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The Will to Power
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Herbst 1881 11 [1-100]

11 [1]

Gleichgültig sich gegen Lob und Tadel machen; Recepte dafür. Dagegen einen Kreis sich stiften, der um unsere Ziele und Maaßstäbe weiß und der Lob und Tadel für uns bedeutet.

11 [2]

Den Begriff der Ernährung erweitern; sein Leben nicht falsch anlegen, wie es die thun, welche bloß ihre Erhaltung im Auge haben.



Wir müssen unser Leben nicht uns durch die Hand schlüpfen lassen, durch ein “Ziel”—sondern die Früchte aller Jahreszeiten von uns einernten.



Wir wollen nach den Andern, nach allem, was außer uns ist, trachten als nach unserer Nahrung. Oft auch sind es die Früchte, welche gerade für unser Jahr reif geworden sind.— Muß man denn immer nur den Egoismus des Räubers oder Diebes haben? Warum nicht den des Gärtners? Freude an der Pflege der Andern, wie der eines Gartens!

11 [3]

Ehemals glaubte man, in der Alchymie, mit moralischen Begriffen (Verwandtschaft Freundschaft Trieb usw.) alles zu erklären. Das Reich der Moral wird immer kleiner.

Ein einzelnes Medikament (z. B. Chinin) und seine “moralischen” Wirkungen zum Beispiel gebrauchen!

11 [4]

La Rochef[oucauld] irrt sich nur darin, daß er die Motive, welche er für die wahren hält, niedriger taxirt als die anderen angeblichen: d.h. er glaubt im Grunde noch an die andern und nimmt den Maaßstab daher: er setzt den Menschen herab, indem er ihn gewisser Motive für unfähig hält.

11 [5]

Unser Instinkt der Triebe greift in jedem Falle nach dem nächsten ihm Angenehmen: aber nicht nach dem Nützlichen. Freilich ist in unzähligen Fällen (namentlich wegen der Zuchtwahl) das dem Triebe Angenehme eben auch das Nützliche!— Der Mensch, hochmüthig auch wo er Gründen und Zwecken nachspürt, macht im Moralischen die Augen zu vor dem Angenehmen: er gerade will, daß seine Handlungen als Consequenz der vernünftigen Absicht auf dauernden Nutzen erscheinen: er verachtet das Momentan-Angenehme—: obschon gerade dies der Hebel aller seiner Kräfte ist.

Das Kunststück des glücklichen Lebens ist, die Lage zu finden, in der das Momentan-Angenehme auch das dauernd Nützlichste ist, wo die Sinne und der Geschmack dasselbe gut heißen, was die Vernunft und Vorsicht gut heißt.

11 [6]

Die Lebensweise der Frauen, welche im Wesentlichen ernährt werden und nicht arbeiten, könnte sofort in eine philosophische Existenz umgewandelt werden! Aber man sehe sie vor einem Schauladen voller Putz und Wäsche!

11 [7]

Hauptgedanke! Nicht die Natur täuscht uns, die Individuen und fördert ihre Zwecke durch unsre Hintergehung: sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen d. h. falschen Maaßen zurecht; wir wollen damit Recht haben und folglich muß “die Natur” als Betrügerin erscheinen. In Wahrheit giebt es keine individuellen Wahrheiten, sondern lauter individuelle Irrthümer—das Individuum selber ist ein Irrthum. Alles was in uns vorgeht, ist an sich etwas Anderes, was wir nicht wissen: wir legen die Absicht und die Hintergehung und die Moral erst in die Natur hinein.— Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren “Lebens-systeme,” deren jeder von uns eins ist—man wirft beides in eins, während “das Individuum” nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urtheilen und Irrthümern ist, ein Glaube, ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt, eine “Einheit,” die nicht Stand hält. Wir sind Knospen an Einem Baume—was wissen wir von dem, was im Interesse des Baumes aus uns werden kann! Aber wir haben ein Bewußtsein, als ob wir Alles sein wollten und sollten, eine Phantasterei von “Ich” und allem “Nicht-Ich.” Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrthum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Über “mich” und “dichhinaus! Kosmisch empfinden!

11 [8]

Der Egoismus als der allgemeine “Größenwahn”—ebenso abzuleiten—physiologisch.

11 [9]

Die bösen aber unentbehrlichen Triebe ebenso zu züchten, wie den der Verstellung (in der Kunst) also unschädlich. Die Parallele zur “Kunst” zu suchen!

11 [10]

Das Erkennenwollen der Dinge, wie sie sind—das allein ist der gute Hang: nicht das Hinsehen nach, Anderen und das Sehen mit anderen Augen—das wäre ja nur ein Ortswechsel des egoistischen Sehens! Wir wollen uns von der großen Grundverrücktheit heilen, alles nach uns zu messen: Selbstliebe ist ein falscher zu enger Ausdruck; Selbsthaß und alle Affekte sind fortwährend thätig mit diesem kurzen Sprunge; als ob alles zu uns hinstrebe. Man geht durch die Gassen und meint, jedes Auge gelte uns: und was wäre es, wenn ein Auge und ein Wort uns wirklich gilt!—nicht mehr, als es uns angeht, wenn der Blick und das Wort einem Zweiten gilt—wir sollten persönlich eben so gleichgültig sein können! Vermehrung der Gleichgültigkeit! Und dazu Übung, mit anderen Augen sehen: Übung, ohne Menschliche Beziehungen, also sachlich zu sehen! Den Menschen-Größenwahn kuriren! Woher kommt er? Von der Furcht: alle geistige Kraft mußte immer schnell zum persönlich-Sehen zurückspringen. Es ist schon das thierische Leiden. Die höchste Selbstsucht hat ihren Gegensatz nicht in der Liebe zum Andern!! Sondern im neutralen sachlichen Sehen! Die Leidenschaft für das trotz allen Personen-Rücksichten, trotz allem “Angenehmen” und Unangenehmen “Wahre” ist die höchste—darum Seltenste bisher!

11 [11]

Man muß den Menschen Muth zu einer neuen großen Verachtung machen z. B. der Reichen, der Beamten usw. Jede unpersönliche Form des Lebens muß als gemein und verächtlich gelten.

A. Wie viel brauche ich, um gesund und angenehm für mich zu leben?
   
B. Wie erwerbe ich dies so, daß das Erwerben gesund und angenehm ist und meinem Geiste zu Statten kommt, zumal als Erholung?
   
c. Wie habe ich von den Anderen zu denken, um von mir möglichst gut zu denken und im Gefühle der Macht zu wachsen?
   
d. Wie bringe ich die Anderen zur Anerkennung meiner Macht?
   
e. Wie organisirt sich der neue Adel als der Machtbesitzende Stand? Wie grenzt er die Anderen von sich ab, ohne sie sich zu Feinden und Widersachern zu machen?

11 [12]

Das was einer zweckbewußten Handlung vorhergeht, im Bewußtsein z. B. das Bild des Kauens dem Kauen, ist gänzlich unbestimmt: und wenn ich es wissenschaftlich genauer mache, so ist dies auf die Handlung selber ohne Einfluß. Eine Unzahl von einzelnen Bewegungen werden vollzogen, von denen wir vorher gar nichts wissen, und die Klugheit der Zunge z. B. ist viel größer als die Klugheit unseres Bewußtseins überhaupt. Ich leugne, daß diese Bewegungen durch unseren Willen hervorgebracht werden; sie spielen sich ab, und bleiben uns unbekannt—auch ihren Prozeß vermögen wir nur in Symbolen (des Tastsinns Hörens Sehens von Farben) und in einzelnen Stücken und Momenten zu fassen—sein Wesen, eben so wie der fortdauernde Verlauf bleiben uns fremd. Vielleicht stellt die Phantasie dem wirklichen Verlaufe und Wesen etwas entgegen, eine Erdichtung, die wir gewohnt sind als das Wesen zu nehmen.

