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Sommer 1875 6 [1-51]
6 [1]
Nachahmung des Alterthums.
Das Mittel, die Philologie, macht dem
Philologen die Nachahmung unmöglich.
Kennen ohne können.
Daher: entweder rein historisch
geworden
oder
die Philologie zu Grunde gegangen
(Schiller).
Selbst die historische Erkenntniss des
Alterthums ist vermittelt durch die
Reproduction, die Nachahmung.
Das Goethische Griechenthum (die
griechische FTnk@Fb<0
in der Kunst auf den moralischen Menschen
übertragen).
6 [2]
Das griechische Alterthum als
classische Beispielsammlung für die
Erklärung unsrer ganzen Cultur und ihrer
Entwicklung. Es ist ein Mittel uns zu
verstehen, unsre Zeit zu richten und
dadurch zu überwinden.
Das pessimistische Fundament unsrer
Cultur.
6 [3]
Socrates, um es nur zu
bekennen, steht mir so nahe, dass ich
fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.
6 [4]
Wissenschaft und Weisheit im Kampfe.
Wissenschaft (NB. bevor sie
Gewohnheit und Instinkt ist) entsteht
1) |
|
wenn die Götter
nicht gut gedacht werden. Grosser
Vortheil irgend etwas als fest
zu erkennen. |
2) |
|
der Egoismus
treibt den Einzelnen an, bei
gewissen Beschäftigungen z. B.
Schiffahrt seinen Nutzen zu
suchen, durch Wissenschaft. |
3) |
|
etwas für
vornehme Leute, die Musse haben.
Neugierde. |
4) |
|
im wilden Hin
und Her der Meinungen des Volks
will der Einzelne ein festeres
Fundament. |
Wodurch unterscheidet
sich dieser Trieb zur Wissenschaft vom
Triebe überhaupt etwas zu lernen und
anzunehmen? Nur durch den geringeren Grad
des Egoismus oder die weitere Spannung
desselben. Einmal ein
Sich-verlieren in die Dinge. Zweitens
eine über das Individuum ausgedehnte
Selbstsucht.
Weisheit zeigt sich
1) |
|
im unlogischen
Verallgemeinern und zum letzten
Ziele Fliegen. |
2) |
|
in der Beziehung
dieser Resultate auf das Leben. |
3) |
|
in der
unbedingten Wichtigkeit, welche
man seiner Seele beilegt. Eins
ist Noth. |
|
|
|
Socratismus ist |
einmal |
|
Weisheit im
Ernstnehmen der Seele. |
|
zweitens |
|
Wissenschaft als
Furcht und Hass vor der
unlogischen Verallgemeinerung. |
|
drittens |
|
etwas
eigenthümliches durch die
Forderung des bewussten und
logisch correcten Handelns. |
|
Daraus
entsteht Schaden für die
Wissenschaft, für das ethische
Leben. |
6 [5]
Wissenschaft und
Weisheit im Kampfe,
dargestellt an den ältern griechischen
Philosophen.
6 [6]
1) |
|
Wie zeigt sich
in diesen ältern Griechen die
Welt gefärbt? |
2) |
|
Wie verhalten
sie sich zu den Nichtphilosophen? |
3) |
|
An ihren Personen
liegt viel: diese zu errathen,
ist der Sinn meiner Betrachtung
ihrer Lehren. |
4) |
|
Wissenschaft und
Weisheit im Kampfe bei ihnen. |
5) |
|
Ironische
Novelle: alles ist falsch. Wie
der Mensch sich an einen Balken
klammert. |
[Vgl. Joseph von Hammer, Die Geschichte der Assassinen, aus morgenländischen Quellen, durch Joseph von Hammer. Stuttgart; Tübingen: Cotta, 1818:84.]
6 [7]
Es giebt auch eine Art, diese
Geschichte zu erzählen, ironisch
und voll Trauer. Ich will
jedenfalls den ernsthaftgleichmässigen
Ton vermeiden.
Socrates wirft das Ganze um,
in einem Augenblick, wo es sich der
Wahrheit noch am meisten genähert
hatte; das ist besonders ironisch.
Alles auf dem Hintergrund des Mythos
aufzumalen. Dessen grenzenlose
Unsicherheit und Wogen. Man sehnt sich
nach Sicherem.
Nur wohin der Strahl des Mythus
fällt, da leuchtet das Leben des
Griechen; sonst ist es düster. Nun
berauben sich diese Philosophen des
Mythus; also wie halten sie es in dieser
Düsterkeit aus?
Das Individuum, welches auf sich
selbst stehen will. Da braucht es
letzte Erkenntnisse, Philosophie. Die
andern Menschen brauchen langsam
anwachsende Wissenschaft.
Oder vielmehr: es ist ein Glaube
nöthig, solche letzte Erkenntnisse zu
besitzen. Einen solchen Grad von
Gläubigkeit für das eigene Erkennen
wird es nie wieder geben, wie ihn jene
alten Griechen besaßen: aber die
Schwierigkeit und Gefahr des Erkennens
stand ihnen noch nicht vor der Seele; sie
hatten einen handfesten Glauben an sich,
mit dem sie alle ihre Nachbarn und
Vorgänger niederwarfen. Das Glück im
Besitz der Wahrheit war nie größer auf
der Welt, aber auch nie die Härte, der
Übermuth, das Tyrannische. In
seinen geheimen Wünschen war jeder
Grieche Tyrann; und überhaupt jeder war
es, der es sein konnte, vielleicht mit
Ausnahme des Solon, nach seinen eigenen
Gedichten zu schließen.
Auch die Unabhängigkeit ist nur
scheinbar: zuletzt knüpft jeder an
seinen Vorgänger an. Phantasma an
Phantasma. Es ist komisch, alles so ernst
zu nehmen.
