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Herbst 1881 15 [1-72]

15 [1]

Dies ist mir bewußt geworden: in welcher seltsamen Vereinfachung der Dinge und Menschen leben wir! wie haben wir es uns leicht und bequem gemacht, und unsern Sinnen einen Freipaß für oberflächliche Beobachtung, unserm Denken für die tollsten muthwilligsten Sprünge und Fehlschlüsse gegeben! Das Bild, welches allmählich die Wissenschaft ausführt, ist nicht aus anderen Erkenntnißquellen geschöpft: dieselben Sinne, dasselbe Urtheilen und Schließen, aber gleichsam moralisch geworden, stoisch geduldig, tapfer, gerecht, unermüdlich, nicht zu beleidigen, nicht zu entzücken. Es sind gute Sinne, es ist gutes Denken, was in der Wissenschaft arbeitet. Und diese Wissenschaft deckt nun endlich auch dem guten Menschen seine Oberflächlichkeit und seine Fehlschlüsse auf, die Grundlagen seiner Werthschätzungen, auch seinen Aberglauben, daß der moralische Mensch die Menschheit so weit entwickelt habe: der unmoralische Mensch hat nicht weniger Antheil—und selbst in der Wissenschaft sind fortwährend in feinen Dosen Feindschaft Mißtrauen Rache Widerspruchssinn List Argwohn thätig und nöthig: in aller ihrer Tapferkeit, Gerechtigkeit und •J"k">\" ist dieses böse Element. Wenn die einzelnen Forscher nicht einseitig eingenommen für ihren Einfall wären, wenn sie nicht ihre Unterhaltung haben wollten, ihre Mißachtung fürchteten—wenn sie sich nicht gegenseitig durch Neid und Argwohn in Schranken hielten, so fehlte der Wissenschaft ihr gerechter und tapferer Charakter. Aber als Ganzes erzieht sie zu gewissen Werthschätzungen—die res publica der Gelehrten erzwingt eine gewisse moralische Handlungsweise, mindestens den Ausdruck derselben: sie sublimirt das Böse zu Tugenden!

15 [2]

Ich gestehe, die Welt, wie sie sich mir nach reiflichstem Besinnen darstellt, dieses fortwachsende Phantom der Menschenköpfe, an dem wir alle in voller Blindheit arbeiten, dichten, lieben, schaffen—dies ist ein Resultat, welches eigentlich meinem männlichen Instinkt zuwider ist: daran mögen sich Frauen und Künstler gemäß ihren Instinkten und ihrer Verwandtschaft mit allem Phantomhaften ergötzen. Ich fürchte bei seinem Anblick für die männlichen Tugenden und weiß nicht recht, wobei sich noch Tapferkeit und Gerechtigkeit und harte geduldige Vernünftigkeit geltend machen soll, wenn alles so werdend, so phantastisch, so unsicher, so grundlos ist. Nun, wenigstens dies soll uns bleiben: als Männer wollen wir uns doch eben diese Wahrheit sagen, wenn sie nun einmal Wahrheit ist, und sie nicht vor uns verhehlen! Auch dem Anatomen ist der Cadaver oft zuwider—aber seine Männlichkeit zeigt sich im Beharren. Ich will erkennen.

15 [3]

Dies ist zum Verzweifeln: aus der Geschichte lehrt man uns, daß alle großen Menschen höchst ungerecht waren, und daß ohne die unbedenkliche Überschätzung ihres Gedankens und Entwurfs, ohne eine tiefe innerliche ungebrochene fraglose Ungerechtigkeit sie nicht zu ihrer Größe gekommen wären—auch Jesus nicht, der wahrlich die Menschen nicht gerecht beurtheilt hat. Wie! Und nun sollte also die von uns geforderte Erziehung zur Gerechtigkeit, wie man uns entgegenhält, die Menschen abhalten groß zu werden? Ihnen den großartigen Zug und Schwung und beinahe allen Instinkt nehmen? Und man müßte vielmehr solchen, die zur Größe bestimmt seien, die Augen zuhalten und die Schlinge des Wahns um den Hals werfen und dankbar sein, wenn ihr Schicksal ihre Augen ganz blind macht?— Es sei, wie es sei: wir wollen gerecht werden und es darin so weit treiben als es uns irgend möglich ist. Vielleicht auch hat man uns getäuscht, und viele jener großen M[enschen] waren nicht groß, sondern eben nur ungerecht, und andere von ihnen eben dadurch, daß auch sie ihre Gerechtigkeit so weit trieben, als ihre Einsicht, ihre Zeit, ihre Erziehung, ihre Gegner es ihnen möglich machten. Sie glaubten an ihre Gerechtigkeit vielleicht sicherer als wir an ihre Ungerechtigkeit!

15 [4]

Die Menschen haben Gott geschaffen, es ist kein Zweifel: sollen wir deshalb nicht an ihn glauben? Er hat den Glauben so nöthig zum Leben: seien wir doch barmherzig!

15 [5]

Die Sonne gieng hinter das Meer, und die Felsen, auf denen sie tagsüber sich ausgeruht hatte, athmen einen warmen Hauch aus.

15 [6]

Vieles muß man so genießen wie die Südamerikaner ihren Thee—sie trinken ihn, ohne ihn dabei zu sehen: denn er wird fortwährend schwärzer. Wir schmecken auch die Farben aller Nahrungsmittel—ein Gleichniß.

15 [7]

Ist es denn “die Wahrheit,” welche allmählich durch die Wissenschaft festgestellt wird? Ist es nicht vielmehr der Mensch, welcher sich feststellt—welcher eine Fülle von optischen Irrthümern und Beschränktheiten aus sich gebiert oder aus einander ableitet, bis die ganze Tafel beschrieben ist und der Mensch in seinen Beziehungen zu allen übrigen Kräften feststeht—die Wissenschaft führt den ungeheuren Prozeß nur weiter, der mit dem ersten organischen Wesen begann, sie ist eine schaffende bildende constitutive Gewalt und kein Gegensatz zur schaffenden bildenden constitutiven Gewalt, wie die Schlechtunterrichteten glauben. Wir fördern die Wissenschaft—meine Freunde! das heißt auf die Dauer unbedingt nichts anderes als: wir fördern den Menschen und machen ihn fester und unwandelbarer, so sehr auch zeitweilig der Augenschein gegen uns ist, und so gewiß wir Vielem, worin beschränktere Zeiten alle menschliche Festigkeit und Dauer begründet sahen, den Grund unter den Füßen wegziehen z. B. der üblichen Moral.

