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The Will to Power
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Herbst 1881 11 [201-348]

11 [201]

Das modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott ist der Glaube an das All als Organismus: davor ekelt mir. Also das ganz Seltene, unsäglich Abgeleitete, das Organische, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen Allgemeinen Ewigen machen! Dies ist immer noch Vermenschung der Natur! Und eine verkappte Vielgötterei in den Monaden, welche zusammen den All-Organism bilden! Mit Voraussicht! Monaden, welche gewisse mögliche mechanische Erfolge wie das Gleichgewicht der Kräfte zu verhindern wissen! Phantasterei!— Wenn das All ein Organismus werden könnte, wäre es einer geworden. Wir müssen es als Ganzes uns gerade so entfernt wie möglich von dem Organischen denken! Ich glaube, selbst unsere chemische Affinität und Cohärenz sind vielleicht spät entwickelte, bestimmten Epochen in Einzelsystemen zugehörige Erscheinungen. Glauben wir an die absolute Nothwendigkeit im All, aber hüten wir uns, von irgend einem Gesetz, sei es selbst ein primitiv mechanisches unserer Erfahrung, zu behaupten, dies herrsche in ihm und sei eine ewige Eigenschaft.— Alle chemischen Qualitäten können geworden sein und vergehen und wiederkommen. Unzählige “Eigenschaften” mögen sich entwickelt haben, für die uns, aus unserem Zeit- und Raumwinkel heraus, die Beobachtung nicht möglich ist. Der Wandel einer chemischen Qualität vollzieht sich vielleicht auch jetzt, nur in so feinem Grade, daß er unserer feinsten Nachrechnung entschlüpft.

11 [202]

Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts Unendliches: hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß Und praktisch “unermeßlich,” aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich. Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d. h. die Kraft ist ewig gleich und ewig thätig:—bis diesen Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, d. h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederholung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleiches dagewesen ist, ist ganz unerweislich. Es scheint, daß die Gesammtlage bis in’s Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so daß zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in Einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, z. B. zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, daß bis in alle Ewigkeit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften—eine unmögliche Annahme!

11 [203]

Prüfen wir, wie der Gedanke, daß sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z.B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen usw.) Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniß gewirkt!

11 [204]

Die Lage, in der die Menschen sich befinden, zur Natur und zu Menschen, macht ihre Eigenschaften—es ist wie bei den Atomen.

11 [205]

Hüten wir uns zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewisse Formen zu erreichen, daß es schöner, vollkommener, complicirter werden wolle! Das ist alles Vermenschung! Anarchie, häßlich, Form—sind ungehörige Begriffe. Für die Mechanik giebt es nichts Unvollkommenes.

11 [206]

Es ist Alles wiedergekommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in dieser Stunde und dieser dein Gedanke, daß Alles wiederkommt.

11 [207]

Wie fremd und überlegen thun wir hinsichtlich des Todten des Anorganischen, und inzwischen sind wir zu drei Viertel eine Wassersäule, und haben anorganische Salze in uns, die über unser Wohl und Wehe vielleicht mehr vermögen als die ganze lebendige Gesellschaft!

11 [208]

Die Philosophen haben es gemacht, wie die Völker: ihre enge Moral in das Wesen der Dinge hineingelegt. Das Ideal jedes Philosophen soll auch im An-sich der Dinge stecken.

11 [209]

Heerdenmenschen und Sondermenschen!

11 [210]

Das Unorganische bedingt uns ganz und gar: Wasser Luft Boden Bodengestalt Elektricität usw. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen.

11 [211]

Meine Aufgabe: die Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff “Natur” gewonnen hat.

11 [212]

Alle Gewöhnungen (z. B. an eine bestimmte Speise, wie Kaffe, oder eine bestimmte Zeiteintheilung) haben auf die Dauer das Ergebniß, Menschen bestimmter Art zu züchten. Also blicke um dich! Prüfe das Kleinste! Wohin will es? Gehört es zu deiner Art, zu deinem Ziele?

11 [213]

Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine unendlich wachsende Kraft voraussetzen. Aber wovon sollte sie wachsen! Woher sich ernähren, mit Überschuß ernähren! Die Annahme, das All sei ein Organism, wider streitet dem Wesen des Organischen.

11 [214]

Freunde des Salzes sind keine “Fleischfresser.” Es giebt immer Vornehm- und Reichthuer, welche verbergen möchten, daß wenig Fleisch gegessen wird: man gebe Acht, ob die Personen viel oder wenig Salz brauchen!

11 [215]

Thee ein fader oder strenger oder unbedeutender Geruch und Geschmack: folglich soll man die Blumen hinzuthun!

11 [216]

Die Speisen (z. B. Zwiebeln und Reiz-Narcotica wie Taback) beweisen daß nicht Lust und die Vermeidung der Unlust, sondern das Gereizt werden dem Menschen am wichtigsten ist. Reiz ist an sich etwas Anderes als Lust und Unlust (oder letztere sind seine Extreme)

11 [217]

Wir haben zeitweilig die Blindheit nöthig und müssen gewisse Glaubensartikel und Irrthümer in uns unberührt lassen—so lange sie uns im Leben erhalten.

Wir müssen gewissenlos sein in Betreff von Wahrheit und Irrthum, so lange es sich um das Leben handelt—eben damit wir das Leben dann wieder im Dienste der Wahrheit und des intellektuellen Gewissens verbrauchen. Dies ist unsere Ebbe und Fluth, die Energie unserer Zusammenziehung und Ausbreitung.

11 [218]

Fortpflanzung oft ohne jede individuelle Neigung.

11 [219]

Diese Sklaven sind oft müde und regelmäßig müde—deshalb nehmen sie mit ihren Vergnügungen so fürlieb (was das seltsamste Merkmal unserer Zeit ist) Ihre Bier- und Weinstuben, ihr Maaß angenehmer Unterhaltung, ihre Feste, ihre Kirchen—alles ist so mittelmäßig, denn es darf da nicht viel Geist und Kraft verbraucht werden, also auch nicht gefordert werden—man will sich ausruhen.— Ja! Otium! Das ist der Müssiggang solcher, die noch alle Kraft bei sich haben.

11 [220]

Der mächtigste Gedanke verbraucht viele Kraft, die früher anderen Zielen zu Gebote stand, so wirkt er umbildend, er schafft neue Bewegungsgesetze der Kraft, aber keine neue Kraft. Darin beruht aber die Möglichkeit, die einzelnen Menschen in ihren Affekten neu zu bestimmen und zu ordnen.

11 [221]

Die Sklaverei ist allgemein sichtbar, obwohl sie sich dies nicht eingesteht;—wir müssen darnach streben, überall zu sein, alle Verhältnisse derselben zu kennen, alle ihre Meinungen am besten zu vertreten, so allein können wir sie beherrschen und benutzen. Unser Wesen muß verborgen bleiben: gleich dem der Jesuiten, welche eine Diktatur in der allgemeinen Anarchie ausübten, aber sich als Werkzeug und Funktion einführten. Welches ist unsere Funktion, unser Mantel der Sklaverei? Lehrerthum?— Die Sklaverei soll nicht vertilgt werden, sie ist nothwendig. Wir wollen nur zusehen, daß immer wieder solche entstehen, für welche gearbeitet wird, damit diese ungeheure Masse von politisch-commerciellen Kräften nicht umsonst sich verbraucht. Selbst schon, daß es Zuschauer und Nicht-mehr-Mitspieler giebt!

11 [222]

Aus dem Geiste der Funktion heraus denken jetzt die Philosophen darüber nach, die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln—es ist der Gegensatz meiner Tendenz. Sondern möglichst viele wechselnde verschiedenartige Organismen, die zu ihrer Reife und Fäulniß gekommen ihre Frucht fallen lassen; die Individuen, von denen zwar die meisten zu Grunde gehen, aber auf die Wenigen kommt es an.— Der Socialismus ist eine Gährung, welche eine Unzahl von Staats-experimenten ankündigt, also auch von Staats-Untergängen und neuen Eiern. Das Reifwerden von jetzigen Staaten geschieht schneller; die militärische Gewaltsamkeit wird immer größer.

11 [223]

Ich empfinde die Mühe Schwerfälligkeit und das Geisthabenwollen in jeder Wendung!

11 [224]

Wir haben den Blitz unschädlich gemacht: wir müssen erfinderisch sein, um ihn nützlich zu machen, ihn arbeiten zu lassen.

11 [225]

Das “Chaos des Alls” als Ausschluß jeder Zweckthätigkeit steht nicht im Widerspruch zum Gedanken des Kreislaufs: letzterer ist eben eine unvernünftige Nothwendigkeit, ohne irgend eine formale ethische ästhetische Rücksicht. Das Belieben fehlt, im Kleinsten und im Ganzen.

11 [226]

Der Egoismus ist noch unendlich schwach! Man nennt so die Wirkungen der heerdenbildenden Affekte, sehr ungenau: Einer ist habgierig und häuft Vermögen (Trieb der Familie des Stammes), ein Anderer ist ausschweifend in Venere, ein Anderer eitel (Taxation seiner selbst nach dem Maaßstabe der Heerde), man spricht vom Egoismus des Eroberers, des Staatsmanns usw.—sie denken nur an sich, aber an “sich” soweit das ego durch den heerdenbildenden Affekt entwickelt ist. Egoismus der Mütter, der Lehrer. Man frage nur einmal, wie Wenige gründlich prüfen: warum lebst du hier? warum gehst du mit dem um? Wie kamst du zu dieser Religion? Welchen Einfluß übt diese und jene Diät auf dich? Ist dies Haus für dich gebaut? usw. Nichts ist seltener als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurtheil, man kenne das ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und Intelligenz darauf verwandt—als ob wir für die Selbsterkenntniß durch eine Intuition der Forschung überhoben wären!

11 [227]

Hier das Gebirge zeigt seine 3 Höcker: mit einem schärferen Glase sehe ich eine Menge neuer Höcker, die Linie wird bei jedem schärferen Glase immer neu, die alte zum willkürlichen Phantasma. Endlich komme ich an den Punkt wo die Linie nicht mehr zu beobachten ist, weil die Bewegung der Verwitterung unserem Auge entgeht. Die Bewegung aber hebt die Linie auf

11 [228]

Wir können uns nur wenig im Großen schützen: ein Komet kann jeden Augenblick die Sonne zertrümmern, oder eine elektrische Kraft kann auftreten, in der mit Einem Male das Sternensystem zerschmilzt. Was ist “Statistik” in diesen Dingen! Wir haben für Erde und Sonne vielleicht ein Paar Millionen Jahre, in denen so etwas nicht geschehen ist: es beweist gar nichts.— Zur Vernatürlichung des Menschen gehört die Bereitschaft auf das absolut Plötzliche und Durchkreuzende.

Die plötzlichen Dinge haben die Menschen an einen falschen Gegensatz gewöhnt, sie nennen es dauernd regelmäßig usw.—aber Plötzliches ist fortwährend im Kleinsten da, in jedem Nerv; und es ist eben regelmäßig, ob es auch in der Zeit uns unberechenbar erscheint. Dauernd ist das, dessen Veränderungen wir nicht sehen, weil sie zu allmählich und zu fein für uns sind.

11 [229]

Wenn wir allmählich die Gegensätze zu allen unsern Fundamentalmeinungen formuliren, nähern wir uns der Wahrheit. Es ist zunächst eine kalte todte Begriffswelt; wir verquicken sie mit unseren anderen Irrthümern und Trieben und ziehn so ein Stück nach dem anderen in das Leben hinein. In der Anpassung an die lebenden Irrthümer kann allein die zunächst immer todte Wahrheit zum Leben gebracht werden.

