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Frühjahr 1880 3 [1-100] LOmbra Di Venezia. 3 [1] Vorrede Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus. Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind,häßliche Abzeichen, um derentwegen ich diese Schriften zu Ende zu lesen nicht ausgehalten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas weniger bekannt gewesen. Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Gesundheit: und wer diesen dreien zugleich wieder von Grund aus aufhelfen will, muß sich auf eine langwierige Cur gefaßt machen. Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von mir gesagt habewie es die Sitte der Vorrede zwar nicht anräth, aber doch erlaubtdarf ich wenigstens hoffen damit erreicht zu haben, daß meine neuesten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche mittheile, nicht ohne Vorsicht gelesen werden. 3 [2] 1. Wir gehen leichter an unsern Stärken, als an unsern Schwächen zu Grunde; denn in Bezug auf diese leben wir vernünftig, nicht aber in Bezug auf unsere Stärken. 3 [3] 2. Zur selben Zeit geht immer in uns eine Art Betrachtung der Welt ihrem Ende zu und eine andere wächst: denn unsre unklare Erziehung macht uns mit verschiedenen zu gleicher Zeit bekannt, und jede versucht, auf unserem Boden zu wachsen. 3 [4] 3. Unsere Liebe zur Wahrheit zeigen wir am deutlichsten in der Behandlung der Wahrheiten, welche Andere dafür halten: da verräth sich, ob wir wirklich die Wahrheit oder nur uns selber lieben. 3 [5] 5. Dies sind die abnehmenden Grade des Mitleidens: erstens Mitleid mit Eigenem (Kind, Erzeugniß, Besitz, Weib, Diener), zweitens mit dem von uns zum Eigenthum Begehrten, drittens mit uns Ähnlichem, viertens mit uns Bekanntem. Das Merkmal, welches das Mitleid vom Leiden unterscheidet, ist die Erbitterung, daß unserem Eigenthum oder Eigenthum-Ähnlichen Etwas zu Leide geschieht. Das Leiden des uns Feindlichen ist angenehm, als Anzeichen vom Schwinden einer Kraft der Feindseligkeit: am Fremden, uns Unähnlichen, beinahe angenehm, weil dies uns beinahe feindlich dünkt, wie das Ähnliche und Bekannte in uns eine Empfindung erweckt, die der Empfindung für das Eigenthum verwandt ist. 3 [6] 8. Einem kommenden Zeitalter, welches wir das bunte nennen wollen und das viele Experimente des Lebens machen soll, wird eigenthümlich sein: erstens die Enthaltung in Bezug auf die letzten Entscheidungen (sobald man nämlich eingesehen hat, wodurch diese bisher ihre ungeheure Überschätzung erhalten haben, hören sie auf für uns bedeutend zu sen); zweitens die Voreingenommenheit gegen alle Sitten und alles nach Art der Sitte Bindende; drittens eine größere Ehrlichkeit im Sichtbar-werden-lassen sogenannter böser Eigenschaften. 3 [7] 10. Es ist ein Vorurtheil daß die zweckmäßige Kost dem Menschen auch die natürliche und von vornherein angenehme sei; ursprünglich aber schmeckte wohl Vieles schlecht, und war ihm unnatürlich, was die Noth doch zu essen anbefahl; im Verlauf der Gewöhnung kam aber der Reiz und die Lust dazu. Und so steht es in vielen Dingen, die nichts mit der Nahrung zu thun haben: das Erste ist der Zwang dazu: die Freude daran ist nachgeboren und oft spätgeboren. 3 [8] 11. Der Anmaaßende stellt sich stolz, aber gerade der Stolz ist frei von Verstellung (zum Unterschiede vom Eiteln); insofern ist Anmaaßung die Heuchelei einer Art Verstellungslosigkeit und wird in dem Falle, wo sie meisterhaft gespielt wird, mit dem Stolz verwechselt. 3 [9] 12. Man trachte immerhin nach allen Freuden, aber besinne sich wohl bei jenen, welche nothwendig Unlust und Erschöpfung nach sich ziehen; dies sind je nach der Art des Menschen die betäubenden und erschütternden Genüsse der Begeisterung, des Mitleidens, der Ekstase, des Zorns, der Rache oder des Alcohols, des Opiums, der Geschlechtlichkeit usw. Zuletzt wird man als die werthvollsten Freuden weder die höchsten, noch die schwächsten, sondern die mittleren bezeichnen und erstreben: das heißt die, welche Dauer haben und keine Unlust nach sich ziehen und anderseits intensiver sind als die schwächsten. Insofern haben Plato und Aristoteles Recht, in den Freuden der Erkenntniß das Erstrebenswertheste zu sehenvorausgesetzt daß sie damit eine persönliche Erfahrung und nicht eine allgemeine aussprechen wollen: denn für die meisten Menschen gehören die Freuden der Erkenntniß zu den schwächsten und stehen tief unter den Freuden der Mahlzeit. 3 [10] 13. Bevor wir die physiologischen Zustände physiologisch verstehen lernten, meinten die Menschen mit moralischen Zuständen zu thun zu haben. Folglich hat sich das Bereich des Moralischen, außerordentlich verkleinertund wird fortwährend noch kleiner: ganz so wie die Religion im Leben der Alten umfänglicher war als im Leben des katholischen Christen, und wie wiederum der Protestant den Umfang der Religion noch einmal verkleinert hat. 3 [11] 18. Die Natur ist böse, sagt das Christenthum; sollte das Christenthum also nicht ein Ding wider die Natur sein? Sonst wäre es ja, nach seinem eigenen Urtheil, etwas Böses. 3 [12] 21. In den Leidenschaften des Menschen erwacht das Thier wieder; die Menschen kennen nichts Interessanteres, als diesen Rückgang ins Reich des Unberechenbaren. Es ist als ob sie sich an der Vernunft allzusehr lan[g]weilten. 