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The Will to Power
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Herbst 1881 12 [101-231]

12 [101]

Hier bin ich dies lebende Muschelthier, unter all den Felsen am Gestade

12 [102]

Wer die Tragödie moralisch genießt, der hat noch einige Stufen zu steigen.

12 [103]

Die beste Musik ist wenig, wenn nicht ein Sänger, eine Sängerin uns durch Stimme und Kunst in sanfte Trunkenheit versetzt—und in diesem Falle wird geringe Musik unsäglich gehoben!

12 [104]

Sind diese Dinge denn wichtig? Ich gehe durch große Städte und finde Keinen der sie dafür halten würde—oder solche die es heucheln—von Berufs wegen. Wichtig ist aber, daß sie es nicht mehr wichtig nehmen! Savonarola in Florenz ist vorüber! ganz!

12 [105]

Der Bauende fragt: wer gilt dafür, den besten Geschmack als Baumeister zu haben? Dessen Geschmack will ich haben—und er gewöhnt sich daran, es wird sein Bedürfniß. So bekommen Städte endlich einen Geschmack

12 [106]

Das Glück, breite und langsame Treppe

12 [107]

Die Gedanken der Alten wirken ungeheuer, weil sich der Glaube an die Alten seit Jahrhunderten angesammelt hat. Meine Gedanken betreffen zu hohe und schwere Dinge als daß sie ohne den größten persönlichen Druck wirken können —

12 [108]

Wenn dieser M[ensch] nicht ein großer Tugendhafter wird, so wird er fürchterlich sein, sich und Anderen. Bei Anderen lohnt es sich nicht, wenn sie sich so heftig um die Tugend bemühen—sie werden durch ihre Mittelmäßigkeit sogar die Tugend um ihr Ansehen bringen.

12 [109]

Ist nicht Alles Alles bereit für diese Revolution? Die Lage ist zu schildern.

12 [110]

Paradoxie im Weibe und seiner Erziehung—sehr geheimnißvoll und interessant.— Diesen Sinn hat alle Moral

12 [111]

Es giebt keine Parteilichkeit für das Lebende oder gegen das Todte in der Natur. Wenn etwas lebend nicht erhalten bleibt, so ist kein Zweck verfehlt!

der Charakter “nützlich” “zweckmäßig” ist accessorisch, menschlich

12 [112]

“Wenn Z[arathustra] die Menge bewegen will, da muß er der Schauspieler seiner selber sein”



“Zarathustra’s Müssiggang ist aller Laster Anfang”

12 [113]

Giebt es denn in der ganzen Welt jetzt einen Menschen, der so wie ich am Meere sitzt und —

12 [114]

Genueser Müssiggang.

Wenn ich recht beobachtet habe, so bin ich hier der einzige Müssiggänger.

12 [115]

Die Mittelstände streben mit allem Eifer die Arbeiter in ihre Lage zubringen: sind sie denn glücklicher?

12 [116]

An den eigentlichen Misojuden (wie W[agner] ist mir eher die Verwandtschaft mit dem jüdischen als die Unähnlichkeit aufgefallen—es ist eine ungeheure Eifersucht. Die Deutschen zerfielen jetzt in Juden und Misojuden, d. h. — — —

12 [117]

Eine neue Art Verdummung—durch die Lust am Thun und Unternehmen.

12 [118]

Ein M[ensch] mit bleichem Gesicht, tief gebückt über meinem Tische. Diese Vorstellung dauerte einen Augenblick: im nächsten nahm ich eine Katze wahr, ein paar Schritte weiter

12 [119]

Die Musik als die Kunst der Morgenröthe!

12 [120]

Was R[ichard] W[agner] werth ist, das wird uns erst der sagen, der den besten Gebrauch von ihm macht. Einstweilen haben wir W[agner] geglaubt, was er gern geglaubt haben möchte

12 [121]

Chamfort in seiner Weise, der Einen Augenblick lachen, und viele Augenblicke nachdenken macht.