11 [230]

Die Menschen reden von Magenkranken und meinen die, welche an der Verdauung leiden—als ob der Magen allein das Verdauende sei! Und die Gebildeten reden vom “Magensaft.”— Es ist sehr gut, daß solche Irrthümer nicht auf die Organisation wirken, wir wären längst zu Grunde gegangen.— Und durch die Heilmethode und Diät-Unsinn haben sie todtgefährlich genug gewirkt! —

11 [231]

Die Nebeneinanderexistenz von 2 ganz Gleichen ist unmöglich: es würde die absolut gleiche Existenzgeschichte voraussetzen, in alle Ewigkeit zurück. Dies aber setzte die allgemeine absolut gleiche Entstehungsgeschichte voraus d. h. es müßte alles Andere auch absolut gleich in allen Zeiten sein d. h. der ganze Rest müßte fortwährend sich wiederholen, in sich und losgelöst von den 2 Gleichen.— Aber ebenso kann man mit Einer Verschiedenheit schon die absolute Verschiedenheit und Ungleichheit im Nebeneinander beweisen: eine Loslösung ist undenkbar; wenn Eins sich ändert, so geht die Nachwirkung in Alles hindurch

11 [232]

Unendlich viele Kraftlagen hat es gegeben, aber nicht unendlich verschiedene: letzteres setzte eine unbestimmte Kraft voraus. Sie hat nur eine “Zahl” von möglichen Eigenschaften.

11 [233]

Die Mechanik nimmt die Kraft als etwas absolut Theilbares: aber sie muß erst jede ihrer Möglichkeiten an der Wirklichkeit controliren. Es ist bei jener Kraft eben nichts in gleiche Theile theilbar; in jeder Lage ist sie Eigenschaft, und Eigenschaften kann man nicht halbiren: weshalb es nie ein Gleichgewicht der Kraft gegeben hat

11 [234]

Es ist wunderbar, daß für unsere Bedürfnisse (Maschinen Brücken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen, es sind eben sehr große Bedürfnisse, und die “kleinen Fehler” kommen nicht in Betracht.

11 [235]

Bewegung können wir nicht ohne Linien uns denken: ihr Wesen ist uns verhüllt. “Kraft” in mathematischen Punkten und mathematischen Linien ist die letzte Consequenz, und zeigt den ganzen Unsinn. Es sind zuletzt praktische Wissenschaften, ausgehend von den Fundamentalirrthümern des Menschen, daß es Dinge, und Gleiches giebt.

11 [236]
 
v. Analysis d[er] W[irklichkeit]
[Vgl. Otto Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Erörterung der Grundprobleme der Philosophie. Straßburg: Trübner, 1880.]

Wir können dieselbe Bewegung als Ton Farbe Wärme Elektricität empfinden. Die Empfindung macht die Eigenschaften der Dinge für uns so bunt und mannigfaltig. In Wahrheit könnte alles viel einfacher und anders sein! Wie unterscheiden wir zwischen roth und blau, wie wirkt es anders auf das Gemüth, nam[entlich] von Irren!—und doch! Die Empfindung macht die Klüfte, die Differenzen viel größer als sie in der Natur sind.

11 [237]

Urbild” ist eine Fiktion wie Zweck, Linie usw. Das der Gestalt nach Ähnliche wird in der Natur nie erstrebt, sondern es entsteht, wo wenig verschiedene Grade in der Quantität der Kräfte walten. “Wenig” verschieden für uns! Und “ähnlich” für uns!

Ähnliche Qualitäten, sollten wir sagen, statt “gleich”—auch in der Chemie. Und “ähnlich” für uns. Es kommt nichts zweimal vor, das Sauerstoff-atom ist ohne seines Gleichen, in Wahrheit, für uns genügt die Annahme, daß es unzählige gleiche giebt.

11 [238]

Die M[enschen] und die Philosophen haben früher in die Natur hinein den Menschen gedichtet—entmenschlichen wir die Natur! Später werden sie mehr in sich selber hineindichten, an Stelle von Philosophieen und Kunstwerken wird es Ideal-menschen geben, welche alle 5 Jahre aus sich ein neues Ideal formen.

11 [239]

49 Centner weniger—atmosph[ärischer] Druck hier in der Höhe von 6000 Fuß: lasse ich meine Empfindung zu Worte kommen, so sagt sie dagegen: “zwei Pfund weniger zu tragen als drunten am Meere—und vielleicht nicht einmal so viel weniger!”

11 [240]

Erst müssen die Menschen die neue Begierde lernen—und dazu muß Jemand da sein, der sie ihnen erregt, ein Lehrer: ich vertraue, daß sie dann schon fein und erfindsam genug sein werden, die Wege zur Befriedigung der Begierde selber zu finden—schritt- und versuchsweise, wie sie es gewöhnt sind.— Es thut nichts, wenn meine Vorschläge “unpraktikabel” sind—sie sollen nur dem Appetit Reiz geben (z. B. die Behandlung der Verbrecher).

11 [241]

Wenn unsere Affekte das Mittel sind, um die Bewegungen und Bildungen eines gesellschaftlichen Organism zu unterhalten, so würde doch nichts fehlerhafter sein als nun zurückzuschließen, daß im niedrigsten Organism es eben auch die Affekte seien, welche hier selbstreguliren, assimiliren, exkretiren umwandeln, regeneriren—also Affekte auch da vorauszusetzen, Lust Unlust Willen Neigung Abneigung. Es wäre ein so toller Fehler als wenn man, nach der Thatsache des Blutumlaufs im menschlichen Körper, [auf] einen ähnlichen Blutumlauf für die niedrigsten Organismen schließen wollte.— Unsere Affekte setzen Gedanken und Geschmäcker voraus, diese ein Nervensystem usw.

11 [242]

Wir sehen, so weit als wir empfinden—Empfindung ist aber Idiosynkrasie, also ist auch Sehen (Umkreis und Grad der Deutlichkeit) Idiosynkrasie

11 [243]

Sonderbar: das worauf der Mensch am stolzesten ist, seine Selbstregulirung durch die Vernunft, wird ebenfalls von dem niedrigsten Organism geleistet, und besser, zuverlässiger! Das Handeln nach Zwecken ist aber thatsächlich nur der allergeringste Theil unserer Selbstregulirung: handelte die Menschheit wirklich nach ihrer Vernunft d. h. nach der Grundlage ihres Meinens und Wissens, so wäre sie längst zu Grunde gegangen. Die Vernunft ist ein langsam sich entwickelndes Hülfsorgan, was ungeheure Zeiten hindurch glücklicherweise wenig Kraft hat, den Menschen zu bestimmen, es arbeitet im Dienste der organischen Triebe, und emancipirt sich langsam zur Gleichberechtigung mit ihnen—so daß Vernunft (Meinung und Wissen) mit den Trieben kämpft, als ein eigener neuer Trieb—und spät, ganz spät zum Übergewicht.

11 [244]

Die Temperaments-Unterschiede sind vielleicht durch die verschiedene Vertheilung und Masse der unorganischen Salze mehr als durch alles andere bedingt. Die biliösen Menschen haben zu wenig schwefelsaures Natrium, den melancholischen Menschen fehlt es an schwefel- und phosphorsaurem Kali; zu wenig phosphorsaurer Kalk bei den Phlegmatikern. Die muthigen Naturen haben einen Überfluß von phosphorsaurem Eisen.

11 [245]

Wäre ein Gleichgewicht der Kraft irgendwann einmal erreicht worden, so dauerte es noch: also ist es nie eingetreten. Der augenblickliche Zustand widerspricht der Annahme. Nimmt man an, es habe einmal einen Zustand gegeben, absolut gleich dem augenblicklichen, so wird diese Annahme nicht durch den augenblicklichen Zustand widerlegt. Unter den unendlichen Möglichkeiten muß es aber diesen Fall gegeben haben, denn bis jetzt ist schon eine Unendlichkeit verflossen. Wenn das Gleichgewicht möglich wäre, so müßte es eingetreten sein.— Und wenn dieser augenblickliche Zustand da war, dann auch der, der ihn gebar und dessen Vorzustand zurück—daraus ergiebt sich, daß er auch ein zweites drittes usw. Mal schon da war—ebenso daß er ein zweites drittes Mal da sein wird—unzählige Male, vorwärts—und rückwärts. D. h. es bewegt sich alles Werden in der Wiederholung einer bestimmten Zahl vollkommen gleicher Zustände.— Was alles möglich ist, das kann freilich dem menschlichen Kopfe nicht überlassen sein auszudenken: aber unter allen Umständen ist der gegenwärtige Zustand ein möglicher, ganz abgesehn von unserer Urtheils-Fähigkeit oder Unfähigkeit in Betreff des Möglichen—denn es ist ein wirklicher. So wäre zu sagen: alle wirklichen Zustände müßten schon ihres Gleichen gehabt haben, vorausgesetzt, daß die Zahl der Fälle nicht unendlich ist, und im Verlaufe unendlicher Zeit nur eine endliche Zahl vorkommen mußte? weil immer von jedem Augenblick rückwärts gerechnet schon eine Unendlichkeit verflossen ist? Der Stillstand der Kräfte, ihr Gleichgewicht ist ein denkbarer Fall: aber er ist nicht eingetreten, folglich ist die Zahl der Möglichkeiten größer als die der Wirklichkeiten.— Daß nichts Gleiches wiederkehrt, könnte nicht durch den Zufall, sondern nur durch eine in das Wesen der Kraft gelegte Absichtlichkeit erklärt werden: denn, eine ungeheure Masse von Fällen vorausgesetzt, ist die zufällige Erreichung des gleichen Wurfs wahrscheinlicher als die absolute Nie-Gleichheit.

11 [246]

Grundgedanke der Handels-Kultur: die niedere Masse mit ihrem kleinen Besitz wird unzufrieden gemacht durch den Anblick des Reichen, sie glaubt, der Reiche sei der Glückliche.— Die arbeitende überarbeitete selten ruhende Sklavenmasse glaubt, der Mensch ohne körperliche Arbeit sei der Glückliche (z. B. schon der Mönch—daher die Sklaven so gern Mönche wurden).— Der von Begierden Geplagte und selten Freie glaubt, der Gelehrte und Unbewegliche und auch Geistliche sei der Glückliche.— Der hin- und hergerissene Nervöse glaubt, der Mensch der großen Einen Leidenschaft sei der Glückliche.— Der Mensch, welcher kleine Auszeichnungen kennen gelernt hat, meint, der Geehrteste sei der Glückliche. Es ist das selten und in geringem Grade Besessene, was die Phantasie der Menschen zum Bilde des Glücklichen aufreizt—nicht das was ihnen fehlt—das Fehlen erzeugt Gleichgültigkeit gegen den Gegensatz des Fehlens.

11 [247]

Es giebt im Moleküle Explosionen und Veränderungen der Bahn aller Atome, und plötzliche Auslösungen von Kraft. Es könnte auch mit Einem Moment unser ganzes Sonnensystem einen solchen Reiz erfahren, wie ihn der Nerv auf den Muskel ausübt. Daß dies nie geschehen sei oder geschehen werde, ist nicht zu beweisen.

11 [248]

Hypothese auf die Dauer mächtiger als irgend ein Glaube—vorausgesetzt, daß sie viel länger stehen bleibt als ein rel[igiöses] Dogma.

11 [249]

Kühnheit nach Innen und Bescheidung nach Außen, nach allem “Außen”—eine deutsche Vereinigung von Tugenden, wie man ehemals glaubte,—habe ich bisher am schönsten bei schweizerischen Künstlern und Gelehrten gefunden: in der Schweiz, wo mir überhaupt alle deutschen Eigenschaften bei weitem reichlicher weil bei weitem geschützter aufzuwachsen scheinen als im Deutschland der Gegenwart. Und welchen Dichter hätte Deutschland dem Schweizer Gottfried Keller entgegenzustellen? Hat es einen ähnlichen wegesuchenden Maler wie Böcklin? Einen ähnlichen weisen Wissenden wie J. Burckhardt? Thut die große Berühmtheit des Naturforschers Häckel der größeren Ruhmwürdigkeit Rütimeyers irgend welchen Eintrag?—um eine Reihe guter Namen nur zu beginnen. Immer noch dort wachsen Alpen- und Alpenthalpflanzen des Geistes, und wie man zur Zeit des jungen Goethe sich aus der Schweiz selbst seine hohen deutschen Antriebe holte, wie Voltaire Gibbon und Byron dort ihren übernationalen Empfindungen nachzuhängen lernten, so ist auch jetzt eine zeitweilige Verschweizerung ein rathsames Mittel, um ein wenig über die deutsche Augenblicklichkeits-Wirthschaft hinauszublicken.