3 [13] 22. Was man besitzt, das vertritt man, helfend und fürsorgend; was man liebt, begehrt, das heißt besitzen will, vertritt man noch lebhafter, weil der Besitz noch nicht enttäuscht, noch nicht gesättigt hat. Die Empfindung der Liebe setzt die Empfindung für das Eigenthum voraus. 3 [14] 25. Wir können dem Nächsten immer nur helfen, indem wir ihn in eine Gattung (Kranke, Gefangene, Bettler, Künstler, Kinder) einordnen und dergestalt erniedrigen; dem Individuum ist nicht zu helfen. 3 [15] 26. In Risano (Dalmatien) wurden die gefallenen Mädchen gesteinigt; noch 1802 verhinderten die Österreicher einen solchen Akt, der Vater an der Spitze des Volkes hob eben den ersten Stein auf. In der Sahara-Stadt Biskra lebt eine Zeit lang jedes Mädchen der benachbarten Völker von der Prostitution, um sich durch sie zu bereichern; der Erwerb wird dann den Eltern überbracht und es würde als unmoralisch, ja als unverzeihlich gelten, wenn Jemand nicht auf diese Weise seine Pietät ausdrückte. 3 [16] 27. Da das Mitleiden das einzelne Wehe in der Welt verdoppelt, ja verhundert- und vertausendfacht, so dürfte es wohl in den Augen solcher Götter, wie sie Kanibalen und Asketen haben, die größte Tugend heißen. 3 [17] 30. Der Tadelnde grenzt sich gegen uns ab; er ist nicht für uns eingenommen und will uns nicht einnehmen: er läßt frei, während der Lobende von uns Besitz ergreifen will. Dies beachte der, welcher sich selber kennen und dochunabhängig bleiben will. 3 [18] 32. Das Bild des Nächsten, wie es uns immer vorschwebt, ist entweder das Erzeugniß einer Fülle, die nach Entladung begehrt, oder eine Leere, die nach Füllung begehrtes ist immer ein physiologischer Zustand, für den wir kein eigentliches und bezeichnendes Wort haben. 3 [19] 33. Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen hatten die Wahrheit: selbst die Skeptiker. 3 [20] 34. Wie ist es doch geschehen, daß, in der Geschichte des Christenthums, zu den Geistig-Armen, unter und aus denen es geboren wurde, endlich auch die Geistreichen, ja selbst die Reichen des Geistes überliefen? Das Christenthum als große Pöbel-Bewegung des römischen Reichs ist die Erhebung der Schlechten, Ungebildeten, Gedrückten, Kranken, Irrsinnigen, Armen, der Sklaven, der alten Weiber, der feigen Männer, im Ganzen aller derer, welche Grund zum Selbstmord gehabt hätten, aber den Muth dazu nicht hatten; sie suchten mit Inbrunst ein Mittel, ihr Leben auszuhalten und aushaltenswerth zu finden, fanden es, und boten der Welt ihre neue Art von Glück an. Ein Glück solchen Ursprungs war die größte Paradoxie des Alterthums; die damalige Bildung war zu paradoxensüdtig, um es nicht sehr anziehend zu finden. Das Heil kommt von den Juden,das war ein Satz, gegen den kein geistreicher Alter seine Haltung auf die Dauer behauptete. Versuchen wir es also mit den Judenso klang die innere Stimme, durch welche der Geist auf die Seite der großen Bewegung gerufen wurde. 3 [21] 35. Unsere Nächsten geben im Kreislaufe unserer körperlichen und seelischen Funktionen die Gelegenheitsursachen ab, um physiologische Vorgänge, die in uns nöthig sind, zu fördern. 3 [22] 37. Wenn Einer gähntund das ist doch etwas Unangenehmesund der Andere mitgähnt, so haben wir ein einfaches Beispiel für das Phänomen des Mitleidens. Sollte aber wirklich dabei das principium individuationis durchbrochen sein? 3 [23] 38. Jene Moralität, welche am allerstrengsten von jedermann gefordert, geehrt und heilig gesprochen wird, die Grundlage des socialen Lebens: was ist sie denn als jene Verstellung, welche die Menschen nöthig haben, um mit einander ohne Furcht leben zu können? (So daß der Einzelne sich dem Anderen als gleich giebt und sich benutzen läßt, so wie er jenen benutzt.) Der allergrößte Theil dieser Verstellung ist schon in Fleisch Blut und Muskel übergegangen, wir fühlen es nicht mehr als Verstellung, so wenig wir bei Begrüßungsworten und höflichen Mienen an Verstellung denken: was sie trotzdem sind. Die gewöhnlichsten Arten der Verstellung sind: erstens man ähnelt sich seiner Umgebung an, man versteckt sich gleichsam in ihr; zweitens man macht es einem andern Menschen, der Ansehen und Erfolg hat, nach und giebt sich als etwas Höheres als man ist. Im ersten Falle folgt man der Sitte und wird sittlich, im zweiten Falle folgt man der Autorität und wird gläubig: unter allen Umständen erregt man keine Furcht mehrdenn wir haben jetzt viele Unsers Gleichen. 3 [24] 43. Wir lernen die Ansprüche und Meinungen der Anderen eher kennen, als unsere eigenen; jene werden durch lange Übung uns anorganisirt. Wenn wir später selbstständiger werden, beziehen wir doch all unser bewußtes Urtleilen und Handeln immer auf den anorganisirten Grundstock, vergleichend oder widerstrebend, uns dagegen empörend oder uns mit ihm versöhnend. 3 [25] 45. Die Moral und die Civilisation suchen weniger Schmerz, aber nicht mehr Glück. 3 [26] 46. Ein Herz voll Tapferkeit und guter Dinge braucht von Zeit zu Zeit etwas Gefahr, sonst wird ihm die Welt unausstehlich. 