei ist uns sogar ganz unbekannt. So nehmen wir denn die Handlung als einen momentanen Akt des Willens in der Art wie ein hebräischer Schriftsteller es von Gott sagt: er gebeut und es steht da, das heißt wir machen eine Zauberei daraus und fühlen uns als Zauberer frei. Unsere Unwissenheit spielt uns den angenehmen Streich, daß sie unsern Stolz aufrecht erhält. Gelingt es einmal nicht, was wir wollen, so muß es wohl an einem feindlichen Wesen liegen, welches, wiederum durch Zauberei, zwischen unsern Willen und die That ein Hemmniß legt. Das Gute wollen und das Verkehrte thun—das schiebt der Eine dem Teufel zu, der Andere der Sündhaftigkeit, ein Dritter sieht darin die Strafe für die Schuld früherer Lebenszeiten: alle fast legen es moralisch und dämonisch aus. Kurz, nachdem wir den Wilden-Glauben an die Wunder als die Regel der Natur aufgegeben haben, hat derselbe Glaube sich in Bezug auf unsere psychologischen Vorgänge festgesetzt; hier gilt noch immer das Wunder als die Regel. In Wahrheit heißt etwas wollen ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können; darüber kann uns allein der Erfolg oder Mißerfolg belehren.

3 [121]

191. Einige zeigen Geist, Andere verbergen und beweisen ihn.

3 [122]

192. Das allgemeine Glück oder die allgemeine Nächstenliebe sind Resultate, welche vielleicht durch fortwährendes Wachsen der Moralität erreicht werden können (vielleicht auch nicht!). Nichts von den menschlichen Errungenschaften wieder fahren lassen und immer die jeweilige Höhe der Menschheit festhalten, das ist vielleicht eine Folge der allgemeinen Moralität (eine Begleit-Erscheinung); aber das, was die Menschen zu moralischen Handlungen treibt, jetzt treibt, sind nicht jene Resultate, noch weniger diese Folgen, auch etwas anderes, als das, was ursprünglich die Anerkennung moralischer Prädikate erzeugt hat. Der Ursprung der Moralität kann nicht im Moralischen liegen. Man hat also nicht zu verwechseln: erstens Resultate der Moral, zweitens Folgen der Moral, drittens Motive moralischer Handlungen, viertens Motive der Entstehung moralischer Begriffe. Und doch soll in den bisherigen Moralen Ein Ding, das “Princip,” für so verschiedene Dienste genügen.

3 [123]

193. Wir verehren, wo wir nicht begreifen, zum Beispiel bei alten Sitten, bei Worten, die mit feierlichem Tone gesprochen werden usw. Aber wir sollten unser Urtheil zurückhalten, wo wir nicht begreifen, damit der aufgethürmten Verehrung ohne Kern nicht noch mehr auf Erden werde: sieht doch unsere geistige Welt noch sehr ägyptisch aus, Wüste und ungeheure Pyramiden darin—und in den Pyramiden, meist unzugänglich, ein erbärmlicher Leichnam.

3 [124]

195. Plato mußte es noch erleben, daß die Lehre von den Ideen von einem helleren und umfänglicheren Geiste, als er war, widerlegt wurde: und der Widerlegende war noch jüngst sein Schüler gewesen. So lange die Denker ihre Erkenntnisse als ihre Erzeugnisse betrachten, so lange noch jene lächerliche Vater-Eitelkeit in ihnen wüthet, wird die Widerlegung die Dornenkrone der Philosophen sein—wie viele haben sie schon tragen müssen!—während ein Freund der Wahrheit, das heißt ein Feind des Betrogenwerdens, das heißt ein Freund der Unabhängigkeit, bei einer Widerlegung ausrufen sollte: ich bin einer großen Gefahr entronnen, fast hätte ich mich in meiner eigenen Schlinge erdrosselt. Einem so ingrimmigen und herrschsüchtigen Menschen, wie Schopenhauer war, kann man Glück wünschen, daß er es nicht errathen hat, wie kurz der Triumph seiner Philosophie sein solle und wie bald alle Prachtstücke seiner Erfindung als Trugbilder erkannt würden.