Die ganze ältere Philosophie als
curioser Irrgarten-Gang der
Vernunft. Es ist eine Traum- und
Märchentonart anzustimmen.
6 [8]
Aristoteles in seinem aesthetischen
Urtheil.
gegen Empedocles.
in Betreff der Tragödie.
Demosthenes.
Thucydides.
bildende Kunst.
Musik.
6 [9]
Nebeneinander geht die Entwicklung der
griechischen Musik und Philosophie.
Vergleich beider, insofern beide Aussagen
machen über das hellenische Wesen. Die
Musik freilich nur aus ihrem Niederschlag
als Lyrik uns bekannt.
EmpedoclesTragödie |
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Sacrale Monodie |
HeraclitArchilochus |
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Xenophanes sympotisch. |
DemocritAnacreon |
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PythagorasPindar |
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|
|
AnaxagorasSimonides. |
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|
Alles Vergleichen von Personen ist
schief und dumm.
6 [10]
Die Philosophien sind Hadesschatten
gegenüber dem griechischen Leben: sie
spiegeln es wieder, aber wie auf einer
Rauchwolke.
Hinter solchen Menschen muss man her
sein, bis sie wieder von einem Dichter
nachgeschaffen sind: die ergänzende
Phantasie Vieler muss hier arbeiten.
Sie sind zu selten, als dass man sie
laufen lassen könnte. Das wenige, was
sich mit Kritik und Umdrehen und
Ausschütteln jeder Notiz erreichen
lässt!
6 [11]
Einleitung. |
|
1. Cap. |
Vergleichung der
älteren griechischen Philosophen
mit den Sectenphilosophen nach
Socrates. |
|
|
2. Cap. |
Die
Zeitverhältnisse der älteren
Philosophen. |
Erzählung:
Es hängt so viel von der Entwicklung
der griechischen Cultur ab, da unsre
ganze abendländische Welt daher ihre
Antriebe bekommen hat: das Verhängniß
wollte, daß das jüngere und entartete
Griechenthum am meisten historische Kraft
gezeigt hat. Darüber ist das ältere
Griechenthum immer falsch beurtheilt
worden. Das jüngere muß man genau
kennen, um es von dem älteren zu
unterscheiden.
Es giebt noch sehr viele
Möglichkeiten, die noch gar nicht
entdeckt sind: weil die Griechen sie
nicht entdeckt haben. Andere haben die
Griechen entdeckt und später
wieder verdeckt.
6 [12]
Diese Philosophen beweisen, welche
Gefahren die griechische Cultur in sich
schloß:
der
Mythus als Faulbett des Denkens |
|
dagegen
die kalte Abstraktion und die
strenge Wissenschaft. Democrit. |
die
weichliche Behaglichkeit des
Lebens |
|
dagegen
Genügsamkeit, strenge asketische
Auffassung bei Pythagoras,
Empedocles, Anaximander. |
Grausamkeit
in Kampf und Streit |
|
dagegen
Empedocles mit seiner Reform des
Opfers. |
Lüge
und Betrug |
|
dagegen
Begeisterung für das Wahre bei
jeder Consequenz. |
Schmiegsamkeit,
übertriebene Geselligkeit |
|
dagegen
Heraklits Stolz und Einsamkeit. |
6 [13]
Diese Philosophen zeigen die
Lebenskraft jener Cultur, die ihre
eigenen Corrective erzeugt.
Wie stirbt diese Zeit ab?
Unnatürlich. Wo stecken denn nur die
Keime des Verderbens?
Die Flucht der Besseren aus der
Welt war ein großes Unglück. Von
Sokrates an: das Individuum nahm sich zu
wichtig mit einem Male.
Die Pest kam hinzu, für Athen.
Dann ging man an den Perserkriegen
zu Grunde. Die Gefahr war zu groß
und der Sieg zu außerordentlich.
Der Tod der großen musikalischen
Lyrik und der Philosophie.
Sokrates ist die Rache für
Thersites: der herrliche Achill
schlug den häßlichen Volksmann
Thersites todt, vor Zorn über seine
Worte bei Pentesileas Tode; der
häßliche Volksmann Sokrates schlug die Auktorität
des herrlichen Mythus in Griechenland
todt.
6 [14]
Die ältere griechische Philosophie
ist die Philosophie von lauter
Staatsmännern. Wie elend steht es
mit unsern Staatsmännern! Das
unterscheidet übrigens die Vorsokratiker
und die Nachsokratiker am meisten.
Bei ihnen hat man nicht die
garstige Pretension auf Glück wie
von Socrates ab. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig: Brockhaus, 1874:434f.] Es dreht sich doch nicht
alles um den Zustand ihrer Seele: denn
über den denkt man nicht ohne Gefahr
nach. Später wurde das (<äh4
F"LJ`< des Apoll
mißverstanden.
Auch schwätzten und schimpften
sie nicht so, auch schrieben sie
nicht.
Das geschwächte Griechenthum,
romanisirt, vergröbert, decorativ
geworden, dann als decorative Cultur vom
geschwächten Christenthum als
Bundesgenosse acceptirt, mit Gewalt
verbreitet unter uncivilisirten
Völkerndas ist die Geschichte der
abendländischen Cultur. Das Kunststück
ist geleistet, und das Griechische und
das Pfäffische zusammengebracht.
Ich will Schopenhauer Wagner und das
ältere Griechenthum zusammenrechnen: es
giebt einen Blick auf eine herrliche
Cultur.
6 [15]
Vergleichung der älteren
Philosophie mit der nachsokratischen.