3 [27] 48. Der dramatische Musiker muß nicht nur als Dichter, sondern auch als Musiker Schauspieler und ganz und gar Schauspieler sein. Dies trennt ihn unerbittlich ab vom eigentlichen Dichter und eigentlichen Musiker; er ist im Vergleich zu Jedem von ihnen geringerer Gattung. Aber als Schauspieler kann er sich zur Genialität und zum gleichen Range mit ihnen erheben. 3 [28] 53. Der Eine giebt seinen Handlungen am Schluß einen anmaaßlichen Charakter durch eine Art Ausdeutung, der Andere handelt von vornherein anmaaßend. Der Erste, der sich gehen läßt und erst am Schluß der Handlung einen Blick auf die Anderen wirft, hat mehr Stolz, als der Andere, aber kernt das Wesen des Stolzes schlechter, als der Andere. 3 [29] 56. Das, was man nicht kennt, das kann man nicht lieben, sonst liebt man etwas Anderes, nämlich ein Phantom, und dies ist das Gewöhnliche. Die Liebe ist gewiß alles Andere eher, als ein Mittel der Erkenntniß. 3 [30] 67. Um über das Mitleid so zu phantasiren, wie Schopenhauer, muß man es an sich nicht aus Erfahrung kennen. Wo die Mängel eines Menschen liegen, da werden seine Ideale phantastisch. 3 [31] 68. Dreimal hat Deutschland auf Frankreich eingewirkt; im dritten Jahrhundert brachte es wilde Sitten und barbarische Unwissenheit; im Zeitalter Montaignes brachte es ein zweites nachgeborenes Mittelalter und Religionskriege, und in diesem Jahrhundert brachte es die deutsche Philosophie, die Romantik und das Bier. 3 [32] 70. Sein heller Kopf trieb ihn oft auf einsame Bahnen, wo er die Menschen los war; aber sein Herz war zu ängstlich dafür und schlug unerträglich dabei gegen seine Rippen. Gab er dem Herzen nach, so mischte er sich wieder unter die Menschen und nun befand sich sein Kopf elend. 3 [33] 74. Alles, was wir für uns thun, thun wir um der Anderen willen; aber auch Alles, was wir für die Anderen thun, thun wir um der Anderen willen. Dies ist aber kein Altruismus! 3 [34] 75. Das Nachmachen, das Äffische, ist das eigentlich und ältest Menschlichebis zu dem Maaße, daß wir nur die Speisen essen, die Anderen gut schmecken. Kein Thier ist so sehr Affe als der Mensch. Vielleicht gehört auch das menschliche Mitleiden hierher, sofern es ein unwillkürliches inneres Nachmachen ist. 3 [35] 77. Die schüchternsten Mädchen präsentiren sich halb nackt, wenn es die Mode gebietet, und selbst verwelkte alte Weiber wagen einem solchen Gebote nicht zu widerstehen, so geistreich und gut sie sonst auch sein mögen. 3 [36] 78. Die Kraft, zu wollen, die einige Menschen und Culturen in höherem Grade, als andere, besitzen, besteht darin, daß man ungefähr die gleiche Anzahl von eingeübten inneren Mechanismen und von Werthschätzungen hat: so daß, sobald nur ein werthgeschätztes Ding in die Vorstellung tritt, sofort auch der dazu gehörige Mechanismus sein Stück abspielt. Anderen Menschen und Zeitaltern fehlt es an einer solchen Zahlencongruenz von Mechanismen und Werthschätzungen. Sie erzeugen sehr viel mehr Werthschätzungen, bei denen Nichts herauskommt, als solche, welche eine Wirkung haben, wie man sagt. Dabei ist immer festzuhalten, daß die Werthschätzung niemals die Ursache einer Handlung ist; vielmehr tritt durch eine alte Association der Mechanismus automatisch in Bewegung, wenn eine werthgeschätzte Vorstellung im Gehirne aufgestiegen ist: es ist ein regelmäßiges Nacheinander, nicht Ursache und Wirkung, so wenig etwa, als ein Wort die Ursache des Begriffs ist, welcher bei seinem Erklingen in uns erscheint. Wollende Zeitalter waren bis jetzt immer gedankenarm, aber nothwendig ist dies nicht. 3 [37] 79. Der Anschein des Seienden und Festen im Individuum, der Anschein willkürlicher Handlungen, der Anschein eines absoluten Charakters der Handlungen, der Anschein eines absoluten Werthes gewisser Handlungen (das heißt eines unbegrenzt höchsten Werthes),diese vier Irrthümer haben zur Weiterentwicklung der Moral am meisten beigetragen. 3 [38] 80. Weshalb der religiöse Glaube jetzt nicht mehr aufrecht stehen kann, ist oft gezeigt worden; aber noch Niemand hat gezeigt, warum auch der Glaube an die Moral unglaublich geworden ist. 3 [39] 81. Die Ehe giebt verschiedenen Arten von Menschen zu verschiedenen Arten des moralischen Heroismus Anlaß: ich weiß nicht, ob darin nicht ihr höchster Werth zu suchen ist. Die Einen würden auch mit der geliebtesten Person keine Ehe eingehen, im Falle die Kirche ihren Segen vorbehielte, und Andere umgekehrt würden auf die Ehe verzichten, wenn dieselbe von einer kirchlichen Einsegnung abhängig gemacht würde; wieder Andere finden Gelegenheit zum Heroismus in dem Gedanken, daß die einmal geschlossene Ehe unlösbar sei, dagegen hatte die George Sand umgekehrt ihre strengsten und sittlichsten Empfindungen in die Forderung gedrängt, daß die Ehe nur so lange Dauer haben dürfe, als die leibliche Verengung von Seiten beider Gatten mit dem Zustande einer seelischen Begeisterung für einander verbunden ist. 3 [40] 82. Der Irrthum der kirchlichen Absolution (und oft auch der staatlichen Strafen) besteht darin, daß hier ein Einmal zum Keinmal gemacht werden soll. Wenn die Erinnerung an eine Schuld nicht mehr quält, dann wirkt der durch sie eingeübte innere Mechanismus viel leichter und es giebt kein Hinderniß mehr für ein neues Abspielen des alten Liedes. Daher fromme ehebrecherische Frauen unter den Katholiken keine Seltenheit sind, welche täglich sündigen und sich täglich absolviren lassen. 