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The Will to Power
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Herbst 1881 12 [1-100]

12 [1]

Nachts, vor dem bestirnten Himmel:
— Oh dieser todtenstille Lärm! —

12 [2]

Wortspiele:

Ridicultur eines Menschen
der geistige Nachtisch jetzt für Viele: Gorgon-Zola—in der Grotte seiner Nymphe Ärgeria.

12 [3]

Genua, dieser entfärbte Süden.

12 [4]

Künstler, die mit ihrem Antreiben und ihrem Verlangen zu wirken wissen, während sie nicht im Stande sind, selber ihre Ziele zu erreichen. Aber sie theilen den Impuls mit—und mitunter hat der Andere die mächtigere Thatkraft im Erreichen oder wenigstens Voraussehen des Ziels.

12 [5]

die Wissensch[aft] stellt auf, worin der Mensch festgeworden ist (nicht worin die Dinge—obschon sie so sich ausdrückt, jetzt!) Die Polypen werden sich des ungeheuren Gebirgs bewußt, das sie gebaut haben das aus ihnen besteht, daß sie ein lebendiges Gebirge von furchtbarer Festigkeit sind.

12 [6]

Diese furchtbare Realität, diese Furchtbarkeit der Realität ist ebenso ersichtlich bei den moralischen Phänomenen wie den physikalischen, ja deutlicher: wie hier [+] im Grunde alles Dichtung! Dies habe ich zu beweisen!— Es ist wie im Traum, es übt die ganz reale Macht aus, der Glaube daß hier wirkliches ist (z. B. bei einem Mord, einer Hinrichtung, einem Leichenbegängniß)

12 [7]

Ohne die Vorstellung anderer Wesen als Menschen sind bleibt alles Kleinstädterei, Klein-Menschelei. Die Erfindung der Götter und Heroen war unschätzbar. Wir brauchen Wesen zur Vergleichung, selbst die falsch ausgelegten Menschen, die Heiligen und Heroen sind ein mächtiges Mittel gewesen. Freilich: dieser Trieb verbrauchte einen Theil der Kraft, welche auf die Findung des eigenen Ideals verwendet werden konnte.— Aber eigene-Ideale-suchen war nichts für frühere Zeiten, das Wichtigste war den Menschen nicht mehr unter ein Mittelmaaß hinabsinken zu lassen und dazu diente, daß er wie angeschmiedet wurde an ein allgemeines Menschenbild, daß Selbstlosigkeit ihm gepredigt wurde.

12 [8]

Wie habe ich den Menschen gesucht, der höher ist als ich, und der mich wirklich übersieht! Ich fand ihn nicht. Ich darf mich nicht mit W[agner] vergleichen—aber ich gehöre einem höheren Range an, abgesehn von der “Kraft.”

12 [9]

Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.

12 [10]

Das neue Problem: ob nicht ein Theil der Menschen auf Kosten des anderen zu einer höheren Rasse zu erziehen ist. Züchtung — — — —

12 [11]

Zuletzt: unsere idealistische Phantasterei gehört auch zum Dasein und muß in seinem Charakter erscheinen! Es ist nicht die Quelle, aber deshalb ist es doch vorhanden. Unsere höchsten und verwegensten Gedanken sind Charakterstücke der “Wirklichkeit.” Unser Gedanke ist von gleichem Stoffe wie alle Dinge.

12 [12]

Wir verachten den Besitzlosen—darum auch den, der sich selber nicht beherrschen kann, der sich selber nicht besitzt. Er ist, nach unserer Empfindung, nicht als Egoist verächtlich, sondern als Wetterfahne von Impulsen und Mangel an Selbst.

12 [13]

An einem klugen rücksichtslosen Spitzbuben und Verbrecher tadeln wir nicht seinen Egoismus als solchen, der sich auf die feinste Weise äußert, sondern daß dieser sich auf so niedere Ziele richtet und auf sie beschränkt. Sind die Ziele groß, so hat die Menschheit einen anderen Maaßstab und schätzt “Verbrechen” nicht als solche, selbst die furchtbarsten Mittel.— Das Ekelhafte ist, ein guter Intellekt im Dienste einer erbärmlichen Anspruchslosigkeit des Geschmacks—wir ekeln uns vor der Art ego, nicht an sich vor dem ego.