3 [125]

196. Sobald die Schulweisheit es sich träumen läßt, giebt es ein Ding mehr zwischen Himmel und Erde [Anspielung auf William Shakespeare, Hamlet i, v.]; wenn aber eine Wahrheit erkannt ist, so nimmt die Zahl solcher Dinge ab, und eine Anzahl angeblicher Sterne löscht aus. Freilich nicht etwa sogleich! sondern wie man von Sternen spricht, deren Lichtstrahlen uns erst erreichen nachdem sie längst schon zerfallen sind, so strahlen die Irrthümer noch lange ihren Glanz fort, nachdem sie widerlegt sind. Denkt man an die Kürze des Menschenlebens, so reicht auch wohl ein Irrthum aus, um das Leben vieler Geschlechter ganz in Licht zu tauchen; wenn endlich sein Glanz verbleicht und stirbt, so sind sie längst dahin und haben die äußerste Bitterkeit, die es giebt, nicht erfahren: den Stern erlöschen zu sehen.

3 [126]

197. Ein Übel geschehen lassen, das man hindern kann, heißt beinahe es thun, deshalb retten wir das Kind, das spielend auf den offenen Brunnen zuläuft, nehmen den Stein aus dem Wege, der auf eine glatte Bahn gefallen ist, stellen einen Stuhl zurecht, der umzufallen droht,—Alles nicht aus Mitleid, sondern weil wir uns hüten, Schaden anzurichten. Daran haben wir uns gewöhnt; was auch die Motive für diese Gewohnheit sein mögen, jetzt handeln wir nach Gewohnheit und nicht mehr nach jenen Motiven.

3 [127]

199. Wir können manches Wort einer fremden Sprache nicht nachsprechen, ja nicht einmal richtig hören; wir können manche Dinge nicht sehen, wenn wir nicht gelernt haben, die Theile zu sehen. Auch das Sprechen, Hören und Sehen muß gelernt werden; aber bei unserer ungenauen Beobachtung des Lernvorganges glauben wir in allen drei Fällen, der gute Wille genüge und setzen bei einem jungen Menschen, dem es mißlingt, bösen Willen voraus. Wie böse hat man sich die Menschheit dadurch gemacht, daß man ihr Unvermögen in den Willen verlegte.

3 [128]

201. Europa hat einen Exceß von orientalischer Moralität in sich wuchern lassen, wie die Juden ihn ausgedacht und ausempfunden haben. Man wird nicht das glücklichste und besonnenste Volk sein, wenn man derart im Moralischen ausschweift und es in’s Göttliche, Menschen-Unmögliche hineinverlegt. Sie sind viel gefangen und unterworfen gewesen, sie haben die orientalische Verachtung kennen gelernt dafür, daß sie in ihrem Glauben hartnäckig waren; sie haben sich gegen diesen Glauben so benommen wie asiatische Völker gegen ihre Fürsten, kriechend ergeben und voller Angst, auch nicht frei vom Gelüst der Unabhängigkeit: so bekamen sie eine unruhige, begehrliche, im Heimlichen sich schadlos haltende Phantasie, die Brutstätte jener sublimen anklägerischen Moralität und jenes wilden Heroismus, der sich ebenso in der Hingebung an ihren Heerführer Gott als in der Verachtung gegen sich selbst kund giebt. Das Christenthum hat vermöge seiner jüdischen Eigenschaften den Europäern jenes jüdische Unbehagen an sich selber gegeben, die Vorstellung von der inneren Unruhe als der menschlichen Normalität: daher die Flucht der Europäer vor sich selber, daher diese unerhörte Thätigkeit; sie stecken Kopf und Hände überallhin. Zudem ist es dem Christenthum gelungen, die rein orientalischen Gegentypen, den Anachoreten und den Mönch, als, die Vertreter eines “höheren Lebens” in Europa auftreten zu lassen; dadurch hat es eine falsche Kritik über alles andere Leben ausgesprochen und das Griechische in Europa unmöglich gemacht. Die Athener fühlten sich zwar als die unruhigsten Griechen: aber wie ruhig, wie voll von sich und anderen guten Dingen erscheinen sie neben uns! Sie wußten niemanden über sich und brauchten sich selbst nicht zu verachten.