1) |
|
die ältere ist
mit der Kunst verwandt,
ihre Welträthsellösung hat
mehrmals von der Kunst sich
inspiriren lassen. Geist der
Musik und der bildenden Kunst. |
2) |
|
sie ist nicht
die Negation des andern
Lebens, sondern aus ihm als
seltne Blüthe gewachsen;
sie spricht dessen Geheimnisse
aus. (TheoriePraxis) |
3) |
|
sie ist nicht
so individuell-eudärnonologisch,
ohne die garstige Pretension auf
Glück. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig: Brockhaus, 1874:434f.] |
4) |
|
diese ältern
Philosophen selbst haben in ihrem
Leben höhere Weisheit und nicht
die kalt-kluge Tugendhaftigkeit.
Ihr Lebensbild ist reicher und
complicirter, die Sokratiker
simplificiren und banalisiren. |
6 [16]
Die dreigegliederte
Geschichte des Dithyrambus:
1 der arionischedaraus die
ältere Tragödie
2 der agonale
Staats-Dithyrambparallel die zahme
Tragödie
3 der mimetische, genialisch-wüst.
6 [17]
Mehrfach ist bei den Griechen eine ältere
Form die höhere z. B. beim Dithyramb
und der Tragödie. Die Gefahr der
Griechen lag im Virtuosenthum
aller Art; mit Sokrates beginnen die
Lebensvirtuosen, Socrates, der neuere
Dithyramb, die neuere Tragödie, die Erfindung
des Rhetors!
Der Rhetor ist eine griechische
Erfindung! der späteren Zeit.
Sie haben die Form an sich
erfunden (und auch den Philosophen dazu).
Wie ist der Kampf Platos gegen
die Rhetorik zu verstehen? Er beneidet
ihren Einfluss.
Das ältere Griechenthum hat seine
Kräfte in der Reihe von Philosophen
offenbart. Mit Socrates bricht
diese Offenbarung ab: er versucht sich
selbst zu erzeugen und alle Tradition
abzuweisen.
Meine allgemeine Aufgabe: zu zeigen,
wie Leben Philosophie und Kunst ein
tieferes und verwandtschaftliches
Verhältniss zu einander haben können,
ohne dass die Philosophie flach ist und
das Leben des Philosophen lügenhaft
wird.
Herrlich ist, dass die alten
Philosophen so frei leben konnten,
ohne dabei zu Narren und Virtuosen
zu werden. Die Freiheit des
Individuums war unermesslich gross.
Der falsche Gegensatz von vita
practica und contemplativa ist asiatisch.
Die Griechen verstanden es besser.
6 [18]
Man kann diese älteren Philosophen
darstellen als solche, die die
griechische Luft und Sitte als Bann
und Schranke fühlen: also
Selbstbefreier (Kampf des Heraclit gegen
Homer und Hesiod, Pythagoras gegen die
Verweltlichung, alle gegen den Mythus,
besonders Democrit). Sie haben eine
Lücke in ihrer Natur, gegenüber dem
griechischen Künstler und wohl auch
Staatsmann.
Ich fasse sie wie die Vorläufer
einer Reformation der Griechen:
aber nicht des Socrates. Vielmehr kam
ihre Reformation nicht, bei Pythagoras
blieb es sectenhaft. Eine Gruppe von
Erscheinungen tragen alle diesen
Reformations-Geistdie Entwicklung
der Tragödie. Der misslungene
Reformator ist Empedocles;
als es ihm misslang, blieb nur noch
Socrates übrig. So ist die Feindschaft
des Aristoteles gegen Empedocles sehr
begreiflich.
EmpedoclesFreistaatUmänderung
des Lebensvolksthümliche
ReformVersuch mit Hülfe der
grossen hellenischen Feste.
Die Tragödie war ebenfalls ein
Mittel. Pindar?
Sie haben ihren Philosophen und
Reformator nicht gefunden, man vergleiche
Plato: der ist durch Socrates abgelenkt.
Versuch einer Characteristik Platos ohne
Socrates. Tragödietiefe Auffassung
der Liebereine Naturkeine
fanatische Abkehr: offenbar waren die
Griechen im Begriff einen noch
höheren Typus des Menschen zu
finden, als die früheren waren; da
schnitt die Scheere dazwischen. Es bleibt
beim tragischen Zeitalter der
Griechen.
6 [19]
1. Bild der Hellenen hinsichtlich
ihrer Gefahren und Verderbnisse.
2. Gegenbild der tragischen Strömungen
dagegen. Neue Deutung des Mythus.
3. Die Ansätze zu Reformatoren. Versuche
das Weltbild zu gewinnen.
4. Die EntscheidungSokrates. Der abgelenkte
Plato.
6 [20]
Die Leidenschaft bei Mimnermus, der
Hass gegen das Alter.
Die tiefe Melancholie bei Pindar: nur
wenn ein Strahl von oben kommt, leuchtet
das Menschenleben.
Die Welt vom Leiden aus zu
verstehen ist das Tragische in der
Tragödie.
6 [21]
Thalesdas Unmythische.
AnaximanderVergehen und
Entstehen in der Natur moralisch als
Schuld und Strafe.
HeraclitGesetzmässigkeit und
Gerechtigkeit in der Welt.
Parmenidesdie andere Welt hinter
dieser; diese als Problem.
AnaxagorasWeltenbaumeister.
Empedoclesblinde Liebe und
blinder Hass; das tief Unvernünftige im
Vernünftigsten der Welt.
Democritdie Welt ist ganz ohne
Vernunft und Trieb, zusammengeschüttelt.
Alle Götter und Mythen unnütz.
Socrates: da bleibt mir nichts als ich
mir selbst; Angst um sich selbst wird die
Seele der Philosophie.