11 [13]

Wir hören wenig und unsicher, wenn wir eine Sprache nicht verstehen, die um uns gesprochen wird. Ebenso bei einer Musik, die uns fremd ist, wie die chinesische. Das Guthören ist also wohl ein fortwährendes Errathen und Ausfüllen der wenigen wirklich wahrgenommenen Empfindungen. Verstehen ist ein erstaunlich schnelles entgegenkommendes Phantasiren und Schließen: aus zwei Worten errathen wir den Satz (beim Lesen): aus einem Vokal und 2 Consonanten ein Wort beim Hören, ja viele Worte hören wir nicht, denken sie aber als gehört.— Was wirklich geschehen ist, ist nach unserem Augenschein schwer zu sagen;—denn wir haben fortwährend dabei gedichtet und geschlossen. Ich habe öfter beim Sprechen mit Personen ihren Gesichtsausdruck so deutlich vor mir, wie ihn meine Augen nicht wahrnehmen können: es ist eine Fiktion zu ihren Worten, die Auslegung in Gebärden des Gesichts.



Ich vermuthe, daß wir nur sehen, was wir kennen; unser Auge ist in der Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung:—der größte Teil des Bildes ist nicht Sinneneindruck, sondern Phantasie-Erzeugniß. Es werden nur kleine Anlässe und Motive aus den Sinnen genommen und dies wird dann ausgedichtet. Die Phantasie ist an Stelle des “Unbewußten” zu setzen: es sind nicht unbewußte Schlüsse als vielmehr hingeworfene Möglichkeiten, welche die Phantasie giebt (wenn z. B. Sousreliefs in Reliefs für den Betrachter umschlagen).



Unsere “Außenwelt” ist ein Phantasie-Produkt wobei frühere Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar nicht exakt dem mechanischen wirklichen Vorgang, sondern unserem individuellen Zustande. — —

11 [14]

Das Ich—nicht zu verwechseln mit dem organischen Einheitsgefühle. —

11 [15]

Unklar listig gewaltsam und von früher her verwöhnt, durch geringe und servile Umgebung.— er hält die Unklarheit über alle Principien aufrecht, um sich bald so bald so seinem Vortheile gemäß zu stellen.

11 [16]

Angebliche Zweckmäßigkeit der Natur—bei der Selbstsucht, dem Geschlechtstrieb, wo man sagt, sie benutze das Individuum, bei der Lichtausströmung der Sonne usw.—alles Erdichtungen! Es ist vielleicht die letzte Form einer Gottes-Vorstellung—aber dieser Gott ist nicht sehr klug und sehr unbarmherzig. Leopardi hat die böse Stiefmutter Natur, Schopenhauer den “Willen.”— Vielleicht kann man mit solchen anscheinenden Zweckthätigkeiten die Zweckthätigkeit des Menschen aufhellen. Es wird etwas erreicht, und das was erreicht wird und das was dazu alles geschieht, ist von dem Bilde, welches vorher im Kopfe des Wollenden ist, total verschieden—es führt keine Brücke hinüber. “Ich esse, um mich zu sättigen”—aber was weiß ich von dem, was Sättigung ist! In Wahrheit wird die Sättigung erreicht, aber nicht gewollt—die momentane Lustempfindung bei jedem Bissen, so lange Hunger da ist, ist das Motiv: nicht die Absicht “um,” sondern ein Versuch bei jedem Bissen, ob er noch schmeckt. Unser Handlungen sind Versuche, ob dieser oder jener Trieb daran seine Freude habe, bis in’s Verwickeltste hinein, spielende Äußerungen des Dranges nach Thätigkeit, welche wir durch die Theorie der Zwecke mißdeuten und falsch verstehen. Wir bewegen unsere Fangarme—und dieser oder jener Trieb findet in dem, was wir fangen, seine Beute und macht uns glauben, wir hätten beabsichtigt, ihn zu befriedigen.

11 [17]

Sein schlechter Charakter folgt ihm auf die höchsten Gipfel seines Genie’s. —

11 [18]

Umfang der dichterischen Kraft: wir können nichts thun, ohne nicht vorher ein freies Bild davon zu entwerfen—(ob wir freilich nicht wissen, wie sich dies Bild zur Handlung verhält, die Handlung ist etwas Wesentlich-Anderes und verläuft in uns unzugänglich en Regionen). Dies Bild ist sehr allgemein, ein Schema—wir meinen, es sei nicht nur die Richtschnur, sondern die bewegende Kraft selber. Zahllose Bilder haben keine Aktivität nach sich, davon sehen wir ab: die Fälle, wo sich hernach etwas begiebt, was “Wir gewollt” haben, bleiben im Gedächtniß.— Aller unserer Entwicklung läuft ein Idealbild voraus, das Erzeugniß der Phantasie: die wirkliche Entwicklung ist uns unbekannt. Wir müssen dies Bild machen. Die Geschichte des Menschen und der Menschheit verläuft unbekannt, aber die Idealbilder und deren Geschichte scheint uns die Entwicklung selber. Die Wissenschaft kann sie nicht schaffen, aber die Wissenschaft ist eine Hauptnahrung für diesen Trieb: wir scheuen auf die Dauer alles Unsichere Erlogene, diese Furcht und dieser Ekel fördern die Wissenschaft. Jener dichterische Trieb soll errathen, nicht phantasiren, aus wirklichen Elementen etwas Unbekanntes errathen: er braucht die Wissenschaft d. h. die Summe des Sicheren und Wahrscheinlichen, um mit diesem Material dichten zu können. Dieser Vorgang ist schon im Sehen. Es ist eine freie Produktion in allen Sinnen, der größte Theil der sinnlichen Wahrnehmung ist errathen. Alle wissenschaftlichen Bücher langweilen, die diesem errathen wollenden Triebe kein Futter geben: das Sichere thut uns nicht wohl, wenn es nicht Nahrung für jenen Trieb sein will!

11 [19]

Vielleicht lassen sich alle moralischen Triebe auf das Haben-wollen und Halten-wollen zurückführen. Der Begriff des Habens verfeinert sich immer, wir begreifen immer mehr, wie schwierig es ist zu haben und wie sich das scheinbare Besitzthum immer noch uns zu entziehen weiß—so treiben wir das Haben in’s Feinere: bis zuletzt das völlige Erkennen des Dinges die Voraussetzung ist, um es zu erstreben: oft genügt uns das völlige Erkennen schon als Besitz, es hat keinen Schlupfwinkel mehr vor uns und kann uns nicht mehr entlaufen. Insofern wäre Erkenntniß die letzte Stufe der Moralität. Frühere sind z. B.: ein Ding sich zurecht phantasiren und nun zu glauben, daß man es ganz besitze, wie der Liebende mit der Geliebten, der Vater mit dem Kinde: welcher Genuß nun am Besitz!—aber uns genügt da der Schein. Wir denken uns die Dinge, die wir erreichen können, so, daß ihr Besitz uns höchst werthvoll erscheint: wir machen den Feind, über den wir zu siegen hoffen, für unseren Stolz zurecht: und ebenso das geliebte Weib und Kind. Wir haben zuerst eine ungefähre Berechnung was wir alles überhaupt erbeuten können—und nun ist unsere Phantasie thätig, diese zukünftigen Besitzthümer uns äußerst werthvoll zu machen (auch Ämter Ehren Verkehr usw.). Wir suchen die Philosophie, die zu unserem Besitz paßt d.h. ihn vergoldet. Die großen Reformatoren, wie Muhammed, verstehen dies, den Gewohnheiten und [dem] Besitz der Menschen einen neuen Glanz zu geben—nicht “etwas Anderes” sie erstreben zu heißen, sondern das was sie haben wollen und können, als etwas Höheres zu sehen (mehr Vernunft und Weisheit und Glück darin zu “entdecken” als sie bis jetzt darin fanden).— Sich selber haben wollen: Selbstbeherrschung usw.

11 [20]

Hauptfrage: wonach ist die Werthtafel der Güter gemacht und verändert worden? So daß ein Eigenthum begehrenswerther als ein anderes schien?

Was leicht zu haben war (wie z. B. Nahrung) wurde verhältnißmäßig unterschätzt. Die Werthtafel stimmt gar nicht mit den Graden des Nutzens (gegen Spencer).