3 [129]

202. Was ist denn die Phantasie? Eine gröbere, ungereinigte Vernunft,—eine Vernunft, die bei Vergleichungen und Einordnungen große Fehler macht, unstät im Tempo ist und von den Affekten hin- und hergegängelt wird: eine wilde und malerische Art der Vernunft, die Mutter der Scheinerkenntnisse und der “plötzlichen Erleuchtungen” (wo der Glanz einer Idee mit dem Lichte der Wahrheit verwechselt wird); beide, die Vernunft und die Phantasie sind gebärend, aber letztere wird leichter befruchtet und setzt vielmehr Mißgeburten und Mondkälber in die Welt. Vernunft ist eine Phantasie, welche durch Schaden klug geworden ist, vermöge des zunehmend besseren Sehens, Hörens und Sich-erinnerns.

3 [130]

203. Das allgemeine Gebot aller Sitten und Moralen heißt: denke nach und fürchte dich, beherrsche dich, verstelle dich.

3 [131]

204. Für die bisweilen sichtbar werdende Verdüsterung der Welt giebt es folgende Veranlassung: erstens die Kreuzung der Culturen, aus welcher viel Häßlichkeit entsteht; der beständige Anblick des Häßlichen macht düster: zweitens die moralische Phantastik des Christenthums, welche den menschlichen Handlungen nur die bösen Prädikate gelassen hat und eine Verherrlichung von Leben, Menschen, Handlungen eigentlich unmöglich machen wollte; wenn man niemals verherrlichen darf, wird man düster; drittens das Barbarische und Thierhafte, das uns zeitlich noch nicht fern genug liegt; viertens die Angst vor dem Individuellen und die Beargwöhnung desselben, weil die Gesellschaft ihrer selber nicht mehr sicher ist; fünftens die Angst vor dem Natürlichen, welche an die Stelle der früheren Angst vor der Natur getreten ist; sechstens die Vergleichung des Lebens mit imaginären Seligkeiten, von denen das Christenthum und die Dichter gesprochen haben; siebentens das übertriebene Gefühl der Verantwortlichkeit, welches alle indifferenten, kleinen und harmlosen Dinge wegstreicht und in jedem Falle so gehandelt wissen will, daß man damit einem Ankläger Stand halten kann.

3 [132]

205. Hat die Moral den Menschen wirklich mehr Glück oder Unglück gegeben? Und selbst, wenn man an Stelle von Glück “mehr Schmerzlosigkeit und geringere Schmerzen” setzt, kann man noch zweifelhaft bleiben; sie ist das Erzeugniß jener Zeiten, wo, dem Andern mit That und Urtheil wehe zu thun, eine viel größere Befriedigung brachte, als ihm eben damit wohl zu thun: die Zeit, wo man an böse Gottheiten glaubte. Die Freude an dem Wehethun durch moralische Urtheile stärkte immer den Hang zu schädlichen und grausamen Handlungen und wurde so selber die Veranlassung größeren Wehes, als das moralische Urtheil zu thun vermag.

3 [133]

206. Den moralischen und den religiösen Urtheilen ist gemeinsam: erstens der Glaube, die Erkenntniß der menschlichen Natur und des menschlichen Innern zu besitzen; zweitens beide leugnen es, nur einen lokalen und relativen Werth zu haben: wo sie auch nur erscheinen, so benehmen sie sich als absolute, allzeitlich gültige Urtheile; drittens beide glauben an Zugänge zur Erkenntniß, welche verschieden von denen sind, die die Wissenschaft kennt; viertens beide imaginiren Wesen, die nicht existiren, die religiösen Urtheile Götter, die moralischen Urtheile gute und böse Menschen und dergleichen; fünftens beide hassen die Untersuchung und sprechen von Schamlosigkeit und Schlimmerem, wenn man sie nackt sehen will; sechstens sie sind einander selber gemeinsam, sie haben sich mit einander verbunden, um sich zu stützen, und trennt man sie, so doch nie vollständig: die einen leben in den anderen weiter.