Platos Versuch, alles zu Ende zu
denken und der Erlöser zu sein.
6 [22]
Es sind die Personen zu schildern: so
wie ich Heraclit geschildert habe. Das
Historische mit hineinzuflechten.
6 [23]
In der ganzen Welt herrscht die Allmählichkeit,
bei den Griechen geht es schnell
vorwärts, aber auch furchtbar schnell
abwärts. Als der hellenische Genius
seine höchsten Typen erschöpft hatte,
da sank der Grieche auf das
Geschwindeste. Es musste nur einmal eine
Unterbrechung eintreten, und die grosse
Lebensform nicht mehr ausgefüllt werden:
sofort war es vorbei;
gerade wie bei der Tragödie. Ein
einziger mächtiger Querkopf wie
Socratesda war der Riss unheilbar.
In ihm vollzieht sich die
Selbstzerstörung der Griechen. Ich
glaube, es macht, dass er der Sohn eines
Bildhauers war.
Wenn einmal diese bildenden Künste
reden würden, sie würden uns
oberflächlich erscheinen; in Socrates,
dem Sohne des Bildhauers, kam ihre
Oberflächlichkeit heraus.
6 [24]
Die Menschen sind witziger
geworden während des Mittelalters; das
Rechnen nach zwei Maassen, die
Spitzfindigkeit des Gewissens, die
Auslegung der Schrift sind die Mittel
gewesen. Diese Art Schärfung des
Geistes durch den Druck einer
Hierarchie und Theologie fehlte dem
Alterthum. Vielmehr sind die Griechen
umgekehrt unter der grossen Freiheit des
Gedankens vielgläubisch und flach
gewesen, man fing nach Belieben an und
hörte nach Belieben auf, etwas zu
glauben. Dafür fehlt ihnen die Lust am
verdrehten Scharfsinn, und damit die
beliebteste Art Witz aus der neueren
Zeit. Die Griechen waren wenig witzig;
darum hat man solches Aufheben von der
Ironie des Socrates gemacht. Ich finde
Plato darin oft etwas täppisch.
6 [25]
Die Griechen waren mit Empedocles und
Democrit auf dem besten Weg die
menschliche Existenz, ihre Unvernunft,
ihr Leiden richtig zu taxiren; dazu
sind sie nie gelangt, Dank Socrates.
Der unbefangene Blick auf die Menschen
fehlt allen Sokratikern, die greuliche
Abstracta das Gute, das
Gerechte im Kopf haben. Man lese
Schopenhauer und frage sich, warum es den
Alten an einem solchen Tief- und
Freiblick gefehlt hathaben müsste?
Das sehe ich nicht ein. Im Gegentheil.
Sie verlieren durch Socrates die
Unbefangenheit. Ihre Mythen und
Tragödien sind viel weiser als die
Ethiken Platos und
Aristoteles; und ihre, stoischen
und epikurischen Menschen
sind arm, gegen ihre älteren
Dichter und Staatsmänner.
6 [26]
Socrates Wirkung:
1) er zerstörte die Unbefangenheit
des ethischen Urtheils,
2) vernichtete die Wissenschaft,
3) hatte keinen Sinn für die Kunst,
4) riss das Individuum heraus aus dem
historischen Verbande,
5) dialectische Rederei und
Geschwätzigkeit befördert.
6 [27]
Ich glaube nicht mehr an die naturgemässe
Entwicklung der Griechen: sie
waren viel zu begabt, um in jener
schrittweisen Manier, allmählich
zu sein, wie es der Stein und die
Dummheit sind. Die Perserkriege sind das
nationale Unglück: der Erfolg war zu
gross, alle schlimmen Triebe brachen
heraus, das tyrannische Gelüst ganz
Hellas zu beherrschen wandelte einzelne
Männer und einzelne Städte an. Mit der
Herrschaft von Athen (auf geistigem
Gebiete) sind eine Menge Kräfte
erdrückt worden; man denke nur, wie
unproductiv Athen für Philosophie lange
Zeit war. Pindar wäre als Athener nicht
möglich gewesen. Simonides zeigt es. Und
Empedocles wäre es auch nicht, Heraclit
nicht. Alle grossen Musiker kommen fast
von Aussen. Die athenische Tragödie ist
nicht die höchste Form, die man denken
könnte. Den Helden derselben fehlt doch
das Pindarische gar zu sehr. Überhaupt:
wie grässlich war es, dass der Kampf
gerade zwischen Sparta und Athen
ausbrechen musstedas kann gar nicht
tief genug betrachtet werden. Die
geistige Herrschaft Athens war die
Verhinderung jener Reformation. Man
muss sich einmal dahinein denken, wo
diese Herrschaft noch gar nicht da war:
nothwendig war sie nicht, sie wurde es
erst in Folge der Perserkriege, d. h.
erst, nachdem es die physische politische
Macht zeigte. Milet war z. B. viel
begabter, Agrigent auch.
6 [28]
Der Tyrann, der thun kann wozu er Lust
hat, d. h. der Grieche, der durch keine
Gewalt in Schranken gehalten wird, ist
ein ganz maassloses Wesen: er
stürzt die Gebräuche des Vaterlands um,
thut den Weibern Gewalt an und tödtet
Menschen nach Willkür. [Vgl. George Grote, Geschichte Griechenlands. Aus dem Englischen übertragen von Nicolaus Napoleon Wilhelm Meißner, Dr. phil. und vom sechsten Bande an fortgesetzt von Eduard Höpfner. Bd. 2. Leipzig: Dyk, 1851: 11-12. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: George Grote.] Ebenso
zügellos ist der tyrannische Freigeist,
vor dem die Griechen ebenfalls Angst
haben. KönigshassZeichen der
demokratischen Gesinnung. Ich glaube: die
Reformation wäre möglich gewesen, wenn
ein Tyrann ein Empedocles gewesen wäre.