11 [250]

Nicht Reue! sondern Böses durch eine gute Handlung gut machen!

11 [251]

Im Lohengrin giebt es viele blaue Musik. Wagner kennt die opiatischen und narkotischen Wirkungen und braucht sie gegen die ihm gut bewußte nervöse Zerfahrenheit seiner musikalischen Erfindungskraft.

11 [252]

Ich bin immer erstaunt, ins Freie tretend zu denken, mit welcher herrlichen Bestimmtheit alles auf uns wirkt, der Wald so und der Berg so und daß gar kein Wirrwarr und Versehen und Zögern in uns ist, in Bezug auf alle Empfindungen. Und doch muß die allergrößte Unsicherheit und etwas Chaotisches dagewesen sein, erst in ungeheuren Zeitstrecken ist das Alles so fest vererbt; Menschen, die wesentlich anders empfanden, über Raumentfernung, Licht und Farbe usw. sind bei Seite gedrängt worden und konnten sich schlecht fortpflanzen. Diese Art, anders zu empfinden, muß in langen Jahrtausenden als “die Verrücktheit” empfunden und gemieden worden sein. Man verstand sich nicht mehr, man ließ die “Ausnahme” bei Seite zu Grunde gehen. Eine ungeheure Grausamkeit seit Beginn alles Organischen hat existirt, alles ausscheidend, was “anders empfand.”— Die Wissenschaft ist vielleicht nur eine Fortsetzung dieses Ausscheidungsprozesses, sie ist völlig unmöglich, wenn sie nicht “den Normalmenschen” als oberstes, mit allen Mitteln zu erhaltendes “Maaß” anerkennt!— Wir leben in den Überresten der Empfindungen unserer Urahnen: gleichsam in Versteinerungen des Gefühls. Sie haben gedichtet und phantasirt—aber die Entscheidung, ob eine solche Dichtung und Phantasma leben bleiben durfte, war durch die Erfahrung gegeben, ob sich mit ihr leben lasse oder ob man mit ihr zu Grunde gehe. Irrthümer oder Wahrheiten—wenn nur Leben mit ihnen möglich war! Allmählich ist da ein undurchdringliches Netz entstanden! Darein verstrickt kommen wir ins Leben, und auch die Wissenschaft löst uns nicht heraus.

11 [253]

Wenn die moralischen Leiden das Leben schwer gemacht haben—es hängt daran, daß es durchaus nicht möglich ist, eine moralische Empfindung relativ zu nehmen; sie ist wesentlich unbedingt, wie die Körper uns unbedingt erscheinen, insgleichen der Staat, die Seele, das Gemeinwesen. Wir mögen uns noch so sehr das Gewordensein von dem allen vorhalten: es wirkt auf uns als Ungewordenes, Unvergängliches und legt absolute Pflichten auf. “Der Nächste” ebenfalls, wie weise wir auch über ihn sind. Der Trieb zum Unbedingtnehmen ist sehr mächtig angezüchtet.

11 [254]

Es gäbe kein Leiden, gäbe es nichts Organisches d. h. ohne den Glauben an Gleiches d. h. ohne diesen Irrthum gäbe es keinen Schmerz in der Welt!

11 [255]

Die Wissenschaft hat immer mehr das Nacheinander der Dinge in ihrem Verlaufe festzustellen, so daß die Vorgänge für uns praktikabel werden (z. B. wie sie in der Maschine praktikabel sind) Die Einsicht in Ursache und Wirkung ist damit nicht geschaffen, aber eine Macht über die Natur läßt sich so gewinnen. Der Nachweis hat bald sein Ende, und eine weitere Verfeinerung hätte keinen Nutzen für den Menschen.— Bis jetzt war dies die große Errungenschaft des Menschen, in vielen Dingen die ihm mögliche Genauigkeit in der Beobachtung des Nacheinander zu erreichen und so für seine Zwecke nachahmen zu können

11 [256]

Unsere Eltern wachsen noch in uns nach, ihre später erworbenen Eigenschaften, die im Embryon auch vorhanden sind, brauchen Zeit. Die Eigenschaften des Vaters damals als er Mann war, lernen wir erst als Mann kennen.

11 [257]

Ich habe hoch über Wagner die Tragödie mit Musik gesehen—und hoch über Schopenhauer die Musik in der Tragödie des Daseins gehört.

11 [258]

Zur “Kur des Einzelnen.”

1) er soll vom Nächsten und Kleinsten ausgehen und die ganze Abhängigkeit sich feststellen, in die hinein er geboren und erzogen ist

2) ebenso soll er den gewohnten Rhythmus seines Denkens und Fühlens, seine intellektuellen Bedürfnisse der Ernährung begreifen

3) Dann soll er Veränderung aller Art versuchen, zunächst um die Gewohnheiten zu brechen (vielen Diätwechsel, mit feinster Beobachtung

4) er soll sich geistig an seine Widersacher einmal anlehnen, er soll ihre Nahrung zu essen versuchen. Er soll reisen, in jedem Sinne. In dieser Zeit wird er “unstät und flüchtig” sein. Von Zeit zu Zeit soll er über seinen Erlebnissen ruhen—und verdauen.

5) Dann kommt das Höhere: der Versuch, ein Ideal zu dichten. Dies geht dem noch Höheren voraus—eben dies Ideal zu leben.

6. Er muß durch eine Reihe von Idealen hindurch.

11 [259]

Grundsatz: das was verehrt werden soll darf nicht angenehm sein. Folglich — — —

11 [260]

Es giebt einen Theil der Nacht, von dem ich sage “hier hört die Zeit auf!” Nach allen Nachtwachen, namentlich nach nächtlichen Fahrten und Wanderungen hat man in Bezug auf diesen Zeitraum ein wunderliches Gefühl: er war immer viel zu kurz oder viel zu lang, unsere Zeitempfindung fühlt eine Anomalie. Es mag sein, daß wir es auch im Wachen zu büßen haben, daß wir jene Zeit gewöhnlich im Zeitenchaos des Traums zubringen! genug, Nachts von 1-3 Uhr haben wir die Uhr nicht mehr im Kopf. Mir scheint, daß eben dies auch die Alten ausdrückten, mit intempestiva nocte und ¦< •Tk@<LiJ\ (Aeschylus) “da in der Nacht, wo es keine Zeit giebt”; und auch ein dunkles Wort Homers zur Bezeichnung des tiefsten stillsten Theils der Nacht lege ich mir etymologisch auf diesen Gedanken hin zurecht: mögen die Übersetzer es immerhin mit “Zeit der Nachtmelke” wiedergeben—wo in aller Welt hat man je die Kühe Nachts um Ein Uhr gemolken! Wo war man dermaßen thöricht!

11 [261]

Es ist unsere Aufgabe, die Reinheit der Musik festzuhalten und zu verhüten, daß sie, nachdem sie in der Form des Barockstils und nach langer Einverleibung jetzt ungeheurer plötzlicher Wirkungen fähig gemacht ist, jetzt zu mystischen halbreligiösen Zwecken mißbraucht wird:—jeder kommende Hexenmeister und Cagliostro wird versuchen, mit Musik und Spiritismus zu wirken, und es sind Wiedererweckungen religiöser und sittlicher Instinkte auf diesem Wege möglich—vielleicht daß man dem christlichen Abendmahle wieder eine innere Gluth durch Musik zu geben versuchen wird.— Daß sie keine Worte nöthig hat, ist ihr größter Vorsprung vor der Dichtkunst, welche an die Begriffe appellirt und folglich an die Philosophie und Wissenschaft stößt—: aber man merkt es nicht, wenn uns die Musik von der Philosophie und Wissenschaft weg führt, verführt!

11 [262]

Die Geschichte der Philosophie ist bis jetzt erst kurz: es ist ein Anfang, sie hat noch keine Kriege geführt und die Völker zusammengeführt; das höchste ihres Vorstadium’s sind die kirchlichen Kriege, das Zeitalter der Religion ist noch lange nicht zu Ende. Später wird man philosophische Meinungen einmal so als Lebens- und Existenzfragen nehmen wie bisher mitunter religiöse und politische—der Geschmack und der Ekel in Meinungen wird so groß, daß man nicht mehr leben will, so lange noch eine andere Meinung besteht. Die ganze Philosophie wird vor diesem Forum des Massen-Geschmacks und Massen-Ekels durchgelebt werden—wahrscheinlich gab es vor dem Zeitalter der Religionen auch schon vorlaufende, aber gänzlich gleichgültige religiöse Einzelne, entsprechend den vorlaufenden und gleichgültigen einzelnen Philosophen.— Als “Wahrheit” wird sich immer das durchsetzen, was nothwendigen Lebensbedingungen der Zeit, der Gruppe entspricht: auf die Dauer wird die Summe von Meinungen der Menschheit einverleibt sein, bei welchen sie ihren größten Nutzen d. h. die Möglichkeit der längsten Dauer hat. Die wesentlichsten dieser Meinungen, auf denen die Dauer der Menschheit beruht, sind ihr längst einverleibt z. B. der Glaube an Gleichheit Zahl Raum usw. Darum wird sich der Kampf nicht drehen—es kann nur ein Ausbau von diesen irrthümlichen Grundlagen unserer Thierexistenz sein.— Wichtig als bedeutendstes Denkmal des Dauergeistes ist die chinesische Denkweise.— Es wird also schwerlich die Geschichte der “Wahrheit” werden, sondern die eines organischen Irrthümer-Aufbaus, welcher in Leib und Seele übergeht und die Empfindungen und Instinkte endlich beherrscht. Es wird eine fortwährende Selection des zum Leben Gehörigen geübt. Der Anspruch auf Lebenserhaltung Wird immer tyrannischer an die Stelle des “Wahrheitssinnes” treten d. h. er wird den Namen von ihm erhalten und festhalten.— Leben wir Einzelnen unser Vorläufer-Dasein, überlassen wir den Kommenden Kriege um unsere Meinungen zu führen—wir leben in der Mitte der menschlichen Zeit: größtes Glück!

11 [263]

Tiefster Irrthum in der Beurtheilung der Menschen: wir schätzen sie ab nach ihren Wirkungen, mit dem Maaße effectus aequat causam. Aber der Mensch übt nur Reize auf andere Menschen aus, es kommt darauf [an], was in anderen Menschen vorhanden ist, daß das Pulver explodirt oder daß der Reiz fast nichts ausmacht. Wer würde ein Streichholz darnach abschätzen, daß es in seiner Nachwirkung eine Stadt zerstörte! So machen wir es aber! Die Wirkungen beweisen, welche Elemente in den anderen Menschen der Zeit da waren: daß er einen Reiz ausübte: und mit welchen Mitteln und mit was für eigentlichen Absichten, muß man noch fragen!— Es ist Teleologie zu glauben, daß der Große eben den vorhandenen zur Explosion bereiten Elementen zur Zeit kommen muß. Wichtig ist jedenfalls, daß die anreizende Kraft eines Menschen nach seinem Tode übrig bleiben kann, durch seine Werke oder durch die Fabel, die von seinem Leben sich bildet: darauf sollen die denken, welche auf die Zeit keinenReiz” üben.

Zuletzt: wir irren ebenso über die Dinge, weil wir sie nach den Wirkungen in uns beurtheilen: wie verschieden scheint uns Blau und Roth, und es handelt sich um etwas mehr oder weniger Länge des Nerven! Oder dieselben chemischen Bestandtheile so und so der Lage nach gestellt ergeben Verschiedenes, und wie empfinden wir diese Verschiedenheit! Wir messen alles nach der Explosion, die ein Reiz in uns hervorruft, als groß klein usw.

11 [264]

Der Stoß ist nicht die erste mechanische Thatsache, sondern daß etwas da ist, welches stoßen kann, jener Aggregat-Heerdenzustand von Atomen, der nicht gleich Staub ist, sondern zusammenhält: hier ist gerade Nicht-Stoß und trotzdem Kraft, nicht nur des Gegenstrebens, Widerstands, sondern vor allem der Anordnung, Einordnung, Anhänglichkeit, überleitenden und zusammenknüpfenden Kraft. So ein Klümpchen kann nachher als Ganzes “stoßen”!

11 [265]

Das völlige Gleichgewicht muß entweder an sich eine Unmöglichkeit sein, oder die Veränderungen der Kraft treten in den Kreislauf ein, bevor jenes an sich mögliche Gleichgewicht eingetreten ist.— Dem Sein “Selbsterhaltungsgefühl” zuschreiben! Wahnsinn! Den Atomen “Streben von Lust und Unlust”!

11 [266]

Man aß das Fleisch nicht, weil man nicht die Seelen von Menschen verspeisen wollte, es war also nur ein Abscheu vor der Menschenfresserei, bei Pythagoras wie den Indern. Nicht Mitleiden mit den Thieren! Schmerz-machen durch Tödtung ist gar nicht nöthig: und in Hinsicht auf den wahrscheinlichen natürlichen Tod hat der Mensch, der die Thiere tödtet, im Allgemeinen das Loos der Thierwelt gemildert, zumal sie keine Voraussehung des Todes haben.— Wer nicht “von Lebendem” leben will, möge sich der Pflanzen auch enthalten!— Das Mitleiden der christlichen Heiligen war das Mitleiden mit Wesen, in denen der Teufel wohnt—nicht mit dem “Lebendigen.”

11 [267]

“Die Unsittlichkeit” des Boc[c]accio ist indischen Ursprungs. [Vgl. Friedrich Anton Heller von Hellwald, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung von der ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Augsburg: Lampart, 1875:629.]

11 [268]

Damit es überhaupt ein Subjekt geben könne, muß ein Beharrendes da sein und ebenfalls viele Gleichheit und Ähnlichkeit da sein. Das unbedingt Verschiedene im fortwährenden Wechsel wäre nicht festzuhalten, an nichts festhaltbar, es flösse ab wie der Regen vom Steine. Und ohne ein Beharrendes wäre gar kein Spiegel da, worauf sich ein Neben- und Nacheinander zeigen könnte: der Spiegel setzt schon etwas Beharrendes voraus.— Nun aber glaube ich: das Subjekt könnte entstehen, indem der Irrthum des Gleichen entsteht z. B. wenn ein Protoplasma von verschiedenen Kräften (Licht Elektricität Druck) immer nur Einen Reiz empfängt und nach dem Einen Reiz auf Gleichheit der Ursachen schließt: oder überhaupt nur Eines Reizes fähig ist und Alles Andere als Gleich empfindet—und so muß es wohl im Organischen der tiefsten Stufe zugehen. Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleichheit außer uns—und später erst fassen wir uns selber nach der ungeheuren Einübung am Außer-uns als ein Beharrendes und Sich-selber-Gleiches, als Unbedingtes auf. Der Glaube (das Urtheil) müßte also entstanden sein vor dem Selbst-Bewußtsein: in dem Prozeß der Assimilation des Organischen ist dieser Glaube schon da—d. h. dieser Irrthum!— Dies ist das Geheimniß: wie kam das Organische zum Urtheil des Gleichen und Ähnlichen und Beharrenden? Lust und Unlust sind erst Folgen dieses Urtheils und seiner Einverleibung, sie setzen schon die gewohnten Reize der Ernährung aus dem Gleichen und Ähnlichen voraus!

11 [269]

Ehemals dachte man, zur unendlichen Thätigkeit in der Zeit gehöre eine unendliche Kraft, die durch keinen Verbrauch erschöpft werde. Jetzt denkt man die Kraft stets gleich, und sie braucht nicht mehr unendlich groß zu werden. Sie ist ewig thätig, aber sie kann nicht mehr unendliche Fälle schaffen, sie muß sich wiederholen: dies ist mein Schluß.

11 [270]

Reiz und veranlassendes Ding von Anbeginn an verwechselt! Die Gleichheit der Reize gab dem Glauben an “gleiche Dinge” den Ursprung: die dauernd gleichen Reize schufen den Glauben an “Dinge,” “Substanzen.”

In der Art, wie die Erstlinge organischer Bildungen Reize empfanden und das Außer-sich beurtheilten, muß das lebenserhaltende Princip gesucht werden: derjenige Glaube siegte, erhielt sich, bei dem das Fortleben möglich wurde; nicht der am meisten wahre, sondern am meisten nützliche Glaube. “Subjekt” ist die Lebensbedingung des organischen Daseins, deshalb nicht “wahr,” sondern Subjekt-Empfindung kann wesentlich falsch sein, aber als einziges Mittel der Erhaltung. Der Irrthum Vater des Lebendigen!

Dieser Urirrthum ist als ein Zufall zu verstehen! Zu errathen!

In den entwickeltsten Zuständen begehen wir immer noch den ältesten Irrthum: z. B. stellen wir uns den Staat als Ganzes Dauerndes Wirkliches als Ding vor und demgemäß ordnen wir uns ihm ein, als Funktion. Ohne die Vorstellung des Protoplasma von einem “dauernden Dinge” außer ihm gäbe es keine Einordnung, keine Assimilation.

Es giebt sehr wenig Reize gegenüber den wahren vielen reizenden Veranlassungen—darauf wurde der älteste Irrthum basirt.

11 [271]

Im Walde wächst der Baum schnell, im Verlangen nach Luft und Licht, aber “er treibt wenig Wurzeln und ist deshalb wenig dauerhaft: während die Bäume, bei welchen Licht und Luft freien Zutritt haben, Jahrhunderte lang stehen: die Tiefe und Ausbreitung der Wurzeln steht im Verhältniß zur Dauerhaftigkeit. Aber folglich langsames Aufsteigen!”

11 [272]

Mein Gegensatz zum Geiste des Handels, als dem Geiste der Epoche.

11 [273]

Ich möchte, Deutschland bemächtigte sich Mexicos, um auf der Erde durch eine musterhafte Forstkultur im conservativen Interesse der zukünftigen Menschheit den Ton anzugeben.— Die Zeit kommt, wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird—er wird im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden. Schon jetzt bilden sich die ersten Kräfte-gruppen, man übt sich ein in dem großen Princip der Bluts- und Rassenverwandschaft. “Nationen” sind viel feinere Begriffe als Rassen, im Grunde eine Entdeckung der Wissenschaft, die man jetzt dem Gefühle einverleibt: Kriege sind die großen Lehrmeister solcher Begriffe und werden es sein.— Dann kommen sociale Kriege—und wieder werden Begriffe einverleibt werden! Bis endlich die Begriffe nicht mehr nur Vorwände, Namen usw. für Völkerbewegungen abgeben, sondern der mächtigste Begriff sich durchsetzen muß.

Die socialen Kriege sind namentlich Kriege gegen den Handelsgeist und Einschränkungen des nationalen Geistes. Klimatische Entscheidungen über Bevölkerungen und Rassen in Amerika.— Slavisch-germanisch-nordische Cultur!—die geringere, aber kräftigere und arbeitsamere!

11 [274]

Fortwährend findet ein Fortschritt in der klimatischen Anpassung statt, und jetzt ist er ungeheuer beschleunigt, weil die Ausscheidung der ungeeigneten Personen so leicht ist: und ebenfalls weil jetzt die Anpassung durch die Wissenschaft unterstützt wird (z. B. Wärme, Grundwasser usw.).

Die thierischen Gattungen haben meistens, wie die Pflanzen, eine Anpassung an einen bestimmten Erdtheil erreicht, und haben nun darin etwas Festes und Festhaltendes für ihren Charakter, sie verändern sich im Wesentlichen nicht mehr. Anders der Mensch, der immer unstet ist und sich nicht Einem Klima endgültig anpassen will, die Menschheit drängt hin zur Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens (auch durch solche Phantasmen wie “Gleichheit der Menschen”): ein allgemeiner Erdenmensch soll entstehen, deshalb verändert sich der Mensch noch (wo er sich angepaßt hat z. B. in China bleibt er durch Jahrtausende fast unverändert). Der überklimatische Kunstmensch, der die Nachtheile jedes Klima’s zu compensiren weiß und die Ersatzmittel für das, was dem Klima fehlt (z. B. Öfen), in jedes Klima schleppt—ein anspruchsvolles, schwer zu erhaltendes Wesen! Die “Arbeiternoth” herrscht dort, wo das Klima im Widerspruch zum Menschen steht! und nur Wenige die Ersatzmittel sich schaffen können (im Kampfe natürlich, und tyrannisch).

In den gebildeten Kreisen des Nordens herrscht das Winter-Siechthum.— Vielleicht daß die Öfen eine dauernde Vergiftung herbeiführen! Gegen Franzosen gesehn, erscheint der Deutsche, wie ein verkümmerter Ofenhocker.

11 [275]

Kein Verächter der Wollust sein!

11 [276]

Die Verwandlung des Menschen braucht erst Jahrtausende für die Bildung des Typus, dann Generationen: endlich läuft ein Mensch während seines Lebens durch mehrere Individuen.

Warum sollen wir nicht am Menschen zu Stande bringen, was die Chinesen am Baume zu machen verstehen—daß er auf der einen Seite Rosen, auf der anderen Birnen trägt?

Jene Naturprozesse der Züchtung des Menschen z. B., welche bis jetzt grenzenlos langsam und ungeschickt geübt wurden, könnten von den Menschen in die Hand genommen werden: und die alte Tölpelhaftigkeit der Rassen, Rassenkämpfe Nationalfieber und Personeneifersuchten könnte, mindestens in Experimenten, auf kleine Zeiten zusammengedrängt werden.— Es könnten ganze Theile der Erde sich dem bewußten Experimentiren weihen!

11 [277]

Es wären Nasen denkbar, deren Geruchsnerven erst von den Auswürfen eines Vulkans gekitzelt würden. Thatsächlich scheinen sich die Oberflächen aller Dinge, welche riechen, im Zustande beständiger Explosion zu befinden; die Kraft, mit der die kleinen Massen ausgesandt werden, muß ungeheuer sein—ich denke z. B. an die Wirkung des Campfers auf Wasser.— So ist die Erde immer von dicken Wolken feinster Materien umhüllt ohne diese würde der Wasserdampf sich nicht zu Wolken ballen können.

11 [278]

Um vom Großen auf das Kleine zu schließen: wir sehen überall Strömungen wirken, das sind aber keine Linien! So wird es auch wohl im Reich der Atome sein, die Kräfte strömen und üben dabei den Druck ebenso sehr horizontal aus als in Hinsicht auf das, worauf sie stoßen. Eine Linie ist eine Abstraktion im Verhältniß zu dem wahrscheinlichen Thatbestand: wir können mit keinem Zeichen eine bewegte Kraft malen, sondern isoliren begrifflich 1) die Richtung 2) das Bewegte 3) den Druck usw. In der Wirklichkeit giebt es diese isolirten Dinge nicht!

11 [279]

Das Princip “um des Nächsten willen etwas thun” ist entweder ein Atavismus des Gefühls, zur Zeit, wo das Band mit der Gemeinde schwach geworden ist oder ein unklares Gefühl des Heerdensinnes, welches an Menschen außerhalb der Gemeinschaft, weil diese so fern sind, gar nicht denkt und beim Nächsten nur das Mitglied der Gemeinschaft im Auge hat (z. B. bei “Freiheit” und “Gleichheit” wo man gewiß nicht an die Hottentotten denkt) Oder es ist eine Maske für jenes Gefühl: es soll eine Gemeinschaft gebildet werden, z. B. die christliche. Wo jenes Princip auftritt, will man meistens Gemeinden bilden z. B. die Anhänger Comte’s.

11 [280]

Die Gesetze sind nicht der Ausdruck vom Charakter eines Volks: ich meine, die Fehler im Charakter, so wie sie den Mächtigsten erscheinen (als Hindernisse ihrer Macht und Absichten) werden hervorgehoben. Zudem stehen sie fest und das Volk entwickelt sich: so daß sehr bald ein Mißverhältniß entsteht.

11 [281]

Erst das Nacheinander bringt die Zeitvorstellung hervor. Gesetzt, wir empfänden nicht Ursachen und Wirkungen, sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit. Denn die Bewegung des Werdens besteht nicht aus ruhenden Punkten, aus gleichen Ruhestrecken. Die äußere Peripherie eines Rades ist ebenso wie die innere Peripherie, immer bewegt und, obschon langsamer, doch im Vergleich zur schneller bewegten inneren, nicht ruhend. Zwischen langsamer und schneller Bewegung ist mit der “Zeit” nicht zu entscheiden. Im absoluten Werden kann die Kraft nie ruhen, nie Unkraft sein: “langsame und schnelle Bewegung derselben” mißt sich nicht an einer Einheit, welche da fehlt. Ein continuum von Kraft ist ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander (auch dies setzte wieder menschlichen Intellekt voraus und Lücken zwischen den Dingen). Ohne Nacheinander und ohne Nebeneinander giebt es für uns kein Werden, keine Vielheit—wir könnten nur behaupten, jenes continuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden, ohne Zeit und Raum. Aber das ist eben nur der menschliche Gegensatz.

11 [282]

Welche Glaubensartikel sind zur Veredelung des Menschen unentbehrlich?— Zunächst um nicht zur Wildheit und Unsocietät zurückzufallen. Es könnte auch hier unentbehrliche Irrthümer geben.

11 [283]

Jesus war ein großer Egoist.

11 [284]

Das Machtgefühl erst erobernd, dann beherrschend (organisirend)—es regulirt das Überwundene zu seiner Erhaltung und dazu erhält es das Überwundene selber.— Auch die Funktion ist aus Machtgefühl entstanden, im Kampf mit noch schwächeren Kräften. Die Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch niedrigere Funktionen—darin wird sie von der höheren Macht unterstützt!

11 [285]

Ehemals dachte ich, unser Dasein sei der künstlerische Traum eines Gottes, alle unsere Gedanken und Empfindungen im Grunde seine Erfindungen im Ausdichten seines Drama’s—auch daß wir meinten, “ich dächte” “ich handelte” sei sein Gedanke. Die Gesetzmäßigkeit der Natur wäre als Gesetzmäßigkeit seiner Vorstellungen begreiflich—oder auch es genügte, daß er uns als solche dächte, welche die Natur so empfinden wie wir sie empfinden.— Kein glücklicher, sondern eben ein Künstler-Gott!

11 [286]

Ohne die ungeheure Sicherheit des Glaubens und Bereitwilligkeit des Glaubens wäre Mensch und Thier nicht lebensfähig. Auf Grund der kleinsten Induktion zu verallgemeinern, eine Regel für sein Verhalten machen, das einmal Gethane, das sich bewährt hat, als das einzige Mittel zum Zweck glauben—das, im Grunde die grobe Intellektualität, hat Mensch und Thier erhalten. Unzählig oft sich so zu irren und am Fehlschluß leiden ist lange nicht so schädigend im Ganzen als die Skepsis und Unentschlossenheit und Vorsicht. Den Erfolg und den Mißerfolg als Beweise und Gegenbeweise gegen den Glauben betrachten ist menschlicher Grundzug: “was gelingt, dessen Gedanke ist wahr.”— Wie sicher steht in Folge dieses wüthenden gierigen Glaubens die Welt vor uns! Wie sicher führen wir alle Bewegungen aus! “Ich schlage”—wie sicher empfindet man das!— Also die niedrige Intellektualität, das unwissenschaftliche Wesen ist Bedingung des Daseins, des Handelns, wir würden verhungern ohne dies, die Skepsis und die Vorsicht sind erst spät und immer nur selten erlaubt. Gewohnheit und unbedingter Glaube, daß es so sein muß wie es ist, ist Fundament alles Wachsthums und Starkwerdens.— Unsere ganze Weltbetrachtung ist so entstanden, daß sie durch den Erfolg bewiesen wurde, wir können mit ihr leben (Glaube an Außendinge, Freiheit des Wollens). Ebenso wird jede Sittlichkeit nur so bewiesen.— Da ensteht nun die große Gegenfrage: es kann wahrscheinlich unzählige Arten des Lebens geben und folglich auch des Vorstellens und Glaubens. Wenn wir alles Nothwendige in unserer jetzigen Denkweise feststellen, so haben wir nichts für das “Wahre an sich” bewiesen, sondern nur “das Wahre für uns” d. h. das Dasein-uns-Ermöglichende auf Grund der Erfahrung—und der Prozeß ist so alt, daß Umdenken unmöglich ist. Alles a priori gehört hierher.

11 [287]

Die Auflösung der Sitte, der Gesellschaft ist ein Zustand, in dem das neue Ei (oder mehrere Eier) heraustreten—Eier (Individuen) als Keime neuer Gesellschaften und Einheiten. Das Erscheinen der Individuen ist das Anzeichen der erlangten Fortpflanzungsfähigkeit der Gesellschaft: sobald es sich zeigt, stirbt die alte Gesellschaft ab. Das ist kein Gleichniß.— Unsere ewigen “Staaten” sind etwas Unnatürliches.— Möglichst viel Neubildungen!— Oder umgekehrt: zeigt sich die Tendenz zur Verewigung des Staates, so auch Abnahme der Individuen und Unfruchtbarkeit des Ganzen: deshalb halten die Chinesen große Männer für ein nationales Unglück; sie haben die ewige Dauer im Auge. Individuen sind Zeichen des Verfalls.

11 [288]

Es ist in der Wollust etwas Berauschendes, dies haben die alten Religionen benutzt. Und noch jetzt suchen Dichter und Musiker durch Erregung erotischer Nachempfindungen diesen Theil berauschender Kraft sich zu Nutze zu machen.— Die Künstler wirken mit allen möglichen Wirkungsmitteln, sehr unbefangen.

11 [289]

Erst zwingt der Zwang etwas oft zu thun, und später entsteht das Bedürfniß, nachdem der Zwang einverleibt ist (z. B. zu gehen, wenn das Thier nicht mehr schwimmen kann, ist erst Zwang, und Gegensatz des Verlangens: später wird es Bedürfniß)

11 [290]

Der letzte Nutzen der Erkenntniß und Wissenschaft ist, die Loslösung neuer Eier vom Eierstocke zu ermöglichen und immer neue Arten entstehen zu lassen: denn die Wissenschaft bringt die Kenntnisse der Erhaltungsmittel für neue Individuen.— Ohne Fortschritte der Erkenntniß würden neue Individuen immer schnell zu Grunde gehen, die Existenzbedingungen wären zu schwer und zufällig. Schon die Qual des inneren Widerspruchs!

11 [291]

Es giebt wahrscheinlich viele Arten von Intelligenz, aber jede hat ihre Gesetzmäßigkeit, welche ihr die Vorstellung einer anderen Gesetzmäßigkeit unmöglich macht. Weil wir also keine Empirie über die verschiedenen Intelligenzen haben können, ist auch jeder Weg zur Einsicht in den Ursprung der Intelligenz verschlossen. Das allgemeine Phänomen der Intelligenz ist uns unbekannt, wir haben nur den Spezialfall, und können nicht verallgemeinern. Hier allein sind wir ganz Sklaven, selbst wenn wir Phantasten sein wollten! Andererseits wird es von jeder Art Intelligenz aus ein Verständniß der Welt geben müssen—aber ich glaube, es ist nur die zu Ende geführte Anpassung der Gesetzmäßigkeit der einzelnen Art Intelligenz—sie führt sich selber überall durch. Jede Intelligenz glaubt an sich

11 [292]

Man gehe einmal rückwärts. Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein: gäbe es für sie einen (unbeabsichtigten) Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens fähig, gäbe es in ihrem Verlaufe nur Einen Augenblick “Sein” im strengen Sinn, so könnte es kein Werden mehr geben, also auch kein Denken, kein Beobachten eines Werdens. Wäre sie ewig neu werdend, so wäre sie damit gesetzt [als] etwas an sich Wunderbares und Frei- und Selbstschöpferisch-Göttliches. Das ewige Neuwerden setzt voraus: daß die Kraft sich selber willkürlich vermehre, daß sie nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel habe, sich selber vor der Wiederholung zu hüten, in eine alte Form zurückzugerathen, somit in jedem Augenblick jede Bewegung auf diese Vermeidung [zu] controliren—oder die Unfähigkeit, in die gleiche Lage zu gerathen: das hieße, daß die Kraftmenge nichts Festes sei und ebenso die Eigenschaften der Kraft. Etwas Un-Festes von Kraft, etwas Undulatorisches ist uns ganz undenkbar. Wollen wir nicht ins Undenkbare phantasiren und nicht in den alten Schöpferbegriff zurückfallen (Vermehrung aus dem Nichts, Verminderung aus dem Nichts, absolute Willkür und Freiheit im Wachsen und in den Eigenschaften) —

11 [293]

In Hinsicht auf alle unsere Erfahrung müssen wir immer skeptisch bleiben und z. B. sagen: wir können von keinem “Naturgesetz” eine ewige Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen Qualität ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt. Der Baum ist in jedem Augenblick etwas Neues: die Form wird von uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können: wir legen eine mathematische Durchschnittslinie hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen bringen wir hinzu, auf der Grundlage des Intellekts, welches der Irrthum ist: die Annahme des Gleichen und des Beharrens, weil wir nur Beharrendes sehen können und nur bei Ähnlichem (Gleichem) uns erinnern. Aber an sich ist es anders: wir dürfen unsere Skepsis nicht in die Essenz übertragen.

11 [294]

Der Wohlstand, die Behaglichkeit, die den Sinnen Befriedigung schafft, wird jetzt begehrt, alle Welt will vor allem das. Folglich wird sie einer geistigen Sklaverei entgegengehen, die nie noch da war. Denn dies Ziel ist zu erreichen, die größten Beunruhigungen jetzt dürfen nicht täuschen. Die Chinesen sind der Beweis, daß auch Dauer dabei sein kann. Der geistige Cäsarismus schwebt über allem Bestreben der Kaufleute und Philosophen.

11 [295]

Unsere jetzige Erziehung hat den Werth einer Art Wanderzwangs in der Zeit des Mittelalters und der Zünfte. Das Gegengewicht, es sich zu Hause nach heimatlichem Werthmaße bequem einzurichten wirkte ehemals. Jetzt wirkt die Absicht auf Sinnen-Wohlstand und daneben das Bild aller anderen Culturen, welche etwas wollten über oder wider den Sinnenwohlstand.

Der Zunftzwang lehrte lernen: endlich ist ein individueller Lerntrieb entstanden, durch Vererbung. Das Lernen ist ursprünglich saurer als alle Arbeit, daher gehaßt. Die Gelehrten haben daher im Mittelalter ein Übergewicht.

11 [296]

Wer das fremde Blut haßt oder verachtet, ist noch kein Individuum, sondern eine Art menschliches Protoplasma.

11 [297]

Werde fort und fort, der, der du bist—der Lehrer und Bildner deiner selber! Du bist kein Schriftsteller, du schreibst nur für dich! So erhältst du das Gedächtniß an deine guten Augenblicke und findest ihren Zusammenhang, die goldne Kette deines Selbst! So bereitest du dich auf die Zeit vor, wo du sprechen mußt! Vielleicht daß du dich dann des Sprechens schämst, wie du dich mitunter des Schreibens geschämt hast, daß es noch nöthig ist, sich zu interpretiren, daß Handlungen und Nicht-Handlungen nicht genügen, dich mitzutheilen. Ja, du willst dich mittheilen! Es kommt einst die Gesittung, wo viel-Lesen zum schlechten Tone gehört: dann wirst du auch dich nicht mehr schämen müssen, gelesen zu werden; während jetzt jeder, der dich als Schriftsteller anspricht, dich beleidigt; und wer dich deiner Schriften halber lobt, giebt dir ein Zeichen, daß sein Takt nicht fein ist, er macht eine Kluft zwischen sich und dir—er ahnt gar nicht, wie sehr er sich erniedrigt, wenn er dich so zu erheben glaubt. Ich kenne den Zustand der gegenwärtigen Menschen, wenn sie lesen: Pfui! Für diesen Zustand sorgen und schaffen zu wollen!

11 [298]

Wenn man um Meinungen uneins ist und Blut vergießt und opfert, so ist die Cultur hoch: da sind Meinungen zu Gütern geworden.

11 [299]

Hellwald, Häckel und Consorten—sie haben die Stimmung der Spezialisten, und eine Froschnasen-Weisheit. Das kleine Gehirnstückchen, welches der Erkenntiß ihrer Welt geöffnet ist, hat mit ihrer Gesamtheit nichts zu schaffen, es ist ein Ecken-Talentchen, wie wenn einer zeichnet, ein anderer klavierspielt; sie erinnern mich an den alten ehrlichen David Strauß, der ganz harmlos erzählt, wie er sich erst zwicken und zwacken muß, um sich selber festzustellen, ob er noch eine Empfindung für das allgemeine Dasein habe. Diese Spezialisten haben sie nicht und sind deshalb so “kalt”; Bildungskamele, auf deren Höckern viel gute Einsichten und Kenntnisse sitzen, ohne zu hindern, daß das Ganze doch eben nur ein Kamel ist.

11 [300]

Pflanzenkost und Wein—das wäre die verrückteste aller möglichen Lebensweisen!

11 [301]

Ohne Phantasie und Gedächtniß gäbe es keine Lust und keinen Schmerz. Die dabei erregten Affekte verfügen augenblicklich über vergangene ähnliche Fälle und über die schlimmen Möglichkeiten, sie deuten aus, sie legen hinein. Deshalb steht ein Schmerz im Allgemeinen ganz außer Verhältniß zu seiner Bedeutung für das Leben—er ist unzweckmäßig. Aber dort, wo eine Verletzung nicht vom Auge oder dem Getast wahrgenommen wird, ist sie viel weniger schmerzhaft, da ist die Phantasie ungeübt. An den Fingern ist der Schmerz am größten, an Zähnen, am Kopfe usw.

11 [302]

Das Großartige in der Natur, alle Empfindungen des Hohen Edlen Anmuthigen Schönen Gütigen Strengen Gewaltigen Hinreißenden, die wir in der Natur und bei Mensch und Geschichte haben, sind nicht unmittelbare Gefühle, sondern Nachwirkungen zahlloser uns einverleibter Irrthümer,—es wäre alles kalt und todt für uns, ohne diese lange Schule. Schon die sicheren Linien des Gebirgs, die sicheren Farbenabstufungen, die verschiedene Lust an jeder Farbe sind Erbstücke: irgendwann war diese Farbe weniger mit gefahrdrohenden Erscheinungen verknüpft als eine andere und allmählich wirkte sie beruhigend (wie das Blau)

11 [303]

Der Egoism ist verketzert worden, von denen die ihn übten (Gemeinden Fürsten Parteiführern Religionsstiftern Philosophen wie Plato); sie brauchten die entgegengesetzte Gesinnung bei den Menschen, die ihnen Funktion leisten sollten.— Wo eine Zeit ein Volk eine Stadt hervorragt, ist es immer, daß der Egoismus derselben sich bewußt wird und kein Mittel mehr scheut (sich nicht mehr seiner selber schämt). Reichthum an Individuen ist Reichthum an solchen, die sich ihres Eigenen und Abweichenden nicht mehr schämen. Wenn ein Volk stolz wird und Gegner sucht, wächst es an Kraft und Güte.— Dagegen die Selbstlosigkeit verherrlichen! und zugeben, wie Kant, daß wahrscheinlich nie eine That derselben gethan worden sei! Also nur, um das entgegengesetzte Princip herabzusetzen, seinen Werth zu drücken, die Menschen kalt und verächtlich, folglich gedankenfaul gegen den Egoismus stimmen!— Denn bisher ist es der Mangel an feinem planmäßigen gedankenreichen Egoismus gewesen, was die Menschen im Ganzen auf einer so niedrigen Stufe erhält! Gleichheit gilt als verbindend und erstrebenswerth! Es spukt ein falscher Begriff von Eintracht und Frieden, als dem nützlichsten Zustande. In Wahrheit gehört überall ein starker Antagonismus hinein, in Ehe Freundschaft Staat Staatenbund Körperschaft gelehrten Vereinen Religion, damit etwas Rechtes wachse. Das Widerstreben ist die Form der Kraft—im Frieden wie im Kriege, folglich müssen verschiedene Kräfte und nicht gleiche dasein, denn diese würden sich das Gleichgewicht halten!

11 [304]

Saugt eure Lebenslagen und Zufälle aus—und geht dann in andere über! Es genügt nicht, Ein Mensch zu sein, wenn es gleich der nothwendige Anfang ist! Es hieße zuletzt doch, euch aufzufordern, beschränkt zu werden! Aber aus Einem in einen Anderen übergehen und eine Reihe von Wesen durchleben!

11 [305]

Unendlich neue Veränderungen und Lagen einer bestimmten Kraft ist ein Widerspruch, denke man sich dieselbe noch so groß und noch so sparsam in der Veränderung, vorausgesetzt, daß sie ewig ist. Also wäre zu schließen 1) entweder sie ist erst von einem bestimmten Zeitpunkte an thätig und wird ebenso einmal aufhören—aber Anfang des Thätigseins zu denken ist absurd; wäre sie im Gleichgewicht, so wäre sie es ewig! 2) oder es giebt nicht unendlich neue Veränderungen, sondern ein Kreislauf von bestimmter Zahl derselben spielt sich wieder und wieder ab: die Thätigkeit ist ewig, die Zahl der Produkte und Kraftlagen endlich.

11 [306]

Die Natur baut nicht für das Auge, die Form ist ein zufälliges Ergebniß. Man denke, daß in einer Eizelle alle Atome ihre Bewegungen machen, daß Formen nur für Augen existiren und daß Atome ohne Augen sie auch nicht wollen können.

11 [307]

Schopenhauern war wohl ein Gedanke Spinoza’s im Herzen hängen geblieben: daß das Wesen jedes Ding’s appetitus sei und daß dieser appetitus darin bestehe, im Dasein zu beharren. Dies leuchtete ihm einmal auf und leuchtete ihm so ein, daß er den Vorgang “Wille” nie mehr sorgfältig überdacht hat (ebenso wenig wie alle seine Grundbegriffe—er war in Betreff derer ohne Zweifel, weil er ohne rechte Vernunft und Empirie zu ihnen gekommen war).

11 [308]

Wie unregelmäßig ist die Milchstraße! (Vogt. p 110) [Vgl. Johann Gustav Vogt, Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung. Buch 1: Die Kontraktionsenergie, die letztursächliche einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates. Leipzig: Haupt & Tischler, 1878:110.]

11 [309]

Beobachten, wie eine Lust entsteht, wie viel Vorstellungen zusammenkommen müssen! und zuletzt ist es Eines und Ganzes, und will nicht mehr als Vielheit sich erkennen lassen. So könnte es mit jeder Lust jedem Schmerz sein! Es sind Gehirnphänomene! Aber längst uns einverleibte und jetzt nur als Ganzes sich präsentirende Vielheiten! Warum thut ein geschnittener Finger wehe? An sich thut er nicht wehe (ob er schon “Reize” erfährt), der dessen Gehirn chloroformirt ist, hat keinen “Schmerz” im Finger. Sollte erst das Urtheil über die Verletzung eines funktionirenden Organs, von Seiten der vorstellenden Einheit, nöthig gewesen sein? Ist es die Einheit, welche allein die Schädigung sich vorstellt und—jetzt sie uns als Schmerz zu empfinden giebt, indem sie dorthin, wo der Schade geschehen, die stärksten Reize schickt? Könnte also auch die Absicht auf Flucht Abwehr Vorsicht Rettung in dem Schmerz stecken? Mittel, weiterem Schaden vorzubeugen? Zugleich Wuth über die Verletzung, Rachegefühl in Einem? Alles zusammen—Schmerz? So uns zum Bewußtsein kommend, als Durcheinander und Einheit des Gefühls?

11 [310]

Er schämte sich seiner Heiligkeit und verkleidete sie.

11 [311]

Ist nicht die Existenz irgendwelcher Verschiedenheit und nicht völliger Kreisförmigkeit in der uns umgebenden Welt schon ein ausreichender Gegenbeweis gegen eine gleichmäßige Kreisform alles Bestehenden? Woher die Verschiedenheit innerhalb des Kreises? Woher die Zeitdauer dieser ablaufenden Verschiedenheit? Ist nicht alles viel zu mannichfaltig um aus Einem entstanden zu sein? Und sind nicht die vielen chemischen Gesetze und wieder organischen Arten und Gestalten unerklärbar aus Einem? Oder aus Zweien?— Gesetzt, es gäbe eine gleichmäßige “Contraktionsenergie” in allen Kraftcentren des Universums, so fragt sich, woher auch nur die geringste Verschiedenheit entstehen könnte? Dann müßte sich das All in zahllose völlig gleiche Ringe und Daseinskugeln lösen, und wir hätten zahllose völlig gleiche Welten neben einander. Ist dies nöthig für mich, anzunehmen? Zum ewigen Nacheinander gleicher Welten ein ewiges Nebeneinander? Aber die Vielheit und Unordnung in der bisher uns bekannten Welt widerspricht, es kann nicht eine solche universale Gleichartigkeit der Entwicklung gegeben haben, es müßte auch für unseren Theil ein gleichförmiges Kugelwesen ergeben haben! Sollte in der That die Entstehung von Qualitäten keine gesetzmäßige an sich sein? Sollte aus der “Kraft” Verschiedenes entstehen können? Beliebiges? Sollte die Gesetzmäßigkeit, welche wir sehen, uns täuschen? Nicht ein Urgesetz sein? Sollte die Vielartigkeit der Qualitäten auch in unserer Welt eine Folge der absoluten Entstehung beliebiger Eigenschaften sein? Nur daß sie in unserer Weltecke nicht mehr vorkommt? Oder eine Regel angenommen hat, die wir Ursache und Wirkung nennen, ohne daß sie dies ist (ein zur Regel gewordenes Belieben, z. B. Sauerstoff und Wasserstoff chemisch)??? Sollte diese Regel eben nur eine längere Laune sein? - - - [Vgl. Johann Gustav Vogt, Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung. Buch 1: Die Kontraktionsenergie, die letztursächliche einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates. Leipzig: Haupt & Tischler, 1878:20f.]

11 [312]

Wer nicht an einen Kreisprozeß des Alls glaubt, muß an den willkürlichen Gott glauben—so bedingt sich meine Betrachtung im Gegensatz zu allen bisherigen theistischen! (s. Vogt p. 90.) [Vgl. Johann Gustav Vogt, Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung. Buch 1: Die Kontraktionsenergie, die letztursächliche einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates. Leipzig: Haupt & Tischler, 1878:90.]

11 [313]

Was ich als Gegenhypothese gegen den Kreisprozeß einwende:

Sollte es möglich sein, die Gesetze der mechanischen Welt ebenso als Ausnahmen und gewissermaßen Zufälle des allgemeinen Daseins abzuleiten, als eine Möglichkeit von vielen unzähligen Möglichkeiten? Daß wir zufällig in diese mechanische Weltordnungs-Ecke geworfen sind? Daß aller Chemismus wiederum in der mechanischen Weltordnung die Ausnahme und der Zufall ist und endlich der Organismus innerhalb der chemischen Welt die Ausnahme und der Zufall?— Hätten wir als allgemeinste Form des Daseins wirklich eine noch nicht mechanische, den mechanischen Gesetzen entzogene (wenn auch nicht ihnen unzugängliche) Welt anzunehmen? Welche in der That die allgemeinste auch jetzt und immer wäre? So daß das Entstehen der mechanischen Welt ein gesetzloses Spiel wäre, welches endlich eben solche Consistenz gewänne, wie jetzt die organischen Gesetze für unsere Betrachtung? So daß alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden, unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, von ihnen übrig geblieben, oder in einzelnen Theilen der Welt zur Herrschaft gelangt, in anderen nicht?— Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzmäßigkeit, nur eine Fähigkeit gesetzlich zu werden, eine Urdummheit, welche selbst für Mechanik nicht taugt? Die Entstehung der Qualitäten setzt das Entstehen der Quantitäten voraus, und diese wieder könnten nach tausend Arten von Mechanik entstehen.