3 [134]

207. Höflich (hübsch), gentile, edel, vornehm, noble, généreux, courtoisie, gentleman—dies bezeichnet die Eigenschaften, welche man an der obersten Kaste wahrnahm und nachahmte; somit stammt ein guter Theil der Moralität wahrscheinlich aus den Instinkten dieser Klasse, als aus dem persönlichen Stolz und der Lust am Gehorsam gegen einen Chef, der Auszeichnung verleiht; sie verachten nach unten hin, sie achten nach oben hin und bei ihres Gleichen, sie verlangen selber aber von aller Welt (Ober-, Mittel- und Unterwelt) Achtung, sie gebärden sich als die bessere Hälfte der Menschheit. Dagegen bedeutete im Deutschen der schlichte Mann ehemals den schlechten Mann: so weit gieng das Mißtrauen gegen den, welcher nicht die künstlicheren Gebärden und Ausdrücke der guten Gesellschaft besaß.

3 [135]

208. Das Christenthum (und nicht nur die katholische Kirche) fährt fort, sich zu stellen, als ob es alles forderte, aber es ist sehr zufrieden, sehr dankbar, wenn es nur etwas erhält. In dieser Genügsamkeit ist jetzt auch der beste Christ, nach christlichem Maaße gemessen, schlimmer als ein Heide; er will weder für seinen Glauben leben, noch mit seinem Glauben sterben; er ist zufrieden, wenn man ihnen beiden ein Almosen giebt.

3 [136]

209. Stark empfinden, eine starke Empfindung lange anhalten lassen können und auf Einer Saite viele Melodien spielen—das macht die großen Pathetiker unter den großen Schriftstellern, zu denen auch Schopenhauer gehört: sie unterscheiden sich von den Philosophen, ob sich schon Schopenhauer zu diesen rechnete: sie wollen nämlich nicht um jeden Preis erkennen, sonder um jeden Preis ihr Lied singen.

3 [137]

210. Das Christenthum ist aus dem Judenthum hervorgegangen und aus nichts Anderem, aber es ist in die römische Welt hineingewachsen und hat Früchte hervorgetrieben, welche sowohl jüdisch als römisch sind. Dieses gekreuzte Christenthum hat im Katholicismus eine Form gefunden, bei der das römische Element zum Übergewicht gekommen ist: und im Protestantismus eine andere, bei der das jüdische Element vorherrscht; dies liegt nicht daran, daß die Germanen, die Träger der protestantischen Gesinnung, den Juden verwandter sind, sondern daß sie den Römern ferner stehen, als die katlolische Bevölkerung Süd-Europas.

3 [138]

211. Die moralischen Vorstellungen sind Genußmittel und Würzen, um derentwillen wir die nöthigen Handlungen leichter thun; ohne sie wären uns diese Handlungen widerlich oder langweilig.

3 [139]

212. Nicht an den Anderen denken, alles strengstens um seiner selber willen thun ist auch eine hohe Moralität. Der Mensch, hat so viel für sich zu thun, daß er immer fahrlässig ist, wenn er etwas für Andere thut. Weil so viel für Andere gethan wird, deshalb sieht die Welt so unvollkommen aus.

3 [140]

213. Ist nicht unsere Denkfreigeisterei als ein übertriebenes einseitiges Handeln aufzufassen, dem das Gegengewicht abhanden gekommen ist? Wird nicht auch der Künstler häufig durch sein künstlerisches Schaffen aus seinem Centrum geworfen? Sind nicht Sich-verhehlen, Sich-vergessen, Sich-verleugnen die Gefahren des fruchtbaren Einsamen?