12 [14]

Die Musik repräsentirt jetzt Gefühle—sie erregt sie nicht!

12 [15]

unorganische Materie, ob sie gleich meist organisch war, hat nichts gelernt, ist immer ohne Vergangenheit! Wäre es anders, so würde es nie eine Wiederholung geben können—denn es entstände immer etwas aus Stoff mit neuen Qualitäten, mit neuen Vergangenheiten.

12 [16]

Verschiedenes bei gleicher Musik erleben!

12 [17]

Ein Ding, ganz allein, würde gar nicht existiren—es hätte gar keine Relationen. Z. B. mein Buch.

12 [18]

Ich stelle mich vor mir selber erzürnt über die Kälte und Vernachlässigung, die ich von Freunden erfahre—im tiefsten Grunde läßt mich dies unbewegt, und ich wünschte fast, es zu einem Motiv zu machen, das mich etwas erregte. Ich suche Gründe gegen die Langeweile und finde nicht viel.

12 [19]

Daß ein Mensch manche Dinge nicht begehrt, nicht liebt, das rechnen wir ihm an als Zeichen seiner Niedrigkeit und Gemeinheit. “Selbstlosigkeit” als Gegenstück—er liebt manche Dinge und bringt andere Triebe zum Opfer, die den meisten Menschen nicht begreiflich als Gegenstand solcher Liebe sind—deshalb nehmen sie das Wunder der “Selbstlosigkeit” an!

12 [20]

Die Menschen haben die Liebe immer mißverstanden—sie glauben hier selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil eines anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen. Wollen sie dafür jenes andere Wesen besitzen? Oft nicht einmal!

12 [21]

Das erste Buch als Grabrede auf den Tod Gottes.—

12 [22]

Hundert Tannhäuser.— An Wotan nicht zu glauben! Ausdeutung der Vergangenheit

12 [23]

Dieser einsamste der Einsamen, der Mensch, sucht nun nicht mehr einen Gott, sondern einen Genossen. Dies wird der mythenbildende Trieb der Zukunft sein. Er sucht den Freund des Menschen.

12 [24]

Diese Welt die wir geschaffen haben, oh wie haben wir sie geliebt!

Wie tief-fremd ist uns die durch die Wissenschaft entdeckte Welt!

12 [25]

Opfer bringen wir fortwährend. Bald siegt diese Neigung über die andere und deren Anforderungen, bald jene. Du würdest erstaunen, wenn ich vorrechnete, wie viel Opfer jeder Tag mich kostet.

12 [26]

Alles was der Mensch aus sich heraus gelegt hat, in die Außenwelt, hat er dadurch sich fremd gemacht und immer mehr: so daß es nun wie ein Nicht-Ich wirkt, und alle moralischen Prädikate trägt und erträgt, die der Mensch sich selber nicht beizulegen wagt. “Natur.” So hat er sich erniedrigt und verarmt: je reicher sein Außer-sich wurde (Farbe Bewegung ebenso wie Schönheit Linie Erhabenheit).

12 [27]

Während es dem Melancholiker allzusehr an phosphorsaurem Kali in Blut und Gehirn gebricht, sieht er den Grund seines Mangelgefühls und seiner Depression in den moralischen Zuständen der Menschen, der Dinge, seiner selber!!!

12 [28]

Kinder die ein Gedächtniß für Strafen haben, werden tückisch und heimlich. Aber zumeist vergessen sie—und so bleiben sie in der Unschuld.

12 [29]

Wir kommen über die Ästhetik nicht hinaus—ehemals glaubte ich, ein Gott mache sich das Vergnügen, die Welt anzusehen: aber wir haben das Wesen einer Welt, welche die Menschen allmählich geschaffen haben: ihre Ästhetik.

12 [30]

Musik—eine verkappte Befriedigung der religiosi. Vom Worte absehen! Das ist ihr Vortheil! Ja auch von Bildern! Damit sich der Intellekt nicht schäme! So ist es gesund und eine Erleichterung für jene Triebe, welche doch befriedigt sein wollen!