11 [21]

Die Geschichte des Ich gefühls zu beschreiben: und zu zeigen, wie auch im Altruismus jenes Besitzenwollen das Wesentliche ist. Zu zeigen, wie nicht im Begriff “Nicht-ich und Ich” der Hauptfortschritt der Moral liegt, sondern im schärfer-Fassen des Wahren im Anderen und in mir und in der Natur, also das Besitzenwollen immer mehr vom Scheine des Besitzes, von erdichteten Besitzthümern zu befreien, das Ichgefühl also vom Selbstbetruge zu reinigen. Vielleicht endet es damit, daß statt des Ich wir die Verwandtschaften und Feindschaften der Dinge erkennen, Vielheiten also und deren Gesetze: daß wir vom Irrthum des Ich uns zu befreien suchen (der Altruismus ist auch bisher ein Irrthum). Nicht “um der Anderen willen,” sondern “um des Wahren willen leben”! Nicht “ich und du!” Wie könnten, wir “den Anderen” (der selber eine Summe von Wahn ist!) fördern dürfen! Das Ichgefühl umschaffen! Den persönlichen Hang schwächen! An die Wirklichkeit der Dinge das Auge gewöhnen! Von Personen soviel wie möglich vorläufig absehen! Welche Wirkungen muß dies haben! Über die Dinge Herr zu werden suchen und so sein Besitzen-wollen befriedigen! Nicht Menschen besitzen wollen!— Aber heißt dies nicht auch, die Individuen schwächen? Es ist etwas Neues zu schaffen: nicht ego und nicht tu und nicht omnes!

NB. Keinen Besitz in der Jugend erstreben müssen und wollen!: ebenso kein Ansehen, um über Andere zu befehlen—diese beiden Triebe gar nicht zu entwickeln! Uns von den Dingen besitzen lassen (nicht von Personen) und von einem möglichst großen Umfange wahrer Dinge! Was daraus wächst, ist abzuwarten: wir sind Ackerland für die Dinge. Es sollen Bilder des Daseins aus uns wachsen: und wir sollen so sein, wie diese Fruchtbarkeit uns nöthigt zu sein: unsere Neigungen Abneigungen sind die des Ackerlandes, das solche Früchte bringen soll. Die Bilder des Daseins sind das Wichtigste bisher gewesen—sie herrschen über die Menschheit.

11 [22]

Die Erziehung des Genius.

11 [23]

NB! Die Wissenschaft lieben, ohne an ihren Nutzen zu denken! Aber vielleicht ist sie ein Mittel, den Menschen in einem unerhörten Sinne zum Künstler zu machen! Bisher sollte sie dienen.— Eine Reihenfolge schöner Experimente ist einer der höchsten Theatergenüsse.

11 [24]

NB. “Der chemische Prozeß ist stets größer als der Nutzeffekt” Mayer. [Vgl. Robert von Mayer, Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Ein Beitrag zur Naturkunde. Heilbronn: Drechsler, 1845:90.] “Durch gute Dampfmaschinen wird ungefähr 1/20, durch Geschütze 1/10, durch Säugethiere 1/5 der Verbrennungswärme in mechanischen Effekt umgesetzt.” [Vgl. Robert von Mayer, Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Ein Beitrag zur Naturkunde. Heilbronn: Drechsler, 1845:104.] Zur Verschwendung der Natur! Dann die Sonnenwärme bei Proctor! [Vgl. Richard Anthony Proctor, Unser Standpunkt im Weltall. Autorisierte deutsche Ausgabe. Hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Wilhelm Schur. Heilbronn: Henninger, 1877:29.] Der Staat im Verhältniß zu seinem Nutzen! Der große Geist! Unsere intellektuelle Arbeit im Verhältniß zu dem Nutzen, den die Triebe davon haben! Also keine falsche “Nützlichkeit als Norm”! Verschwendung ist ohne Weiteres kein Tadel: sie ist vielleicht nothwendig. Auch die Heftigkeit der Triebe gehört hierher.

11 [25]

Die Innervation “übt ihre Herrschaft über die Muskelaktion aus, wahrscheinlich ohne merklichen Aufwand einer physischen Kraft, ohne eine elektrische Strömung und ohne einen chemischen Prozeß überhaupt” nach Mayer—“wie der Kraftaufwand des Maschinisten etwas verschwindend Kleines ist.” (Contakt—Einfluß der motorischen Nerven.) [Vgl. Robert von Mayer, Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Ein Beitrag zur Naturkunde. Heilbronn: Drechsler, 1845:107.]

11 [26]

Die Sinne der Menschen im Fortschritt der Civilisation sind schwächer geworden, Augen und Ohren: weil die Furcht geringer wurde und der Verstand feiner. Vielleicht wird mit der Vermehrung der Sicherheit die Feinheit des Verstandes nicht mehr nöthig sein: und abnehmen: wie in China! In Europa hat der Kampf gegen das Christenthum, die Anarchie der Meinungen und die Concurrenz der Fürsten Völker und Kaufleute bis jetzt den Verstand verfeinert.

11 [27]

Wir treten in das Zeitalter der Anarchie dies aber ist zugleich das Zeitalter der geistigsten und freiesten Individuen. Ungeheuer viel geistige Kraft ist in Umschwung. Zeitalter des Genies: bisher verhindert durch Sitten Sittlichkeit usw.

11 [28]

Verstimmung als verhinderte Auslösung. Grundsatz: nicht die Auslösungen, so gewaltsam sie auch sein mochten, gaben der Menschheit den meisten Schaden, sondern die Verhinderung derselben. Verstimmung, krankhafte Mißgefühle haben wir zu beseitigen—aber dazu gehört der Muth, das Schreckliche der Auslösungen anders und günstiger zu beurtheilen. Attentate sind besser als schleichende Verdrießlichkeiten. Morde Kriege usw. offene Gewalt das Böse der Macht soll gut heißen: wenn das Böse der Schwäche von jetzt ab böse zu nennen ist.

11 [29]

Irrthum der positiven Philosophie nachzuweisen: sie will die Anarchie der Geister vernichten, und sie wird den dumpfen Druck unbefriedigter Auslösung hervorbringen (wie China)!

11 [30]

Über die Beschäftigung mit der Wissenschaft giebt es noch keine schöne und gesunde Sitte. Man überträgt gedankenlos die Gewohnheiten anderer Beschäftigungen z. B. des Beamten, Commis, Gärtners, Arbeiters. Der Adel ist deshalb im Großen so fruchtbar, weil er vornehme Sitten hinzubrachte: die vornehmste ist, die Langeweile aushalten zu können. In der That, der wissenschaftliche Mensch muß sich täglich mehrere Stunden auf sich beschränken und da oft die Gedanken nicht gleich kommen, viel Langeweile ohne Ungeduld hinnehmen. Die Inder verstanden dies!

11 [31]

Viele unserer Triebe finden ihre Auslösung in einer mechanischen starken Thätigkeit, die zweckmäßig gewählt sein kann: ohne dies giebt es verderbliche und schädliche Auslösungen. Haß Zorn Geschlechtstrieb usw. könnten an die Maschine gestellt werden und nützlich arbeiten lernen, z. B. Holz hacken oder Briefe tragen oder den Pflug führen. Man muß seine Triebe ausarbeiten. Das Leben des Gelehrten erfordert namentlich so etwas. Einige Stunden des Tages sollen nothwendig dem Nachdenken entzogen werden. Aller Mißmuth ist auszulösen: Handarbeit in der Nähe! Oder der Lauf Sprung Ritt. Man könnte als Denker sehr gut noch Pferde zureiten. Oder commandiren.

11 [32]

Die allgemeine Geschichte der Wissenschaft giebt zuletzt einen Begriff wie die gewöhnlichsten geistigen Verrichtungen zu Stande kommen.

11 [33]

NB! Im Moleküle könnte [sich] immer noch die Geschichte des Sonnensystems abspielen und Wärme durch Fall und Stoß sich erzeugen.

11 [34]

Die Chinesen: ohne Scham, ohne Vorurtheile, geschwätzig, maßvoll: ihre Leidenschaften Opium Spiel Weiber. Sie sind reinlich.