3 [41] 83. Man soll das unbeschreibliche Unbehagen, welches so oft produktive Menschen um sich verbreiten, als Gegenrechnung aufstellen, wenn man die Freude und Erhebung überschlägt, welche die Menschen ihren Werken danken. Ihre Unfähigkeit, sich zu beherrschen, ihr Neid, die Böswilligkeit und Unsicherheit ihres Charakters machen aus ihnen leicht ebenso Übelthäter der Menschheit, als sie sonst deren Wohlthäter sein mögen. Namentlich ist das Verhalten der Genies zu einander eines der dunkelsten Blätter der Geschichte . Die Genieverehrung ist oft eine unbewußte Teufelanbetung gewesen. Man sollte überrechnen, wie viele Menschen in der Umgebung eines Genies sich ihren Charakter und ihren Geschmack verdorben haben. Große Menschen ohne Werke thun vielleicht mehr noth, als große Werke, um die man einen solchen Preis von Menschenseelen zahlen muß. Aber einstweilen versteht man kaum, was ein großer Mensch ohne große Werke ist. 3 [42] 84. Schopenhauer hatte sich seinen Ruhm zu früh festgestellt und war nicht stolz genug, sich gegen seine ausgesprochenen Grundsätze weiter zu entwickeln. Er fürchtete für seinen Ruhm und zog die verhältnißmäßige Unfruchtbarkeit der Beschämung vor, sich widersprechen zu müssen. 3 [43] 87. Ob man lobt oder tadelt: man fürchtet dabei. Mit dem Tadel wollen wir uns fürchten machen, mit dem Lobe wollen wir den Andern heimlich einnehmen, ihn mit uns versöhnen oder uns auf die Seite jener Macht bringen, die wir fürchten. Aber nur das seltenste Lob, der seltenste Tadel ist ehrlich, das heißt drückt einfach unsere Furcht vor einer Person aus, sondern zumeist drücken wir unsere Furcht vor Anderen anders aus, als wir empfinden, aus Furcht vor einer zweiten Person. Gewöhnlich ist Lob und Tadel eine durch Furcht gekreuzte Furcht. 3 [44] 91. Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab; als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben und der Anmaaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche in ähnlichen Verhältnissen wie die Kinder zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren eher zu, als ab. 3 [45] 93. Was wir erwarten, das nennen wir recht und billig; was uns verwundert, was uns wunderbar vorkommt, das loben oder tadeln wir. Die erste Empfindung der Verwunderung ist die Furcht: Lob und Tadel ist ein Produkt der Furcht. Dagegen läßt das Rechte und Billige uns zufrieden, ist für die Empfindung neutral und entspricht der Gesundheit. Das, was jeder von sich und Anderen erwartet in jeder Lage, also das Gewöhnliche einer ganzen Cultur, ist aber für eine andere Cultur nicht das Gewöhnliche und erregt deren Verwunderung, erweckt Lob und Tadel, und wird also jedenfalls zu stark empfunden. Die Culturen verstehen das, was zur Gesundheit der anderen gehört, nicht. Das Erwartete, das Gewöhnliche, das Gesunde, das für die Empfindung Neutrale macht den größten Theil dessen aus, was eine Cultur ihre Sittlichkeit nennt. 3 [46] 94. Gesetzt, man erwartet immer das Böse, die unangenehme Überraschung, so ist man immer in feindseliger Spannung, wird für Andere unerträglich und leidet selber an der Gesundheit: solche Naturen sterben aus. Im Ganzen sind nur die zufriedeneren und hoffnungsreicheren Rassen am Leben geblieben. Wer immer Schlimmes erwartet, wird böse, nämlich feindselig argwöhnisch unruhig; dies ist die Wirkung pessimistischer Denkweisen. 3 [47] 95. Die Wissenschaft, die das Loben und Tadeln aufheben will, will das Verwundern beseitigen und die Menschen so leiten, daß sie immer das Billige und Rechte erwarten; zuletzt sollen sie, selbst wenn ein Vulcan ausbricht, sich sagen: es ist billig und gerecht, er kann ja nicht anders; was ist da zu verwundern? 3 [48] 96. Wo wir fühlen, daß wir etwas mit einem Überschuß von Kraft thun, da fühlen wir uns frei; wo das Thun selber ergötzt und nicht nur um des ergötzlichen Zweckes willen gethan wird, da entsteht das Gefühl der Freiheit des Wollens: wir wollen hier zwar einen Zweck, aber der Zweck beherrscht uns nicht ganz, er giebt nur eine Gelegenheit, damit unsere Kraft mit sich spiele, wir wissen, es giebt noch viele andere Gelegenheiten dazu; weil wir den Zweck etwas beliebig und gering schätzen, so fühlen wir uns nicht als seine Sklaven, das heißt, wir fühlen uns als wollend in Bezug auf diesen Zweck, aber auch als frei vor ihm. 3 [49] 99. Auf Menschen, denen viel Plötzliches begegnet, sei es von außen oder von innen her, wirkt Alles, was ruhig erwartet werden kann, humanisirend; also zum Beispiel jede Gewohnheit, welche über sie und über ihre Gesellschaft herrscht: denn das Gewohnte macht keine rasche Spannung, keine schnelle Maaßregel nöthig. Plötzliches ungestümes Handeln ist ebenso halbwildenhaft wie plötzliches ungestümes Überwunden-werden von Affekten; für solche Zustände besteht das Moralische im Gewohnten, Ruhigen, Abwartenden, Überlegenden. In anderen Zeitaltern, wo dagegen gerade ein Übermaaß von diesen Eigenschaften existirt, scheinen die Leidenschaften und ungestümen Handlungen moralischer; es ist als ob den Menschen dieser Zeiten ein Blick in die Natur dabei gegönnt wäre, so daß ihnen freier, kühner, erregter zu Muthe wird, sie halten also das Plötzliche für das humanisirende Element wie jene Früheren das Gegentheil. 