Plato sprach mit seiner Forderung des
Philosophen auf dem Throne einen ehemals möglichen
Gedanken aus: er fand den Einfall,
nachdem die Zeit, ihn zu verwirklichen,
vorüber war. Periander?
6 [29]
Ohne den Tyrannen Pisistratus hätten
die Athener keine Tragödie gehabt: denn
Solon war dagegen, aber die Lust daran
war einmal geweckt. Was wollte
Pisistratus mit diesen grossen
Trauer-erregungen?
Solons Abneigung gegen die Tragödie:
man denke an die Beschränkungen der
Trauerfestlichkeiten bei Todesfällen,
das Verbieten von Threnoi. Bei den
milesischen Frauen wird :"<4iÎ<
BX<h@l erwähnt.
Nach der Anecdote ist es die Verstellung
welche Solon missfällt; das
unkünstlerische Naturell des Atheners
zeigt sich.
Kleisthenes, Periander und Pisistratus
die Beförderer der Tragödie als einer
Volkslustbarkeit, der Lust :"<4iÎ<
BX<h@l. Solon will Mässigung. [Vgl. Plutarch, Solon, 21. In: Plutarch's Werke. Bdch. 2. Stuttgart: Metzler, 1827:253f.]
6 [30]
Die centralisirenden Tendenzen, durch
die Perserkriege entstanden: ihrer haben
sich Sparta und Athen bemächtigt.
Dagegen war 776560 davon nichts da:
die Cultur der Polis blühte; ich meine,
ohne Perserkriege hätte man die
Centralisationsidee durch eine Reformation
des Geistes bekommenPythagoras?
Auf die Einheit der Feste und des
Cultus kam es damals an: hier hätte auch
die Reform begonnen. Der Gedanke einer
panhellenischen Tragödieda
wäre noch eine unendlich reichere Kraft
entwickelt worden. Warum kam es nicht
dazu? Nachdem Korinth Sikyon und Athen
diese Kunst entwickelt hatten.
6 [31]
Der grösste Verlust, der die
Menschheit treffen kann, ist ein
Nichtzustandekommen der höchsten
Lebenstypen. So etwas ist damals
geschehen. Eine scharfe Parallele
zwischen diesem Ideal und dem
christlichen. Zu benutzen die Bemerkung
Schopenhauers: vorzügliche und
edle Menschen werden jener Erziehung des
Schicksals bald inne und fügen sich
bildsam und dankbar in dieselbe; sie sehn
ein, dass in der Welt wohl Belehrung,
aber nicht Glück zu finden sei und sagen
endlich mit Petrarca ,altro diletto, che
mparar, non provo. Es kann
damit sogar dahin kommen, dass sie ihren
Wünschen und Bestrebungen
gewissermaassen nur noch zum Schein und
tändelnd nachgehn, eigentlich aber und
im Ernst ihres Innern, bloss Belehrung
erwarten; welches ihnen alsdann einen
beschaulichen, genialen, erhabenen
Anstrich giebt.Parerga I 439. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig: Brockhaus, 1874:439.]
Damit vergleiche man die Socratiker
und die Jagd nach Glück! [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig: Brockhaus, 1874:434f.]
6 [32]
Die entsetzliche Unterredung der
Athener mit den Meliern bei Thucydides!
Es musste bei solchen Gesinnungen das
Hellenische zu Grunde gehen, durch Angst
auf allen Seiten. Z. B. wie der Athener
sagt: was das Wohlwollen der
Götter betrifft, so werden wir nicht im
Nachtheil sein; denn wir verlangen und
thun nichts, was ausser der menschlichen
Art liegt, weder in Bezug auf den Glauben
an die Götter noch auch in dem, was die
Menschen für sich selbst
wünschen. [Vgl. Thukydides, Thukydides Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Übersetzt von Dr. Adolf Wahrmund. Zweite verbesserte, in den Anmerkungen vermehrte Auflage. Buch V, 105. Stuttgart: Krais & Hoffmann, 1864:69.]
6 [33]
Luther: ich habe kein besser
Werk denn Zorn und Eifer: denn wenn ich
wohl dichten, schreiben, beten und
predigen will, so muss ich zornig sein,
da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein
Verstand wird geschärft und alle
unlustigen Gedanken und Anfechtungen
weichen. [Vgl. Friedrich Gottlieb Welcker, Kleine Schriften. Th. 1. Zur griechischen Litteraturgeschichte. Bonn: Weber, 1844:76. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Friedrich Gottlieb Welcker.]
6 [34]
Es ist eine schöne Wahrheit, dass
einem, dem Besserwerden oder Erkennung
Lebensziele geworden sind, alle Dinge zum
Besten dienen. Aber doch nur beschränkt
wahr: ein Erkennenwollender zu
ermüdendster Arbeit gezwungen, ein
Besserwerdender durch Krankheiten
entnervt und zerrüttet! Im Ganzen mag es
gelten: die anscheinende Absichtlichkeit
des Schicksals ist die That des
Einzelnen, [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig: Brockhaus, 1874:215ff.] der sein Leben zurechtlegt und
aus allem lernt, Erkenntniss saugend wie
die Biene Honig. Das Schicksal, aber,
welches ein Volk trifft, trifft ein
Ganzes, welches nicht so seine Existenz
überdenken und mit Zielen versehen kann;
und so ist die Absichtlichkeit bei
Völkern eine Erschwindelung von
Grübelköpfen, nichts ist leichter als
die Nichtabsichtlichkeit zu zeigen z. B.
daran, dass eine Zeit im vollsten
Aufblühen plötzlich von einem
Schneefall betroffen wird, dass alles
stirbt. Es ist darin ganz so dumm wie in
der Natur. Bis zu einem Grad setzt wohl
jedes Volk selbst unter den
ungünstigsten Verhältnissen etwas
durch, was an seine Begabung erinnert.