11 [314]

Unsere höheren Schmerzen, die sogenannten Schmerzen der Seele, deren Dialektik wir oft noch sehen, beim Eintreten irgend eines Ereignisses, sind langsam und auseinandergezogen, im Vergleich zum niederen Schmerz (z. B. bei einer Verwundung), dessen Charakter Plötzlichkeit ist. Aber letzterer ist eben so complicirt und dialektisch im Grunde, und intellektuell—das Wesentliche ist, daß viele Affekte auf einmal losstürzen und auf einander stürzen—dies plötzliche Wirrsal und Chaos ist für das Bewußtsein der physische Schmerz.— Lust und Schmerz sind keine “unmittelbaren Thatsachen,” wie Vorstellung es ist. Eine Menge Vorstellungen, in Triebe einverleibt, sind blitzschnell bei der Hand und gegen einander. Das Umgekehrte ist bei der Lust, die Vorstellungen, ebenso schnell zur Hand, sind in Harmonie und Ausgleichung und—dies wird vom Intellekt als Lust empfunden.

11 [315]

Es hat unzählige modi cogitandi gegeben, aber nur die welche das organische Leben vorwärts brachten, haben sich erhalten—werden es die feinsten gewesen sein?— Die Simplifikation ist das Hauptbedürfniß des Organischen; die Verhältnisse viel gedrängter sehen, Ursache und Wirkung ohne die vielen Mittelglieder fassen, vieles Unähnliche ähnlich finden—das war nöthig—so fand ein unvergleichlich größeres Suchen nach Nahrung und Assimilation statt, weil der Glaube, daß etwas zur Nahrung zu finden sei, viel öfter erregt wurde—ein großer Vortheil im Wachsthum des Organischen! Das Begehren vertausendfacht durch die vertausendfachte Wahrscheinlichkeit der Befriedigung, die Organe des Suchens gestärkt—: das Irren und Sichvergreifen mag ins Unzählige wachsen, aber die günstigen Griffe werden häufiger! Der “Irrthum” ist das Mittel zum glücklichen Zufall!

11 [316]

Die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen (Völker Staaten Gesellschaften), müssen zur Belehrung über die ersten Organismen benutzt werden. Das Ich-bewußtsein ist das letzte, was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungirt, fast etwas Überflüssiges: das Bewußtsein der Einheit, jedenfalls etwas höchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen. Unbewußt ist die große Hauptthätigkeit. Das Bewußtsein erscheint erst gewöhnlich, wenn das Ganze sich wieder einem höheren Ganzen unterordnen will—als Bewußtsein zunächst dieses höheren Ganzen, des Außer-sich. Das Bewußtsein entsteht in Bezug auf das Wesen, dem wir Funktion sein könnten—es ist das Mittel, uns einzuverleiben. So lange es sich um Selbsterhaltung handelt, ist Bewußtsein des Ich unnöthig.— So wohl schon im niedersten Organismus. Das Fremde Größere Stärkere wird als solches zuerst vorgestellt.— Unsere Urtheile über unser “Ich” hinken nach, und werden nach Einleitung des Außer- uns, der über uns waltenden Macht vollzogen. Wir bedeuten uns selber das, als was wir im höheren Organismus gelten—allgemeines Gesetz.

Die Empfindungen und die Affekte des Organischen sind alle längst fertig entwickelt, bevor das Einheits-gefühl des Bewußtseins entsteht.

Älteste Organismen: chemische langsame Prozesse, in noch viel langsameren wie in Hüllen eingeschlossen, von Zeit zu Zeit explodirend und dann um sich greifend und dabei neue Nahrung an sich ziehend.

11 [317]

Ihr sagt: “jene Irrthümer waren für jene Stufe nothwendig, als Heilmittel—die Kur des Menschengeschlechts hat einen nothwendig-vernünftigen Verlauf!” In diesem Sinne leugne ich die Vernünftigkeit. Es ist zufällig, daß dieser und jeder Glaubensartikel siegte, nicht nothwendig—dieselbe Heilwirkung wäre vielleicht auch von einem anderen ausgegangen. Aber vor allem! Die Folge der Heilwirkungen ist sehr beliebig, sehr unvernünftig gewesen! Zudem brachten fast alle eine tiefe andere Erkrankung mit sich! Diese ganze Kur der Menschheit ist aber von ihr vertragen worden—das ist das Merkwürdigste! Es war gewiß nicht die Vernünftigste, noch die einzig-mögliche! Aber möglich war sie!

11 [318]

Ihr meint, ihr hättet lange Ruhe bis zur Wiedergeburt—aber täuscht euch nicht! Zwischen dem letzten Augenblick des Bewußtseins und dem ersten Schein des neuen Lebens liegt “keine Zeit”—es ist schnell wie ein Blitzschlag vorbei, wenn es auch lebende Geschöpfe nach Jahrbillionen messen und nicht einmal messen könnten. Zeitlosigkeit und Succession vertragen sich miteinander, so bald der Intellekt weg ist.

11 [319]

Intellektuell gemessen, wie irrthumvoll ist Lust und Schmerz! Wie falsch wäre geurtheilt, wenn man nach dem Grade von Lust oder Schmerz auf den Werth für das Leben schließen wollte! Im Schmerz ist so viel Dummheit wie in den blinden Affekten, ja es ist Zorn Rache Flucht Ekel Haß Überfüllung der Phantasie (Übertreibung) selber, der Schmerz ist die ungeschieden zusammengeflossene Masse von Affekten, ohne Intellekt giebt es keinen Schmerz, aber die niedrigste Form des Intellekts tritt da zu Tage; der Intellekt der “Materie,” der “Atome.”— Es giebt eine Art, von einer Verletzung überrascht zu werden (wie jener der auf dem Kirschbaum sitzend eine Flintenkugel durch die Backe bekam), daß man gar nicht den Schmerz fühlt. Der Schmerz ist Gehirnprodukt.

11 [320]

Begreift man, wie auch jetzt noch das Leben im Großen (im Gange der Staaten Sittlichkeiten usw.) durch Irrthümer gezeugt wird: wie die Irrthümer aber immer höher und feiner werden müssen: so wird es wahrscheinlich, daß das, was ursprünglich das Leben zeugte, eben der denkbar gröbste Irrthum war—daß zuerst sich dieser Irrthum entwickelt hat und daß überhaupt die ältesten, und am besten einverleibten Irrthümer es seien, auf denen der Fortbestand der Gesellschaft beruht. Nicht die Wahrheit, sondern die Nützlichkeit und Erhaltefähigkeit von Meinungen hat sich im Verlauf der Empirie beweisen müssen; es ist ein Wahn, dem auch unsere jetzige Erfahrung widerspricht, daß die möglichste Anpassung an den wirklichen Sachverhalt die lebengünstigste Bedingung sei.— Es kann sehr viele Ansätze zu Vorstellungen über die Dinge gegeben haben, die wahrer waren (und es giebt deren immer noch) aber sie gehen zu Grunde, sie wollen sich nicht mehr einverleiben—das Fundament von Irrthümern, auf dem jetzt alles ruht, wirkt auswählend, regulirend, es verlangt von allem “Erkannten” eine Anpassung als Funktion—sonst scheidet es dasselbe aus.— Innerhalb jedes kleinen Kreises wiederholt sich der Prozeß: es werden viele Ansätze zu neuen Meinungen gemacht, aber eine Auswahl findet statt, das Lebendige und Im-Leben-bleiben-Wollende entscheidet. Meinungen haben nie etwas zu Grunde gerichtet—aber bei allem Zugrundegehen schießen die Meinungen frei auf, die bisher unterdrückt wurden. Jede neue Erkenntniß ist schädigend, bis sie sich in ein Organ der alten verwandelt hat und die Hierarchie von Alt und Jung in derselben anerkennt—sie muß lange embryonal-schwach bleiben; Ideen treten oft spät erst in ihrer Natur auf, sie hatten Zeit nöthig, sich einzuverleiben und groß zu wachsen.

11 [321]

Die Unwahrheit muß aus dem “eigenen wahren Wesen” der Dinge ableitbar sein: das Zerfallen in Subjekt und Objekt muß dem wirklichen Sachverhalt entsprechen. Nicht die Erkenntniß gehört zum Wesen der Dinge, sondern der Irrthum. Der Glaube an das Unbedingte muß ableitbar aus dem Wesen des esse, aus dem allgemeinen Bedingtsein sein! Das Übel und der Schmerz gehören zu dem, was wirklich ist: aber nicht als dauernde Eigenschaften des esse. Denn Übel und Schmerz sind nur Folgen des Vorstellens, und daß das Vorstellen eine ewige und allgemeine Eigenschaft alles Seins ist, ob es überhaupt dauernde Eigenschaften geben kann, ob nicht das Werden alles Gleiche und Bleibende ausschließt, außer in der Form des Irrthums und Scheins, während das Vorstellen selber ein Vorgang ohne Gleiches und Dauerndes ist?— Ist der Irrthum entstanden als Eigenschaft des Seins? Irren ist dann ein fortwährendes Werden und Wechseln? [Vgl. Afrikan Spir, Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie. Bd. 1. Das Unbedingte. Leipzig: Findel, 1877:382.]

11 [322]

Je höher der Intellekt, um so mehr nimmt der Umfang von Schmerz und Lust zu, Bereich und Grade.

11 [323]

Wie ganz irrthümlich ist die Empfindung! Allen unseren Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Urtheile zu Grunde—einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser “Ich” usw. Alles ist aber falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, so bald wir praktisch handeln, müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der Empfindungs-Urtheile stellen! Das ist die Stufe der Erkenntniß, welche noch viel älter ist als die Stufe der Sprach-Erfindung—meist thierisch!

11 [324]

Vorstellen selber ist kein Gegensatz der Eigenschaften des esse: sondern nur sein Inhalt und dessen Gesetz.— Gefühl und Wille sind uns nur als Vorstellungen bekannt, somit ist ihre Existenz nicht bewiesen. Wenn sie als Inhalt der Vorstellung und nach dem Gesetz der Vorstellung uns allein bekannt sind, so müssen sie uns als gleich ähnlich beharrend usw. erscheinen. In der That, jedes Gefühl wird als etwas irgendwie Dauerndes von uns gefaßt (ein plötzlicher Schlag?) und nicht als etwas an sich Neues und Eigenes, sondern dem Bekannten Ähnliches und Gleiches.

11 [325]

Wir würden ohne die Annahme einer der wahren Wirklichkeit entgegengesetzten Art des Seins nichts haben, an dem es sich messen und vergleichen und abbilden könnte: der Irrthum ist die Voraussetzung des Erkennens. Theilweises Beharren, relative Körper, gleiche Vorgänge, ähnliche Vorgänge—damit verfälschen wir den wahren Thatbestand, aber es wäre unmöglich, von ihm irgendetwas zu wissen, ohne ihn erst so verfälscht zu haben. Es ist nämlich so zwar jede Erkenntniß immer noch falsch, aber es giebt doch so ein Vorstellen, und unter den Vorstellungen wieder eine Menge Grade des Falschen. Die Grade des Falschen festzustellen und die Nothwendigkeit des Grundirrthums als der Lebensbedingung des vorstellenden Seins—Aufgabe der Wissenschaft. Nicht wie ist der Irrthum möglich, heißt die Frage, sondern: wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich?— Das vorstellende Sein ist gewiß, ja unsere einzige Gewißheit: was es vorstellt und wie es vorstellen muß, ist das Problem. Daß das Sein vorstellt, ist kein Problem, es ist eben die Thatsache: ob es ein anderes als ein vorstellendes Sein überhaupt giebt, ob nicht Vorstellen zur Eigenschaft des Seins gehört, ist ein Problem.

11 [326]

Ich lerne immer mehr: das Unterscheidende zwischen den Menschen ist, wie lange sie eine hohe Stimmung bei sich erhalten können. Manche kaum eine Stunde, und bei Einigen möchte man zweifeln, ob sie hoher Stimmungen fähig sind. Es ist etwas Physiologisches daran.

11 [327]

Frauen, die allzu lebhaft sind und den Eindruck davon dämpfen möchten, wählen blaue Farben: und ebenso giebt es in Büchern blaue Farbentöne, mit denen ihr Urheber seine springende Reizbarkeit zu balanciren sucht.

11 [328]

Ein Mensch, der täglich so viele Giftbrühen in sich hinunterzuwürgen hat, ist immer zu bewundern, wenn er Zeiten großer Empfindungen kennt und nicht überhaupt einen principiellen Ekel am “Großen” hat.

11 [329]

Die Antinomie: “die Elemente in der gegebenen Wirklichkeit, welche dem wahren Wesen der Dinge fremd sind, können aus diesem nicht herstammen, müssen also hinzugekommen sein—aber woher? da es außer dem wahren Wesen nichts giebt—folglich ist eine Erklärung der Welt ebenso nöthig als unmöglich.” Dies löse ich so: das wahre Wesen der Dinge ist eine Erdichtung des vorstellenden Seins, ohne welche es nicht vorzustellen vermag. Jene Elemente in der gegebenen Wirklichkeit, welche diesem erdichteten “wahren Wesen” fremd sind, sind die Eigenschaften des Seins, sind nicht hinzugekommen. Aber auch das vorstellende Sein, dessen Existenz an den irrthümlichen Glauben gebunden ist, muß entstanden sein, wenn anders jene Eigenschaften (die des Wechsels, der Relativität) dem esse zu eigen sind: zugleich muß Vorstellen und Glauben an das Selbstidentische und Beharrende entstanden sein.— Ich meine, daß schon alles Organische das Vorstellen voraussetzt. [Vgl. Afrikan Spir, Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie. Bd. 1. Das Unbedingte. Leipzig: Findel, 1877:379f.]

11 [330]

Grundgewißheit.

“Ich stelle vor, also giebt es ein Sein” cogito, ergo est.— Daß ich dieses Vorstellende Sein bin, daß Vorstellen eine Thätigkeit des Ich ist, ist nicht mehr gewiß: ebenso wenig alles was ich vorstelle.— Das einzige Sein, welches wir kennen, ist das vorstellende Sein. Wenn wir es richtig beschreiben, so müssen die Prädikate des Seienden überhaupt darin sein. (Indem wir aber das Vorstellen selber als Objekt des Vorstellens nehmen, wird es da nicht durch die Gesetze des Vorstellens getränkt, gefälscht, unsicher?—) Dem Vorstellen ist der Wechsel zu eigen, nicht die Bewegung: wohl Vergehen und Entstehen, und im Vorstellen selber fehlt alles Beharrende; dagegen stellt es zwei Beharrende hin, es glaubt an das Beharren 1) eines Ich 2) eines Inhaltes: dieser Glaube an das Beharrende der Substanz d. h. an das Gleichbleiben Desselben mit sich ist ein Gegensatz gegen den Vorgang der Vorstellung selber. (Selbst wenn ich, wie hier ganz allgemein vom Vorstellen rede, so mache ich ein beharrendes Ding daraus) An sich klar ist aber, daß Vorstellen nichts Ruhendes ist, nichts Sich selber Gleiches Unwandelbares: das Sein also, welches uns einzig verbürgt ist, ist wechselnd, nicht-mit-sich identisch, hat Beziehungen (Bedingtes, das Denken muß einen Inhalt haben, um Denken zu sein).— Dies ist die Grundgewißheit vom Sein. Nun behauptet das Vorstellen gerade das Gegentheil vom Sein! Aber es braucht deshalb nicht wahr zu sein! Sondern vielleicht ist dies Behaupten des Gegentheils eben nur eine Existenz-bedingung dieser Art von Sein, der vorstellenden Art! Das heißt: es wäre das Denken unmöglich, wenn es nicht von Grund aus das Wesen des esse verkennte: es muß die Substanz und das Gleiche behaupten, weil ein Erkennen des völlig Fließenden unmöglich ist, es muß Eigenschaften dem Sein andichten, um selber zu existiren. Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an Beide glauben.— Kurz: was das Denken als das Wirkliche faßt, fassen muß, kann der Gegensatz des Seienden sein!

11 [331]

Wir sind milder und menschlicher! Alle Milde und Menschlichkeit aber besteht darin, daß wir den Umständen viel zurechnen und nicht mehr Alles der Person! und daß wir den Egoismus vielfach gelten lassen und ihn nicht als das Böse und Verwerfliche an sich mehr betrachten (wie er in der Gemeinde geachtet wurde). Also: im Nachlassen unseres Glaubens an die absolute Verantwortlichkeit der Person und unseres Glaubens an die Verwerflichkeit des Individuellen besteht unser Fortschritt aus der Barbarei!

11 [332]

Ihr sagt: “gewisse Glaubenssätze sind der Menschheit heilsam, folglich müssen sie geglaubt werden” (so hat jede Gemeinde geurtheilt). Aber das ist meine That, zum ersten Male die Gegenrechnung gefordert zu haben!—also gefragt zu haben: welches unsägliche Elend, welche Verschlechterung der Menschen dadurch entstanden ist, daß man das Ideal der Selbstlosigkeit aufstellte, also den Egoismus böse hieß und als böse empfinden ließ!!—dadurch daß man den Willen des Menschen frei hieß und ihm die volle Verantwortlichkeit zuschob somit die Verantwortlichkeit für alles Egoistische—“Böse genannte”—d. h. Naturnothwendige seines Wesens: so machte man ihm einen schlechten Ruf und ein schlechtes Gewissen:—dadurch daß man einen heiligen Gott über den Menschen dachte und damit allem Handeln das böse Wesen eindrückte, und zwar je feiner und edler ein Mensch empfand?— Das Nachlassen dieser furchtbaren Glaubenssätze und das Nachlassen im Zwängen und Erzwingen des Glaubens überhaupt hat die Barbarei verscheucht!— Freilich: eine noch frühere Barbarei, eine gröbere konnte nur durch jene “heilsamen” Wahnartikel verscheucht werden!

11 [333]

Jedes Vorstellen kommt mit Hülfe des Gedächtnisses zu Stande, und ist das Produkt unzähliger Erfahrungen Urtheile Irrthümer Lüste Unlüste vergangner Momente im Menschen: ob es auch noch so plötzlich auftritt. Wenn ich mir einen Gebirgssee vorstelle, so arbeitet bei mir eine ganz andere Vergangenheit an dieser Vorstellung als wenn ein Berliner ihn sich vorstellt. Oder: “Kirche” “Philosoph” “Edelmann” “Tagedieb” usw.

11 [334]

Jede Lust und Unlust ist jetzt bei uns ein höchst complicirtes Ergebniß, so plötzlich es auftritt; die ganze Erfahrung und eine Unsumme von Werthschätzungen und Irrthümern derselben steckt darin. Das Maaß des Schmerzes steht nicht im Verhältniß zur Gefährlichkeit; unsere Einsicht widerspricht. Ebenso ist das Maaß der Lust nicht im Verhältniß zu unserer jetzigen Erkenntniß—wohl aber zur “Erkenntniß” der primitivsten und längsten Vorperiode von Mensch- und Thierheit. Wir stehen unter dem Gesetze der Vergangenheit d. h. ihrer Annahmen und Werthschätzungen.

11 [335]

Nur die Arten von Annahmen, mit denen ein Weiterleben möglich war, haben sich erhalten—dies die älteste Kritik, und lange die einzige! Dadurch sind die gröbsten Irrthümer uns einverleibt, unausrottbar—denn sie verhinderten oft nicht das Weiterleben. Ob eine Annahme auf die Dauer Schaden brachte (z. B. die Annahme, daß ein Getränk gesund sei, doch das Leben auf die Dauer verkürzte), das kam nicht in Betracht. Die Kurzlebigkeit des Menschen mag die Folge fehlerhafter einverleibter Annahmen sein.

Am Beginn aller geistigen Thätigkeit stehen die gröbsten Annahmen und Erdichtungen, z. B. Gleiches Ding Beharren. Sie sind gleichaltrig mit dem Intellekte und er hat sein Wesen danach gemodelt.— Nur die Annahmen blieben, mit denen sich das organische Leben vertrug.

11 [336]

An E. R.

Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein
So mög ein Freund mein Interprete sein.
Und wenn er steigt auf seiner eignen Bahn,
Trägt er des Freundes Bild mit sich hinan.
Februar 1882.

11 [337]

Gaya Scienza.

AlbasMorgenlieder
SerenasAbendlieder
TenzoniStreitlieder
SirventesLob- und Rügelieder
SontasLieder der Freude
LaïsLieder des Leides
[Vgl. Theodor Gsell Fels, Südfrankreich, nebst den Kurorten der Riviera di Ponente, Corsica und Algier. Leipzig: Bibliographisches Institut, 1878:312f., 316.]

11 [338]

Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen—und die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben!

Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!

11 [339]

Seid ihr nun vorbereitet? Ihr müßt jeden Grad von Skepsis durchlebt haben und mit Wollust in eiskalten Strömen gebadet haben—sonst habt ihr kein Recht auf diesen Gedanken; ich will mich gegen die Leichtgläubigen und Schwärmerischen wohl wehren! Ich will meinen Gedanken im Voraus vertheidigen! Er soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein—ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!

11 [340]

1) Ungeheure Thatsache: alle unsere moralischen Urtheile sind aus den entgegengesetzten hervorgegangen: wie ist dies geschehen?

2) wie ist das ältere moralische Urtheil entstanden?

11 [341]

Die Strafe nicht entehrend, so lange sie auch den unabsichtlichen Schädiger trifft.

11 [342]

Gewissensbiß auch nach unbeabsichtigtem Frevel. Z. B. Oedipus.

wesentlich: Ekel vor sich selber!

aesthetische Grundnatur des Urtheils.

11 [343]

Gegen Spencer: “so ist es nicht zweckmäßig”—das ist kein moralisches Urtheil

“Es ist nicht recht, obwohl es zweckmäßig ist”

“es erniedrigt mich” “es macht Grauen und Ekel vor mir.”

Die Rücksicht auf den eigenen Nutzen oder den der Gesellschaft macht die Sache immer noch nicht “moralisch”! “Es ist schädlich für die Andern, nützlich für mich”—was muß geschehen, damit dies als “erniedrigend,” als ekelhaft empfunden wird?— An und für sich ist es die rechte Handlung die natürliche, bei der alles grünt und gedeiht.

Der freie Wille, das Wissen um die Zwecke der Handlungen wurden als unmoralisch empfunden: ist Heerdeninstinkt. Das Wissen hat das schlechte Gewissen für sich gehabt.

11 [344]

In der Heerde keine Nächstenliebe: sondern Sinn für das Ganze und Gleichgültigkeit gegen den Nächsten. Diese Gleichgültigkeit ist etwas sehr Hohes!

11 [345]

In welchem Satze und Glauben drückt sich am besten die entscheidende Wendung aus, welche durch das Übergewicht des wissenschaftlichen über den religiösen götter-erdichtenden Geist eingetreten ist? Wir bestehen darauf, daß die Welt, als eine Kraft, nicht unbegrenzt gedacht werden darf—wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft, als mit dem Begriff “Kraft” unverträglich.

11 [346]

der Mensch die Natur in Dienste nehmend und überwältigend

der wissenschaftliche Mensch arbeitet im Instinkt dieses Willens zur Macht und fühlt sich gerechtfertigt

Fortschritt im Wissen als Fortschritt in der Macht (aber nicht als Individuum). Vielmehr macht dieser sklavenmäßige Verbrauch des Gelehrten das Individuum niedriger.

11 [347]

Antagonism:½
½
½
½
½
½
Erhöhung und Verstärkung des Typus!
Erhöhung und Verstärkung seiner einzelnen
               Organe und Funktionen.

11 [348]

An und für mich—wozu? —

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