3 [50] 101. Giebt es Menschen, welche die Affekte bewundern, die Vernünftigkeit verachten und die moralische Werthschätzung [bei Seite] stellen? Unter den handelnden Menschen gewiß nicht; hie und da aber wird ein Künstler die Vernünftigkeit und die Moralität nicht malerisch genug finden: er will Menschen mit starken Contrasten. 3 [51] 102. Die moralischen Urtheile sind Mittel, unsere Affekte auf eine intellektuelle Weise zu entladen als dies durch Gebärden und Handlungen geschieht. Das Schimpfwort ist besser, als ein Faustschlag oder ein Anspeien; die Schmeichelei (Lob) besser, als ein Streicheln oder Lecken (Kuß); der Fluch übergiebt einem Gotte oder Geiste die Rache, die das Thier selbst gegen seinen Feind ausübt. Vermöge der moralischen Urtheile wird es dem Menschen leichter zu Muthe, sein Affekt wird entladen. Schon der Gebrauch von Formen der Vernunft bringt eine gewisse Nerven- und Muskelbeschwichtigung mit sich; das moralische Urtheil entsteht in jenen Zeiten, wo die Affekte als lästig und die Gebärden als eine zu grobe Erleichterung empfunden werden. 3 [52] 103. Die plötzlichen Affekte sind das, was die Menschen auf die Dauer häßlich macht. Das Christenthum hat die plötzlichen Affekte entfesselt, folglich 3 [53] 106. Das niedere katholische Volk, das gar nichts von freiwilliger Enthaltsamkeit weiß, aber sehr viel von unfreiwilligerweshalb es die Genüsse des Lebens anbetet, sieht im Heiligen ein Gegenstück von Handlungsweise, von dem es nichts begreift: es glaubt an den Heiligen, quia absurdus est. In unsern protestantischen Ländern, wo gerade jetzt die moralische Erziehung fast fehlt oder ganz gedankenlos vor sich geht, hat man vor dem Heiligen einen fast gleichen Respekt; man denkt an die Asketik wie an etwas Übermenschliches und vergißt dabei, daß zu jeder antiken Moral, selbst zur epikureischen, eine Asketik gehörte. 3 [54] 107. Zuerst lernt man nicht Einsichten in die Dinge und Menschen, sondern Werthurtheile über die Dinge und Menschen; diese verhindern den Zugang zur wirklichen Erkenntniß. Man müßte durch eine radikale Skepsis des Werthes erst einmal alle Werthurtheile umwerfen, um freie Bahn zu haben. 3 [55] 108. Die feine höfische Cultur unter Ludwig XIV hatte in vielen Stücken den Stoicismus nöthig; viele Empfindungsstürme mußte man ins Herz verschließen, viele Müdigkeit verhehlen, vielen Schmerz mit Heiterkeit bedecken. Unsern bequemen Mitmenschen würde diese Lebensart zu streng sein. 3 [56] 109. Es ist die Art der Juden, ihre Chancen im Verhältniß zu Personen auszunützen, indem sie dicht an die Grenze derselben treten und es merken lassen, daß sie sich an der Grenze wissen. Dies macht sie zudringlich; wir alle wollen ja unnahbar sein und unbegrenzt erscheinen; die Juden wirken diesem phantastischen Unfaßbar-sein-wollen bei Einzelnen und bei Nationen entgegen und werden dafür sehr gehaßt. 3 [57] 110. Erkenntnißtheorie ist die Liebhaberei jener scharfsinnigen Köpfe, die nicht genug gelernt haben und welche vermeinen, hier wenigstens könne ein Jeder von vorne anfangen, hier genüge die Selbstbeobachtung. 3 [58] 113. Wenn wir das Gute, das wir einem Besitze verdanken, bei allem Bemühen, es zu überschauen, nicht mehr zu überschauen vermögen, so entsteht Liebe: ein Überströmen gegen etwas Unbegrenztes; es fehlt ihr die Kenntniß des ganzen Werthes einer Sache oder Person, weil keine Wage groß genug ist [ihn] zu fassen. Man bringt alles Höchste, das man kennt, zur Vergleichung heran; lieben wir, so denken wir fortwährend an alles Höchste aller Art, und weil es [uns] immer zugleich mit dem geliebten Gegenstande einfällt, so verwechseln wir es auch wohl mit ihm. 3 [59] 114. Anstatt zu wünschen, daß Andere uns so kennen wie wir sind, wünschen wir, daß sie so gut als möglich von uns denken; wir begehren also, daß die Anderen sich über uns täuschen: das heißt wir sind nicht stolz auf unsere Einzigkeit. 3 [60] 115. Die Verkümmerung vieler Menschen hat darin ihren Grund, daß sie immer an ihre Existenz in den Köpfen der Anderen denken, das heißt sie nehmen ihre Wirkungen ernst und nicht das, was wirkt: sich selber. Unsere Wirkungen aber hängen von dem ab, worauf gewirkt werden muß, stehen also nicht in unserer Gewalt. Daher so viel Unruhe und Verdruß. 3 [61] 116. Trübe und bittere Gedanken sind ohne physiologische Ursachen gar nicht möglich. Um der große Ankläger der Zeit oder des ganzen Lebens zu werden, muß unsere Leber dazu präparirt sein. 3 [62] 117. Unsere ersten leidenschaftlichen Entscheidungen für oder gegen, mit denen wir in der Jugend unserem Lebenskahne die Richtung geben, sind gewöhnlich die Beweise für schlechte Erziehung, unreifen Geschmack und den Mangel an Nachdenken, in dem wir bis dahin gelebt haben. 3 [63] 121. Das große volle offene Auge hat der, welcher gewohnheitsmäßig viel auf einmal überschauen will, also das Kind, welches oft erstaunt ist, der Liebende, der all sein Glück mit seinem Blicke umspannen möchte, der Denker, der viele wichtige Dinge vor sich hat und sie ordnen will; Andere, welche viel an kleine Dinge denken, haben das verkleinerte scharfe Auge, sie wollen möglichst genau sehen, als ob sie den Bewegungen eines Insektes folgten, so auch der Argwöhnische. Der Schrecken blickt groß, weil in ihm Erstaunen ist, die Furcht wechselt die Richtung des scharfen Blickes sehr schnell, unruhig darüber, woher die Gefahr kommt. 