11 [35]

Sich die Vortheile eines Todten verschaffen—es kümmert sich Keiner um uns, weder für noch wider. Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen: und den ganzen Überschuß von Kraft auf das Zuschauen verwenden. Der unsichtbare Zuschauer sein!!

11 [36]

Wir sind irgendwie in der Mitte—nach der Größe der Welt zu und nach der Kleinheit der unendlichen Welt zu. Oder ist das Atom uns näher als das äußerste Ende der Welt?— Ist für uns die Welt nicht nur ein Zusammenfassen von Relationen unter einem Maaße? Sobald dies willkürliche Maaß fehlt, zerfließt unsere Welt!

11 [37]

Wir kennen a) die Motive der Handlung nicht; b) wir kennen die Handlung, die wir thun, nicht; c) wir wissen nicht, was daraus wird. Aber wir glauben von allen dreien das Gegentheil: das vermeintliche Motiv, die vermeintliche Handlung und die vermeintlichen Folgen gehören in die uns bekannte Geschichte des Menschen, sie wirken aber auch auf seine unbekannte Geschichte ein, als die jedesmalige Summe von drei Irrthümern.

In jedem Falle giebt es nicht Eine Handlung, die zu thun ist, sondern so viele als es Ideale des vollkommenen Menschen giebt. Nützlich, verderblich—ist kein “An-sich”; die Ideale sind Dichtungen auf mehr oder weniger geringe Kennt niß des Menschen.— Ich leugne die absolute Sittlichkeit, weil ich ein absolutes Ziel des Menschen nicht kenne. Man muß den gesunden Zustand kennen, um den krankhaften zu erkennen—aber Gesundheit selber ist eine Vorstellung, die nach dem Vorhandenen sich in uns erzeugt. Spencer p. 302. “Übergangszustände durchdrungen von dem auf Nichtanpassung beruhenden Elend”: sagt Spencer—und doch könnte gerade dies Elend das Nützlichste sein! [Vgl. Herbert Spencer, Die Thatsachen der Ethik. Autor. dt. Ausgabe nach der zweiten engl. Auflage übersetzt von Benjamin Vetter. Stuttgart: Schweizerbart, 1879:302.]

11 [38]

Ich suche für mich und meines Gleichen den sonnigen Winkel inmitten der jetzt wirklichen Welt, jene sonnigen Vorstellungen, bei denen uns ein Überschuß von Wohl kommt. Möge dies Jeder für sich thun und das Reden ins Allgemeine, für die “Gesellschaft” bei Seite lassen!

11 [39]

Mit sich behaftet wie mit einer Krankheit—so fand ich die Begabungen.

11 [40]

Die Voraussetzung des Spencerschen Zukunfts-Ideals ist aber, was er nicht sieht, die allergrößte Ähnlichkeit aller Menschen, so daß einer wirklich im alter sich selber sieht. Nur so ist Altruismus möglich! Aber ich denke an die immer bleibende Unähnlichkeit und möglichste Souveränität des Einzelnen: also altruistische Genüsse müssen selten werden, oder die Form bekommen der Freude am Anderen, wie unsere jetzige Freude an der Natur.

11 [41]

Die Entstehung des Denkers und die Gefahren, an denen eine solche Entstehung gewöhnlich ihr Ende findet. 1) die Eltern wollen ihres Gleichen aus ihm machen 2) man gewöhnt ihn an Beschäftigungen, die ihm die Kraft und die Zeit zum Denken wegnehmen; Berufe usw. 3) man erzieht ihn zu einer kostspieligen Lebensweise, der er nun wieder viel Kraft zuwenden muß, um die Mittel dazu zu schaffen 4) man gewöhnt ihn an Freuden, welche die des Denkens farblos erscheinen lassen, und an eine Stimmung der Unbehaglichkeit in Gegenwart der Denker und ihrer Werke 5) der Geschlechtstrieb will ihn antreiben, sich mit einem Weibe zu verbinden und fürderhin für die Kinder zu leben—nicht mehr für sich selber 6) seine Begabung bringt Ehren mit sich: und diese führen ihn zu einflußreichen Personen, welche ein Interesse haben, aus ihm ein Werkzeug zu machen 7) die Lust, im Erfolge einer Wissenschaft, macht ihn von den weiteren Zielen abtrünnig: er bleibt an den Mitteln kleben und vergißt den Zweck.— Daraus lassen sich die Maximen der Erziehung des unabhängigen Denkers ableiten. Und Vorschriften, um diese Vorschriften auf’s wirksamste einzuprägen (namentlich Entfernung von der Gefahr, Zwang zu denken durch sonstige Unbeschäftigung usw.) Mir liegt an der Erhaltung meiner Art!! —

11 [42]

Die ganze Tyrannei der Zweckmäßigkeit der Gattung einmal darzulegen! Wie! Wir sollten sie gar noch fördern? Sollten nicht viel mehr dem Individuum soviel nur möglich zurückerobern? Alle Moralität soll darin aufgehen: was vererbbar auf die ganze Gattung ist, soll den Werth ausmachen?— Sehen wir doch auf die zufälligen Würfe hin, die dabei vorkommen müssen—ob da nicht manches vorkommt, was dem Gattungs-Ideal, gesetzt es werde einmal erreicht, zuwiderläuft!

11 [43]

Diese Verherrlicher der Selektions-Zweckmäßigkeit (wie Spencer) glauben zu wissen, was begünstigende Umstände einer Entwicklung sind! und rechnen das Böse nicht dazu! Und was wäre denn ohne Furcht Neid Habsucht aus dem Menschen geworden! Er existirte nicht mehr: und wenn man sich den reichsten edelsten und fruchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses—so denkt man einen Widerspruch. Von allen Seiten wohlwollend behandelt und selber wohlwollend—da müßte ein Genie furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren, sie beherrschen, aussaugen usw. Kurz, wenn jetzt der Tugendhafte an der Stärke des Egoismus leidet, so dann an der Stärke des Altruismus: alles Thun wird ihm vergällt, weil es seinem Haupthange zuwiderläuft und ihm böse vorkommt. Für sich etwas thun, bei Seite bringen, schaffen—das wäre alles mit bösem Gewissen: Lust stellte sich ein, wenn man seine Schaffensgelüste zurückdrängte und allgemein empfände. Es wäre so auch ein schönes ruhendes von allen Seiten ernährtes und erblühendes Menschenthum möglich, aber ein ganz anderes als unser bestes Menschenthum—für das auch Einiges geltend zu machen ist.

Übrigens könnte man als Individuum dem ungeheuer langsamen Prozeß der Selection zuvorkommen, in vielen Stücken und vorläufig den Menschen in seinem Ziele zeigen—mein Ideal! Die ungünstigen Umstände bei Seite thun, indem man sich bei Seite thut (Einsamkeit) Auswahl der Einflüsse (Natur Bücher hohe Ereignisse) darüber nachzudenken! Nur wohlwollende Gegner im Gedächtniß behalten! Selbständige Freunde! Alle tieferen Stufen der Menschheit aus seinem Gesichtskreis bannen! Oder sie nicht sehen und hören wollen! Blindheit Taubheit des Weisen!

11 [44]

Die Vorwegnehmenden.— Ich zweifle, ob jener Dauermensch, welchen die Zweckmäßigkeit der Gattungs-Auswahl endlich produzirt, viel höher als der Chinese stehen wird. Unter den Würfen sind viele unnütze und in Hinsicht auf jenes Gattungsziel vergängliche und wirkungslose—aber höhere: darauf laßt uns achten! Emancipiren wir uns von der Moral der Gattungs-Zweckmäßigkeit!— Offenbar ist das Ziel, den Menschen ebenso gleichmäßig und fest zu machen, wie es schon in Betreff der meisten Thiergattungen geschehen ist: sie sind den Verhältnissen der Erde usw. angepaßt und verändern sich nicht wesentlich. Der Mensch verändert sich noch—ist im Werden.

11 [45]

Die größten Einwirkungen übersehen wir nicht: wir können immer noch die Rasse zu Grunde richten, denn wir messen die Wirkungen nach Individuen, höchstens nach Jahrhunderten. Ob z. B. der Kaffé oder der Alkohol nicht Gifte sind, die in der regelmäßigen Weise eingenommen, wie es geschieht, in 2000 Jahren die Menschheit vernichtet haben?