3 [141]

214. Es ist selten, daß Einer, der berühmt geworden ist, nicht eben dadurch feige und närrisch geworden ist; die Anhänger als Masse hängen sich immer an seine Schwächen und Übertriebenheiten und haben leichtes Spiel, ihn zu überreden, daß hier seine Tugend, seine Bestimmung zu sehen sei. Ist jemals ein großer Mann von seinen Zeitgenossen darin erkannt worden, worin er groß ist? ist jemals ein berühmter Mann der Feind seiner Anhänger gewesen?— Schopenhauer war zum Narren seines Ruhmes geworden, bevor er ihn hatte.

3 [142]

218. Die größte Masse des Bösen wird aus Schwäche und Krankheit gethan, um sich das Gefühl der Überlegenheit zu schaffen (durch Wehethun), zum Ersatz des physischen Kraftgefühles. Schwäche und Krankheit aber haben ihre Wurzeln zumeist in der Unkenntniß.

3 [143]

219. Wenn uns die Freude der Anderen wehe thut, zum Beispiel wenn wir uns in tiefer Trauer befinden, so verhindern wir diese Freude, wir verbieten dann zum Beispiel den Kindern das Lachen. Sind wir dagegen froh, so ist uns der Schmerz der Anderen peinlich. Was ist denn Sympathie?

3 [144]

220. Die Gleichheit läßt das Glück der Einzelnen abnehmen, aber bahnt den Weg zur Schmerzlosigkeit Aller. Am Ende ihres Zieles stünde freilich neben der Schmerzlosigkeit auch die Glückslosigkeit.

3 [145]

221. Die Lüge und die Verstellung, welche innerhalb der Gemeinde groß gezüchtet werden, zur Herstellung der Gleichheit, ergeben zuletzt einen freien Überschuß, der sich in der Erzeugung von Dichtern und Schauspielern entladet. Man denke, welche Lust eine Gemeinde an der Aufschneiderei, Schimpferei, Taschenspielerei und ähnlichen Urkünsten hat.

3 [146]

226. Die Vaterlandsliebe nimmt ab, wenn das Vaterland aufhört, unglücklich zu sein.

3 [147]

227. Die Fanatiker haben zwar keine moralischen, wohl aber intellektuelle Gewissensbisse; sie nehmen an allen Andersdenkenden dafür Rache, daß sie selbst im Grunde und heimlich und unter ingrimmigem Schmerzgefühl—anders denken.

3 [148]

228. Die Natur benutzt das Gehirn, um dem Unterleibe eine Funktion zu erleichtern und umgekehrt.

3 [149]

229. Es giebt keine unmittelbare instinktive Furcht vor dem Tode; man flieht vor dem Schmerz, der an der Pforte des Todes steht, vor dem Unbekannten, zu dem der Tod führt und das er selber ist; man will sich noch oft freuen, deshalb will man leben, deshalb erträgt man auch das Leiden. Auch der Selbsterhaltungstrieb ist ein Stück Mytlologie.

3 [150]

230. Hier sind Menschen, welche alle Welt mit Musik trunken machen möchten und vermeinen, dann käme die Cultur; bisher aber kam auf die Trunkenheit immerdar etwas Anderes, als die Cultur.

3 [151]

232. Das Glück liegt in der Zunahme der Originalität, weshalb andere Zeiten als die unsere reichlicher davon gehabt haben mögen.— Die Wissenschaft ist das Mittel, die Nothwendigkeit der Erziehung zur Originalität zu beweisen.— Wenn das Herkommen und das cos fan tutti die Moralität ausmachen, so ist diese der Hemmschuh des Glücks.— Die Lehre, daß die Moralität das rechte Mittel zur Schmerzlosigkeit des Lebens sei, ist gewiß das Produkt sehr schmerzlicher Zeiten.— Wenn die Originalität tyrannisiren will, so legt sie die Hand an ihr eigenes Lebensprincip.— Freude an fremder Originalität haben, ohne der Affe derselben zu werden, wird vielleicht einmal das Zeichen einer neuen Cultur sein.

3 [152]

233. Keine Mythologie hat schädlichere Folgen gehabt, als die, welche von der Knechtschaft der Seele unter dem Körper spricht.