12 [122]

Veredelung der Prostitution

12 [123]

Zu Ehren der alten Frauen

12 [124]

in Deutschland, wo die besten Stimmen durch die häßliche Sprache ruinirt werden so daß zuletzt schöne Blasinstrumente übrig bleiben und nicht mehr —

12 [125]

Die Ehe hat das schlechte Gewissen gehabt—sollte man es glauben? Ja man soll es glauben

12 [126]

Meine Kunst, das Pathetische zu mildern und zu brechen.

12 [127]

Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen. Warum nicht widersprechen!

12 [128]

Du widersprichst heute dem, was du gestern gelehrt hast—Aber dafür ist gestern nicht heute, sagte Zarathustra.

12 [129]

Zum Äußersten bereit

Alle Arten tapferer M[enschen] um — — —

ein unsägliches Wehgefühl, daß das Leben so wegfließt.

Eines Tages sagte ich mir: es kommt alles wieder, und dieser wundervolle Tropfen Schwermuth im Glücke des Eroberers ist vielleicht das Schönste.

Zu seinem jünger sagte er: das ist die purpurne Schwermuth, die schönste Muschel, die du am Meere des Daseins auflesen kannst das Gefühl des nahen Abschieds, die Abendbeleuchtung der Dinge



für Könige

12 [130]

Du bist hart gegen dein früheres Ideal und die Menschen, mit denen es dich verband.— In der That, ich bin über sie hinweg gestiegen, um nach einem höheren Ideale umzuschauen. Es war eine Treppe für mich—und jene meinten, ich wolle mich auf ihr zur Ruhe setzen.

12 [131]

Man brachte 2 Jünglinge zu Z[arathustra]. “dieser wird jede Sache mittelmäßig machen—dieser wird nicht wehethun wollen, er ist nicht heroisch-grausam genug.”

12 [132]

Nicht Gattungs- sondern Heerden-Egoismus

12 [133]

barbarisch, gerade die Schwäche einer Sache zu nehmen, das Gegentheil, eine Sache so zu nehmen, daß man an Stelle ihrer Schwäche die eigene Stärke zu stellen weiß und sie so beschenkt

12 [134]

die furchtbaren Schreie Zeichen Rätsel alles womit die Verdauung der Menschheit nicht fertig wird,—der “Koth des Daseins” ist der fruchtbarste Dünger gewesen

12 [135]

Wer viel siegt, muß viel Gegner gehabt haben. Alle unsere Kräfte wollen fortwährend kämpfen. Die Moral will: zu allererst Gegner! und Krieg!

12 [136]

Wie vielen edlen und feinen Ziegen bin ich auf Reisen begegnet! sagte Z[arathustra].

12 [137]

Verdi ist arm an den Erfindungen schöner Sinnlichkeit und läßt gar noch merken, daß er äußerst sparsam mit ihnen umzugehen hat. Aber er hält sein Publikum mit seinen paar Einfällen fest—sie sind alle ärmer geworden wie er und wollen trotzdem nichts anderes, ganz wie er—so ist er ihr Mann und Meister. Auch W[agner] hat eine arme Sinnlichkeit und eine in Bezug auf Melodie an’s Verrückte streifende Widerspenstigkeit in der Armut—aber wie hat er daraus sich eine Brücke zum Ideal zu bauen gewußt!

12 [138]

W[agners] Musik gleicht der Wolke—und man muß von der Art der Rosenkranz und Güldenstern sein, um, gleich einigen Äesthetikern, in dieser Wolke ein Kameel zu sehen und nicht mehr

12 [139]

Von den deutschen Dichtern hat Clemens Brentano am meisten Musik im Leibe

12 [140]

Heroismus ist die Kraft, Schmerz zu leiden und zuzufügen.

12 [141]

Der Stoicismus im gefaßten Ertragen ist ein Zeichen gelähmter Kraft, man stellt seine Trägheit gegen den Schmerz auf die Wage—Mangel an Heroismus, der immer kämpft (nicht leidet) der den Schmerz “freiwillig aufsucht.”