Aber damit es sein Bestes leisten
könne, müssen einige Unfälle nicht
eintreten. Die Griechen haben ihr Bestes
nicht geleistet.
Auch die Athener wären etwas Höheres
geworden ohne den politischen Furor seit
den Perserkriegen: man denke an
Aeschylus, der aus der vorpersischen Zeit
stammt und der mit den Athenern seiner
Zeit unzufrieden war.
6 [35]
Durch die Ungunst der Lage der
griechischen Städte nach den
Perserkriegen sind viele günstige
Bedingungen zum Entstehen und zur
Entwicklung grosser Einzelner beseitigt
worden: und so hängt allerdings die
Erzeugung des Genius am Schicksal der
Völker. Denn Ansätze zu Genies
sind sehr häufig, aber sehr selten das
Zusammentreffen aller nöthigsten
Begünstigungen.
Diese Reformation der Hellenen, wie
ich sie träume, wäre ein wunderbarer
Boden für die Erzeugung von Genien
geworden: wie es noch nie einen gab. Das
wäre zu beschreiben. Da ist uns
unsägliches verloren gegangen.
6 [36]
Die höhere sittliche Natur der
Hellenen zeigt sich in ihrer Ganzheit und
Vereinfachtheit; dadurch dass sie den
Menschen vereinfacht zeigen,
erfreuen sie uns, wie der Anblick der
Thiere.
6 [37]
Das Streben der Philosophen geht
dahin, zu verstehen, was seine
Mitmenschen nur leben. Während sie ihr
Dasein sich deuten und seine Gefahren
verstehen, deuten sie zugleich auch ihrem
Volke ihr Dasein.
Ein neues Weltbild an Stelle
des volksthümlichen will der
Philosoph setzen.
6 [38]
Thales Städtebund:
er sah das Verhängniss der Polis und sah
den Mythus als das Fundament der Polis.
Brach er den Mythus, dann vielleicht auch
die Polis. Thales als Staatsmann. Kampf
gegen die Polis.
Heraclits Stellung zu den Persern:
er war über die Gefahr des Hellenischen
und Barbarischen klar.
Anaximander als Coloniengründer.
Parmenides als Gesetzgeber.
Empedocles der Democrat, der sociale
Reformen im Schilde führt.
6 [39]
Die Verführer der Philosophen sind
die Worte, sie zappeln in den Netzen der
Sprache.
6 [40]
Die Macht des Einzelnen ist
ausserordentlich in Griechenland: Städte
gründen, Gesetze geben.
6 [41]
Wissenschaft ergründet den
Naturverlauf, kann aber niemals dem
Menschen befehlen. Neigung Liebe
Lust Unlust Erhebung
Erschöpfungdas kennt alles die
Wissenschaft nicht. Das was der Mensch
lebt und erlebt, muss er sich
irgendworaus deuten; dadurch
abschätzen. Die Religionen haben ihre
Kraft [darin],
dass sie Werthmesser sind,
Maassstäbe. Im Mythus gesehen sieht ein
Ereigniss anders aus. Die Deutung der
Religionen hat das an sich, dass sie
menschliches Leben nach menschenartigen
Idealen misst.
6 [42]
Aeschylus hat vergebens gelebt
und gekämpft: er kam zu spät. Das ist
das Tragische in der griechischen
Geschichte: die grössten wie
Demosthenes kommen zu spät, um das Volk
herauszuheben.
Aeschylus verbürgt auch eine Höhe
des griechischen Geistes, die mit ihm
ausstirbt.
6 [43]
Man bewundert jetzt das Evangelium der
Schildkröteach, die Griechen
liefen zu rasch. Ich suche nicht nach
glücklichen Zeiten in der Geschichte,
aber nach solchen, welche einen
günstigen Boden für die Erzeugung
des Genius bieten. Da finde ich die
Zeiten vor den Perserkriegen. Man kann
sie nicht genau genug kennen lernen.
6 [44]
- Diese Philosophen isolirt für
sich.
- Dann als Zeugen für das
Hellenische. (Ihre Philosophien
Hadesschatten des griechischen
Wesens.)
- Dann als Kämpfer gegen die
Gefahren des Hellenischen.
- Dann im Verlauf der hellenischen
Geschichte als misslungene
Reformatoren.
- Dann im Gegensatz zu Socrates und
den Secten, und zu der vita
contempl[ativa,]
als Versuche eine Lebensform
zu gewinnen, die noch nicht
gewonnen ist.
6 [45]
Manche Menschen leben ein dramatisches
Leben, manche ein episches, manche
ein unkünstlerisches und verworrenes.
Die griechische Geschichte hat durch die
Perserkriege einen daemon ex machina.
6 [46]
Bei Anaxagoras: der <@Øl ist
ein hg@l
ex machina.
6 [47]
Versuch einer Volkscultur.
Verschwendung des kostbarsten Griechengeistes
und Griechenblutes! Daran ist zu
zeigen, wie die Menschen viel besonnener
leben lernen müssen. Die Tyrannen des
Geistes in Griechenland sind fast immer
ermordet worden, und haben nur spärliche
Nachkommenschaft gehabt. Andre Zeiten
haben ihre Kraft gezeigt im zu Ende
Denken und im alle Möglichkeiten
Verfolgen Eines grossen Gedankens: die
christlichen z. B. Aber bei den Griechen
war diese Übermacht zu erlangen sehr
schwer; alles war da in Feindschaft unter
einander. Stadtcultur allein bis jetzt bewiesenjetzt
noch leben wir davon.
Stadt-cultur
Welt-cultur
Volks-cultur: wie schwach bei den
Griechen, eigentlich doch nur die
athenische Stadtcultur, verblasst.
6 [48]
1. Es kommt wohl für jeden eine
Stunde, wo er mit Verwunderung vor sich
selbst fragt: Wie lebt man nur! Und man
lebt doch!eine Stunde, wo er zu
begreifen anfängt, dass er eine
Erfindsamkeit besitzt von der gleichen
Art wie er sie an der Pflanze bewundert,
die sich windet und klettert und endlich
sich etwas Licht erzwingt und ein wenig
Erdreich dazu und so ihr Theil Freude in
einem unwirthlichen Boden sich selber
schafft. In den Beschreibungen die einer
von seinem Leben macht, giebt es immer
solchen Punct, wo man Staunt, wie hier
die Pflanze noch leben kann und wie sie
doch mit einer unerschütterlichen
Tapferkeit daran geht. Nun giebt es
Lebensläufte, wo die Schwierigkeiten ins
Ungeheure gewachsen sind, die der Denker;
und hier muss man, wo etwas davon
erzählt wird, aufmerksam hinhören, denn
hier vernimmt man etwas von Möglichkeiten
des Lebens, von denen nur zu hören
Glück und Kraft bringt und auf das Leben
der Späteren Licht herabgiesst, hier ist
alles so erfinderisch, besonnen,
verwegen, verzweifelt und voller
Hoffnung, wie etwa die Reisen der
grössten Weltumsegler und auch in der
That etwas von der gleichen Art,
Umsegelungen der entlegensten und
gefährlichsten Bereiche des Lebens. Das
Erstaunliche in solchen Lebensläuften
liegt darin, dass zwei feindselige, nach
verschiedenen Richtungen hin drängende
Triebe hier gezwungen werden, gleichsam
unter Einem Joche zu gehen; der welcher
das Erkennen will, muss den Boden, auf
dem der Mensch lebt, immer wieder
verlassen und sich ins Ungewisse wagen,
und der Trieb, der das Leben will, muss
immer wieder sich zu einer ungefähr
sicheren Stelle hintasten, auf der sich
stehen lässt; wir werden an James Cook
erinnert, der sich mit dem Senkblei in
der Hand durch eine Kette von Klippen
hindurch tasten musste, drei Monate lang:
und dessen Gefahren oft so anwuchsen,
dass er sogar in einer Lage, die er kurz
vorher für eine der gefährlichsten
gehalten hatte, gerne wieder Schutz
suchte. Lichtenberg IV 152. [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, "Einige Lebensumstände von Capt. James Cook, grösstentheils aus schriftl. Nachrichten einiger seiner Bekannten gezogen." In: Georg Christoph Lichtenberg. Vermischte Schriften. Bd. 4. Göttingen, Dieterich, 1867:152.] Jener Kampf
zwischen Leben und Erkennen wird um so
grösser, jenes unter Einem Joch Gehen um
so seltsamer sein, je mächtiger beide
Triebe sind, also je voller und
blühender das Leben, und wiederum je
unersättlicher das Erkennen ist und je
begehrlicher es zu allen Abenteuern
hindrängt.
2. Ich werde darum nicht satt, mir
eine Reihe von Denkern vor die Seele zu
stellen, von denen jeder einzelne jene
Unbegreiflichkeit an sich hat und jene
Verwunderung erwecken muss, wie er gerade
seine Möglichkeit des Lebens fand: die
Denker, welche in der kräftigsten und
fruchtbarsten Zeit Griechenlands, in dem
Jahrhundert vor den Perserkriegen und
während derselben lebten: denn diese
Denker haben sogar schöne
Möglichkeiten des Lebens entdeckt;
und es scheint mir, dass die späteren
Griechen das Beste davon vergessen haben:
und welches Volk könnte bis jetzt sagen,
es habe sie wiederentdeckt? Man
vergleiche die Denker anderer Zeiten und
andrer Völker mit jener Reihe von
Gestalten, die mit Thales beginnt und mit
Democrit endet, ja man stelle Socrates
und seine Schüler und alle die
Sectenhäupter des späteren
Griechenlands neben jene Altgriechen
hinnun wir wollen es in dieser
Schrift thun und hoffentlich werden es
andere noch besser thun: immerhin glaube
ich, dass jede Betrachtung mit diesem
Ausrufe enden wird: Wie schön sind sie!
Ich sehe keine verzerrten und wüsten
Gestalten darunter, keine pfäffischen
Gesichter, keine entfleischten
Wüsten-Einsiedler, keine fanatischen
Schönfärber der gegenwärtigen Dinge,
keine theologisirenden Falschmünzer,
keine gedrückten und blassen Gelehrten:
ich sehe auch jene nicht darunter, die es
mit dem Heil ihrer Seele oder
mit der Frage: was ist das Glück, so
wichtig nehmen, dass sie Welt und
Mitmenschen darüber vergessen. Wer
diese Möglichkeiten des Lebens
wieder entdecken könnte! Dichter und
Historiker sollten über dieser Aufgabe
Wüten: denn solche Menschen sind zu
selten, dass man sie laufen lassen
könnte. Vielmehr sollte man sich gar
nicht eher Ruhe geben, als bis man ihre
Bilder nachgeschaffen und sie hundertfach
an die Wand gemalt hatund ist man
so weit,dann freilich wird man sich
erst recht nicht Ruhe geben. Denn unserer
so erfinderischen Zeit fehlt noch immer
gerade jene Erfindung, welche die alten
Philosophen gemacht haben müssen: woher
käme sonst ihre wunderwürdige
Schönheit! woher unsre
Hässlichkeit! Denn was ist
Schönheit, wenn nicht das von uns
erblickte Spiegelbild einer
ausserordentlichen Freude der Natur,
darüber dass eine neue fruchtbare
Möglichkeit des Lebens entdeckt ist? Und
was ist Hässlichkeit, wenn nicht ihr
Missmuth über sich selbst, ihr Zweifel,
ob sie die Kunst zum Leben zu verführen,
wirklich noch verstelle?