3 [153]

237. Die Moralität wirkt malerisch, wenn sie lange durch Unmoralität aufgestaut war.

3 [154]

238. Der Intellekt der jetzigen Menschen reichte wohl aus, um aus einem Chaos ein geordnetes Sonnensystem herzustellen, aber es fehlt ihm vielleicht die dazu nöthige Zeit und vor allem das Chaos; sicherlich wäre die Welt unendlich weiter, wenn der menschliche Intellekt an Stelle des Zufalls hätte schalten und walten dürfen, auch hätte er Milliarden von Jahren gespart.

3 [155]

240. Wer sich jetzt auf die Sitte beruft, als den Grund seiner Handlungsweise, sagt beinahe: ich bin abergläubisch, oder: ich bin tolerant,—aber ehemals hieß es: ich bin klug und gut.

3 [156]

241. Das Ziel der christlichen Moralität ist nicht das irdische Glück, sondern die irdische Unseligkeit. Das Ziel des praktischen Christen, der in der Welt steht, ist nicht der Welterfolg, sondern das Nicht-mehr-handeln-müssen oder sogar der Mißerfolg. Jene Unseligkeit und diese Mißerfolge sind die Mittel und Stufen zur Entweltlichung. Giebt es noch Christenthum? Es scheint, es ist schon am Ziele seiner Entweltlichung, nämlich zur Welt hinaus. Aber es hat, bevor es schied, an die Wand seine Schrift gemalt, und diese ist noch nicht verschwunden: die Welt ist verächtlich, die Welt ist böse, die Welt ist das Verderben.

3 [157]

242. Es vollzieht sich eine Reduktion des Gefühls von Moral: alle Faktoren dieses Gefühls, welche aus Einbildungen stammen, aus Verehrungen, wo nichts zu verehren war, aus Anhäufung der Achtung, weil die Kritik gegen das Geachtete fehlte, aus der nachbarlichen Dämmerung der Religion—alles dies wird allmählich subtrahirt werden und das Resultat wird sein, daß die Verbindlichkeit der Moral für die Thörichten abnimmt. Daraus ergiebt sich die Aufgabe, mit allen Kräften danach zu streben, daß die Thörichten abnehmen.

3 [158]

243. Gewiß ist unsere gegenwärtige Bildung etwas Erbärmliches, eine faulriechende Schüssel, in der lauter geschmacklose Brocken durch einander schwimmen, Brocken von Christenthum, von Wissen, von der Kunst, an denen sich nicht einmal Hunde satt essen könnten. Aber die Mittel gegen diese Bildung etwas aufzustellen, sind kaum weniger erbärmlich, nämlich christlicher Fanatismus oder wissenschaftlicher Fanatismus oder künstlerischer Fanatismus von Leuten, die kaum auf ihren Beinen stehen können, es ist, als ob man einen Mangel durch ein Laster curiren wolle. In Wahrheit erscheint aber die gegenwärtige Bildung erbärmlich, weil eine große Aufgabe vor ihr am Horizont aufgestiegen ist, nämlich die Revision aller Werthschätzungen; dazu bedarf es aber, noch bevor die sämmtlichen Dinge auf die Wage gelegt werden, der Wage selber—ich meine jene höchste Billigkeit der höchsten Intelligenz, welche im Fanatismus ihren Todfeind und in der jetzigen “allseitigen Bildung” ihren Affen und Vortänzer hat.

3 [159]

245. Wenn wir überall, wo der Christ sich seinen Gott wirkend denkt, den Zufall an die Stelle Gottes setzen, so bekommt man einen Überblick, wie sehr der Christ in der Summe seines Handelns die Welt entgeistet und dem Zufall wieder preisgiebt (zum Beispiel wenn er in Krankheiten den Arzt ablehnt). Die Religionen haben das Reich des Zufalls verlängert, das heißt dem Geiste seine Zeit und Kraft beschränkt.— So lange wir moralisch handeln, lassen wir den Zufall, daß wir in diesem Lande geboren sind und diese Menschen um uns haben, zum Gesetz über uns werden und entziehen uns dem Geiste, welcher nur das individuelle Beste sucht.