12 [142]

“Wie ertrug ich nur bisher zu leben!” auf dem Posilipp als der Wagen rollte—Abendlicht

12 [143]

Es liegt wenig an Menschen, welche einen Gruß auf der Straße eher erwidern als sie die Person erkennen

12 [144]

den Thee oder sein Wasser “mediterranisiren” (durch Orangenwasser)

12 [145]

Jener Kaiser hält sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und ruhig zu bleiben. Auf mich wirkt die Vergänglichkeit ganz anders—mir scheint alles viel mehr werth zu sein als daß es so flüchtig sein dürfte—mir ist als ob die kostbarsten Weine und Salben ins Meer gegossen würden.

12 [146]

Wenn unser Glück uns nicht verleumden soll, müssen wir sichtbare Gebrechen an uns tragen.

12 [147]

Edel: in wiefern ein anderes Maaß des Moralischen als das des Mitleids? Der Höhere—der Grad von Verachtungsfähigkeit

Man kann fragen: war die Moral ein Mittel der Veredelung des Menschen? Was ist da Veredelung? Eine feinere Art der Moralität selber?— “Höher von sich denken”? —

vorausverkündende Verbrechen

12 [148]

Ohne das Gefühl “ich bin verantwortlich”—was wird aus dem Menschen? Ohne den Glauben an das Gewissen—was wird aus ihm? Denn er kann Gewissensbisse haben, aber skeptisch gegen sie sein, wie gegen andere Triebe, die sich regen

12 [149]

Wallfahrten als die Badereisen der Armen—und die Kirchen ihr Pallast und ihre Vornehmheit

12 [150]

Inschrift des Dichters-Zimmers

12 [151]

der gedankenreichste Autor dieses Jahrh[underts] ist bisher ein Amerikaner [Ralph Waldo Emerson] gewesen (leider durch deutsche Philosophie verdunkelt—Milchglas)

Drei Irrthümer 1) die Vergeltung — — —

12 [152]

Goethe der auch über seine Leidenschaften Buch führt.

12 [153]

Ich gehe immer noch allem Leuchtenden nach—und du legst die Hand über die Augen, wenn du aussiehst.

12 [154]

Ich schwimme auf der obersten Welle.

12 [155]

Übler Geruch ein Vorurtheil. Alle Aussdeidungen ekelhaft—warum? Als übelriechend? Warum übel? sie sind nicht schädlich. Speichel Schleim Schweiß Same Urin Koth Hautreste, Nasenschleimhäute usw. Es ist unzweckmäßig!— Der Ekel mit der Verfeinerung zunehmend. Die Verrichtungen, die daran sich knüpfen, auch ekelhaft.— Ekel als Brechreiz zu verstehen: die Ausscheidungen erregen den Reiz, die Nahrung auszuscheiden unverdaut (wie ein Gift) Urtheil vom Standpunkte der Genießbarkeit aus: dies ist nicht zu essen! Grundurtheil der Moral.

12 [156]

Solche welche das Alter, gleich einem edlen Wein, immer geistiger und süßer macht—Menschen wie Goethe und Epikur—denken auch an ihre erotischen Erlebnisse zurück.

12 [157]

Hier schwieg Z[arathustra] von Neuem und versank in tiefes Nachsinnen. Endlich sagte er wie träumend: “Oder hat er sich selber getötet? Waren wir nur seine Hände?”

12 [158]

Um die Schönheit dieser Frau ganz zu sehen, muß man sie mit schwachen Augen ansehen: um aber ihren Geist ganz zu sehen, wird man das schärfste Augenglas anwenden müssen—denn sie verbirgt ihn aus Eitelkeit in ihrem Gesichte, so weit er nur zu verbergen ist: denn Geist macht Frauen alt.

12 [159]

Glück, o Glück, du schönste Beute,
immer nah, nie nah genung,
immer morgen, nur nicht heute, —
ist dein Jäger dir zu jung?
Bist du wirklich Pfad der Sünde,

aller Sünden
lieblichste Versündigung

12 [160]

Jedes Ding an jedem Dinge meßbar: aber außerhalb der Dinge giebt es kein Maaß: weshalb an sich jede Größe unendlich groß und unendlich klein ist.