15 [8]

An einem jeden Moralsysteme wäre die Menschheit zu Grunde gegangen, wenn im Großen nach ihm gelebt worden wäre—das ist leicht einzusehen: die Menschheit besteht noch vermöge ihrer unüberwindlichen “Unmoralität.” Aber, was vielleicht weniger einleuchtet und doch nicht weniger gewiß ist: auch der Einzelne, der nach seinem Glauben vollkommen war als Vollstrecker seines moralischen Willens, ein Jesus, ein Epiktet, ein Zarathustra, ein Buddha, auch ein Solcher hat ebenso nur vermöge der tiefsten und gründlichsten “Unmoralität” gelebt und fortgelebt, so wenig ihm dieselbe ins Bewußtsein getreten ist.

15 [9]

Zuletzt thun wir nicht mehr mit der Erkenntniß als die Spinne mit Netze-weben und Jagd und Aussaugen thut: sie will leben vermöge dieser Künste und Thätigkeiten und ihre Befriedigung haben—und eben dies wollen auch wir, wenn wir Erkennenden Sonnen und Atome erhaschen festhalten und gleichsam feststellen—wir sind da auf einem Umwege zu uns hin, zu unseren Bedürfnissen, welche auf die Dauer bei jeder fehlerhaften unmenschlichen und rein willkürlichen Perspektive ungesättigt bleiben und uns Noth machen. Die Wissenschaft hat ein feines Gehör für den Nothschrei der Bedürfnisse, und oft ein prophetisches Gehör. Um die Dinge so zu sehen, daß wir dabei unsere Bedürfnisse befriedigen können, müssen wir unsere menschliche Optik bis in ihre letzten Folgen treiben. Du Mensch selber, mit deinen fünf bis sechs Fuß Länge—du selber gehörst in diese Optik hinein, du bist auf die Schwäche deiner Sinnesorgane hin von dir construirt—und wehe, wenn es anders wäre, wenn unsere Organe noch schwächer wären, und das Auge nicht einmal die Hand erreichte oder sie in einer so unbestimmten Ferne schweben sähe, daß eine Gesammtconstruktion des Menschen für den Menschen selber unmöglich wäre— Unsere Erkenntniß ist keine Erkenntniß an sich und überhaupt nicht sowohl ein Erkennen als ein Weiterschließen und Ausspinnen: es ist die großartige seit Jahrtausenden wachsende Folgerung aus lauter nothwendigen optischen Irrthümern—nothwendig, falls wir überhaupt leben wollen—Irrthümern, falls alle Gesetze der Perspektive Irrthümer an sich sein müssen. Unsere Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen—so sehr der Augenschein das Umgekehrte lehrt und uns selber als die Folge jener Welt, jene Gesetze als die Gesetze derselben in ihrer Wirkung auf uns zu zeigen scheint. Unser Auge wächst—und wir meinen, die Welt sei im Wachsen. Unser Auge, welches ein unbewußter Dichter und ein Logiker zugleich ist! Welches jetzt einen Spiegel darstellt, auf dem sich die Dinge nicht als Flächen, sondern als Körper zeigen—als seiend und beharrend, als uns fremd und unzugehörig, als Macht neben unserer Macht! Dieses Spiegel-Bild des Auges malt die Wissenschaft zu Ende!—und damit beschreibt sie ebenso die bisher geübte Macht des Menschen als sie dieselbe weiter übt—unsere dichterisch-logische Macht, die Perspektiven zu allen Dingen festzustellen, vermöge deren wir uns lebend erhalten.

15 [10]

Die gewöhnlichen Gedanken (und alles was man unter gesundem Menschenverstand begreift) genießen deshalb eine so hohe Achtung und werden deshalb im Grunde Jedermann zur Pflicht gemacht, weil diese Art zu denken eine große Bewährung für sich hat: mit ihr ist die Menschheit nicht zu Grunde gegangen: dies genügt, um die Menschheit zu dem Schlusse zu bringen—sie schließt so gern und so schnell!—daß der gesunde Menschenverstand die Wahrheit für sich habe. “Wahr”—das ist im Allgemeinen nur so viel als: zweckmäßig zur Erhaltung der Menschheit. Woran ich zu Grunde gehe wenn ich es glaube—wird da geschlossen—das ist für mich nicht wahr—es ist eine willkürliche ungehörige Relation meines Wesens zu anderen Dingen.

15 [11]

Es giebt auch für die Moral eine Art von Optik. Wie schwach verantwortlich fühlt sich der Mensch für seine indirekten und entfernten Wirkungen! Und wie grausam und übertreibend fällt die nächste Wirkung, die wir üben, über uns her—die Wirkung, die wir sehen, für die unser kurzes Gesicht eben noch scharf genug ist! Wie tragen wir an einer Schuld, bloß weil sie so nahe vor unserem Auge steht! Wie messen wir die Schwere verschieden nach der Entfernung!

15 [12]

Ehemals bewies man die Lehre von der Unfreiheit des Willens, indem man unbedenklich auf die Wahrsager hinwies, welche auch noch bei den skeptischen Philosophen einen guten Glauben fanden: die Kunst der Wahrsagerei aber setzt eine Welt voraus, welche nichts als Fatum ist, und folglich fand diese Welt ebenfalls einen guten Glauben. Als aber die Wahrsager in Mißkredit kamen, kam mit ihnen auch die Lehre von der Unfreiheit, des Willens in Mißkredit: gemäß einer falschen Art zu Schließen, welche üblicher ist als die rechte Art.

15 [13]

Wir Modernen, seien wir noch so religiös oder moralisch, sind tief unreligiös im Verhältniß zu den Religiösen des Mittelalters und tief unmoralisch im Verhältniß zu den Moralisten des Alterthums. Die antiken Philosophen hatten sammt und sonders einen moralischen Fanatismus und eine siegreiche Unbedenklichkeit im Glauben an ihr “Heil der Seele,” daß sie das Alterthum schließlich in üblen Ruf und in Zweifel an sich selber brachten: jener übermäßige Werth, welchen sie auf das “Heil der Seele” legten, war die nützlichste Vorbereitung des Christenthums, welches ihre Erbschaft machte, ohne dafür sich erkenntlich zu zeigen. (Die religiösen Menschen sind niemals durch Erkenntlichkeit ausgezeichnet gewesen.)