3 [160]

246. Wir Fliegen von einem Tage wollen nicht allzugefährlich und ängstlich mit unsern Gedanken thun; man kann ja mit ihnen nicht mehr die Seele eines Andern in ewige Gefahr bringen,—was das Mittelalter glaubte. Das Princip der Gedanken- und Preßfreiheit ruht auf dem Unglauben an die Unsterblichkeit.

3 [161]

247. Welches auch immer die Stufe der Gesittung, die Lage der Gesellschaft, der Grad der Erkenntniß sei: für das Individuum ist immer dabei eine Art glücklichen Lebens möglich,—das wollen ihm die Religion und die Moral aus der Nähe zeigen und anempfehlen. Ob das Gefühl des Glücks und die Unvermischtheit desselben mit Leid wirklich wächst mit Zunahme der Erkenntniß, Verbesserung der gesellschaftlichen Lage, Erleichterung des Lebens, ist zu bezweifeln, denn es gehen bei diesem Wachsthum immer Kräfte verloren oder werden schwach, denen man ehemals das Glücksgefühl vornehmlich dankte: die Sicherheit und die Verlängerung des Lebens, worauf sich unsere moderne Welt als ihre Errungenschaften so viel zu Gute thut, sind vielleicht durch Abnahme des Glücksgefühls als durch Zunahme erkauft worden. Die Cultur um des Glücks der Einzelnen willen fördern—das wäre dem nach eine sehr zweifelhafte und vielleicht thörichte Sache!—aber sind wir einmal irgendwie im Glück, so können wir gar nicht anders als die Cultur fördern! Das neue hohe Vertrauen auf uns, die Befriedigung an unserer Kraft, das Aufhören der Furcht vor Anderen, das Verlangen nach ihrer Nähe, der Ringkampf mit ihnen im Guten, der Überschuß an Vermögen, Werkzeugen, Kindern, Dienern, dessen wir bewußt werden,—in summa: jede Art von Glücksgefühl treibt uns in die Bahnen der höheren Cultur und in ihnen vorwärts. Noth dagegen bildet uns zurück, macht uns defensiv, argwöhnisch, in der Sitte abergläubisch und überstreng. Die Cultur ist eine allmähliche Folge vom Glück zahlloser Einzelner, nicht die Absicht dieser Einzelnen!— Je individueller der Einzelne wird, um so produktiver für die Cultur wird sein Glück sein, selbst wenn dessen Zeitdauer kürzer und dessen Intensität geringer und gebrochener sein sollte, als das Glück auf niedrigeren Culturstufen. Wenn man die Förderung der Cultur dem Glücklichen versagen wollte, um das Glück im Allgemeinen auf einem hohen Grade zu erhalten, so wäre das so thöricht als dem Seidenwurme das Spinnen zu verbieten um des Glücks der Seidenwürmer willen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso, V 2, 3083-3084. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 13. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856. "Verbiete du dem Seidenwurm, zu spinnen; / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt."] Was hat man denn vom Glück jeder Art, wenn nicht eben aus ihm etwas zum Besten der Cultur thun zu müssen?— Glück ist gar nicht zu erhalten weder hoch, noch niedrig, wenn man seine nothwendigen Äußerungen unterbinden wollte. Also: die Cultur ist die Äußerung des Glücks.

3 [162]

248. Die Entstehung des kategorischen Imperativs ist nichts Erhebliches. Gewiß wollen die Meisten einen unbedingten Befehl, ein unbedingtes Gebot lieber als etwas Bedingtes: das Unbedingte erlaubt ihnen, den Intellekt aus dem Spiele zu lassen und ist ihrer Faulheit gemäßer; häufig entspricht es auch einem gewissen Hange zur Hartnäckigkeit und gefällt den Personen, welche sich ihres Charakters rühmen. Überhaupt gehört es in den Bereich des blinden militärischen Gehorsams, zu welchem die Menschen durch ihre Fürsten gezüchtet worden sind: sie glauben, daß es mehr Ordnung und Sicherheit giebt, wenn der Eine absolut herrscht, der Andere absolut gehorcht. So will man auch, daß der moralische Imperativ kategorisch sei, weil man meint, daß er so der Moralität am nützlichsten sei. Man will den kategorischen Imperativ: das heißt, es soll ein absoluter Herr durch den Willen Vieler geschaffen werden, welche sich vor sich und vor einander fürchten: er soll eine moralische Diktatur ausüben. Hätte man jene Furcht nicht, so hätte man keinen solchen Herrn nöthig.

3 [163]

249. Die Werke des deutschen Genie’s halten sich nicht, wenn sie in’s Ausland kommen: sie müssen wie die italiänischen Weine an Ort und Stelle getrunken werden.

3 [164]

250. Es ist die europäische Art des moralischen Idealismus, sich die moralischen Vorstellungen so hoch und so fein auszudichten, daß, wenn der Mensch von ihnen aus auf sein Handeln zurückblickt, er sich gedemüthigt fühlt. Diese Art Idealismus verträgt sich vorzüglich mit einem gewinnsüchtigen, rücksichtslosen, ehrgeizigen Leben, die Minute der Demuth ist Abschlagszahlung für ein Leben, welches mit jenem Idealismus nichts zu thun hat.

3 [165]

251. Was haben die Philosophen vom Glücke derer phantasirt, welche die Welt überwunden haben! Welche Wunder hat sich Schopenhauer über jenen Zustand eingeredet, wo der Mensch nicht mehr von seiner Geschlechtlichkeit incommodirt wird.

3 [166]

253. Geistesgegenwart: das heißt die Fähigkeit sich seine Worte und Handlungen durch die Umstände diktiren [zu] lassen,—ist also eine Fähigkeit zu lügen und zu heucheln.

3 [167]

254. Wenn die Lüge zu unserm Charakter stimmt, lügen wir am besten.

3 [168]

257. Es gab Götter, die das Unglück wollten, andere, die vor Unglück schützten, noch andere, die im Unglück trösteten.

3 [169]

259. Wo die Moralität am größten ist, da geht der Intellekt zu Grunde. Die Voraussetzung, daß der Nachbar uns betrügt, wo er kann, hält unsern Kopf in Spannung, und dies kann wie in italiänischen Städten mit Schelmerei geschehen, ohne daß wir dem Nachbar gram sind.

3 [170]

260. Die Ehrlichkeit verlangt, daß man anstatt der unbestimmten moralischen Worte von edlem Klange, wie sie üblich sind, nur die erkennbaren und in der Mischung überwiegenden Elemente bei Namen nenne, trotz dem Fehler der Unvollständigkeit und trotz dem, daß diese überwiegenden Elemente bisher einen bösen Klang hatten; aber wenigstens wird so ein falscher Heiligenschein zerstört. Man soll ein Ding a potiori nennen, und nicht a nihilo.

3 [171]

261. Wie soll man handeln? So, daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß durch unsere Rasse eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so, daß möglichst viel Leben erhalten bleibt? Oder so, daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben?

3 [172]

262. Die vollkommene Moralität ist die der Gerechtigkeit, welche jedem Ding das Seine giebt und nichts von Lohn, Strafe, Lob und Tadel weiß. In jeder ganzen Erkenntniß vollzieht sich diese vollkommene Moralität, jede Übung der Erkenntniß ist eine Übung dieser Moralität, und wenn sich selbst die Erkenntniß mit der gefährlichsten Kritik der moralischen Handlungen abgiebt, so ist sie dennoch ferne davon, dieselbe zu untergraben. Im Augenblick, da eine Erkenntniß zu Stande kommt, ist der Erkennende moralisch absolut vollkommen, an einer mangelhaften Erkenntniß sind gewöhnlich moralische Fehler mitbetheiligt, wie Ungeduld, Ungerechtigkeit, Neid, Hochmuth.— Aber verbergen wir es uns nicht: es giebt keine anderen als mangelhafte Erkenntnisse!

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