Dagegen giebt es vielleicht eine Zeiteinheit, welche fest ist. Die Kräfte brauchen bestimmte Zeiten, um bestimmte Qualitäten zu werden.

12 [161]

ich würde mich nicht vermissen!

12 [162]

Die Morgenröthe hat geleuchtet—aber wo ist die Sonne? Dieser Tag wird Sturm bringen—Sturmwolken ziehen um den Horizont.

12 [163]

der einfachste Organismus ist der vollkommene—alle complicirteren sind fehlerhafter und unzählige der höheren Art gehen zu Grunde. Heerden und Staaten sind die höchsten uns bekannten—sehr unvollkommenen Organismen. Endlich entsteht, hinter dem Staate, das menschliche Individuum—das höchste und unvollkommenste Wesen, welches in der Regel zu Grunde geht und die Gebilde aus denen es entsteht zu Grunde richtet. Das ganze Pensum der Heerden- und Staatentriebe ist in seinem Innern concentrirt. Er kann allein leben, nach eigenen Gesetzen—er ist kein Gesetzgeber und will nicht herrschen. Sein Machtgefühl schlägt nach innen. Die sokratischen Tugenden!

12 [164]

Trost für die welche zu Grunde gehen! ihre Leidenschaften als ein unglückliches Lotterieloos betrachten. Sehen, daß die meisten Würfe mißlingen müssen, daß das Zugrundegehen so nützlich ist als das Werden. Keine Reue. Selbstmord abkürzend.

12 [165]

Ein Wort für die, welche an Gott glauben—sie mögen erwägen, ob ein Gott die Vernichtung von irgend etwas wollen kann oder überhaupt kann—ob dies nicht eben das göttliche Unvermögen ist

12 [166]

Die Gehirn-Unruhe, welche der Wein—und sei es ein Eßlöffel voll bei mir hervorbringt, ist mir unausstehlich.

12 [167]

*Jugend hat keine Tugend

12 [168]

Es könnte noch immer eine Musik kommen, gegen welche die ganze Wagnerische Kunst unter den Begriff und die Rechtfertigung des recitativo secco fiele: und der welcher der sublimen Frage nach der Moralität der Musik nachhängt, wird auch jene Möglichkeit in Betrachtung zu ziehen haben.

12 [169]

Feindschaft Machtgelüst Grausamkeit Neid Rache Spott- und Tadelsucht Lüge Hang zur Wollust und zum Besitz

12 [170]

Voltaires edler Anstand und Zierlichkeit [Vgl. Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig; Liegnitz: Siegerts, 1760:532.]

12 [171]

Malherbe sagt zu seinem Beichtvater, der ihm von der Seligkeit in plumpen und niedrigen Wendungen sprach: “Genug! lassen wir das! Ihr schlechter Stil macht mir Ekel.” [Vgl. Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig; Liegnitz: Siegerts, 1760:534 f.]

12 [172]

Jener Indier, welcher sich in den Kopf gesetzt hatte, wenn er seinen Urin abschlage, werde er ganz Disnajan unter Wasser setzen. [Vgl. Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig; Liegnitz: Siegerts, 1760:552 f.]

12 [173]

“diese gegenwärtige Brücke ist allhier gebaut worden” ländliche Einfalt [Vgl. Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig; Liegnitz: Siegerts, 1760:554.]

12 [174]

Freundschaft—verschieden von der Liebe

12 [175]

Der Cardinal Richelieu wollte gern heilig gesprochen werden [Vgl. Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig; Liegnitz: Siegerts, 1760:614.]

12 [176]

Von wem hast du das Alles gelernt, fragte Saadi einen weisen Mann. “Von dem Blinden, der den Fuß nicht eher in die Höhe hebt, als bis er zuvor den Boden, auf den er treten soll, mit dem Stocke untersucht hat” [Vgl. Claude Adrien Helvétius, Discurs über den Geist des Menschen. Leipzig; Liegnitz: Siegerts, 1760:624.]

12 [177]

Posilipp und all die Blinden, denen das Auge geöffnet wird.