15 [14]

So wie ich vom Leben und der Welt denke: sitze ich gleichsam inmitten eines tragischen Hausraths, und wohin ich blicke, sind Anreizungen, Tragödien zu dichten—ja kaum kann ich verhindern, daß diese feierlichen und leidenschaftlichen Masken nicht selber Tragödie spielen und mich in ihr Spiel hineinlocken: ein solcher Drang ist um mich jetzt.

15 [15]

“Und was wird nach dem Ende der Moral?” Oh ihr Neugierigen! Wozu schon jetzt so fragen! Aber laufen wir einmal schnell darüber hin—schnell!—sonst würden wir fallen—denn hier ist alles Eis und Glätte.

Alle und jede Handlungsweise, welche die Moral fordert, wurde von ihr auf Grund mangelhafter Kenntniß des Menschen und vieler tiefer und schwerer Vorurtheile gefordert: hat man diesen Mangel und diese Erdichtung nachgewiesen, so hat man die moralische Verbindlichkeit für diese und jene Handlungen vernichtet—es ist kein Zweifel!—und zwar schon deshalb, weil die Moral selber vor allem Wahrheit und Redlichkeit fordert und somit sich selber die Schnur um den Hals gelegt hat, mit welcher sie erwürgt werden kann—werden muß: der Selbstmord der Moral ist ihre eigene letzte moralische Forderung!— Immerhin könnte damit die Forderung, daß dies zu thun und jenes zu lassen ist, noch nicht vernichtet sein, nur der moralische Antrieb würde fürderhin fehlen—und nur für den Fall, daß es eben keinen weiteren Antrieb für eine Handlungsweise geben sollte, als diesen, wäre die Forderung selber mit der Moral erdrosselt. Nun melden sich aber die Utilitarier und zeigen auf den Nutzen hin, als Anlaß zur gleichen Forderung—auf den Nutzen als den nöthigen Umweg zum Glücke; die Aesthetiker sodann welche im Namen des Schönen und Hohen oder des guten Geschmacks (was dasselbe ist) die Forderung wiederholen; es erscheinen die Freunde der Erkenntniß und zeigen, daß so und so zu leben die beste Vorbereitung zum Erkennen sei und daß es nicht nur von schlechtem Geschmacke zeugen würde, sondern von Widerspänstigkeit gegen die Weisheit, wenn man anders, im Widerspruch zu jenen ehemaligen Forderungen der Moral, leben wollte.— Und zuletzt strömen die Idealisten aller Grade herbei und zeigen auf das Gebilde hin, das vor ihnen herschwebt: “ach, dies Gebilde zu erreichen, zu umarmen, es wie ein Siegel auf uns eindrücken und fürderhin dies Bild sein—was würden wir nicht alles thun und lassen um dessentwillen! Was ist uns Nutzen und Geschmack und Weisheit, was sind uns Gründe und Grundlosigkeit gegen diese Begier nach unserem ideal, nach diesem meinem Ideale!”—und so stellen sie jene Forderung wieder her, jeder für sich—als Mittel seiner Begier, als Labsal seines Durstes.

15 [16]

Feinere Sinne und einen feineren Geschmack haben, an das Ausgesuchte und Allerbeste wie an die rechte und natürliche Kost gewöhnt sein, eines starken und kühnen Körpers genießen, der zum Wächter und Erhalter und noch mehr zum Werkzeug eines noch stärkeren, kühneren, wagehalsigeren, gefahrsuchenderen Geistes bestimmt ist: wer möchte nicht, daß dies Alles gerade sein Besitz, sein Zustand wäre! Aber er verberge sich nicht: mit diesem Besitz und diesen Zustand ist man das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne, und nur um diesen Preis kauft man die Auszeichnung, auch das glücksfähigste Geschöpf unter der Sonne zu sein! Die Fülle der Arten des Leides fällt wie ein unendlicher Schneewirbel auf einen solchen Menschen, wie ebenfalls an ihm die stärksten Blitze des Schmerzes sich entladen. Allein unter dieser Bedingung, von allen Seiten und bis ins Tiefste hinein dem Schmerze immer offen zu stehen, kann er den feinsten und höchsten Arten des Glücks offen stehen: als das empfindlichste reizbarste gesundeste wechselndste und dauerhafteste Organ der Freude und aller gröberen und feineren Entzückungen in Geist und Sinnen: wenn nämlich die Götter ihn nur ein wenig in Schutz nehmen und nicht aus ihm (wie leider gewöhnlich!) einen Blitzableiter ihres Neides und Spottes auf die Menschheit machen. An solchen Menschen war Athen ein paar Jahrhunderte lang sehr reich, zu anderen Zeiten einmal Florenz, und noch neuerlicher Paris. Und, im Angesichte solcher letzten und höchsten Erzeugnisse der bisherigen Cultur, gilt immer noch der gute Glaube der Aufklärer, daß Glück, mehr Glück die Frucht der wachsenden Aufklärung und Cultur sein werde, und Niemand setzt hinzu: auch Unglück, mehr Unglück, mehr Leidensfähigkeit, vielartigeres und größeres Leid als je!— Warum doch brachen die philosophischen Schulen Athen’s im 4. Jahrhundert gerade inmitten der höchsten bisher erreichten Aufklärung und Cultur so mächtig hervor und warum suchten sie, Jede auf ihre Weise, den damaligen Athenern eine harte zum Theil fürchterliche oder mindestens überaus beschwerliche und kümmerliche Lebensweise und als Ziel Schmerzlosigkeit und eine Art von Starrheit aufzureden? Sie hatten die leidensfähigsten Menschen um sich und gehörten zu ihnen—sie verzichteten allesammt auf das Glück im Schooß dieser höchsten Cultur, weil dieses “Glück” nicht ohne die Bremse Schmerz und deren ewige Anstachelung zu haben war! Daß, gut gerechnet, ein der Erkenntniß und dem nil admirari geweihtes Leben selbst unter den härtesten Entbehrungen und Unbequemlichkeiten erträglicher sei als das Leben der Glücklichen Reichen Gesunden Gebildeten Genießenden Bewundernden Bewunderten einer solchen “höchsten Cultur,”—mit dieser Paradoxie führte sich die Philosophie in Athen ein und fand im Ganzen doch sehr viel Gläubige und Nachsprecher! und gewiß nicht nur unter den Freunden des Paradoxen!— Man kann die Seltsamkeit dieser Thatsache nicht lange genug ansehen. — — — —

15 [17]

Im Alterthum hatte jeder höhere Mensch die Begierde nach dem Ruhme—das kam daher, daß jeder mit sich die Menschheit anzufangen glaubte und sich genügende Breite und Dauer nur so zu geben wußte, daß er sich in alle Nachwelt hinein dachte, als mitspielenden Tragöden der ewigen Bühne. Mein Stolz dagegen ist “ich habe eine Herkunft”—deshalb brauche ich den Ruhm nicht. In dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an’s Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte. Wir sind die ersten Aristokraten in der Geschichte des Geistes—der historische Sinn beginnt erst jetzt.

15 [18]

Vergessen wir nicht: der neue Trieb ist eben neu—noch schwach gebrechlich, oft kindisch, oft schädigend, ohne feinere Wahl, so daß er mitunter die geringeren Naturen befällt und sich vor den großen Naturen scheut: er wirkt oft wie eine Krankheit, ist herb, bitter—was Wunders, daß er falsch beschrieben wird, weil man den Baum aus seinen Früchten nicht zu errathen weiß und das neue Gewächs nach seiner frühsten Gestalt mit bekannten Gewächsen und deren Wirkungen vergleicht: man sagt wohl, es sei ein Giftstrauch.

15 [19]

Ist es nicht ein Grad der Entweihung, wenn der Liebende denkt “nicht eigentlich nach dieser Geliebten verlange ich, sondern nach Liebe”—ist nicht jede Verallgemeinerung des Ziels eine Entweihung? Ja schon dies ist grob und beleidigend “ich verlange nach dieser Geliebten”—sondern die Sprache der Leidenschaft will nur Weniges, nur Einmaliges, nur ein Zeichen und Symbol. Schon alles Ganze als Ziel zu nennen ist Entweihung. Das Ideal muß zu groß als Ganzes sein—du sollst nur einzelne Strahlen abpflücken dürfen.

15 [20]

Zuerst das Nöthige—und dies so schön und vollkommen als du kannst! “Liebe das, was nothwendig ist”—amor fati dies wäre meine Moral, thue ihm alles Gute an und hebe es über seine schreckliche Herkunft hinauf zu dir.

15 [21]

Die beiden größten Gegner des Augenscheins sind Copernicus und Boscovich, beides Polen und beides Geistliche—letzterer erst hat den Stoff-Aberglauben vernichtet, mit der Lehre vom mathematischen Charakter des Atoms [Vgl. Roger Joseph Boscovich, Philosophiae naturalis theoria redacta ad unicam legem virium in natura existentium. Auctore P. Rogerio Josepho Boscovich, societatis Jesu, publico matheseos professore in collegio romano. Vienna: Bernard, 1759.]

15 [22]

Chamfort—ein Mensch von großem Charakter und tiefem Geiste—aber weder für seinen Charakter noch für seinen Geist ist die Stunde der Wiedererkennung gekommen. Die Tugenden müssen erst immer ein Paar machen—sonst glauben ihnen die Menschen nicht. Mirabeau nannte ihn seinen besten Freund: “Chamfort ist von meinem Schlage an Kopf und Herz.”

15 [23]

Die Gebärden des plötzlichen Schreckens sind keineswegs eine Sprache des Schreckens, als ob er sich mittheilen wollte—sondern die nächsten Vorsichtsmaßregeln und deshalb sehr verschieden: ich lernte dies als ein Wagen plötzlich auf mich zu fallen drohte.

15 [24]

Wie verschieden empfindet man das Geschäft und die Arbeit seines Lebens, wenn man damit der Erste in der Familie ist oder schon der Vater und Großvater dasselbe getrieben haben! Es ist viel mehr innere Noth, ein viel plötzlicherer Stolz dabei, aber das gute Gewissen ist dafür noch nicht geschaffen, und wir empfinden etwas als “beliebig” daran.

15 [25]

Die Nesselsucht: jetzt eine Krankheit, scheint mir ursprünglich ein Vertheidigungszustand der Haut zu sein, gegen Insekten und dergleichen, aus der Zeit her, wo der Mensch noch längere und härtere Haare hatte: vielleichte konnte der Mensch diesen Zustand kleiner Hautverhärtungen willkürlich herbeiführen: jetzt ein Atavismus. Bei manchen Menschen entsteht es wenn sie gewisse Früchte z. B. Erdbeeren essen: vielleicht weil die Insekten, gegen die man ehemals so sich schützte, gerade um diese Früchte schwärmten und man das Schutzmittel anwendete, um diese Früchte genießen zu können?

15 [26]

Alle Leidenschaft trübt den Blick 1) für das Objekt 2) für den damit Behafteten. Und nun! Paradoxie! Leidenschaft der Erkenntniß, welche gerade die Erkenntniß erkennen will und ebenso den von der Leidenschaft Befallenen! Unmöglich!!! Ist, die schöne Unmöglichkeit vielleicht ihr letzter Zauber?

15 [27]

Müssen nicht gerade die besten Menschen die bösesten sein? Die, bei denen das Wissen und Gewissen am feinhörigsten und kräftigsten ausgebildet ist, so daß sie alles, was sie thun, als ungerecht empfinden und sich selber als die Immer-bösen, Immer-ungerechten, als die Nothwendig-bösen? Wer sich aber so empfindet, ist es auch!

15 [28]

Wer sich im Gebirge verklettert hat, muß sich vor Allem hüten, die Gefahr seiner Lage nicht für größer zu halten als sie ist!

15 [29]

Im Norden hat man eine Furcht vor den warmen Farben—sie gelten da als gemein, als pöbelhaft. Darin gehöre ich also zum Pöbel—aber im Süden nicht mehr!

15 [30]

Das Erste, was man in einer fremden Sprache zu lernen hat, sind die Höflichkeiten des fremden Landes—das Zweite sind die Namen der Bedürfnisse. Aber erst das Zweite—im schlimmsten Falle kommt man schon mit den Höflichkeiten aus: wer läßt einen Höflichen (dem es nicht an Anstand und Geld fehlt) hungern?