12 [31]

nach der Wahrheit jagen—es ist auch nur eine Form der Jagd nach dem Glücke

12 [32]

Ach, nun müssen wir die Unwahrheit umarmen und der Irrthum wird jetzt erst zur Lüge, und die Lüge vor uns wird zur Lebensnothwendigkeit!

12 [33]

Ach, ich bin hinter die Maskerade der großen Männer, der großen Erfolge, der großen Verluste gekommen. Es ist alles perspektivisch zu betrachten—wenn man sich nicht unter die Kleinen einordnet, so hat man nichts davon als Lärm und Anlaß zu Lachen und Herzbrechen.

12 [34]

Meine Aufgabe: alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen geliehen, zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen und als schönsten Schmuck, schönste Apologie desselben. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Macht, als Mitleid. O über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und elend zu fühlen! Das ist seine größte “Selbstlosigkeit,” wie er bewundert und anbetet und nicht weiß wissen will, daß er schuf, was er bewundert.— Es sind die Dichtungen und Gemälde der Urmenschheit, diese “wirklichen” Naturscenen—damals wußte man noch nicht anders zu dichten und zu malen, als indem man in die Dinge etwas hineinsah. Und diese Erbschaft haben wir gemacht.— Es ist diese erhabene Linie, dies Gefühl von trauernder Größe, dies Gefühl des bewegten Meeres alles erdichtet von unseren Vorfahren. Dieses Fest- und Bestimmtsehen überhaupt!

12 [35]

Wie kommt es, daß wir unsere stärkeren Neigungen auf Unkosten unserer schwächeren Neigungen befriedigen?— An sich, wenn wir eine Einheit wären, könnte es diesen Zwiespalt nicht geben. Thatsächlich sind wir eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat. Der Intellekt als das Mittel der Täuschung mit seinen Zwangsformen “Substanz” “Gleichheit”; “Dauer”—er erst hat die Vielheit sich aus dem Sinne geschlagen.

12 [36]

Die Musik ist mein und unser Vorläufer—so persönlich sprechen und so gut und edel! Unsäglich [vieles] hat noch kein Wort gefunden und keinen Gedanken—das beweist unsere Musik—nicht, daß kein Gedanke und kein Wort da zu finden wäre.

12 [37]

nox intemp[esta] wo Ursache und Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden Augenblick etwas aus dem Nichts entstehen kann. (Richard Wagner hat es in “Hagens Wacht” in Musik gesetzt)

12 [38]

Diese Schönheit und Erhabenheit der Natur, vor der jeder Mensch klein erscheint, haben wir erst in die Natur hineingetragen—und folglich um diesen Theil die Menschheit beraubt. Sie muß es büßen.

12 [39]

Wo wir etwas ganz Schätzenswerthes zu erkennen glauben und es erwerben und erhalten wollen, also im Eigenthum-Verlangen, erwachen unsere edelsten Triebe. Der Liebende ist ein höherer Mensch: obschon er mehr Egoist ist als je. Aber 1. sein Egoismus ist concentrirt, 2. der Eine Trieb ist entschieden siegreich über die anderen und bringt das Außergewöhnliche hervor.

12 [40]

Das Bollwerk der Wissenschaft und ihrer Vernunft-Allgemeinheit muß erst errichtet sein, dann kann die Entfesselung der Indi[viduen] vor sich gehen: es darf keinen Irrthum dabei geben, weil die Grenzen der Vernünftigkeit vorher festgesetzt und ins Gewissen und den Leib einverleibt wurden. Erst Einverleibung der Wissenschaft—dann:

12 [41]

Mein Gefühl unterscheidet höhere und niedere Menschen: was und wie es da unterscheidet, will ich einmal so hart und bestimmt wie möglich aussprechen.

12 [42]

Eins ist immer nöthiger als das Andre.

12 [43]

Handlungen durch welche wir einen Affekt befriedigen (sei es der der Liebe Neigung Abneigung gegen jemanden) nennt man nicht “selbstlos,” es sei denn im ungenauen Sprachgebrauch. Der Liebende bejaht ersichtlich sich selbst mehr als je—und wenn er auf die Handlungen der Liebe und Aufopferung verzichten muß, so leidet er sehr—Das Problem ist hier nicht—wir thun auch anscheinend selbstlose Handlungen, gegen gleichgültige, selbst unangenehme Personen und Sachen. Darüber mein [—].— Aber das Problem bleibt: wie kann man Jemanden lieben? Gar einen Bruder? Einen solchen Bruder.