12 [178]

Meine Gedanken sollen mir anzeigen, wo ich stehe, aber sie sollen nicht mir verrathen, wohin ich gehe—ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegnehmen verheißener Dinge zu Grunde gehen.

Ich falle, bis ich auf den Grund komme—und will nicht mehr sagen: “ich forsche nach dem Grunde!”

Meine unsichtbare Natur ist vielleicht im Grunde weitsichtig und langathmig: mein Geist aber ist vielleicht zu kurz für sie, er errafft mit schnellem Blicke einige ihrer letzten Zipfel und kann nicht satt werden; sich über deren Buntheit und scheinbaren Unverstand zu wundern.

12 [179]

“aus diesem Kelche schäumt Unendlichkeit.” [Vgl. Friedrich Schiller, Die Freundschaft, 59-60. In: Sämmtliche Werke. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1822:102 "Aus dem Kelch des ganzen Seelenreichs / Schäumt ihm — die Unendlichkeit."]

12 [180]

Sophokles giebt oder schafft jeder Person Recht.

12 [181]

Ich habe nicht Kraft genug für den Norden: dort herrschen die schwerfälligen und künstlichen Seelen, die so beständig und nothwendig an Maßregeln der Vorsicht arbeiten als der Biber an seinem Bau. Unter ihnen habe ich meine ganze Jugend verlebt! das fiel über mich her, als ich zum 1. Male den Abend über Neapel heraufkommen sah, mit seinem sammtnen Grau und Roth [des] Himmels—wie ein Schauder Mitleid mit mir, daß ich mein Leben damit anfieng, alt zu sein, und Thränen und das Gefühl, noch gerettet zu sein, im letzten Augenblick.

ich habe Geist genug für den Süden

12 [182]

Ein M[ensch] der ohne alle Liebe und Theilnahme an Anderen ist, ist in meinen Augen einer, der nicht erwerben will, sich einen Genuß verbietet oder der Klugheit ermangelt, es fehlt ihm an Abwechslung, ein armer M[ensch]

12 [183]

Züchtung der Griechen.

Die Männer schöner als die Frauen.

12 [184]

Grillparzer: “Schiller geht nach oben, Goethe kommt von oben” [Vgl. Franz Grillparzer, Grillparzer's sämmtliche Werke. Bd. 9. Stuttgart: Cotta, 1872:229.]

Unterscheidung der höheren Naturen

12 [185]

Spencer [Vgl. Herbert Spencer, Die Thatsachen der Ethik. Autor. dt. Ausgabe nach der zweiten engl. Auflage übersetzt von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart, 1879.] meint, das eigentlich Moralische sei, die wirklichen natürlichen Folgen einer Handlung in Betracht zu ziehen—nicht Lob Tadel Strafe. Aber diesin Betracht ziehenwar unmoralisch! Die That wird gethan, was dabei auch herauskommt!— Die Rücksicht auf die gesammten Folgen einer That ist nie bisher verlangt worden—und wer sie verlangte, würde die Menschen stille stehen machen. Die Folgen sind unsäglich und unerforschlich: die nächsten Folgen würden durch die ferneren überwogen werden: jedes Verbrechen ließe sich so begründen.

12 [186]

Das Individuum war lange “unmoralisch”—es versteckte sich folglich, z. B. das Genie (wie Homer) unter dem Namen eines Heros. Oder man machte einen Gott verantwortlich.

12 [187]

“Der höhere Mensch mehr werth als der erkennende, der gemein und dumm sein kann. Es liegt nichts an den Leistungen. Als Werkzeug und Funktion ist der Mensch am werthvollsten—die Genie’s sind selten.”

12 [188]

Man übt sich, lange bevor man weiß, was man später einmal zu sagen hat, die Gebärde, die Haltung, den Stimmklang, den Stil ein, welcher dazu am besten sich eignet: die aesthetischen Triebe und Vorneigungen der Jugend sind die Ankündigungen von etwas, das mehr als aesthetisch ist. Seltsam!

12 [189]

Wir wollen es nicht machen, wie Wagners Wotan, der mit ungeheurer Wichtigkeit die alte Erda aus ihrem Schlafe weckt, um ihr zu sagen, daß sie weiter schlafen könne. Und auch nicht wie Wagners Parsifal—ein Arzt, der zwar seine Patientin heilt, doch so daß diese gleich nach der Heilung stirbt—und zwar mit rückwirkender Kraft; denn irgend ein alter Großvater muß auch deshalb noch sterben. Ja, wir wollen Aufwecker und Ärzte sein, doch so daß die Aufgeweckten nicht wieder einschlafen müssen und die Geheilten nicht an der Heilung zu Grunde gehen.

12 [190]

Lob Voltaires

12 [191]

Welches Erstaunen macht mir M[arc] Aurel und welches Grazian!

12 [192]

Eine ganz andere Aeternisirung—der Ruhm geht in einer falschen Dimension vorwärts. Wir müssen die ewige Tiefe hinein legen, die ewige Wiederholbarkeit.

12 [193]

*Irren wir nicht im oeden All umher?

12 [194]

Die lange Liebe ist deshalb möglich—auch wenn sie glücklich ist—weil ein Mensch nicht leicht zu Ende zu besitzen, zu Ende zu erobern ist—es thun sich immer neue, noch unentdeckte Gründe und Hinterräume der Seele auf, und auch nach diesen streckt sich die unendliche Habsucht der Liebe aus.— Aber die Liebe endet, sobald wir das Wesen als begrenzt empfinden.

Der Conflikt der langen und der kurzen Leidenschaft entsteht, wenn der Eine den Anderen zu Ende zu besitzen glaubt und der Andere noch nicht—da wendet jener sich ab, entzieht sich und reizt nun durch die Ferne den Anderen noch mehr auf, neue Werthe zu suchen—zuletzt oft mit dem Entschluß, ihn lieber zu tödten, als einen Anderen in den Besitz kommen zu lassen.— Glücklicherweise haben die Dinge keine Seele; sonst sähen wir fortwährend diesen Conflikt: und die Natur, wenn sie den unendlichen M[enschen] wirklich geliebt hätte, würde ihn längst aus Liebe aufgezehrt haben—sei es auch nur um ihn nicht z. B. einem Gotte zur Beute zu lassen.

12 [195]

Zu jeder Moral gehört eine gewisse Art von Analyse der Handlungen: jede ist falsch. Aber jede Moral hat ihre Perspektiven und Beleuchtungen—ihre Lehre von den “Motiven.”

12 [196]

“Jeder thue, was er für Pflicht hält”—damit hätten wir den Rückschritt und Stillstand.

12 [197]

Man nennt es Erkennen: in Wahrheit geht der lieb[ende] Mensch — — —

12 [198]

Nichts ist weiser als ein Sprüchwort—sagte der Seeigel, als ihn die Sonne stach: da machte er davon sofort fünfundzwanzig.

12 [199]

Der gute Mensch

1. der seine (legale)
Pflicht thut
aber auch1. der seinem Herzen folgt
2. der Tapfere 2. der Milde Versöhnliche
3. der Sich selber
beherrschende
 3. der mit guter Natur,
ohne Zwang
4. der pietätvolle 4. der Wahrheitsfreund
5. der fromme 5. der sich-selber
gehorchende
6. der Vornehme, Edle 6. der nicht-verachtende
7. der gutmüthig 7. der Kämpfe- und
Siegbegierige.

immer auch der Gegensatz dazu ist gut genannt worden

12 [200]

Verachtung des Schauspielers (wirkt auf ihn zurück, selbst auf Shakespeare, Voltaire Befreier.

12 [201]

so lange wir jung sind und unser selber noch nicht gewiß, ist die Gefahr nicht gering, daß uns die Wissenschaft durch die Wissenschaftlichen verleidet werde—oder die Kunst durch die Künstler—oder gar das Leben durch uns selber.

12 [202]

Gott

Wir haben ihn mehr geliebt als uns und ihm nicht nur unseren “eingeborenen Sohn” zum Opfer gebracht.

Ihr macht es euch zu leicht, ihr Gottlosen! Gut, es mag so sein, wie ihr sagt: die Menschen haben Gott geschaffen—ist dies ein Grund, sich nicht mehr um ihn zu kümmern? Wir haben bisher umgekehrt geschlossen, Gott, weil er die — — —



Ach Freund, was haben denn die Menschen seit Jahrtausenden gethan als sich um ihren Gott gekümmert usw. Wenn er nun trotzalledem nicht leben kann, und keine Nahrung ihn mehr bei Kräften erhält—: so — — —

12 [203]

Das war ein stolzer Mensch! “Lieber sterben als einen Wohlthäter haben”—sprach’s und sprang ins Wasser. Eine halbe Stunde später hatte er einen Wohlthäter und lebte: ein armer Arbeiter war ihm nachgesprungen und hinderte ihn zu sterben.

12 [204]

Logik im Diebstahl. Dieb sein können.— Jeder kauft so billig als er kann: d. h. Jeder bestiehlt seinen Nächsten, so lange als es dieser sich eben gefallen lassen muß.

12 [205]

Ich stehe still, ich bin auf einmal müde. Voran, scheint es, geht es abwärts, blitzschnell, in irgend einen Abgrund—ich mag nicht hinsehen. Hinter mir ragt das Gebirge. Ich greife zitternd nach einem Halt. Wie! ist alles um mich plötzlich zum Gestein und Absturz geworden? Hier dies Gesträuch—es zerbricht in meiner Hand und vergilbte Blätter und ärmliche Würzelchen rieseln abwärts. Mich schaudert und [ich] schließe das Auge.— Wo bin ich? Ich sehe in eine purpurne Nacht, sie zieht mich an sich und winkt mir—wie ist mir doch? was geschah, daß die Stimme dir plötzlich versagt und du dich wie verschüttet fühlst unter einer Last trunkener und undurchsichtiger Gefühle? Woran leidest du jetzt?—ja ich leide—das ist das rechte Wort!— Welcher Wurm biß mich ins Herz?

12 [206]

Ich dachte an das Zeitalter als ich heute einen Menschen sah, der vor einem plötzlich dahinrollenden Wagen mit einem Entrechat auswich,

12 [207]

Die Beängstigungen einer feigen furchtsamen und argwöhnischen Seele, die Unfähigkeit, irgend einen boshaften Einfall zurückzuhalten, wenn er Geist hatte, machen die Komödie in R[ousseau]’s Leben aus.

12 [208]

Ich bin am verbindlichsten gegen Leute, die mich sehr gut kennen (mich selber eingerechnet): gegen einen Fremden bin ich vorsichtig, bis er meiner Vorgebirge und Klippen gewahr geworden ist: ich will nicht, daß er sich an mir stoße und sich über sich selber dabei verdrieße.

12 [209]

Gewissensbisse bei der Anrufung der staatlichen Gerechtigkeit (statt der Rache)
beim Eingehen der Ehe
bei der Arbeit
beim Aufsuchen eines Lehrers
der Kaufmann
der Schauspieler

12 [210]

Nun, ich wüßte schon eine Kur für einen so leckerhaft gewordenen Gaumen!— Die wäre?— Er sollte einmal eine Kröte verschlucken. Darauf würden ihm schon so gute Dinge, wie das Lob ist, auch wieder gut schmecken!

12 [211]

Die Verteidiger der Vorurtheile müssen sehr viel Geist haben, wenn sie nicht an diese Vorurtheile glauben—und hat einer so viel davon, so bekämpft er gewöhnlich die Vorurtheile.

12 [212]

Letzte Klugheit. Er fürchtet den Neid der Götter und der Guten: er versteht sich darauf, sein Verdienst durch seine Thorheiten in Frage zu stellen und dergestalt wieder gut zu machen.

12 [213]

Ego als gefühlter Gegensatz der Heerde (Selbst—Heerde) und das Heerdenstück-Gefühl, welches sich nicht zu unterscheiden vermag vom Interesse der Heerde—nicht zu verwechseln!

12 [214]

Die Menschen werden so reich, weil die Dinge nicht so viel werth sind, die ihnen gefallen,—sie sind nicht erfinderisch in der Freude.

12 [215]

Wer du auch sein magst, geliebter Fremdling, dem ich hier zum ersten Male begegne: nimm diese frohe Stunde wahr und die Stille um uns und über uns und laß dir von einem Gedanken erzählen, der vor mir aufgegangen ist, gleich einem Gestirne und der zu dir und zu Jedermann hinunterleuchten möchte, wie es die Art des Lichtes ist.

12 [216]

Für diesen Gedanken wollen wir nicht 30 Jahre Gloria mit Trommeln und Pfeifen und 30 Jahre Todtengräberarbeit und dann eine Ewigkeit der Todtenstille, wie bei so vielen berühmten Gedanken.

Schlicht und fast trocken, der Gedanke muß nicht die Beredtsamkeit nöthig haben.

Merkst du nicht—es wird plötzlich stille stille, stille um dich —

12 [217]

Grausamkeit ist das Heilmittel des verletzten Stolzes.

12 [218]

Der Irrthum beim Gelobtwerden besteht darin, daß der, welcher gelobt wird, dem Worte des Lobenden seinen Begriff dieses Wortes unterlegt und nicht den des Lobenden,—den er ja zumeist gar nicht kennen kann. Gewöhnlich aber ist der Begriff im Kopfe des Lobenden etwas viel Geringeres Matteres Ärmeres als im Kopfe des Gelobten: so daß der letztere sich oft genug sehr verdrießen müßte zu wissen, was eigentlich an ihm und seinem Werke gelobt worden ist.

12 [219]

Der Magen, moralisch beschrieben



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12 [220]

*** Es sind vorläufige Abrechnungen mit dem, was mich am meisten im Leben gehemmt und gefördert hat, Versuche, von Einigem loszukommen, dadurch daß ich es verunglimpfte oder verherrlichte (—ach, die Dankbarkeit im Guten und Bösen hat mir immer viel zu schaffen gemacht!

So weit ich etwas von meinen Zeitgenossen weiß, habe ich von Schopenhauer und Wagner den besten Gebrauch gemacht: vielleicht nicht zu ihrem Vortheil, denn ich habe sie um einen Zoll zu tief kennengelernt.

Ich könnte sie Juvenilia et Juvenalia nennen, deutlich genug wie ich meine, aber in einer Latinität, welche mich erröthen macht. Viel Jugendliebe und Jugendhaß ist darin, in allen Arten.

Geburt der Tragödie

1) gegen Wagner’s Satz “die Musik ist Mittel zum Zweck” und zugleich Apologie meines Geschmacks an Wagner
2. gegen Schopenhauer und die moralische Deutung des Daseins—ich stellte darüber die aesthetische, ohne die moralische zu leugnen oder zu ändern.

12 [221]

Köselitz: Eckermann über Voltaire “zu vornehm war er — — —

12 [222]

Es ist die alte Geschichte
“Wenig Wolle und viel Geschrei,”
so meinen solche, sie kommt zu Gesichte —
Wie’s geschieht, zwei Mal oder drei.

12 [223]

Incipit tragoedia.

12 [224]

Musiker Dichter Denker et hoc
genus omne
.”
Gelegenheiten Beobachtungen und Fragen von F. N.

12 [225]

Zarathustras Müssiggang.
Von F. N.
flüssig feurig glühend—aber hell:
das letzte Buch —

es soll majestätisch und selig einherrollen.— So sprach Z[arathustra]ich klage nicht an, ich will selbst die Ankläger nicht anklagen

12 [226]

Von dem Augenblicke an, wo dieser Gedanke da ist, verändert sich alle Farbe, und es giebt eine andere Geschichte.

12 [227]

Stellen des Glückes zu sammeln z. B. Em[erson]

12 [228]

Philosophie des Überflüssigen. Gegen die Aufopferung als schädlich auf die Dauer.

12 [229]

Colonie—Corruption.

12 [230]

Form nur fürs Auge.

12 [231]

Friedrich Nietzsche
am Ende seines zweiten
Aufenthalts in Genua.
é
ê
[lux mea crux]
[crux mea lux]
ù
ú
 
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