15 [31]

Wenn man die Lotterien verwünscht, so vergißt man gewöhnlich, wie viel Glück und heitere Horizonte die angenehmen Hoffnungen Aller zusammen ausmachen! Und wie viel ärmer ein Volk ohne Lotterien ist—nämlich an angenehmen Empfindungen! Die Enttäuschung ist eine einmalige und wird ziemlich schnell abgeschüttelt—aber wie oft träumt man vom Gewinnste und macht Pläne! Wie mehrt es den Geschmack an Unternehmungen!

15 [32]

Nein, dazu bin ich nicht gemacht, das Gewissen der Menschen noch zu beschweren! Ich will daß sie ihres Glückes mehr Acht haben, “aller der hundert Quellen” selbst in der Wüste! wie ein deutscher Dichter sagt—und daß sie selber von ihrem Unglücke Unvermögen und Untugenden besser denken als bisher—sie nützen damit ebenfalls, und wahrscheinlich sogar liegen da ihre eigenen Lust- und Glücks- und Kraft- und Tugendbedingungen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Harzreise im Winter." In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 2. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853:51. "Öffne dem umwölkten Blick / Über die tausend Quellen / Neben dem Durstenden / In der Wüste!"]

15 [33]

Was wir lieben, soll an sich selber keine Flecken finden so will es der Egoismus dieser feinsten Besitzlust, welche Liebe heißt.

Gesetzt, man ist der Liebhaber einer Sängerin, mit was für ängstlichen Ohren hört man da sie vor irgend welchen Zuhörern singen! Man urtheilt fein und überfein, keineswegs voreingenommen, verliebt, verklebt: vielmehr entgeht uns keiner ihrer kleinsten Fehler, kein noch so flüchtiges Ausgleiten oder Ausbleiben; wir wissen, wenn auch die Zuhörer jubeln und klatschen, daß für die Sängerin selber nicht Alles so klang und lief, wie ihr feinstes Gewissen es verlangt hat—und weil wir fühlen, daß ihr selber all ihr kleines und großes Mißlingen bewußt ist, leiden wir unbeschreiblich dabei und sind dankbar und gerührt über alles, was ihr gelungen. So geht es auch mit Meistern einer Kunst, welchen wir Freund sind; um ihretwillen sind wir an ihrem Gelingen erquickt, ja wir geben allen eigenen Geschmack auf, sobald uns ihre Art, sich selber zu schmecken, erst zum Bewußtsein gekommen ist.

15 [34]

Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates war es, und zwar deshalb, weil sie Dinge für wichtig, nimmt, die mit gut und böse nichts zu thun haben, folglich dem “Gut und Böse” Gewicht nehmen—die Moral will, daß ihr alle Kraft des Menschen zu Gebote stehe; sie hält es für die Verschwendung eines, der nicht reich genug dazu ist, wenn man sich um Sterne und Pflanzen bekümmert.

15 [35]

Diese griechischen Philosophen der strengen Observanz hatten in sich die Wahl, böse Thiere zu werden oder strenge und freudenarme Thierbändiger: so schon Sokrates. Sie waren klug genug, um zu begreifen, daß wer ein menschliches Raubthier wird, fortwährend sich selber zuerst zerreißt. Aber nun glaubten sie, daß Jedermann so wie sie selber in Gefahr sei, dies Raubthier zu werden—dies ist der große Glaube aller großen Moralisten, ihre Macht und ihr Irrthum!— Der Glaube an die Nähe der furchtbaren Thierheit bei Jedem.— Es waren schwerlich schöne Menschen.

15 [36]

Unser Auge und unsre Ästhetik sitzen auch an der Tafel, und viele feine Leckerbissen bleiben uns vorenthalten, weil das Auge sagt “dies sieht abscheulich aus,” “diese Linien sind meinem Geschmack fremd.” Bei der Auster—und selbst diese ist Vielen etwas Unmögliches—ist es die edle Arbeit der Schale, welche für die ekle schlüpfrige Masse Fürsprache einlegt und gleichsam das Auge bittet, nicht hinzusehn, wenn sie hnuntergeschluckt werden soll.— Vielleicht bleiben uns aus dem gleichen Grunde die besten Frauen vorenthalten, die wahren Leckerbissen an Güte und Kraft der Seele. Ein Paar andere Linien (oder, wie die Physiologen sagen, etwas Fett mehr oder weniger—das

15 [37]

Die Vernunft in der französischen Revolution—das ist die Vernunft Chamforts und Mirabeau’s—die Unvernunft daran: das ist die Unvernunft Rousseau’s.

15 [38]

Ist dies meine Aufgabe: déniaiser les savants? Sie wußten nicht, was sie thaten und dachten nicht viel daran, aber sie hatten einen albernen Hochmuth bei allem ihrem Thun, als ob in ihnen die Tugend selber zur Welt gekommen sei.

15 [39]

Der Geschmack ist stärker als alle Moral; ich kann nicht neben einem Menschen leben, der fortwährend ausspuckt, oder seine Suppe ißt—lieber wollte ich mit einem Diebe oder Meineidigen zusammen wohnen. Ehemals wurden die Neuerer des Gedankens so peinlich empfunden, als eine Sache wider den Anstand.

15 [40]

Meine Gedanken betreffen zu hohe und ferne Dinge, sie könnten nur wirken, wenn der stärkste persönliche Druck hinzukäme. Vielleicht wird der Glaube an meine Autorität erst durch Jahrhunderte so stark, um die Menschen zu vermögen, ohne Beschämung, das Buch dieser Autorität so streng und ernst zu interpretiren, wie einen alten Classiker (z. B. Aristoteles).— Der Glaube an den Menschen muß wachsen, damit sein Werk nur den nöthigen Grad von entgegenkommender Intelligenz findet: der Glaube also und das Vorurtheil. Deshalb bestand man ehemals so auf “Inspiration”: jetzt — — — —

15 [41]

Das Meer nimmt ab, der Mensch das feste Land nimmt immer zu—aber weil er nur sieht, daß sich Alles verändert, so glaubt und fühlt er umgekehrt und meint, seine Unfestigkeit sei im Wachsen und er werde schließlich dem Meere nicht mehr Widerstand leisten können.— Die Langsamkeit der Vorgänge in der Geschichte des Menschen ist nicht dem menschlichen Zeitgefühl angemessen—und die Feinheit und Kleinheit alles Wachsens spottet der menschlichen Sehkraft. Deshalb wird sie immer nur ein Glaubensartikel sein: diese wirkliche Menschengeschichte! und deshalb hat sie so schweren Kampf gegen alle anderen Glaubensartikel, sie kann sich gleichfalls nicht ad oculos demonstriren.— Ja, wider alle unsere “Wahrheiten” spricht der Augenschein und wird dabei leicht zum Advokaten alles Scheins und selbst der Lüge.