3. Die griechische Philosophie scheint
mit einem ungereimten Einfalle zu
beginnen, mit dem Satze, daß das Wasser
der Ursprung und der Mutterschooß aller
Dinge sei; ist es wirklich nöthig, darf
man sich fragen, hierbei stehen zu
bleiben und sich ernst zu besinnen?
Ja, und aus drei Gründen: erstens weil
der Satz etwas vom Ursprung der Dinge
aussagt, zweitens weil er dies ohne Bild
und mythische Fabelei thut und endlich
drittens, weil in ihm, wenngleich nur im
Zustande der Verpuppung, der Gedanke
enthalten ist: Alles ist eins. Der
erstgenannte Grund läßt Thales noch in
der Gemeinschaft mit Religiösen und
Abergläubischen, der zweite nimmt ihn
aus dieser Gesellschaft heraus und zeigt
ihn als ersten Naturforscher, auf den
dritten Grund hin gilt Thales als der
erste griechische Philosoph. In Thales
siegt zum ersten Male der
wissenschaftliche Mensch über den
mythischen und wieder der weise Mensch
über den wissenschaftlichen.
6 [49]
Wie war es nur möglich, daß sich
Thales vom Mythus lossagte! Thales als
Staatsmann! Hier muß etwas vorgefallen
sein. War die Polis der Brennpunkt des
hellenischen Willens und beruhte sie auf
dem Mythus, so heißt den Mythus aufgeben
soviel wie den alten Polisbegriff
aufgeben. Nun wissen wir, daß Thales die
Gründung einer Eidgenossenschaft von
Städten vorschlug, aber nicht
durchsetzte: er scheiterte an dem alten
mythischen Polisbegriff. Zugleich ahnte
er die ungeheure Gefahr Griechenlands,
wenn diese isolirende Macht des Mythus
die Städte getrennt hielt. In der That:
hätte Thales seine Eidgenossenschaft zu
Stande gebracht, so wäre Griechenland
vom Perserkriege verschont geblieben, und
damit auch vom Athener-Siege und
Übergewicht. Um die Veränderung des
Polisbegriffs und die Schaffung einer
panhellenischen Gesinnung bemühen sich
alle ältern Philosophen. Heraklit
scheint sogar die Schranke zwischen
Barbarisch und Hellenisch niedergerissen
zu haben, um größere Freiheit zu
schaffen und die engen Anschauungen
vorwärts zu bringen. Die Bedeutung
des Wassers und des Meeres für den
Griechen.
6 [50]
Thales:
was trieb ihn zur Wissenschaft
und Weisheit? Vor allem
aber der Kampf gegen den Mythus.
Gegen die Polis, die auf ihm
fundirt ist. Einziges Mittel das
Hellenische zu schützen; die
Perserkriege abzuwenden. Bei
allen Philosophen ein
panhellenischer Zweck. |
Anaximander.
Kampf gegen den Mythus, insofern
er verweichlicht und verflacht
und so die Griechen in Gefahr
bringt. |
Heraclit.
Kampf gegen den Mythus, insofern
er die Griechen isolirt und sie
den Barbaren entgegenstellt. Er
denkt über eine Weltordnung
nach, die überhellenisch ist. |
Parmenides.
Theoretische Geringschätzung der
Welt, als einer Täuschung. Kampf
gegen das Phantastische und
Wogende der ganzen
Weltbetrachtung: er will dem
Menschen Ruhe geben gegen die
politische Leidenschaft.
Gesetzgeber. |
Anaxagoras.
Die Welt als unvernünftig, aber
doch maassvoll und schön: so
sollte der Mensch sein und so
fand er ihn in den älteren
Athenern, Aeschylus usw. Seine
Philosophie Spiegelbild des
älteren Athen: Gesetzgebung für
Menschen, die keine brauchen. |
Empedocles.
Panhellenischer Reformator,
pythagoreisches Leben,
wissenschaftlich begründet. Neue
Mythologie. Einsicht in die
Unvernunft der beiden Triebe,
Liebe und Hass. Liebe Democratie
Gütergemeinschaft. Vergleich mit
Tragödie. |
Democrit:
die Welt ist unvernünftig, auch
nicht maassvoll und schön,
sondern nur nothwendig.
Unbedingte Beseitigung alles
Mythischen. Die Welt ist
begreiflich. Er will die Polis
(an Stelle des epikurischen
Gartens); das war eine
Möglichkeit des hellenischen
Lebens. |
Socrates.
Die tragische Geschwindigkeit der
Griechen. Die älteren
Philosophen haben nicht gewirkt.
Die Lebensvirtuosen: die älteren
Philosophen denken immer ikarisch. |
6 [51]
Die Griechen sind gewiß nie überschätzt
worden: denn da müßte man sie doch auch
so geschätzt haben, wie sie es
verdienen; aber gerade das ist
unmöglich. Wie sollten wir ihnen gerecht
in der Schätzung sein können! Nur falsch
geschätzt haben wir sie.
|