11 [46]

“Rudimentäre Menschen” solche, die jetzt der Zweckmäßigkeit der Art nicht mehr dienen: aber keine selbsteigenen Wesen geworden sind.

Unzweckmäßig in Hinsicht auf die Art, noch nicht in Hinsicht auf kleine Complexe, und nicht in Hinsicht auf das Individuum! Sind die Zwecke des Individuums nothwendig die Zwecke der Gattung? Nein. Die individuelle Moral: in Folge eines zufälligen Wurfs im Würfelspiel ist ein Wesen da, welches seine Existenzbedingungen sucht—nehmen wir dies ernst und seien wir nicht Narren, zu opfern für das Unbekannte!

11 [47]

Der Eigenthumstrieb—Fortsetzung des Nahrungs- und Jagd-Triebs. Auch der Erkenntnißtrieb ist ein höherer Eigenthumstrieb.

11 [48]

Die Menschen bleiben bei den Mitteln hängen, wenn deren Erreichung ihnen Lust macht. Rohde.

11 [49]

Wer das Schöne nicht erreicht, sucht das Wilderhabene, weil da auch das Häßliche seine “Schönheit” zeigen darf. Ebenso sucht er die wilderhabene Moralität.

11 [50]

Im Heroismus ist der Ekel sehr stark (ebenso im Uneigennützigen—man verachtet die Beschränktheit des “Ich”—der Intellekt hat seine Expansion). Die Schwäche des Ekels bezeichnet die industrielle und utilitarische Cultur.

11 [51]

Zwei Ursprünge der Kunst 1) auf eine unschädliche Weise getäuscht zu werden (Taschenspieler Schauspieler Erzähler usw.) auch Architektur als ob der Stein redete (von dem Haus- oder Tempeleinwohner) 2) auf eine unschädliche Weise überwältigt werden: Rausch, Musik, Lyrik usw. Zuerst Besorgniß Verwunderung, daß nichts Böses erfolgt, keine Gefahr da ist—bei Beiden. So werden die Zustände, die am meisten gefürchtet werden und den höchsten Reiz ausüben, erstrebenswerth: Täuschung und Überwältigung. So von Seiten der Genießenden aus betrachtet.

11 [52]

Der Zins (“Wucher”) und das böse Gewissen.
Das Theater und das böse Gewissen.

11 [53]

Reinigung der Seele.— Erster Ursprung von höher und niedriger.

Das aesthetisch-Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut—blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden pumpenden Unthiere—formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also weggedacht! Was davon doch heraustritt, erregt Scham (Koth Urin Speichel Same) Frauen mögen nicht vom Verdauen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen (So gehen die Hintergedanken ihren Weg) Dieser durch die Haut verhüllte Leib, der sich zu schämen scheint! Das Gewand an der Theilen, wo sein Wesen nach außen tritt: oder die Hand vor den Mund halten beim Speichelauswerfen. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den Organismus ist, um So mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft—er thut alles, um nicht daran zu denken.— Die Lust, die ersichtlich mit diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger—Nachwirkung des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vorstellung von Coitus und Samen.— Alles Peinliche Quälende Überheftige hat der Mensch diesem innerlichen Leibe zugeschrieben: um so höher hob er das Sehen Hören die Gestalt das Denken. Das Ekelhafte sollte die Quelle des Unglücks sein!— Wir lernen den Ekel um!

Zweiter Ursprung der Unterscheidung von höher und niedriger. Alles Furchteinflößende als das Mächtigere gilt als höher; alles Andere als niedriger oder gar verächtlich. Als Höchstes—Furcht einflößen und doch wohlthun und wohlwollen!

11 [54]

Welches sind die tiefen Umwandlungen, welche aus den Lehren kommen müssen, daß kein Gott für uns sorgt und daß es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistisch-unmoralische Menschheit)? daß wir Thiere sind? daß unser Leben vorbeigeht? daß wir unverantwortlich sind? der Weise und das Thier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben!

11 [55]

Die, welche den Vortheil von der hülfreichen wohlwollenden Gesinnung haben, haben sie so verherrlicht! Das Lob eine Folge des Nutzens! Und der Wohlthäter ließe es sich gefallen, mit Lob entschädigt zu werden?

11 [56]

Wie entsteht Trieb, Geschmack, Leidenschaft? Letztere opfert sich andere Triebe, die schwächer sind (anderes Verlangen nach Lust)—: das ist nicht unegoistisch! Ein Trieb beherrscht die anderen, auch den sogenannten Selbsterhaltungstrieb! “Heroismus” usw. sind nicht als Leidenschaften verstanden worden, sondern weil sie den Anderen sehr nützlich waren, als etwas Höheres Edleres Anderes!—da die meisten anderen Leidenschaften den Anderen gefährlich waren. Dies war sehr kurzsichtig! Auch der Heroismus der Vaterlandsliebe der Treue der “Wahrheit,” der Forschung usw. ist den Anderen höchst gefährlich—sie sind nur zu dumm, das zu sehen! sie würden die unegoistischen Tugenden sonst in den Bann thun, in den die Habsucht der Geschlechtssinn, Grausamkeit Eroberungslust usw. gehören. Aber jene wurden gut genannt und empfunden, und allmählich ganz von den edleren und reineren Gefühlen durchtränkt—und idealisiert! ideal gemacht! So wurde die Arbeit, die Armut, der Zins, die Päderastie, zu verschiedenen Zeiten entwürdigt, zu anderen Zeiten ideal gemacht.

11 [57]

Die Menschen bewundern und loben die Handlungen eines Anderen, die für ihn selber unzweckmäßig erscheinen, sofern sie ihnen nützlich sind. (Unzweckmäßigkeit in Hinsicht auf Genuß oder Nutzen.) Früher verstand man Genuß oder Nutzen sehr gemein und eng: und wer z. B. für gloria etwas that, war schon unzweckmäßig nach der Meinung der groben Menschen, der Masse. Weil man feinere Arten von Genuß nicht sah, hat man das Reich des Uneigennützigen so groß angenommen. Der Mangel an psychologischer Feinheit ist ein Grund von vielem Loben und Bewundern! Weil die Masse keine Leidenschaft hat, so hat sie die Leidenschaft bewundert, weil sie mit Opfern verknüpft und unklug ist—den Genuß der Leidenschaft konnte man sich nicht vorstellen, man leugnete ihn. Die Menge verachtet alles Gewöhnliche, Leichte, Kleine.

11 [58]

Vor allem Wohl- und Wehethun steht die Frage: wer ist das Andere, wer ist der Andere? kurz die Erkenntniß der Welt! Wozu wohlthun und wehethun—muß erst entschieden sein! Bisher geschah alles Wohl- und Wehethun im Irrthum, als ob man wisse, was? und wozu? Die Schätzung des Wohlwollens ist erst noch zu beweisen, namentlich der Grad!

11 [59]

Nicht das Glück, sondern die möglichst lange Erhaltung ist der Inhalt aller bisherigen Moral der Gemeinde und Gesellschaft (ja auf Kosten des Glückes aller Einzelnen). Also auch nicht der Nutzen. Wer hat das Interesse der Erhaltung? Die Häuptlinge an der Spitze von Familien, Ständen usw. welche fortleben wollen im Fortleben ihrer Institutionen, welche ihr Machtgefühl in die Ferne treiben. Alle Alten: wer sein persönlich zu kurzes oder noch kurzes Leben stark empfindet, sucht sich einzudrücken in die Seele und Sitte der neuen Generation und so fortzuleben, fortzuherrschen. Es ist Eitelkeit.— Das Individuum gegen die Gesellschafts-Moral und abseits von ihr—wenn die größte Gefahr für Alle vorüber ist, können einzelne Bäume aufwachsen mit ihren Existenzbedingungen.