15 [42]

Ich dachte mir das mir fürchterlichste Leben aus: das eines Höflings Anwalts Zolleinnehmers Registrators Kassenbeamten Königs Krämers Hausdieners und aller jener, deren Überschuß an Leistung im Warten besteht—Warten, bis Jemand kommt und spricht—während es nicht möglich ist sich inzwischen besser zu beschäftigen (“es geht wider die Pflicht”) Nun bemerke ich, daß die allermeisten überhaupt beschäftigten Menschen in den großen Städten gerade so beschäftigt sind und sich darauf hin ausbilden—daß also dieses pflichtmäßige Warten ihnen sehr erträglich scheinen muß.

15 [43]

Aus der Ferne und im Auslande sieht man die Dinge der Heimat nicht gerade schwarz oder weiß, aber gewiß nicht so bunt als sie wirklich sind: man vereinfacht die Farben. Als Beispiel einer großen Vereinfachung der Farben gebe ich dies Urtheil: “die Deutschen zerfallen jetzt in Juden und Misojuden: letztere möchten gar zu gerne wirkliche Deutsche sein.”

15 [44]

Ist es nicht zum Lachen, daß man noch an ein heiliges unverbrüchliches Gesetz glaubt “du sollst nicht lügen” “du sollst nicht tödten”—in einem Dasein, dessen Charakter die beständige Lüge, das beständige Tödten ist! Welche Blindheit gegen das wirkliche Wesen dieses Daseins muß es hervorgebracht haben, daß man mit jenen Gesetzen allein leben zu können glaubte! Wie viel Blindheit über uns selber! Welches Mißdeuten aller unserer Absichten und Ausführungen! Wie viel pathetische Lüge, wie viel Todtschlag der Ehrlichen—d. h. Vernichtung derer, die böse zu sein und sich zu scheinen wagten—ist dadurch wieder in die Welt gekommen! Die Moralität ist selber nur durch Unmoralität so lange in Kredit geblieben.

15 [45]

Der Luxus ist die Form eines fortwährenden Triumphes—über alle die Armen Zurückgebliebenen Ohnmächtigen Kranken Begehrlichen. Nicht daß man viel von den Dingen des Luxus selber genießt—was hat der Triumphator von den Gold-Rädern und den angeketteten Sklaven seines Wagens!—aber man genießt es, daß der Wagen über Unzählige weg geht und sie drückt oder zerdrückt.

15 [46]

Die Menschheit wäre ausgestorben, wenn der Geschlechtstrieb nicht einen so blinden unvorsichtigen eilfertigen gedankenlosen Charakter hätte. An sich ist ja seine Befriedigung durchaus nicht mit der Fortpflanzung der Gattung verbunden. Wie unsäglich selten ist der coitus die Absicht der Fortpflanzung!— Und ebenso steht es mit der Lust am Kampf und der Rivalität: nur ein Paar Grade Erkältung der Triebe mehr und das Leben steht still! Es ist an eine hohe Temperatur und an eine Siedehitze der Un-Vernunft gebunden.

15 [47]

Man hat gut reden von aller Art Immoralität! Aber sie aushalten können! Z. B. würde ich ein gebrochenes Wort oder gar einen Mord nicht aushalten: langes oder kürzeres Siechthum und Untergang wäre mein Loos! ganz abgesehen vom Bekanntwerden der Unthat und von der Bestrafung derselben.

15 [48]

Sähest du feiner, so würdest du alles bewegt sehen: wie das brennende Papier sich krümmt, so vergeht alles fortwährend und krümmt sich dabei.

15 [49]

Gott war bisher verantwortlich für jedes Lebendige, das entstand—man konnte nicht errathen, was er mit ihm vorhatte; und gerade dann, wenn dem Lebendigen das Zeichen des Leidens und der Gebrechlichkeit eingeprägt war, vermuthete man, daß es schneller als andere Wesen von der Lust am “Leben” und an der “Welt” geheilt werden solle, und dergestalt mit einem Merkmal der Gnade und der Hoffnung gezeichnet sei. Sobald man aber nicht mehr an Gott und an die Bestimmung des Menschen für ein Jenseits glaubt, wird der Mensch verantwortlich für alles Lebendige, das leidend entsteht und das zur Unlust am Leben vorherbestimmt ist. “Du sollst nicht tödten”—gehört in eine Ordnung der Dinge, wo ein Gott über Leben und Tod bestimmt.

15 [50]

Freunde, sagte Z[arathustra] das ist eine neue Lehre und herbe Medizin, sie wird euch nicht schmecken. Macht es also, wie es kluge Kranke machen—trinkt sie in einem langen Zuge hinunter und schnell etwas Süßes und Würziges hinterdrein, das euren Gaumen wieder rein spüle und euer Gedächtniß betrüge. Die Wirkung wird trotzdem nicht ausbleiben: denn ihr habt nunmehr “den Teufel im Leibe”—wie euch die Priester sagen werden, welche mir nicht hold sind.

15 [51]

Habt ihr kein Mitleiden mit der Vergangenheit? Seht ihr nicht, wie sie preisgegeben ist und von der Gnade dem Geiste der Billigkeit jedes Geschlechtes wie ein armes Weibchen abhängt? Könnte nicht jeden Augenblick irgend ein großer Unhold kommen, der uns zwänge, sie ganz zu verkennen, der unsre Ohren taub gegen sie machte oder gar uns eine Peitsche in die Hand gäbe, sie zu mißhandeln? Hat sie nicht dasselbe Loos wie die Musik, die beste Musik, die wir haben? Ein neuer böser Orpheus, den jede Stunde gebären könnte, wäre vielleicht im Stande, uns durch seine Töne zu überreden, wir hätten noch gar keine Musik gehabt und das Beste sei, allem, was bisher so hieß, aus dem Wege zu laufen.

15 [52]

“Du kommst zu früh!”—“du kommst zu spät”—das ist das Geschrei, um alle die, welche für immer kommen, sagte Z[arathustra].