12 [44]

Der Denker, der seine Stille gewöhnlich zwischen zwei Lärmen zu finden hat, wenn er sie überhaupt zu finden weiß!

26 Okt. 1881.

12 [45]

Wie viele verschiedene Lebensalter haben unsere moralischen Qualitäten!

12 [46]

Was wird aus dem Überschuß von göttlichen Gefühlen? Oder giebt es den nicht?

12 [47]

Gespräche in der Einsamkeit.

12 [48]

12 Sommer.

12 [49]

Spott bei dem ruhig Genießenden, als Zeichen daß der Geist nicht einschlummert! Haß aber — — —

12 [50]

Aber die Welt, die die Wissenschaft entdeckt—woher stammt die? Wäre alles von uns, so dürfte es so etwas gar nicht geben! Oder ist es nur unsere vergessene Welt? War alles einmal Oberfläche und Haut und Gegenstand des Bewußtseins, bis es eine neue Oberfläche und Haut gab und die alte vergessen wurde?

12 [51]

ästhetische Urtheile sind Überreste unserer Urtheile über glücklich-unglücklich z. B. in einer Landschaft der Reichthum an Farben, an Genießbarem, an Ruhe, an festen Linien—es sind alles die Abzeichen und Symbole eines Menschen, der uns einst als der Glückliche galt. So andere Male die leidenschaftliche Gegend—wir hielten auch die Leidenschaft für den Zustand des Glückes. Die fromme Gegend, die heilige Gegend, die verehrte Gegend, die alterthümliche, die kindliche, die weibliche, die stolze, die schlafende

12 [52]

Wenn ich von Plato Pascal Spinoza und Goethe rede, so weiß ich, daß ihr Blut in dem meinen rollt—ich bin stolz, wenn ich von ihnen die Wahrheit sage—die Familie ist gut genug, daß sie nicht nöthig hat, zu dichten oder zu verhehlen; und so stehe ich zu allem Gewesenen, ich bin stolz auf die Menschlichkeit, und stolz gerade in der unbedingten Wahrhaftigkeit

12 [53]

Für die Gedankenlosen bedarf es einer abgekürzten Philosophie und Moral. Gott. Nämlich wenn die bösen Stunden kommen!

12 [54]

Hohe Zimmer!

Viele dumme Frauen halten Milch für keine Nahrung, wohl aber Rüben.

12 [55]

Ein Weib ist das Geschöpf, welches seinen Feind und Räuber lieben soll—und liebt.

12 [56]

An einem schlechten Hange zu Grunde gehen—nicht so schlimm! Phantasterei über das Böse wie über den Schmerz aufzudecken!!

12 [57]

Inwiefern jeder hellere Gesichtskreis als Nihilism erscheint

12 [58]

Wir Aesthetiker höchsten Ranges möchten auch die Verbrechen und das Laster und die Qualen der Seele und die Irrthümer nicht missen—und eine Gesellschaft von Weisen würde sich wahrscheinlich eine böse Welt hinzuerschaffen. Ich meine, es ist kein Beweis gegen die Künstlerschaft Gottes, daß das Böse und der Schmerz existirt—wohl aber gegen seine “Güte”?— Aber was ist denn Güte! Das Helfenwollen und Wohlthunwollen, welches ebenfalls solche voraussetzt, denen es schlechter geht! Und die schlechter sind!

12 [59]

Es genügen außerordentlich kleine Veränderungen der Werthschätzung, um ganz ungeheuer verschiedene Werthbilder zu bekommen (Anordnung der Güter)

12 [60]

Wir sind nicht die Reste und Überbleibsel der Menschheit (wie wir dies gewiß von der organisch werdenden Welt sind) Vieles Neue kann von uns noch ausgehen, was den Charakter der Menschheit verändert.

12 [61]

Wer erfindet uns das tragische Ballet mit Musik? Besonders nöthig bei Völkern, die nicht singen können und die sich durch die dramatische Musik die Kehlen gebrochen haben!

12 [62]

“ich habe meinen Regenschirm vergessen”
[Vgl. Jean Ignace Isidore Gerard, a/k/a J. J. Grandville (1803-1847), "Les quatre saisons." In: Grandville, Un autre monde. Transformations, visions, incarnations, ascensions, locomotions, explorations, pérégrinations, excursions, stations cosmogonies, fantasmagories, rêveries, folâtreries, facéties, lubies, métamorphoses, zoomorphoses, lithomorphoses, métempsycoses, apothéoses et autres choses. Paris: H. Fournier, 1844, 145-152 (145). "Les quatres saisons. // [....] XXII. — Où Hahblle puise les éléments d'un nouveau poème sur les Saisons, à propos de la pluie et du beau temps. // Tout à coup on entendit retentir dans l'espace ce cri lamentable: — J'ai oublié mon parapluie! / Et les échos de l'infini répétèrent: — Mon parapluie! Mon parapluie! / Qui poussait cette exclamation? C'était Hahblle." (The Four Seasons. // XXII. — Where Hahblle borrows elements from a new poem on the seasons, about rain and good weather. // Suddenly we heard this lamentable cry resounding everywhere: — I have forgotten my umbrella! / And the echoes repeated endlessly: — My umbrella! My umbrella! / Who uttered this cry? It was Hahblle.) This reference was first published in Andreas Urs Sommer, Kommentar zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Band 5/1. Berlin; Boston: De Gruyter, 2016, 796.]

12 [63]

Ursache und Wirkung. Wir verstehen darunter im Grunde eben das, was wir denken, wenn wir uns selber als Ursache eines Schlages usw. denken. “Ich will” ist Voraussetzung, eigentlich ist es der Glaube an eine magisch wirkende Kraft, dieser Glaube an Ursache und Wirkung—der Glaube, daß alle Ursachen so persönlich-wollend sind, wie der Mensch. Kurz, dieser Satz a priori ist ein Stück Urmythologie—nichts mehr!

12 [64]

Wir dürfen nicht wider den Strich die Vernunft der Menschheit entwickeln, aber es ist auch dafür gesorgt, daß wir es nicht können.

12 [65]

die versöhnenden Menschen sind mir fatal

12 [66]

das aschgraue Licht, das der Mond von der erleuchteten Erde erhält

12 [67]

Der Schmerz ist wegen seiner großen Nützlichkeit so ausgebildet worden—er ist ebenso nützlich wie die Lust

12 [68]

Emerson

Ich habe mich nie in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefühlt als—ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe.

12 [69]

Die Masken fallen einem bei der ital[ienischen] Musik ein.

12 [70]

Ich will das Ganze als eine Art Manfred und ganz persönlich schreiben. Von den Menschen suche ich wederLob noch Mitleid noch Hülfe”—ich will sie vielmehr “durch mich überwältigen.”

12 [71]

durch Alcohol bringt man sich auf Stufen der Cultur zurück, die man überwunden hat. Alle Speisen haben irgend eine Offenbarung über die Vergangenheit, aus der wir wurden.

12 [72]

Nein! Ich will nicht älter sein als ich bin. Es wird vielleicht einmal noch die Zeit kommen, wo auch die Adler scheu zu mir aufblicken müssen (wie zum h[eiligen] Johannes)

12 [73]

Schriftgelehrte—Naturgelehrte

12 [74]

Daß alles und jedes Geschehen die Folge von Willensakten sei und damit erklärt oder nicht weiter erklärbar—diesen Glauben haben die Wilden mit Schopenhauer gemeinsam: er hat ehemals alle Menschen beherrscht, und es war ein bloßer Atavismus, ihn noch im 19. Jahrhundert in der Mitte Europas, zu haben und zu predigen. Das Gegentheil—daß bei allem Geschehen der Wille nicht betheiligt ist, so sehr er es scheint—ist nahezu bewiesen! (Und das für das unsäglich kleine Stück Geschehens, wo überhaupt ein Wille betheiligt sein könnte!)

12 [75]

Ich wehre mich dagegen, Vernunft und Liebe, Gerechtigkeit und Liebe von einander zu trennen, oder gar sich entgegenzustellen und der Liebe den höheren Rang zu geben! Liebe ist comes, bei Vernunft und Gerechtigkeit, sie ist die Freude an der Sache, Lust an ihrem Besitz, Begierde sie ganz zu besitzen und in ihrer ganzen Schönheit—die aesthetische Seite der Gerechtigkeit und Vernunft, ein Nebentrieb.



Nachdem wir Vernunft und Gerechtigkeit haben, müssen wir die Leitern zerbrechen, die uns dazu führten; es ist die traurige Pflicht, daß diese höchsten Ergebnisse uns zwingen, gleichsam die Eltern und Voreltern vor Gericht zu laden. Gegen die Vergangenheit gerecht sein, sie wissen wollen, in aller Liebe! Hier wird unsere Vornehmheit auf die höchste Probe gestellt! Ich merke es, wer mit rachsüchtigem Herzen vom Christenthum redet—das ist gemein!

12 [76]

Die Wissenschaft giebt uns unseren adeligen Stammbaum, unsere Heraldik: sie giebt uns die Vorfahren. Im Vergleich zu uns waren alle bisherigen Menschen “Eintagsfliegen” und Pöbel, der nur ein kurzes Gedächtniß hatte.

Das historische Gefühl ist das Neue, da wächst etwas ganz Großes! Zunächst schädlich, wie alles Neue! Es muß sich lange einleben, ehe es gesund wird und große Blüthe treibt! Wir hören, was unsere Vorfahren—Helden alles besaßen—wir müssen vieles fahren lassen, aber allen Verlusten höhere Erwerbungen entgegenstellen.

Vernunft und Gerechtigkeit sind am schwersten zu würdigen, weil jung und schwach und oft schädigend!

12 [77]

Gott ist todt—wer hat ihn denn getödtet? Auch dies Gefühl den Heiligsten Mächtigsten getödtet zu haben, muß noch über einzelne Menschen kommen—jetzt ist es noch zu früh! zu schwach! Mord der Morde! Wir erwachen als Mörder! Wie tröstet sich ein solcher? Wie reinigt er sich? Muß er nicht der allmächtigste und heiligste Dichter selber werden?

12 [78]

Unsere Gesetze sind Versuche, aus Papier den weisen Mann zu machen, der allen Umständen gewachsen ist und dessen Gerechtigkeit so groß ist wie seine Unerschrockenheit—ach, wo ist das ehrfurchterweckende Gesicht des Gesetzgebers hin, welcher mehr bedeuten muß als das Gesetz, nämlich den Wunsch, es aus Liebe und Ehrfurcht heilig zu halten?

12 [79]

Ich habe eine Herkunft—das ist der Stolz, entgegengesetzt der cupido gloriae. Es ist mir nicht fremd, daß Zarathustra — — —

12 [80]

Das Originelle des Menschen ist, daß er ein Ding sieht, das alle nicht sehen.

12 [81]

Die Unbefriedigten müssen etwas haben, an das sie ihr Herz hängen: z. B. Gott. Jetzt, wo dieser fehlt, bekommt z. B. der Socialismus viele solche, die ehemals sich an Gott geklammert hätten—oder patria (wie Mazzini). Ein Anlaß zu großartiger Aufopferung, und einer öffentlichen (weil sie disciplinirt und fest hält, auch Muth macht!) soll immer da sein! Hier ist zu erfinden!

12 [82]

Wir selber müssen, wie Gott, gegen alle Dinge gerecht gnädig sonnenhaft sein und sie immer neu schaffen, wie wir sie geschaffen haben.

12 [83]

Man überträgt fälschlich Empfindungen (die bei jetzigen Zuständen z. B. Ehe erklärlich sind) auf Urzeiten, wo die Ehe anders war und gar nicht Liebe der Gatten unter sich hervorbringen konnte!

12 [84]

R[ichard] W[agner] wollte eine große Cultur, um einen Platz für seine Kunst zu haben—aber es fehlte ihm der neue Gedanke. So machte er Anleihen überall: zuletzt christliche Empfindungen, wenn auch noch nicht christliche Gedanken etc.

12 [85]

Aufgeben die niederen Grade der Macht, um zu höheren zu kommen

12 [86]

Mir als Mann ist die träumerische Beschaffenheit der Welt zuwider—aber ich sage als Mann die Wahrheit, auch die zuwidere.

12 [87]

Jene Art von Egoism, welche uns treibt, etwas um des Nächsten Willen zu thun oder zu lassen.

12 [88]

Situationen zu sammeln

12 [89]

Erster Satz meiner Moral: man soll keine Zustände erstreben, weder sein Glück, noch seine Ruhe, noch seine Herrschaft über sich. Der Zustand soll immer nur comes, nie dux virtutis sein! Warum?— Auch nicht “das Ideal”—sondern jede kleine und große Handlung so erhaben und schön wie möglich und auch sichtbar ausführen! Die Art und Weise soll uns unterscheiden!

12 [90]

Die Wissensch[aft] fliegt auf einmal so rasch aufwärts, daß ihre jünger kaum Athem holen können—und eben in der allzu dünnen Luft wird es ihnen wehe, so weit und rein ihr Blick auch reicht. Die Menschheit muß es nachholen—sie muß es, wie sie es bisher gethan hat! Alle Klugheit und Vernunft auf der unser Leben jetzt ruht, ist die Entdeckung Einzelner gewesen und ganz allmählich der Menschheit aufgedrungen, aufgezwungen, angeübt, einverleibt worden—so daß es jetzt wie zum unverrückbaren Wesen des Menschen zu gehören scheint!

12 [91]

Wer die Ernährung z. B. oder die Heizung studirt, lernt eine Menge Verhaltungsmaßregeln. Ehemals gehörten alle diese Regeln unter die “Moral”—jetzt ist der Unterricht nicht mehr so feierlich und das Heil der Seele ist nicht daran geknüpft. Wie die Magie unendlich von der Wissenschaft übertroffen ist an Kraft und Kunststücken—so:

12 [92]

Wir alten eingefleischten Wagnerianer sind doch die dankbarsten Bellini- und Rossini-Hörer.

12 [93]

Ich sehe das Mißverhältniß von Wissenschaft und Mensch fortwährend—es schwindet nie aus meinem Gesichte: gab es etwas Ähnliches? Priester und Mensch, Prophet und Mensch, Fürst und Mensch, Richter und Mensch. Jedesmal schien die Forderung das Individuum aufzuheben

12 [94]

Die Fiorituren und Cadenzen in der Musik sind wie süßes Eis im Sommer.

12 [95]

Nach dem periodischen Stile greifen alle, wie nach einem Gewande, welche sich nicht nackt zeigen wollen—sei es nun, daß sie ungestaltet sind, sei es, daß sie sich allzu schamhaft gewöhnt haben. Ihre Gedanken sind scheu und linkisch ohne Hülle—das Wenige von Anmuth, dessen sie fähig sind, zeigt sich erst, wenn die Falten der Periode ihnen Muth und Glauben an die eigene Würde geben. Dies wollen wir an ihnen ertragen und selbst gutheißen: nur bitten wir diese Mantelträger und Faltenreichen aus sich kein Gesetz der Moral und Schönheit zu machen: der periodische Stil ist und bleibt ein Nothbehelf und — — —

12 [96]

M[eine] Brüder! Verbergen wir es uns nicht! Die Wiss[enschaft] oder, ehrlicher geredet, die Leidenschaft der Erkenntniß ist da; eine ungeheure neue wachsende Gewalt, dergleichen noch nie gesehen worden ist, mit Adlersschwung, Eulenaugen und den Füßen des Lindwurms—ja sie ist schon jetzt so stark, daß sie sich selber als Problem faßt und fragt: “wie bin ich nur möglich unter Menschen! Wie ist der Mensch fürderhin möglich mit mir!”

12 [97]

Diese Leidenschaft der Erk[enntniß] fällt sich selber an, sie fragt nach ihrem Warum? Nach ihrem “Woher?”—und — — —

12 [98]

die Menschheit ist schlechter geworden

12 [99]

Das Gefühl moralischer Geringschätzung ist jetzt gewöhnlich!

12 [100]

ein Ungeheuer von Zeitenlänge, für das wir Spracharmen wieder kein Wort mehr bereit halten—wir müßten da sagen: eine kleine Ewigkeit von Zeit —

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