11 [60]

Neuer Blick auf die Welt in Hinsicht auf Intelligenz und Güte. Ist die Menschheit eine Ausnahme? Ist im Ganzen ihr Grad von Intelligenz und Güte gleichen Ranges wie der in der Natur? Ja.— Nun aber haben wir die “Zweckmäßigkeit” und “Intelligenz” der Natur zu verstehen—sie ist gar nicht da! Ebenso wenig das Unegoistische! Von da auf die Menschheit zurückzuschließen: vielleicht ist auch unsere Zweckmäßigkeit nur eine Summe günstiger Zufälle, und unsere “Güte” ebenfalls ein Irrthum. Aus den großen Schriftzügen der Natur unsere kleine Schrift zu verstehen suchen!— Wir können eine Reihe von Nacheinander’s angeben, die zu einem Zwecke führen—aber 1) es ist nicht die vollständige Reihe, sondern eine erbärmliche Auswahl 2) wir können kein Glied der Reihe aus freien Stücken machen, wir wissen nur mehr oder weniger, daß es sich machen wird. Wo wir zweckmäßig sind, handeln wir trotzdem unwissend über Mittel und Zweck, im Ganzen gesehen. Über diesen Fatalismus kommen wir nicht hinaus.

11 [61]

Die Menschen haben mit Verwunderung wahrgenommen, daß Mancher seinen Vortheil vernachlässigt (in der Leidenschaft, oder aus Geschmack): sie waren blind für die inneren Vortheile des Stolzes, der Stimmung usw. und hielten diese Menschen entweder für 1) toll oder 2) für gut, falls nämlich ihnen daraus ein Vortheil erwuchs—sie bilden nun den Glauben aus, die Handlungen werden gethan allein, um ihnen wohlzuthun. Die Verherrlichung solcher Handlungen und Menschen hatte den Werth, zu ähnlichen persönlich unzweckmäßigen Handlungen anzutreiben. Der Egoismus derer, welche Hülfe und Wohlthat brauchen, hat das Unegoistische so hoch gehoben!

11 [62]

Die Jesuiten vertraten gegen Pascal die Aufklärung und die Humanität.

11 [63]

neue Praxis.

Den anderen Menschen zunächst wie ein Ding, einen Gegenstand der Erkenntniß ansehen, dem man Gerechtigkeit widerfahren lassen muß: die Redlichkeit verbietet, ihn zu verkennen, ja ihn unter irgend welchen Voraussetzungen zu behandeln, welche erdichtet und oberflächlich sind. Wohlthun ist dasselbe, wie eine Pflanze sich in’s Licht rücken, um sie besser zu sehen—auch Wehethun kann ein nöthiges Mittel sein, damit die Natur sich enthülle. Nicht Jeden als Menschen behandeln, sondern als so und so beschaffenen Menschen: erster Gesichtspunkt! Als etwas, das erkannt sein muß, bevor es so und so behandelt werden kann. Die Moral mit allgemeinen Vorschriften thut jedem Individuum Unrecht. Oder giebt es Mittel der Vorbereitung der Erkenntniß, die auf jedes Wesen zuerst anwendbar sind, als Vorstufe des Experimentes?— Wie wir mit den Dingen verkehren, um sie zu erkennen, so auch mit den lebenden Wesen, so mit uns.— Aber bevor wir die Erkenntniß haben oder nachdem wir einsehen, daß wir sie nicht uns verschaffen können, wie dann handeln? Und wie, wenn wir sie erkannt haben?— Als Kräfte für unsere Ziele sie verwenden—wie anders? So wie es die Menschen immer machten (auch wenn sie sich unterwarfen: sie förderten ihren Vortheil durch die Macht dessen, dem sie sich unterwarfen)— Unser Verkehr mit Menschen muß darauf aus sein, die vorhandenen Kräfte zu entdecken, die der Völker Stände usw.—dann diese Kräfte zum Vortheil unserer Ziele zu stellen (eventuell sie sich gegenseitig vernichten lassen, wenn dies noth thut).

Neu: die Redlichkeit leugnet den Menschen, sie will keine moralische allgemeine Praxis, sie leugnet gemeinsame Ziele. Die Menschheit ist die Machtmenge, um deren Benutzung und Richtung die Einzelnen conkurriren. Es ist ein Stück Herrschaft über die Natur: vor allem muß die Natur erkannt, dann gerichtet und benutzt werden.— Mein   Ziel   wäre   wieder   die   Erkenntniß?  eine  Machtmenge  in  den  Dienst  der Er[kenntniß] stellen?

11 [64]

Nach meinem Ziele über höhere und niedere Eigenschaften abschätzen—alle Urtheile als Vorurtheile auf diesem Gebiete behandeln. Es soll mir gleichgültig sein, was über die Keuschheit gedacht ist—gesetzt sie ist besser für die Erkenntniß, so wird sie empfohlen. Alle Dinge auf ihren Werth für das Erkennen hin prüfen, z. B. die Kunst die politischen Zustände usw. den Handel.

11 [65]

Aufgabe: die Dinge sehen, wie sie sind! Mittel: aus hundert Augen auf sie sehen können, aus vielen Personen! Es war ein falscher Weg, das Unpersönliche zu betonen und das Sehen aus dem Auge des Nächsten als moralisch zu bezeichnen. Viele Nächste und aus vielen Augen und aus lauter persönlichen Augen sehen—ist das Rechte. Das “Unpersönliche” ist nur das geschwächt-Persönliche, Matte—kann hier und da auch schon nützlich sein, wo es eben gilt, die Trübung der Leidenschaft aus dem Auge zu entfernen. Die Zweige der Erkenntniß, wo schwache Persönlichkeiten nützlich sind, am besten angebaut (Mathematik usw.). Der beste Boden der Erkenntniß, die starken mächtigen Naturen, werden erst spät für das Erkennen erobert (urbar gemacht usw.)— Hier sind die treibenden Kräfte am größten: aber das gänzliche Verirren und Wildwerden und Aufschießen in Unkraut (Religion und Mystik) ist immer noch das Wahrscheinlichste (die “Philosophen” sind solche mächtigen Naturen, die für die Erkenntniß noch nicht urbar sind; sie erbauen, tyrannisiren die Wirklichkeit, legen sich hinein. Überall, wo Liebe Haß usw. möglich sind, war die Wissenschaft noch ganz falsch: hier sind die “Unpersönlichen” ohne Augen für die wirklichen Phänomene, und die starken Naturen sehen nur sich und messen alles nach sich.— Es müssen sich neue Wesen bilden.

11 [66]

“Die Wahrheit um der Wahrheit willen” suchen—oberflächlich! Wir wollen nicht betrogen werden, es beleidigt unseren Stolz.

11 [67]

Die Schädlichkeit der “Tugenden” die Nützlichkeit der “Untugenden” ist nie in voller Breite gesehen worden. Ohne Furcht und Begierde—was wäre der Mensch! Ohne Irrthümer gar!

11 [68]

In wiefern der Sinn der Redlichkeit die phantastische Gegenkraft der Natur zu reizen vermag! Ob wirklich die Menschen nüchterner werden?— Wir begreifen ja nur durch ein phantastisches Vorwegnehmen und Versuchen, ob die Realität zufällig in dem Phantasiebild erreicht ist; namentlich in der Historie, usw. Thukydides und Tacitus müssen Dichter sein. Selbst in der Wissenschaft der einfachsten Vorgänge ist Phantasie nöthig (z. B. Mayer)—aber hier kann noch die Täuschung entstehen, als ob Nüchternheit produktiv wäre!

11 [69]

Die Leidenschaft der Erkenntniß sieht sich als Zweck des Daseins—leugnet sie die Zwecke, so sieht sie sich als werthvollstes Ergebniß aller Zufälle. Wird sie die Werthe leugnen? sie kann nicht behaupten, der höchste Genuß zu sein? Aber nach ihm zu suchen? das genußfähigste Wesen auszubilden, als Mittel und Aufgabe dieser Leidenschaft? Die Sinne steigern und den Stolz und den Durst usw.