15 [53]

“Gut von den Menschen denken—das begreift sich bei dir! sie verstellen sich in deiner Gegenwart und werden vielleicht sogar besser—genug du lernst sie so kennen, als ob sie Spiegel wären, in denen du selber wiederstrahlst.” Auf Reisen! ego.

15 [54]

Du fühlst, daß du Abschied nehmen wirst, bald vielleicht—und die Abendröthe dieses Gefühls leuchtet in dein Glück hinein. Achte auf dieses Zeugniß: es bedeutet, daß du das Leben, und dich selber liebst und zwar das Leben, so wie es bisher dich getroffen und dich gestaltet hat—und daß du nach Verewigung desselben trachtest. non alia sed haec vita sempiterna!

Wisse aber auch!—daß die Vergänglichkeit ihr kurzes Lied immer wieder singt und daß man im Hören der ersten Strophe vor Sehnsucht fast stirbt, beim Gedanken, es möchte für immer vorbei sein.

15 [55]

Ich glaube, man verkennt den Stoicismus. Das Wesentliche dieser Gemüthsart—das ist er, schon bevor die Philosophie ihn sich erobert hat—ist das Verhalten gegen den Schmerz und die Unlust-Vorstellungen: eine gewisse Schwere Druckkraft und Trägheit wird auf das äußerste gesteigert, um den Schmerz wenig zu empfinden: Starrheit und Kälte sind der Kunstgriff, Anaesthetika also. Hauptabsicht der stoischen Erziehung, die leichte Erregbarkeit zu vernichten, die Zahl der Gegenstände, die überhaupt bewegen dürfen, immer mehr einschränken, Glauben an die Verächtlichkeit und den geringen Werth der meisten Dinge, welche erregen, Haß und Feindschaft gegen die Erregung, die Passion selber als ob sie eine Krankheit oder etwas Unwürdiges sei: Augenmerk auf alle häßlichen und peinlichen Offenbarungen der Leidenschaft—in summa: Versteinerung als Gegenmittel gegen das Leiden, und alle hohen Namen des Göttlichen der Tugend fürderhin der Statue beilegen. Was ist es, eine Statue im Winter umarmen, wenn man gegen Kälte stumpf geworden ist?—was ist es, wenn die Statue die Statue umarmt! Erreicht der Stoiker die Beschaffenheit, welche er haben will—meistens bringt er sie mit und wählt deshalb diese Philosophie!—so hat er die Druckkraft einer Binde, welche Unempfindlichkeit hervorbringt.— Diese Denkweise ist mir sehr zuwider: sie unterschätzt den Werth des Schmerzes (er ist so nützlich und förderlich als die Lust), den Werth der Erregung und Leidenschaft, er ist endlich gezwungen, zu sagen: alles wie es kommt, ist mir recht, ich will nichts anders—er beseitigt keinen Nothstand mehr, weil er die Empfindung für Nothstände getödtet hat. Dies drückt er religiös aus, als volle Übereinstimmung mit allen Handlungen der Gottheit (z. B. bei Epictet).

15 [56]

ich berühre kaum noch die äußersten Spitzen der Wellen—das Dasein, in dem ich schwimmen sollte, ist wie außer mir und ich fühle mit einem Schauder der Wonne seine spielende Haut: bin ich zum fliegenden Fisch geworden? —

15 [57]

Als ich eben aufblickte, glaubte ich, schnell wie ein Blitz, neben meinem Tische einen bleichen Menschen, tief gebückt zu sehen: im nächsten Moment, wo das Auge schärfer dies Objekt fassen wollte, sehe ich ein paar Schritte weiter von dem Tische eine Katze: deren Farben hatte meine Phantasie benutzt und ebenfalls eine andere Perspektive vorausgesetzt. In einem lebhaften Gespräch sehe ich das Gesicht der Person oftmals mit der äußersten Deutlichkeit und voll des feinsten Muskelspiels und Augen-Ausdrucks, je nach den Gedanken, die sie äußert oder die ich bei ihr hervorzurufen glaube: mein wirkliches Sehvermögen kann diese Feinheiten nicht sehen und muß also eine Erdichtung sein. Wahrscheinlich macht die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keines. —

15 [58]

Mir ist nie einen Augenblick der Gedanke gekommen, daß etwas von mir Geschriebenes nach ein paar Jahren einfach todt sei und somit einen Erfolg in der Bälde haben müsse, wenn es einen Erfolg haben wolle. Ohne je den Gedanken der gloria gehabt zu haben, ist mir nie der Zweifel aufgestiegen, daß diese Schriften länger leben als ich. Dachte ich je an Leser, so immer nur an verstreute, über Jahrhunderte hin ausgesäete Einzelne: und mir geht es nicht so wie dem Sänger, dem erst ein volles Haus die Stimme geschmeidig, das Auge ausdrucksvoll, die Hand gesprächig macht.

15 [59]

Was die Praxis betrifft: so betrachte ich die einzelnen moralischen Schulen als Stätten des Experiments, wo eine Anzahl von Kunstgriffen der Lebensklugheit gründlich geübt und zu Ende gedacht wurden: die Resultate aller dieser Schulen und aller ihrer Erfahrungen gehören uns, wir nehmen einen stoischen Kunstgriff deshalb nicht weniger gern an, weil wir schon epikureische uns zu eigen gemacht haben. Jene Einseitigkeit der Schulen war sehr nützlich, ja sie war für die Feststellung dieser Experimente unentbehrlich. Der Stoicism z. B. zeigte, daß der Mensch sich willkürlich eine härtere Haut und gleichsam eine Art Nesselsucht zu geben vermöge: von ihm lernte ich mitten in der Noth und im Sturm sagen: “was liegt daran?” “was liegt an mir?” Vom Epikureism nahm ich die Bereitwilligkeit zum Genießen und das Auge dafür, wo alles uns die Natur den Tisch gedeckt hat.