3 [64] 122. Unsere Werthschätzungen bestimmen unsere Lebensweise (Aufenthalt, Beruf, Umgang usw.), und unsere Lebensweise bestimmt, wie sehr oder wie wenig wir einen Schmerz oder eine Lust fühlen, nicht nur im Feineren und Geistigsten, sondern bis auf s Körperlichste herab. Wer die Werthschätzungen verändert, verändert mittelbar auch die Lust- und Unlust-Arten und -Grade der Menschen. 3 [65] 123. Zu den Trostmitteln der leidenschaftlichen und ungebändigten Charaktere gehört die Tragödie; sie räth an, Ruhe und innere Freiheit nur jenseits der Welt zu erwartendamit beseitigt sie vorübergehend die moralische Unzufriedenheit solcher Naturen mit sich, denn sie scheint zu sagen: das Unmögliche nicht zu vermögen, sollte keinen Kummer machen. 3 [66] 125. Alles, was wir jetzt unmoralisch nennen, ist irgendwann und irgendwo einmal moralisch gewesen. Was bürgt dafür, daß es seinen Namen nicht noch einmal verändert? 3 [67] 128. Es giebt eine komische Definition des Komischen: es soll, nach Vinet, die Naivetät der Sünde sein. 3 [68] 129. Die Gesellschaft muß ihrer so sicher werden, daß sie eine leidliche Summe Verbrechen ertragen kann, ohne im Ganzen dadurch gestört zu werden; ebenso muß der Staat so klug und dauerhaft begründet sein, daß viel Ungeschick und Thorheit seiner Diener ihm nicht wesentlich schädlich wird. 3 [69] 130. Die moralische Beurtheilung der Menschen und Dinge ist ein Trostmittel der Leidenden, Unterdrückten, innerlich Gequälten: eine Art Rache-nehmen. 3 [70] 131. Ein Jahrtausend lang war es den freisinnigsten Geistern nicht möglich, sich eine unreligiöse Denkungsart vorzustellen; jetzt besitzen wir dieselbe, sind aber wiederum außer Stande, uns eine außermoralische Denkungsart vorzustellen; spätere Menschen werden vielleicht auch diese haben. 3 [71] 132. Die Wissenschaft giebt fortwährend Gebote, zum Beispiel für die Gesundheit und Erziehung: sie begründet sie mit Hinweisung auf die schädlichen Folgen von deren Vernachlässigung: so begründeten auch die früheren Gesetzgeber der Moral ihre Gebote, nur daß die Folgen von deren Vernachlässigung nicht die Wirkungen aus den natürlichen Ursachen, sondern willkürliche Strafakte Gottes sein sollten. Die volksthümliche Moral kennt in Hinsicht auf die Folgen der Handlungen die natürliche Causalität nicht, sondern nur das Wunder. 3 [72] 133. Für wen nicht die landläufigen Vorurtheile anfangen paradox zu klingen, der hat noch nicht genug nachgedacht. 3 [73] 134. Es ist zu bedauern, daß Jesus Christus nicht länger gelebt hat, er wäre vielleicht der erste Renegat seiner Lehre geworden, vielleicht hätte er dann auch noch das Lachen gelernt und weniger oft geweint. 3 [74] 135. Die Trostmittel, welche sich Bettler und Sklaven ausdenken, sind Gedanken aus schlechtgenährten, müden oder überreizten Gehirnen; darnach ist das Christenthum und die socialistische Phantasterei zu beurtheilen. 3 [75] 136. Erstens: die Strafe aus der Welt zu schaffen; zweitens: die Sünde aus der Welt zu schaffen; drittens: das moralische Messen und Wägen aus der Welt zu schaffen. 3 [76] 137. Es scheint, daß viele Verbrechen aus derselben Kraft stammen, aus der die pessimistische Denkweise stammt; sie sind die Entladung dieser Kraft in Handlungen. 3 [77] 138. Wieviel Krankheit giebt es noch! Wieviel Erschöpfung durch übermäßige Anstrengung! Wieviel böse Langeweile!und in all diesen Zuständen wird gedacht und geurtheilt, über sich selber, über die Mitmenschen, über den Werth alles Daseins. Folglich: wieviel Pessimismus muß es geben! 3 [78] 139. Wie? die Wahrheit sei einfach?der Wahrhafte ist einfach, aber die Wahrheit ist sehr, sehr complicirt. 3 [79] 140. In den außergewöhnlichsten Zuständen meint sich der Mensch der Wahrheit näher, in den höchsten Erregungen schreibt er sich übermenschliche Fähigkeiten zuund doch sind solche Zustände und Erregungen für die Erkenntniß einer Sache am wenigsten geeignet, wohl aber sieht er da Visionen, Gespenster, siebente Himmel und höllische Abgründe. Daher die Religion, daher die meiste Metaphysik. Und mit diesen Ausgeburten der halben Verrücktheit hätte die Wissenschaft nöthig, sich zu versöhnen! 3 [80] 141. Wir haben die wilden Thiere vergessen: es gab Jahrtausende, da die Menschen wachend und schlafend an sie dachten. 3 [81] 143. In der Zukunft wird es geben: 1. zahllose Anstalten, in welche man sich zeitweilig begiebt, um seine Seele in Cur zu nehmen; hier wird der Zorn bekämpft, dort die Wollust usw.; 2. zahllose Mittel gegen die Langeweile; zu jeder Zeit wird man Vorleser hören können und dergleichen; 3. Feste, in welchen viele einzelne Erfindungen zum Gesammtzweck des Festes vereinigt sind, denn die, welche ein Fest feiern, müssen am Feste mit erfunden haben; 4. es werden sich Einzelne und ganze Gruppen geloben, niemals gerichtliche Hülfe in Anspruch zu nehmen. 3 [82] 145. Die Summe von Geist, welche die Menschen auf Bekämpfung der Übel verwenden, fehlt ihnen zur Erfindung der Freude; deshalb brachte es die Menschheit im Ganzen bis jetzt nicht höher, als bis zu Trostmitteln; endlich gelingt es vielleicht der Wissenschaft, die Ungeheuer zu vernichten und zu allerletzt wird sie auch noch die Trostmittel vernichten müssen, welche in der langen Zeit ihrer Existenz selber zu Ungeheuern geworden sind. 3 [83] 146. Pessimistische Vorstellungen hemmen den Ausdruck der Gebärden, empfehlen die Verstellung, namentlich die der schrecklichen Verzerrung (um Furcht zu erregen), sie heißen die erregte Seele in der Sprache nicht hörbar werden lassen, kurz sie verhäßlichen den Menschen in Gebärde und Laut. Die Verachtung ebenso wie die Furcht machen häßlich. 3 [84] 148. Was jetzt die Bildung fordert, unsere Gemüthsbewegungen nicht auszudrücken, ist die lange Folge der Furcht: die Menschen sollen nicht sehen, was in uns vorgeht, wobei vorausgesetzt wird, daß es immer etwas Schlimmes ist oder daß wir damit unseren Feinden gute Gelegenheiten geben. Die höfische Verstellung, der Stoicismus in einem festgehaltenen artigen Gebärdenspiel geht von bösen Voraussetzungen über die Mitmenschen aus: sie sollen uns nicht kennen lernen, es wäre unser Schade. 3 [85] 149. Damit man nicht den Art erhaltenden Trieb, das Verhalten der Eltern zu ihren Jungen, irrthümlich als den Anfang einer ganz neuen Kette von Motiven ansehe, der sogenannten unegoistischen, möge man sich diese Hypothesen vorlegen: die niedrigste Form des Art erhaltenden Triebes zeigt sich darin, daß einige Fischarten bei ihren Eiern Wache halten und Feindliches abwehren. Ich vermuthe hier, wie in anderen Fällen der Thierwelt, halten die Eltern die Eier und die Jungen für eine Nahrung, welche man aufbewahren und schützen müsse; in vielen Fällen leben auch die Thiere davon. Diejenigen Gattungen, welche am stärksten für diese Art Nahrung gesorgt und gewacht haben, haben die beste Aussicht, sich fortzupflanzen, und die Gewohnheit, für die Eier und die Jungen zu sorgen, vererbt sich immer stärker, zuletzt als für sich mächtiger Trieb, bei dem das erste Motiv vergessen ist. 3 [86] 150. Das Mitgefühl nimmt zu, wenn freudige Empfindungen sein überwiegendes Resultat sind; es nimmt ab, wenn es mehr Schmerzen, als Freude davonträgt. Bei dem beständigen Anblick von Leidenden sinkt das Mitleid beständig, aber man wird um so empfindlicher gegen fremdes Leid je mehr man Mitfreude hat. Die mitleidigsten Menschen sind solche, welche viel innere Freude haben, ihnen thut alles Widersprechende wehe; Unglücks- und Kriegsmenschen sind hart. 3 [87] 151. Wer hat denn die Welt so gefärbt, so in diese Gluthlichter getaucht? Das waren die Menschen der geistigen Convulsionen, der äußersten Schrecken und Entzücken, der tiefsten Niedergeschlagenheit: Medicinmänner, Tragiker, Heilige usw.; vor ihnen hatte man Furcht; man glaubte ihnen, weil sie es wollten, denn sie waren schrecklich. 3 [88] 152. Thiere gleicher Art schonen sich vielfach gegenseitig, nicht aus einem wunderbaren Instinkte des Mitgefühles, sondern weil sie bei einander gleiche Kraft voraussetzen und sich als unsichere Beute betrachten; sie versuchen es, von Thieren anderer Art zu leben und sich ihrer zu enthalten. Daraus bildet sich die Gewöhnung, von einander abzusehen und endlich Annäherung und dergleichen. Schon die Absicht, Weibchen oder Männchen an sich zu locken, kann die Thiere bestimmen, in Hinsicht auf ihre Art nicht schrecklich zu erscheinen, sondern harmlos. In ritterlichen Zeitaltem wird der Mann um so artiger und huldvoller gegen alle Frauen, je stolzer und furchtbarer er gegen alle Männer erscheint; nur so lockt er das Weibchen. 3 [89] 153. Jenes ausschweifende und phantastische Pathos, mit dem wir die seltsamsten Handlungen abgeschätzt haben, macht sich bezahlt mit der absurden Gleichgültigkeit und Verachtung, welche wir gegen unscheinbare und alltägliche Handlungen richten. Wir sind die Narren der Seltenheit und haben unser täglich Brod dadurch entwerthet. 3 [90] 154. Die Meisten haben allein Geist, wenn sie in kriegerischer Verfassung sind, bei Angriff, Furcht, Vertheidigung, Rache; dafür verfallen sie, sobald dieser Zustand nachläßt, in die Dumpfheit. Es gehört sehr viel Geist dazu, im Wohlbefinden noch davon übrig zu haben. 3 [91] 155. Was Dasein hat, kann nicht zum Dasein wollen; was kein Dasein hat, kann es auch nicht. Also giebt es keinen Willen zum Dasein. Es ist dies eine schlechte und widersinnige Wörterzusammenstellung. Wohl wäre zu verstehen: Wille zu einem längeren, oder höheren, oder anderen Dasein. Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden. Struggle for existence? 3 [92] 156. Wenn nicht das alte jus talionis noch fortwirkte, so würde man gewiß nicht gerade den Mörder hinrichten, sondern nach dem Satze, daß die Ehre mehr werth ist, als das Leben, viel eher den Ehrenräuber, den Verleumder. Ebenso ist schmerzhafte Verstümmelung und Ähnliches ein viel schwereres Leiden als das Sterben; folglich wäre der Grausame eher hinzurichten, als der Mörder, insgleichen der gewissenlose Arzt, Hebamme usw. Endlich, insofern der Urheber vieler Tode unheilvoller ist, als der Mörder, so müßten alle Fürsten, Minister, Volksredner und Zeitungsschreiber, durch welche ein Krieg erregt und befürwortet worden ist, hingerichtet werden; ich meine natürlich die ungerechten Kriege, aber man wird mir sagen, daß es keine ungerechten Kriege giebt. 3 [93] 157. Die moralischen Vorschriften stammen aus Zeiten, in welchen man die Natur, die Völker und Menschen viel weniger kannte, als jetzt. Unwissenheit und falsche Voraussetzungen sind durch die feierliche Unantastbarkeit, in der die Moral lebt, mitheiliggesprochen. 3 [94] 158. Wenn man sagt: dies ist nützlich, jenes ist schädlich, so muß dieser Satz sich in seinen Folgen beweisen, das heißt er wird fortwährend geprüft und je nachdem verfeinert oder verworfen. Sagt man dagegen: dies ist sittlichso glaubt man etwas gesagt zu haben, das durch seine Folgen nicht bewiesen zu werden braucht, ja nicht bewiesen werdet kann. Deshalb hält sich das Schädliche unter der Aufschrift sittlich so lange aufrecht. 3 [95] 159. Manche allzuängstliche Staatsmänner mögen thun, was sie wollen, es bleibt immer ein Flecken an ihnen haften: wie Manche nicht ein Ei aufschlagen können, ohne sich schmutzig zu machen. 3 [96] 160. Das Leben für die Zukunftdas ist eine Folge der Moral, bei der das ganze Leben, das heißt die Summe aller gegenwärtigen Momente, eine Thorheit und Jagd und Unannehmlichkeit wird. Das Leben für die Andereneine Folge der Moral, bei der die Anderen willkürlich gemaaßregelt werden und der Mensch selber allen seinen Verstandes- und Herzensschwächen um seines guten Zieles willen ohne Bedenken nachhängt. 3 [97] 161. Inwiefern hat die Moral schädlich gewirkt? Insofern sie den Körper verachtete, im Asketismus der Pflicht, des Muthes, des Fleißes, der Treue usw. Namentlich in jenem mit Religion verquickten Kanon, daß Sich-Freuden-bereiten der Gottheit unangenehm, Sich-Leiden-bereiten ihr angenehm sei. Man lehrte, zu leiden, man rieth ab, sich zu freuen,in allen Moralen (die des Epikur ausgenommen), das heißt die Moral war bisher ein Mittel, die physiologische Grundlage des Menschen in ihrer Entwicklung zu störenan der Schwäche der Moral lag es, daß sie diese Grundlage nicht zerstört hat; sie war ein furchtbarer Würfel im großen Würfelspiel. Wir müssen das Gewissen verlernen, wie wir es gelernt haben. Im Ganzen war die große erhaltende Kraft, welche gegen die Moral das Übergewicht behauptete, das, was sie das Böse nannten, das Streben des Individuums, sich ohne Rücksicht auf Lehren selbst zu behaupten, sich wohl zu fühlen, sein Vergnügen zu suchen, die näheren Bedürfnisse den entfernteren unterzuordnen, während die Moral diese nicht nur als höhere und niedere Bedürfnisse unterscheidet, sondern die letzteren verachten und oft verdammen lehrt (die sogenannten sinnlichen Freuden). [Vgl. Herbert Spencer, Die Thatsachen der Ethik. Autor. dt. Ausg. nach der zweiten engl. Aufl. übers. von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart, 1879:31.] 3 [98] 162. Je mehr das Gefühl der Einheit mit den Mitmenschen überhand nimmt, um so mehr werden die Menschen uniformirt, um so strenger werden sie alle Verschiedenheit als unmoralisch empfinden. So entsteht nothwendig der Sand der Menschheit: Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Das Christenthum und die Demokratie haben bis jetzt die Menschheit auf dem Wege zum Sande am weitesten gefahren. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühlchen über Alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesenthum, das wäre das letzte Bild, welches die Menschheit bieten könnte? Auf der Bahn der bisherigen moralischen Empfindung unvermeidlich. Es thut eine große Überlegung noth, vielleicht muß die Menschheit einen Strich unter ihre Vergangenheit machen, vielleicht muß sie den neuen Kanon an alle Einzelnen richten: sei anders, als alle übrigen und freue dich, wenn Jeder anders ist, als der Andere; die gröbsten Unthiere sind ja unter dem Regimente der bisherigen Moral ausgetilgt wordenes war dies ihre Aufgabe; wir wollen nicht gedankenlos unter dem Regimente der Furcht vor wilden Thieren weiterleben. So lang, allzulang hieß es: Einer wie Alle, Einer für Alle. 3 [99] 163. Bei Allem, was geschieht, sagen: Gott würde es nicht zulassen, wennn es mir nicht zuträglich wärean dieser himmlischen Kinderei hätte die Menschheit schon mehrere Male zu Grunde gehen können. Glücklicherweise gab es immer Menschen, die nicht christlich genug waren, um sich so kindlich zu beruhigen. 3 [100] 164. Wenn das allgemeine Glück das Ziel jeder einzelnen Handlung sein sollte, so müßte der Einzelne darauf verzichten, in seinem Leben eine einzige Handlung wirklich zu thun: die Überlegung, ob sein Vorhaben wirklich dem höchsten Wohle aller gegenwärtigen und zukünftigen Menschen entsprechen werde, würde sein ganzes Leben verzehren. Das Christenthum bezeichnete den Nächsten als den Zielpunkt unserer Handlungen und überließ es Gott, zu bestimmen, wer unsere Nächsten werden sollten; wem dieser religiöse Ausweg nicht offen steht, müßte doch sagen: ich will mir in Bezug auf die Handlungen, die ich thue, doch nicht jeden beliebigen Nächsten als Objekt gefallen lassen, sondern die suchen, zu denen meine Handlungen am meisten passen, denen sie wirklich nützen können. Dazu freilich müßte man seinen Nächsten so gut wie sich kennen lernen, und das könnte wieder das ganze Leben verzehren.
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