Einen Berg hinuntersteigen, die Gegend mit den Augen umarmen, eine ungestillte Begierde dabei. Die leidenschaftlich Liebenden, welche die Vereinigung nicht zu erreichen wissen (—bei Lucrez) [Vgl. Lucretius, Das Wesen der Dinge [De rerum naturae]. IV, 1058-1120. Von Titus Lukretius Karus. Metrisch übersetzt von Gustaf Bossart-Oerden. Berlin: Reimer, 1865:154-156.] Der Erkennende verlangt nach Vereinigung mit den Dingen und sieht sich abgeschieden—dies ist seine Leidenschaft. Entweder soll sich alles in Erkenntniß auflösen oder er löst sich in die Dinge auf—dies ist seine Tragödie (letzteres sein Tod und dessen Pathos. Ersteres sein Streben, alles zu Geist zu machen—: Genuß die Materie zu besiegen, zu verdunsten, zu vergewaltigen usw. Genuß der Atomistik der mathematischen Punkte. Gier!

11 [70]

Grundfalsche Werthschätzung der empfindenden Welt gegen die todte. Weil wir sie sind! Dazu gehören! Und doch geht mit der Empfindung die Oberflächlichkeit, der Betrug los: was hat Schmerz und Lust mit dem wirklichen Vorgange zu schaffen!—es ist ein Nebenher, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber wir nennen’s das Innere und die todte Welt sehen wir als äußerlich an—grundfalsch! Die “todte” Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die “todte Welt” überzugehen—und die größte Begierde der Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt. Ist dies Selbstverneinung der Empfindung, im Intellekte? Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dauert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so genießen! Laßt uns die Rückkehr in’s Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen [uns] so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt.

11 [71]

In dem Grade als die Welt zähl- und meßbar sich zeigt, also zuverlässig—erhält sie Würde bei uns. Ehedem hatte die unberechenbare Welt (der Geister—des Geistes) Würde, sie erregte mehr Furcht. Wir aber sehen die ewige Macht ganz wo anders. Unsere Empfindung über die Welt dreht sich um: Pessimismus des Intellekts.

11 [72]

Herrliche Entdeckung: es ist nicht alles unberechenbar, unbestimmt! Es giebt Gesetze, die über das Maaß des Individuums hinaus wahr bleiben! Es hätte ja ein anderes Resultat sich ergeben können!

Das Individuum nicht mehr als die ewige Sonderbarkeit und ehrwürdig! Sondern als die complicirteste Thatsache der Welt, der höchste Zufall. Wir glauben auch an seine Gesetzmäßigkeit, ob wir sie schon nicht sehen.— Oder? Als entzogen der Erkennbarkeit, aber ein Mittel der Erkenntniß, auch Hinderniß der Erkenntniß—nicht verehrungswürdig, etwas dubiös!

11 [73]

Wir können weder des Bösen noch der Leidenschaften entbehren—die vollständige Anpassung Aller an Alles und Jedes in sich (wie bei Spencer) ist ein Irrthum, es wäre die tiefste Verkümmerung.— Das schönste leiblich mächtigste Raubthier hat die stärksten Affekte: sein Haß und seine Gier in dieser Stärke werden für seine Gesundheit nöthig sein, und wenn befriedigt, diese so prachtvoll entwickeln. Selbst zum Erkennen brauche ich alle meine Triebe, die guten wie die bösen und wäre schnell am Ende, wenn ich nicht gegen die Dinge feindlich mißtrauisch grausam tückisch rachsüchtig und mich verstellend usw. sein wollte. Alle großen Menschen waren durch die Stärke ihrer Affekte groß. Auch die Gesundheit taugt nichts, wenn sie nicht großen Affekten gewachsen ist, ja sie nöthig hat. Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung. Gewiß sind sie oft Anlaß, daß man zu Grunde geht—aber dies ist kein Argument gegen ihre nützlichen Wirkungen im Großen.— Unsere Moralität will aber das Gegentheil, liebenswürdige und creditfähige Zahler und Borger.

11 [74]

Der Schaden der Tugenden ist noch nicht nachgewiesen!

11 [75]

Wir können nur intellektuelle Vorgänge begreifen: also an der Materie das, was sichtbar hörbar fühlbar wird—werden kann! d.h. wir begreifen unsere Veränderungen im Sehen, Hören, Fühlen, welche dabei enstehen. Wofür wir keine Sinne haben, [das] existirt für uns nicht—aber deshalb braucht die Welt nicht zu Ende zu sein. Elektricität—z. B. unser Sinn sehr schwach entwickelt.— Auch an einer Leidenschaft, einem Triebe begreifen wir nur den intellektuellen Vorgang daran—nicht das physiologische, wesentliche, sondern das Bischen Empfindung dabei. Alles zu Willen aufzulösen—sehr naive Verdrehung!—da freilich wäre alles verständlicher! Das war aber immer die Tendenz, alles in einen intellektuellen oder empfindenden Vorgang zu reduziren—z. B. auf Zwecke usw.

11 [76]

Veränderung der Werthschätzung—ist meine Aufgabe.

Der Leib und der Geist
die Leidenschaft
das Böse
die Gemeinde—Moral
Leben und Tod
Gewissen Strafe Sünde
Lob und Tadel
Zwecke Willen
Gleichgültigkeit
das Leben als Verirrung.

11 [77]

Der Mensch als das wahnsinnig gewordene Thier: lebt in lauter Wahn, bis jetzt, mehr als irgend wer geahnt hat. So fand ich ihn vor. [Vgl. William Edward Hartpole Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Mit Bewilligung des Verf. übersetzt von Heimann Jolowicz. Bd. 1; Bd. 2 . Leipzig; Heidelberg: Winter, 1873.]

11 [78]

Die aesthetischen Urtheile (der Geschmack, Mißbehagen, Ekel usw.) sind das, was den Grund der Gütertafel ausmacht. Diese wiederum ist der Grund der moralischen Urtheile.

11 [79]

Das Schöne, das Ekelhafte usw. ist das ältere Urtheil. Sobald es die absolute Wahrheit in Anspruch nimmt, schlägt das aesthetische Urtheil in die moralische Forderung um.



Sobald wir die absolute Wahrheit leugnen, müssen wir alles absolute Fordern aufgeben und uns auf aesthetische Urtheile zurückziehen. Dies ist die Aufgabe—eine Fülle aesthetischer gleichberechtigter Werthschätzungen zu creiren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge.



Reduktion der Moral auf Aesthetik!!!

11 [80]

Die Erkenntniß hat den Werth 1) die “absolute Erkenntniß” zu widerlegen 2) die objektive zählbare Welt der nothwendigen Aufeinanderfolge zu entdecken.

11 [81]

Es giebt für uns nicht Ursache und Wirkung, sondern nur Folgen (“Auslösungen”) NB.

11 [82]

1.

Die Weisen müssen das Monopol des Geldmarktes sich erwerben: darüber erhaben durch ihre Lebensweise und Ziele und Richtung gebend für den Reichthum—es ist absolut nöthig, daß die höchste Intelligenz ihm die Richtung giebt.

2.

Die Ehe. Unsere meisten Ehefrauen sind zu hoch gestellt.— Geschlechtsbefriedigung soll nie das Ziel der Ehe sein.— Eine Arbeiterbevölkerung braucht gute Hurenhäuser.— Zeitehen.

3.

Der Selbstmord als übliche Todesart: neuer Stolz des Menschen, der sich sein Ende setzt und eine neue Festfeier erfindet—das Ableben.

11 [83]

Die Wissenschaft von 1650-1800 wollte die Weisheit und Güte Gottes erweisen: das Umgekehrte war das Ergebniß. Jetzt ist man versucht, einem Reste von Gott, einem mangelhaften Intellekt, listige und böse Umwege zum Guten usw. zuzugestehen. Aber 1) es zeigen sich ganz verschiedene Grade von Unvernunft 2) und ebenso von Güte: es würde ein Wesen ohne Charakter sein. Wozu ein solches Wesen annehmen?— Weder gut noch böse ist die Welt! Und der Mensch also! —

11 [84]

Unsere ganze Welt ist die Asche unzähliger lebender Wesen: und wenn das Lebendige auch noch so wenig im Vergleich zum Ganzen ist: so ist alles schon einmal in Leben umgesetzt gewesen, und so geht es fort. Nehmen wir eine ewige Dauer, folglich einen ewigen Wechsel der Stoffe an —

11 [85]

Forscher wie Lecky können den Verfall einer Meinung nach ihrer größten Herrschaft nie erklären. Die Meinungen (auf der Basis des Geschmacks) sind große Krankheiten über viele Geschlechter hin, physiologisch endlich ausheilend und absterbend—und die Meinungen selber sind nur der uns bekannte Ausdruck eines physiologischen Vorganges. Es giebt individuelle und überindividuelle Krankheiten. Man muß die Menschen studiren, in welchen die Gegenmeinung oder die Skepsis auftaucht: ein neues physiologisches Merkmal ist in ihnen, wahrscheinlich der Keim einer anderen Krankheit.— Die Menschen als die wahnsinnigen Thiere. [Vgl. William Edward Hartpole Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Mit Bewilligung des Verf. übersetzt von Heimann Jolowicz. Bd. 1; Bd. 2 . Leipzig; Heidelberg: Winter, 1873.]