15 [60]

Dazu sehe ich schlecht und meine Phantasie ist (im Traum und im Wachen) an Manches gewöhnt und hält manches für möglich, was Anderen nicht immer bereit sein würde.— Ich fliege im Traum, ich weiß, daß es mein Vorrecht ist, ich erinnere mich darin nicht eines Zustandes, wo ich nicht zu fliegen vermöchte. Jede Art von Bogen und Winkeln mit einem leichten Impuls auszuführen, eine fliegende Mathematik—das ist ein so eignes Glück, daß es gewiß bei mir die Grundempfindung des Glücks auf die Dauer durchtränkt hat. Wenn es mir ganz wohl zu Muthe werden will, bin ich immer in einem solchen freien Schweben, nach Oben nach Unten willkürlich, ohne Spannung das Eine und ohne Herablassung und Erniedrigung das Andere. “Aufschwung”—so wie Viele dies beschreiben ist mir zu muskelhaft und gewaltsam.— Ich verstehe die Korybanten und selbst das dionysische Wesen am besten als Versuche von ungeflügelten Thieren, sich Flügel einzubilden und sich über die Erde zu heben. Lärm gewaltsamster Bewegung wie en ungeheures Flügelschlagen—es wirkt zuletzt fast als ob sie in der Höhe wären.

15 [61]

Überall, wo ein Hof gemacht wird, halte ich es nicht [aus]: wozu bunt wie ein Flamingo stundenlang im flachen Wasser stehen! Alle Höflinge betrachten das Sitzen als ein Glück des “Lebens nach dem Tode.”

15 [62]

Mit Einem Klange mitleidig spöttisch und verführerisch zu sein—verstehen nur die Frauen.

15 [63]

Im kleinen und erbärmlichen Leben klingen trotzdem die Akkorde des großen Lebens vergangener Menschen hindurch: jede Werthschätzung hat in großen Bewegungen einzelner Seelen ihre Herkunft.

15 [64]

Und wie ein Liebhaber spricht: ihre Kälte macht meine Erinnerungen erstarren: habe ich jemals dies Herz an mir glühen und klopfen gefühlt?—so - - -

15 [65]

Vielleicht muß man jetzt bei den Kaufleuten die Eigenschaften suchen, die ehedem die Menschen groß machten—ungestümen Ehrsinn Unternehmungsgeist usw. auch den Corporationsgeist.

15 [66]

Jüdisch ist im Ganzen die Moralität Europas—eine tiefe Fremdheit trennt uns immer noch von den Griechen. Aber die Juden haben ebenso sehr als sie den Menschen verachteten und als böse und verächtlich zugleich empfanden, ihren Gott reiner und ferner als irgend ein Volk gestaltet: sie nährten ihn mit all dem Guten und Hohen, was in der Brust des Menschen wächst—und diese seltsamste aller Aufopferungen hat allmählich eine Kluft zwischen Gott und Mensch entstehen lassen, die furchtbar empfunden wurde. Nur bei Juden war es möglich, ja nothwendig, daß sich endlich ein Wesen in diese Kluft hineinwarf—und wieder mußte es “der Gott” sein, der dies that, dem man allein etwas Hohes zutraute: jener Mensch selber, welcher sich als Mittler fühlte, mußte sich erst als Gott fühlen, um diese Mittler-Aufgabe sich zu stellen. Wo die Kluft weniger groß war, da konnte auch wohl ein Mensch ohne völlig übermenschlich zu sein, sondern als Heros dazwischen treten und das Wohlgefühl verbreiten, welches vielleicht das höchste der älteren Menschheit war: Einklang und Übergang von Gott zu Mensch zu sehen.

15 [67]

Warum überkommt mich fast in regelmäßigen Zeiträumen ein solches Verlangen nach Gil Blas und wiederum nach den Novellen Mérimées? Hat mich nicht Carmen mehr bezaubert als irgend eine Oper, in der mir diese geliebte Welt (die ich im Grunde nur auf halbe Jahre verlasse) wiederklingt?

15 [68]

Hinter jeder Tragödie steckt etwas Witziges und Widersinniges, eine Lust am Paradoxon, z. B. das Schlußwort der letzten tragischen Oper: “ja ich habe sie getödtet, meine Carmen, meine angebetete Carmen!” Diese Art von Pfeffer fehlt dem Epos ganz—es ist unschuldiger und wendet sich an kindlichere und plumpere Geister, denen alles Saure Bittre und Scharfe noch widersteht. Tragödie ist ein Vorzeichen, daß ein Volk witzig werden will,—daß der esprit seinen Einzug halten möchte.

15 [69]

“Nützen, nützlich”: dabei denkt jetzt jeder an Klugheit Vorsicht Kälte Mäßigung usw., kurz an Seelenzustände, die dem Affekt entgegengesetzt sind. Trotzdem muß es ungeheure Zeiten gegeben haben, wo der Mensch das ihm Nützliche nur unter der Anregung der Affekte that und wo ihm die Klugheit und Vernunftkälte noch überhaupt fehlte. Damals redete das höchste utile noch die Sprache der Leidenschaft, der Verrücktheit, des Schreckens: ohne eine so gewaltige Beredsamkeit war es nicht möglich, den Menschen zu etwas “Nützlichem”—d. h. zu einem Umweg des “Angenehmen” d. h. zu einem zeitweiligen Vorziehen des Unangenehmen—zu bestimmen. Die Moral war damals noch nicht die Eingebung der Klugheit—man mußte gleichsam die Vernunft und gewöhnliche Art zu wollen für eine Zeit verlernen, um in diesem Sinne etwas Moralisches zu thun.

15 [70]

Ich will meine Heraldik und ein Wissen um den ganzen adeligen Stammbaum meines Geistes haben—erst die Historie giebt ihn. Ohne dieselbe sind wir Alle Eintagsfliegen und Pöbel: unsere Erinnerung geht bis zum Großvater—bei ihm hört die Zeit auf.

15 [71]

“Wer mit 40 Jahren nicht Misanthrop ist, der hat die Menschen nie geliebt,” pflegte Chamfort zu sagen. [Vgl. Sébastien Roch Nicolas Chamfort, Chamfort: pensées, maximes, anecdotes, dialogues. Précédés de l'histoire de Chamfort. Par P.-J. Stahl. Paris: Lévy:32: "Le secret du caractère de Chamfort est tout entier dans ces mots qu'il répétait souvent, dit Roederer: 'Tout hommes qui, à quarante ans, n'est pas misanthrope, n'a jamais aimé les hommes.'"]

15 [72]

Balzac: pour moraliser en littérature, le procédé a toujours été de montrer la plaie. — [Vgl. Sébastien Roch Nicolas Chamfort, Chamfort: pensées, maximes, anecdotes, dialogues. Précédés de l'histoire de Chamfort. Par P.-J. Stahl. Paris: Lévy:32.]

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