11 [86]

Die Thatsache an der Hexerei ist, daß ungeheure Massen Menschen damals die Lust empfanden, Anderen zu schaden und sich schädigend zu denken, ebenfalls in Gedanken sinnlich auszuschweifen und sich mächtig im Bösen und Gemeinsten zu fühlen. Woher das?—ist die Frage.

11 [87]

Jene Menschen mit der Tugend der Unbeugsamkeit Selbstüberwindung Heroismus zeigen in ihrem gefühllosen harten und grausam ausschweifenden Denken und Handeln an Andern, wo diese Tugend ihr Fundament hat. Sie handeln gegen Andere wie sie gegen sich handeln—aber weil letzteres den Menschen nützlich und selten scheint, folglich verehrungswürdig ist, ersteres sehr peinlich ist, zerlegt man sie in gute und böse Hälften! Zuletzt ist diese gefühllose Härte wahrscheinlich im Großen der Menschheit sehr nützlich gewesen, es erhielt die Ansichten und Bestrebungen aufrecht und gab ganzen Völkern und Zeiten eben jene Tugenden der Unbeugsamkeit Selbstüberwindung Heroismus, machte sie groß und stark und herrschend.

11 [88]

Ich muß nicht nur die Lehre von der Sünde, sondern auch die vom Verdienste (Tugend) aufgeben. Wie in der Natur—es bleiben die aesthetischen Urtheile! “ekelhaft, gewöhnlich, selten, anziehend, harmonisch, schroff, grell, widerspruchsvoll, quälend, entzückend” usw. Diese Urtheile sind aber auf eine wissenschaftliche Basis zustellen! “selten” was wirklich selten ist. Vieles “Gewöhnliche” als höchst werthvoll, mehr als das Seltene usw.

11 [89]

Das Wehe thun wollen, die Lust an der Grausamkeit—hat eine große Geschichte. Die Christen in ihrem Verhalten gegen die Heiden; Völker gegen ihre Nachbarn und Gegner; Philosophen gegen Menschen anderer Meinung; alle Freidenker; die Tagesschriftsteller; alle Abweichend-Lebenden, wie die Heiligen. Fast alle Schriftsteller. Selbst in den Kunstwerken sind solche Züge, welche die Absicht auf die Nebenbuhler eingiebt. Oder wie bei Heinrich von Kleist, welcher mit seiner Phantasie dem Leser Gewalt anthun will; auch Shakespeare.— Ebenso alles Lachen, und die Komödie.

Ebenso die Lust an der Verstellung: große Geschichte. —

Ist der Mensch deshalb böse?

11 [90]

Die Menschen des Mittelalters, die unbeugsamen, würden uns verachten, wir sind unter ihrem Geschmack.

11 [91]

Ein großer Schritt in der Grausamkeit, sich an geistigen statt an leiblichen Martern zu genügen und gar am Vorstellen dieser Martern und nicht-mehr-sehen-wollen.

11 [92]

Die Hexen wollten den Schaden sehen, die christlichen Verfolger und Inquisitoren auch, auch Gott vor der Hölle. Dies der Einfluß der Barbaren (Deutschen) auf Europa—ein Rückschritt. Die Sklaven haben die Demuth und die Barbaren die Grausamkeit in’s Christentum gebracht.

11 [93]

Es wird fortwährend von uns sehr viel empfunden und sehr viel gedacht (erinnert, phantasirt), was nicht zum Bewußtsein kommt. Es ist geringerer und schwächerer Qualität, und reicht aus.

11 [94]

An die Moralgläubigen.

Deus nudus est,
Seneca
[Epistularum ad Lucilium, XXXI].

11 [95]

Deus nudus est sagt Seneca. Ich fürchte, er steckt ganz in Kleidern. Und noch mehr: Kleider machen nicht nur Leute, sondern auch Götter. [Vgl. William Edward Hartpole Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Mit Bewilligung des Verf. übersetzt von Heimann Jolowicz. Bd. 1. Leipzig: Winter, 1873:178.]

11 [96]

Meint ihr, ein Grieche, dem man unsere Cultur schildert, werde dieselbe bewundern oder ersehnenswerth finden? Oder selbst ein Wilder? Jeder Zustand hat sein Ideal aus sich: ein ganz anderer ist immer eine Art Widerspruch zu diesem Ideal und deshalb peinlich und verächtlich. Wonach soll der Begriff “Fortschritt der Cultur” gemessen werden! Jeder meint, er sei auf der Höhe und sein Ideal sei das Ideal der Menschheit. Die Geschichte dieser Geschmacke an Idealen!— Auch fehlt an jedem Ideal das, was einem anderen Ideal seinen Werth, seine Schmackhaftigkeit für seine Verehrer giebt. Nun, giebt es denn einen Fortschritt der Küche? Ja, innerhalb einzelner Kreise, Völker Städte Familien, das Ideal entwickelt sich.— Das freie Individuum hat seinen Privatgeschmack, es muß sehr stark sein, sonst wird es ein Gelüstchen sein und nicht mehr, im Verhältniß zu Familien- und Volksgeschmack,.

11 [97]

Die Entstehung vieler freier Individuen bei den Griechen: Ehe nicht der Wollust wegen. Übung und Ausbildung der Kunst des coi[tus]. Die Knabenliebe als Ableitung von der Weiber-verehrung und -verzärtelung—und somit Verhinderung der Übernervosität und Schwäche der Weiber. Der Wettkampf und die Billigung des Neides. Die einfache Lebensweise. Die Sklaven und die Taxation der Arbeit. Die Religion keine Moralpredigerin, also Sitten freilassend, im Ganzen. Die Tödtung des embryo; Beseitigung der Früchte unglücklicher coitus. usw.

11 [98]

Von jedem Augenblick im Zustand eines Wesens stehen zahllose Wege seiner Entwicklung offen: der herrschende Trieb aber heißt nur einen einzigen gut, den nach seinem Ideale. So ist das Bild Spencer’s von der Zukunft des Menschen nicht eine naturwissenschaftliche Nothwendigkeit, sondern ein Wunsch aus jetzigen Idealen heraus.

11 [99]

Was ist Toleranz! Und Anerkennung fremder Ideale! Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurtheilen—Ideale geringerer Wesen als er ist. Die absolute Höhe unseres Maaßstabes ist eben der Glaube an das Ideal.— Somit ist Toleranz historischer Sinn sogenannte Gerechtigkeit ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben. Was ist also wissenschaftlicher Sinn? Vielleicht das Verlangen nach einem Ideale und der Glaube, hier den Weg zum Absoluten, zum unwidersprechlichen Ideale zu haben: also unter der Voraussetzung, daß man kein Ideal hat und daran leidet!— Bei Vielen mag es die Rache sein, dafür daß sie kein Ideal haben, indem sie die anderen zerstören. Es giebt eine Schauspielerei (wie bei Bacon) als ob man ein Ideal hätte. “Die Wahrheit um ihrer selber willen” ist eine Phrase, etwas ganz Unmögliches, wie die Liebe des Nächsten um seiner selber willen.

11 [100]

Geschichte der Grausamkeit; der Verstellung; der Mordlust (letztere im Abtödten von Meinungen, Aburtheilen über Werke, Personen, Völker, Vergangenheit—der Richter ist ein sublimirter Henker).

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel