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The Will to Power
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Frühjahr-Sommer 1875 5 [101-200]

5 [101]

Homer, in der Welt der hellenischen Zwietracht, der panhellenische Grieche.

Der Wettkampf der Griechen zeigt sich auch im Symposion, in der Form des geistreichen Gesprächs.

5 [102]

Das Genie macht alle Halbbegabten tributpflichtig: so schickten Perser selbst ihre Gesandtschaften an die griechischen Orakel.

5 [103]

Zu einem griechischen Polytheismus gehört viel Geist; es ist freilich sparsamer mit dem Geist umgegangen, wenn man nur einen [Gott] hat. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [104]

Die Moral beruht nicht auf der Religion, sondern auf der poliV. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

Es gab nur Priester einzelner Götter, nicht Vertreter der ganzen Religion: also keinen Stand. Ebenfalls keine heilige Urkunde.

5 [105]

Die “leichtlebenden Götter” ist die höchste Verschönerung, die der Welt zu Theil geworden ist; im Gefühl wie schwer es sich lebt.

5 [106]

Ob es viele begabte Philologen gegeben hat? Ich zweifle; denn zu langsam bricht sich die Vernunft bei ihnen Bahn (Handschriften zählen usw.)—Wort- und Sach-philologie—dummer Streit!—und dann die übertriebene Schätzung irgend eines klugen Mannes unter ihnen!

5 [107]

Das Humanistische ist von Karl dem Großen mächtig angepflanzt worden, während er gegen das Heidnische mit den härtesten Zwangsmitteln vorgieng. Die antike Mythologie wurde verbreitet, die deutsche wie ein Verbreden behandelt. Ich glaube, hier lag das Gefühl zu Grunde, daß das Christenthum eben schon fertig geworden sei mit der antiken Religion: man fürchtete sie nicht, aber benutzte die auf ihr ruhende Cultur des Alterthums. Die deutsche Götterwelt fürchtete man.— Eine große Äußerlichkeit in der Auffassung des Alterthums, fast nur die Schätzung seiner formalen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse, muß hier gepflanzt worden sein. Es sind die Mächte zu nennen, die einer Vertiefung der Einsicht ins Alterthum im Wege gestanden haben. Zunächst 1) wird die alterthümliche Cultur als Reizmittel zur Annahme des Christenthums benutzt: es ist gleichsam das Draufgeld für die Bekehrung. Die Versüßung beim Einschlürfen jenes Giftes. Dann war man der Hülfsmittel der antiken Cultur benöthigt, 2) als Waffen zum geistigen Schutz des Christenthums. Selbst die Reformation konnte die klassischen Studien in diesem Sinne nicht entbehren. Dagegen beginnt nun die Renaissance mit reinerem Sinne die klassischen Studien, aber durchaus auch im christenfeindlichen; sie zeigt ein Erwachen der Ehrlichkeit im Süden, wie die Reformation im Norden. Vertragen konnten sie sich freilich nicht, denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich. Es ist der Kirche im Ganzen gelungen, den klassischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im übrigen Priester oder sonst so etwas ist: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren. Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie befreite: aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu Gute.

5 [108]

Das Unvolksthümliche der neuen Renaissance-Kultur! Eine furchtbare Thatsache!

5 [109]

Was ist nun jetzt noch das Alterthum, gegenüber moderner Kunst und Wissenschaft und Philosophie? Nicht mehr die Schatzkammer aller Kenntnisse, in Natur- und Geschichtskenntniß ist es überwunden. Die Unterdrückung durch die Kirche ist gebrochen. Es ist jetzt eine reinere Kenntniß des Alterthums möglich, aber auch wohl eine wirkungslosere, schwächere?— Das ist richtig: wenn man die Wirkung nur als Massenwirkung kennt; aber für die Erzeugung der größten Geister ist das Alterthum mehr wie je kräftig. Goethe als deutscher Poet-Philolog; Wagner als noch höhere Stufe: Hellblick für die einzig würdige Stellung der Kunst; nie hat ein antikes Werk so mächtig gewirkt, wie die Oresteia auf Wagner. Der objektive-kastrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Kulturkämpfer ist, und daneben reine Wissenschaft treibt, ist freilich eine traurige Erscheinung.

5 [110]

Bentley war zugleich defensor fidei; und Scaliger war freilich ein Feind der Jesuiten, und sehr angegriffen. [Vgl. Friedrich August Wolf, Kleine Schriften in Lateinischer und Deutscher Sprache. Von Fr. Aug. Wolf. Hrsg. durch G. Bernhardy. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1869:1033ff.]

5 [111]

Zwischen unsrer höchsten Kunst und Philosophie und zwischen dem wahrhaft erkannten ältern Alterthum ist kein Widerspruch: sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen.

5 [112]

Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen Mythologie. Natürlich hat ein Phantast auch noch keinen Anspruch: man muß griechische Phantasie und etwas von griechischer Frömmigkeit haben. Selbst der Dichter braucht in sich nicht consequent zu sein: überhaupt ist Consequenz das Letzte, wozu sich die Griechen verstehen würden.

5 [113]

Fast alle griechischen Gottheiten sind angesammelte, eine Schicht wieder über der andern, bald verwachsen, bald nothdürftig verkittet. Dies wissenschaftlich auseinanderzuklauben scheint mir kaum möglich: denn dafür kann es keine gute Methode geben: der elende Schluß der Analogie ist hier schon ein sehr guter Schluß.

5 [114]

Wie fern muß man den Griechen sein, um ihnen eine solche bornirte Autochthonie zuzutrauen wie O. Müller! Wie christlich, um mit Welcker die Griechen für ursprüngliche Monotheisten zu halten! Wie quälen sich die Philologen mit der Frage ab, ob Homer geschrieben habe, ohne den viel höheren Satz zu begreifen, daß die griechische Kunst eine lange innere Feindseligkeit gegen Schriftwesen hatte und nicht gelesen werden wollte. [Vgl. Karl Otfried Müller, Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexander's. Stuttgart: Heitz, 1875. Friedrich Gottlieb Welcker, Kleine Schriften. Th. 4. Zur Griechischen Litteratur. Bonn: Weber, 1861.]

5 [115]

Die Griechen waren von der Lust zu fabuliren gräßlich geplagt. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien. 6. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 3. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853:146. "Vom Vater hab ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Von Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren."] Gar im Alltagsleben war es schwer, sie vom “mythischen,” vom Schwindeln fernzuhalten: wie alles Poetenvolk eine solche Lust zur Lüge hat, nebst der Unschuld dazu. Die benachbarten Völker fanden das wohl verzweifelt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [116]

Auf Bergen zu wohnen, viel Reisen, schnell von der Stelle zu kommen—darin kann man sich jetzt schon den griechischen Göttern gleichsetzen. Wir wissen auch das Vergangne und beinahe das Zukünftige. Was ein Grieche sagen würde, wenn er uns sähe? —

5 [117]

Die Götter machen den Menschen noch böser; so ist Menschennatur. Wen wir nicht mögen, von dem wünschen wir, daß er schlechter werde und freuen uns dann. Es gehört dies in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist, weil sie überall das pudendum ist, das jeder fühlt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [118]

Der Panhellene Homer hat seine Lust an der Leichtfertigkeit der Götter; aber erstaunlich ist, wie er ihnen wieder Würde geben kann. Dieses ungeheure Sich-Aufschwingen ist aber griechisch.

5 [119]

Thukydides über den Staat.

Das tyrannische Element in jedem Aristokraten großgenährt: das verräth sich in den Gebeten (Xenophon Socrates). [Vgl. Xenophon, [Memorabilia, I 3, 2]. Lipsiae: Sumtibus librariae Hahnianae, 1829:25.] Sie hielten sich gegenseitig in Schranken: das Volk hielt wieder alle zusammen in Schranken, so gut es gieng.

5 [120]

Woher stammt nun der Neid der Götter? man glaubt nicht an ein ruhend stilles Glück, sondern nur an ein übermüthiges. Es muß den Griechen schlecht zu Muthe gewesen sein, allzu leicht verwundet war ihre Seele: es erbitterte sie, den Glücklichen zu sehen. Das ist griechisch. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da mag die Schaar der Eifersüchtigen ungeheuer groß gewesen sein: traf jenes ein Unglück, so sagte man “aha! der war auch zu übermüthig.” Und jeder hätte ebenso sich benommen, wenn er das Talent gehabt hätte, übermüthig; und jeder hätte gern etwas den Gott gespielt, der das Unglück schickt.

5 [121]

Die griechischen Götter verlangten keine Sinnesänderung und waren überhaupt nicht so lästig und zudringlich: da war es auch möglich, sie ernst zu nehmen und zu glauben. Zu Homer’s Zeiten war das griechische Wesen übrigens fertig: Leichtfertigkeit der Bilder und der Phantasie ist nöthig, um das übermäßig leidenschaftliche Gemüth etwas zu beschwichtigen und zu befreien. Spricht bei ihnen der Verstand, o wie herbe und grausam erscheint das Leben! Sie täuschen sich nicht. Aber sie umspielen das Leben mit Lügen: Simonides rieth, das Leben wie ein Spiel nehmen: der Ernst war ihnen als Schmerz zu bekannt. Das Elend der Menschen ist den Göttern ein Genuß, wenn ihnen davon gesungen wird. Das wußten die Griechen, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genuße werden könne, vide tragoediam.

5 [122]

Das eigentlich wissenschaftliche Volk, das Volk der Litteratur, sind die Aegypter und nicht die Griechen. [Vgl. Friedrich August Wolf, Kleine Schriften in Lateinischer und Deutscher Sprache. Von Fr. Aug. Wolf. Hrsg. durch G. Bernhardy. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1869:818.] Was wie Wissenschaft bei den Griechen aussieht, stammt daher und später kehrt es nach Aegypten zurück, um sich mit dem alten Strome wieder zu vereinigen. Alexandrinische Cultur ist eine Verquickung von Hellenisch und Aegyptisch: und wenn die neuere Welt an die Cultur der Alten anknüpft, dann hat sie— — —

5 [123]

Der Seher muß liebevoll sein, sonst hat er kein Vertrauen bei den Menschen: v. Kassandra. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [124]

Klassische Philologie ist der Herd der flachsten Aufklärung: immer unehrlich verwendet, allmählich ganz wirkungslos geworden. Ihre Wirkung ist eine Illusion mehr am modernen Menschen. Eigentlich handelt es sich nur um einen Erzieher-Stand, der nicht aus Pfaffen besteht: hier hat der Staat sein Interesse daran.

Ihr Nutzen ist vollständig aufgebraucht; während z. B. Geschichte des Christenthums noch ihre Kraft zeigt.

5 [125]

Aus den Reden über Philologie, wenn sie von Philologen stammen, erfährt man nichts, es ist die reinste Schwätzerei z. B. Jahn (“Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland”). [Vgl. Otto Jahn, Aus der Alterthumswissenschaft. Populäre Aufsätze. Mit acht Tafeln Abbildungen und einigen Holzschnitten. Bonn: A. Marcus, 1868:1.] Gar kein Gefühl, was zu vertheidigen, was zu schützen ist: so reden Leute, die noch gar nicht darüber nachgedacht haben, daß man sie angreifen könnte.

5 [126]

Es ist gar nicht wahr, daß die Griechen nur auf dieses Leben ihre Blicke gerichtet hatten. Sie litten auch an der Todes- und Höllenangst. Aber keine Reue und Zerknirschung. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [127]

“Die frevelhafte gegenseitige Zernichtung (unvermeidlich, so lange noch eine einzige poliV leben wollte), ihr Neid gegen alles Höhere, ihre Habsucht, die Zerrüttung ihrer Sitte, die Sklavenstellung für die Frau, die Gewissenlosigkeit im Eidschwur, in Mord und Todschlag.” B[urckhardt]. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [128]

Ungeheure Kraft der Selbstüberwindung z. B. im Bürger, in Sokrates, der zu allem Bösen fähig war. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [129]

Die Eigenschaften des Genialen ohne die Genialität treffen wir bei dem Durchschnittshellenen, im Grunde alle die gefährlichsten Eigenschaften des Gemüths und des Charakters.

5 [130]

Der “Dulder” ist hellenisch. Prometheus, Herakles.

Der Heroenmythus ist panhellenisch geworden; dazu gehörte freilich ein Dichter. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [131]

Wagner bildet die innere Phantasie des Menschen aus; spätere Generationen werden Zeugen von Bildwerken sein. Die Poesie muß der bildenden Kunst voran gehen.

5 [132]

“Klassische Bildung”! Was sieht man darin! Ein Ding, das nichts wirkt außer—Befreiung von militärischen Lasten und Doktortitel!

5 [133]

Den Stand der Philologen als Problem zu empfinden.

5 [134]

Wagner ehrt seine Kunst viel zu hoch, um sich in einen Winkel zu stecken wie Schumann. Entweder unterwirft er sich dem Publikum (Rienzi) oder er unterwirft es sich. Er züchtet es heran. Auch die Kleinen wollen ein Publikum, aber sie suchen es durch unkünstlerische Mittel, etwa Presse, Hanslick usw.

5 [135]

Philologen, die von ihrer Wissenschaft reden, rühren nie an die Wurzeln, sie stellen nie die Philologie als Problem hin. Schlechtes Gewissen? oder Gedankenlosigkeit?

5 [136]

“Aufklärung” und alexandrinische Bildung ist es—besten Falls!—, was Philologen wollen. Nicht Hellenenthum.

5 [137]

Die Consequenz, die man am Gelehrten schätzt, ist den Griechen gegenüber Pedanterie.

5 [138]

Klassische Bildung! Ja wenn es nur wenigstens soviel Heidenthum wäre, wie viel Goethe an Winckelmann fand und verherrlichte—es war nicht gar zu viel. Aber nun das ganze unwahre Christenthum unserer Zeiten mit dazu, oder mitten darunter—das ist mir zu viel und ich muß mir helfen, indem ich meinen Ekel einmal darüber auslasse.— Man glaubt förmlich an Zauberei, in Betreff dieser “klassischen Bildung”; aber natürlich müßten doch die, welche das Alterthum noch am meisten haben, auch diese Bildung am meisten haben, die Philologen: aber was ist an ihnen klassisch!

5 [139]

Früher schrieb man dem Teufel oder bösen Geistern seine Anfechtungen und Lüste zu: das gilt jetzt als Mährchen. So wird es auch ein Mährchen sein, einem Gotte seine guten Regungen und Erfolge zu danken. Beides sind Erleichterungen, man machte sich’s damit bequem. Zu beweisen, wie bei der Religion ganz vornehmlich für die Bequemlichkeit gesorgt worden ist: nahe und bereite Ausreden und Ausflüchte.

5 [140]

Fünfjähriges Schweigen. Schüler Pfleger Erzieher.

5 [141]

Was ist Begabung?— Ein hohes Ziel und die Mittel dazu zu wollen.

5 [142]

Philologen sind solche Menschen, welche das dumpfe Gefühl der modernen Menschen über ihr eigenes Ungenügen benutzen, um darauf hin Geld und Brod zu erwerben.

Ich kenne sie, ich bin selber einer.

5 [143]

Die deutschen Gelehrten und sogenannten Denker, der wirklichen Geschichte fernstehend, haben die Geschichte zu ihrem Thema gemacht und, als geborene Theologen, den Nachweis ihrer Vernünftigkeit versucht. Ich fürchte, eine spätere Zeit wird als die heilloseste Mitgift diesen deutschen Beitrag zur europäischen Cultur erkennen: ihre Geschichte ist falsch!

5 [144]

Wir behandeln unsre Jünglinge als seien sie unterrichtete gereifte Männer, wenn wir ihnen die Griechen vorführen. Was eignet sich denn vom griechischen Wesen überhaupt für die Jugend? Zuletzt bleibt’s gar beim Formalen, Einzelnes vorzuführen. Sind das Betrachtungen für junge Leute? —

Die beste und höchste Gesammtvorstellung von den Alten bringen wir doch den jungen Leuten entgegen? Oder nicht? Das Lesen der Alten wird so betont.

Ich glaube, die Beschäftigung mit dem Alterthum ist in eine falsche Stufe des Lebens verlegt. Ende der zwanziger fängt es an zu dämmern.

5 [145]

Alle Schwierigkeiten des historischen Studiums einmal durch das größte Beispiel zu verdeutlichen.

In wiefern unsre Jünglinge nicht zu den Griechen passen.

Folgen der hodmüthige Anticipation

Philologie: Bildungsphilisterei
Überschätzung von Lesen und Schreiben
Ungründlichkeit
Entfremdung vom Volk und Volks-Noth.

Die Philologen selbst (und Historiker und Philosophen [und] Juristen, alles durchräuchert vom Dunste).

Es sind wirkliche Wissenschaften der Jugend beizubringen.

Ebenso wirkliche Kunst.

So wird auch, in höherem Leben, Verlangen nach wirklicher Historie dasein.

Philologe, Entstehung überhaupt und jetzt.

Die Jugend und der Philologe.

Die Folgen der Philologie.

Aufgabe für die Philologie: Untergang.

Die Inhumanität: selbst aus der Antigone, selbst aus der goethischen Iphigenie.

Der Mangel an Aufklärung.

Das Politische ist nicht für Jünglinge verständlich.

Das Dichterische—eine schlimme Anticipation.

5 [146]

Kritik der Entwicklung.

Falsche Annahme einer naturgemässen Entwicklung.

Die Entartung ist hinter jeder grossen Erscheinung her; in jedem Augenblick ist der Ansatz zum Ende da. Die Entartung liegt in dem leichten Nachmachen und Äusserlich-Verstehen der grossen Vorbilder: d. h. das Vorbild reizt die eitlern Naturen zum Nachmachen und Gleichmachen oder überbieten.

Die Kette von einem Genius zum andern ist selten eine gerade Linie: so zwischen Aeschylus und Sophocles keineswegs. Es lagen eine Masse Entwicklungswege nach Aeschylus noch offen; Sophocles schlug einen von ihnen ein.

Das Verhängnissvolle aller grossen Begabungen: sie reissen mit sich fort und veröden um sich, wie Rom in einer Einöde liegt. Viele Kräfte, embryonisch noch, werden so erdrückt.

Zu zeigen, wie überwiegend auch in Hellas die Entartung ist, wie selten und kurz das Grosse, wie mangelhaft (von der falschen Seite) geschätzt.

Wie steif müssen die Anfänge der Tragödie bei Thespis gewesen sein! d. h. die kunstmässigen Nachformungen der urwüchsigen Orgien. So war die Prosa erst sehr steif im Verhältniss zur wirklichen Rede.

Die Gefahren sind: man hat die Lust am Inhalte oder man ist gleichgültig gegen den Inhalt und erstrebt Sinnesreize des Klanges usw.

Das Agonale ist auch die Gefahr bei aller Entwicklung; es überreizt den Trieb zum Schaffen.— Der glücklichste Fall in der Entwicklung, wenn sich mehrere Genie’s gegenseitig in Schranken halten.

Ob nicht sehr viele herrliche Möglichkeiten im Keime erstickt sind? Wer würde z. B. Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da wäre?

Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig panhellenische Homer. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er verflachte, und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer.

Das Unterdrückende der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht!

Die Lust am Rausche, die Lust am Listigen, an der Rache, am Neide, an der Schmähung, an der Unzüchtigkeit—alles das wurde von den Griechen anerkannt, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das Gebäude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss. Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine mässige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung.— Das ganze System von neuer Ordnung ist dann der Staat. Er war nicht auf bestimmte Individuen, sondern auf die regulären menschlichen Eigenschaften hin construirt: es zeigt sich in seiner Gründung die Schärfe der Beobachtung und der Sinn für das Thatsächliche, besonders für das Typisch-Thatsächliche, was die Griechen zur Wissenschaft Historie Geographie usw. befähigte. Es war nicht ein beschränktes priesterliches Sittengesetz, welches bei der Gründung des Staates befahl. Woher haben die Griechen diese Freiheit? Wohl schon von Homer; aber woher hat er’s?— Die Dichter sind nicht die weisesten und logisch gebildetsten Wesen; aber sie haben die Lust am einzeln Wirklichen jeder Art und wollen es nicht verneinen, aber doch so mässigen, dass es nicht alles todt macht.

5 [147]

Die Nothwendigkeit der Entladung, der caJarsiV, ein Grundgesetz des griechischen Wesens. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

Ansammlung und Entladung in gewaltsamen, zeitlich getrennten Stössen. Ob die Tragödie daher zu erklären?

5 [148]

Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen und einmal die Gesammtabrechnung des Alterthums vorlegen. Sobald diese vorliegt, so wird es überwunden sein. Man ist viel zu stark mit allem Fehlerhaften, was uns quält, vom Alterthum abhängig, als dass man es noch lange milde behandeln wird. Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, dass das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums. Mit dem Christenthum wird auch das Alterthum abgeräumt werden.— Jetzt ist es sehr nahe hinter uns, und gerecht zu sein gewiss nicht möglich. Es ist in der scheusslichsten Weise zur Unterdrückung benutzt worden und hat die religiöse Unterdrückung unterstützt, dadurch dass es sie mit “Bildung” maskirte. Der Hauptwitz war: “das Alterthum ist durch das Christenthum überwunden worden”! Dies war eine historische Thatsache und so wurde die Beschäftigung mit ihm unschädlich. Ja es ist so plausibel, die christliche Ethik “tiefer” zu finden als Socrates! Mit Plato konnte man es schon aufnehmen! Es ist eine nochmalige Wiederkäuung desselben Kampfes, der [sich] in den ersten Jahrhunderten schon abspielte. Nur dass jetzt ein ganz blasses Gespenst an Stelle des damals recht sichtbaren Alterthums getreten ist, und freilich auch das Christenthum recht gespenstisch geworden ist. Es ist ein Kampf nach der Entscheidungsschlacht, ein Nachzittern. Zuletzt sind alle die Mächte, aus denen das Alterthum besteht, im Christenthum in der rohesten Gestalt zu Tage getreten, es ist nichts Neues, nur quantitativ extraordinär.

5 [149]

Ach es ist eine Jammergeschichte, die Geschichte der Philologie! Die ekelhafteste Gelehrsamkeit, faules unthätiges Beiseitesitzen, ängstliches Unterwerfen.— Wer hat denn etwas Freies gehabt?

5 [150]
[vgl. Menschliches, Allzumenschliches, 114]

Der religiöse Cultus ist auf das Erkaufen oder das Erbetteln der Gunst der Gottheiten zurückzuführen. Es kommt darauf an, wo man ihre Ungunst fürchtet.— Also dort, wo man nicht einen Erfolg durch eigne Kraft erringen kann oder will, sucht man übernatürliche Kräfte: also zur Erleichterung der Lebensmühe. Wo man etwas nicht durch die That wieder gut machen will oder kann, bittet man die Götter um Gnade und Verzeihung, also zur Erleichterung des bedrängten Gewissens. Die Götter sind zur Bequemlichkeit der Menschen erfunden: zuletzt noch ihr Cultus die Summe aller Erholungen und Ergötzlichkeiten.

Man nehme sie hinweg: alle Lasten sind dann schwerer, und es giebt viel weniger Leichtigkeit.— Wo die Olympier zurücktraten, da war das griechische Leben düsterer.— Wo wir forschen und arbeiten, da feiern die Griechen Feste. Sie sind die Festefeiernden.

Sie sehen über sich die Götter nicht als Herren, sich nicht als Knechte, wie die Juden. Es ist die Conception von einer glücklicheren und mächtigeren Kaste, ein Spiegelbild der gelungensten Exemplare der eignen Kaste, also ein Ideal, kein Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt sich durchaus verwandt. Es besteht gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Man denkt vornehm von sich, wenn man sich solche Götter dichtet. Und so hat auch das Erbetteln und Erkaufen ihrer Gunst etwas Vornehmes. Es ist ein Verhältniss, wie von niederem zu höherem Adel; während die Römer eine rechte Bauernreligion haben, Ängstlichkeit gegen Kobolde und Spukereien.

5 [151]

Ich will mich so der Litteratur bemächtigen, daß ich z. B.

die anagnwriseiV vergleiche
die Prologe im Drama usw.

5 [152]

Entwurf für 18 Vorlesungen

9.   Ehren bei Städten, Fürsten, Festen, Opfern usw. Tyrannen.
18.   Todesarten.
10.   Gruppen des Umgangs, des gleichen Strebens.
11.   Verbreitung durch Schülerthum.
12.   Abtrünnige Schüler.
6.   Nichtgriechen und Griechen, geographische Betheiligung.
7.   Sklaven und ganz niedere Leute.
8.   Sehr vornehme Leute.
13.   Persönliche Feindschaften, Wettkämpfe.
17.   Einfluß auf den Staat und bei Seite stehen.
14.   Verschweigen.
15.   Geringschätzen und Nichtverstehen vom Früheren.
16.   Verbreitung durch Vortrag, Reisen, Buchhandel, Bibliotheken.
2.   Unsre Verluste, Größe, Gründe des Verlustes.
5.   Die Kunstwerke für alle und die für einen bestimmten Kreis.
3.   Einige Grundsätze für das Studium der Litteratur.
1.   Kritik der Entwicklung, absoluter Werth.
4.   Fälschungen. Litterarhistorische Mythologie.

5 [153]

Ein Fürst ist immer eine Karikatur, etwas überladenes; und wenn ein Volk den Fürsten noch nöthig hat, so ist es ein Beweis, daß der politische Trieb des Einzelnen noch zu schwach ist. Wer es besser gekostet, denkt mit Ekel an das Nach-oben-Blicken, und mit Bedauern an die, welche so sich stellen müssen, als ob sie “von oben” herab blickten.

5 [154]

Wenn ich sehe wie alle Staaten jetzt die klassische Bildung fördern, so sage ich “wie unschädlich muss sie sein!” Und dann “wie nützlich muss sie sein.” Sie erwirbt diesen Staaten den Ruhm, die “freie Bildung” zu fördern. Nun sehe man die Philologen an, um diese “Freiheit” richtig zu taxiren.

5 [155]

Im religiösen Cultus ist ein früherer Culturgrad festgehalten, es sind “Überlebsel.” Die Zeiten, welche ihn feiern, sind nicht die, welche ihn erfinden. Der Gegensatz ist oft sehr bunt. Der griechische Cultus führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen.— Kann man diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder. Sie conserviren durch diese schöne Vollendung.

5 [156]

Auf immer trennt uns von der alten Cultur, dass ihre Grundlage durch und durch für uns hinfällig geworden ist. Eine Kritik der Griechen ist in sofern zugleich eine Kritik des Christenthums, denn die Grundlage im Geisterglauben, im religiösen Cultus, in der Naturverzauberung ist dieselbe.— Es giebt jetzt noch zahlreiche rückständige Stufen; aber sie sind schon im Begriff zu verfallen.

Dies wäre eine Aufgabe, das Griechenthum als unwiederbringlich zu kennzeichnen und damit auch das Christenthum und die bisherigen Fundamente unsrer Societät und Politik.

5 [157]

Aufgabe: der Tod der alten Cultur unvermeidlich: die griechische ist als Urbild zu kennzeichnen und zu zeigen, wie alle Cultur auf Vorstellungen ruht, die hinfällig sind.

Gefährliche Bedeutung der Kunst: als Bewahrerin und Galvanisirung abgestorbener und absterbender Vorstellungen. Der Historie, insofern sie uns in überwundene Gefühle zurückversetzen will. “Historisch” empfinden, “gerecht sein gegen Vergangenes” ist nur möglich, wenn wir zugleich darüber hinaus sind. Aber die Gefahr bei der hier geforderten Anempfindung ist gross: lassen wir doch die Todten ihre Todten begraben: so nehmen wir nicht selber Leichengeruch an.

5 [158]

Der Tod der alten Cultur.

  1. Bisherige Bedeutung der Alterthumsstudien, unklar, lügnerisch.
  2. Sobald sie ihr Ziel erkennen, verurtheilen sie sich zum Tode: denn ihr Ziel ist, die alte Cultur selbst als eine zu vernichtende zu beschreiben.
  3. Sammlung aller der Vorstellungen, aus denen die hellenische Cultur herausgewachsen ist. Kritik der Religion, Kunst, der Gesellschaft, des Staates, der Sitte.
  4. Die christliche ist mit verneint.
  5. Kunst und Historie—gefährlich.
  6. Ersetzung der Alterthumsstudien, die für die Jugenderziehung hinfällig geworden sind.

So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze innerlich zusammenhängende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt worden ist. An ihre Stelle muss die Wissenschaft um die Zukunft treten.

5 [159]

Der Lese- und Schreiblehrer und der Corrector sind die ersten Typen des Philologen.

5 [160]

Unsre Philologen verhalten sich zu wirklichen Erziehern, wie die Medizinmänner der Wilden zu wirklichen Ärzten. Welche Verwunderung wird eine ferne Zeit haben!

5 [161]

Alles mit Kritik.

2.   Litteratur.
2.   Religiöse Vorstellungen.
2.   Sittliche Vorstellungen.
1.   Erziehung.
1.   Verkehr, der Geschlechter, der Länder usw. der Stände.
2.   Staat.
1.   Kunst der Sprache, Begriff des Gebildeten und Ungebildeten.
2.   Die Philosophie und Wissenschaft.
1.   Über klassische Philologie und das Alterthum in der neueren Zeit.
1.   Über Griechen und Römer.
Nach 5½ Jahren, d. h. Herbst 1875—Ostern 81.
Ostern 82 + 7½ = 89½, z. B. 45—46 Jahre alt.

5 [162]

Die Dichter sind rückständige Wesen und eine Brücke zu ganz fernen Zeiten, eigentlich immer Epigonen. Sind sie also nöthig? Es ist ihnen vorzuwerfen, was der Religion vorzuwerfen ist, dass sie vorläufige Beruhigungen geben und etwas Palliativisches haben. Sie halten die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung zu arbeiten, indem sie selbst die Leidenschaft der Unbefriedigung aufheben und ableiten.

5 [163]

Die Mittel gegen Schmerz, welche die Menschen anwenden, sind vielfach Betäubungen. Religion und Kunst gehören zu den Betäubungen durch Vorstellungen. Sie gleichen aus und beschwichtigen; es ist eine Stufe der niedrigen Heilkunst seelischer Schmerzen. Beseitigung der Ursache des Leidens durch eine Annahme, z. B. wenn ein Kind gestorben, anzunehmen, es lebe noch, schöner, und es gebe einmal eine Vereinigung. So soll die Religion für den Armen da sein, mit ihrer Vertröstung.

Ist die Tragödie für den noch möglich, der keine metaphysische Welt glaubt? Man muss zeigen, wie auch das Höchste der bisherigen Menschheit auf dem Grund jener niederen Heilkunst gewachsen ist.

5 [164]

Wir sehen auf eine ziemliche Zeit Menschheit zurück; wie wird eine Menschheit einmal aussehen, welche auf uns ebenso fernher hinsicht? Welche uns noch ganz ertränkt findet in den Überbleibseln der alten Cultur. Welche nur im “Hülfreich und Gutsein” ihren Trost findet und alle andern Tröstungen abweist!— [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Das Göttliche. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 2. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853:67. "Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen."] Wächst auch die Schönheit aus der alten Cultur heraus? Ich glaube, unsre Hässlichkeit hängt von unsern metaphysischen Überbleibseln ab; unsere Verworrenheit der Sitte, unsre Schlechtigkeit der Ehen usw. ist die Ursache. Der schöne Mensch, der gesunde und mässige und unternehmende Mensch formt um sich dann auch zum Schönen, zu seinem Abbild.

5 [165]

Im griechischen Götterwesen und Cultus findet man alle Anzeichen eines rohen und düstern uralten Zustandes, in dem die Griechen etwas sehr verschiedenes geworden wären, wenn sie drin verharren mussten. Homer hat sie befreit, mit der eigenthümlichen Frivolität seiner Götter. Die Umbildung einer wilden düstern Religion zu einer homerischen ist doch das grösste Ereigniss. Nun beachte man die Gegenströmungen, das Sich-offenbaren der alten Vorstellungen, das Ergreifen verwandter, ausländischer.

1.   Rohe und düstere Urzeiten. Fetischdienst. Menschenopfer usw. Todtenangst und Dienst.
2.   Schauspiele des Cultus.
3.   Spätere Regungen und Aufleben der ältesten düsteren Religion.
4.   Die Erleichterung und Frivolität der Religion. Die Dichter Joniens.
5.   Betäubungen und Ausflüchte gegen den Schmerz und die Schwierigkeiten des Lebens.
6.   Das Deuteln und Dichten am Mythus, das Versöhnen und Mengen.
7.   Der Unglaube.
8.   Die Kunst als rückständig und gegen die Aufklärung, im Ganzen wirkend.
9.   Der Staat sucht sein Fundament, im Religiösen. Ebenso die Gesellschaft.
10.   Die Religion, um das Volk zu unterhalten, gegen Noth und Langeweile zu bewahren.

Cultus.

1.   Gebet. (Fluch, Eid.)
2.   Opfer.
3.   Ekstase und ihre Mittel. Mantik. Orakel. Beschwörung. Zauberei. Der Priester.
4.   Orientirung. (Tempelf[orm])
5.   Reinigung. (Mysterie.)
6.   Complicirte Formen: Feste mit Schauspielen.
a) Staatsculte.
b) Gent[ile] Culte
c) Häuslicher Cult
d) Todtencult.

5 [166]

Über Religion.

I   Die Liebe der Kunstgriff des Christenthums in seiner Vieldeutigkeit. (Die Geschlechtsliebe im Alterthum bei Empedokles rein gefaßt.)
II   Die christliche Liebe, auf Grund der Verachtung.
III   Die Thätigkeit des Christen im Gegensatz zu der buddhistischen Ruhe.
IV   Keine Religion der Rache und Gerechtigkeit! die Juden das schlechteste Volk.
V   Eingeschmuggelte Begriffe: stellvertretender Tod.
VI   Der Priesterstaat. Heuchler. Abneigung gegen ernste Fassung aller Probleme. (Cultus Opfer, Zwingung der Götter.)
VII   Die größte Versündigung am Verstand der Menschheit ist das historische Christenthum.
VIII   Gott ganz überflüssig.
IX   Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges.
X   Verächtlichkeit aller Motive, Unreinheit des Denkens, Grundfehler aller Typen, Stände, Bestrebungen.
XI   Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten: aber mit einem Blick erbarmensvoller Liebe gegen sich selbst. Scheidung zweier Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens. (Verachtung und Liebe, Einsicht und Gefühl gleich mächtig.) Diese Fassung der Religion fordert die Wissenschaft (als Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwäche und Ziellosigkeit der Menschen). Sie nimmt immer zu, je höher die Erkenntniß der Welt steigt.— Der Kampf mit der Nothwendigkeit—das eine Princip des Lebens. Die Einsicht in das Täuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst—das andre.

5 [167]

Das Griechenthum durch die That zu überwinden wäre die Aufgabe. Aber dazu müßte man es erst kennen!—es giebt eine Gründlichkeit, welche nur der Vorwand der Thatenlosigkeit ist. Man denke, was Goethe vom Alterthum verstand; gewiß nicht soviel als ein Philologe und doch genug, um fruchtbar mit ihm zu ringen. Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte. Überdies ist es selbst das einzige Mittel, etwas wahrhaft zu erkennen, wenn man versucht es zu machen. Man versuche alterthümlich zu leben—man kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit.— Unsre Philologen zeigen nicht, daß sie irgend worin dem Alterthum nacheifern—deshalb ist ihr Alterthum ohne Wirkung auf die Schüler.

Studium des Wetteifers (Renaissance, Goethe) und Studium der Verzweiflung!

5 [168]

Es liegt nicht viel an einem richtig emendirten Autor.

5 [169]

Das falsche Bild der Beschäftigung mit den Alten hemmt selbst die Besseren.

5 [170]

Die Wissenschaften werden vielleicht einmal von den Frauen betrieben: die Männer sollen geistig schaffen, Staaten Gesetze Kunstwerke usw.

5 [171]

Man soll das vorbildliche Alterthum nur studiren, wie man einen vorbildlichen Menschen studirt: also so viel man begreift, nachahmend, und wenn das Vorbild sehr fern ist, über die Wege und Vorbereitungen sinnend, und Mittelstadien erfindend.

Das Maaß des Studiums liegt darin: nur was zur Nachahmung reizt, was mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden. Da wäre das Richtigste: ein fortschreitender Kanon des Vorbildlichen, angepaßt für jüngere junge und ältere Menschen.

5 [172]

In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele. Aber wer sonst? Man sieht nichts von einer durchdachten Pädagogik dieser Art: wer weiß, daß es Erkenntnisse des Alterthums giebt, die Jünglingen unmittheilbar sind!

5 [173]

Der knabenhafte Charakter der Philologie: für Schüler von Lehrern erdacht.

5 [174]

Immer allgemeinere Gestalt des Vorbildlichen: erst Menschen, dann Institutionen, endlich Richtungen Absichten oder deren Mangel.

Höchste Gestalt: Überwindung des Vorbildes mit dem Rückgange von Tendenzen zu Institutionen, von Institutionen zu Menschen.

5 [175]

Die Förderung einer Wissenschaft auf Unkosten der Menschen ist die schädlichste Sache von der Welt. Der verkümmerte Mensch ist ein Rückschritt der Menschheit; er wirft in alle Zeit hinaus seinen Schatten. Es entartet die Gesinnung, die natürliche Absicht der einzelnen Wissenschaft: sie selber geht daran endlich zu Grunde; sie steht gefördert da, wirkt aber nicht, oder unmoralisch auf das Leben.

5 [176]

Menschen nicht als Sache benutzen!

5 [177]

Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen.

5 [178]

Je besser der Staat eingerichtet ist, desto matter die Menschheit.

Das Individuum unbehaglich zu machen: meine Aufgabe!

Reiz der Befreiung des Einzelnen im Kampfe!

Die geistige Höhe hat ihre Zeit in der Geschichte, vererbte Energie gehört dazu. Im idealen Staat ist es damit vorbei.

5 [179]

Die geistige Cultur Griechenlands eine Aberration des ungeheuren politischen Triebes nach arioteuein.— Die poliV höchst ablehnend gegen neue Bildung. Trotzdem existirte die Cultur.

5 [180]

Höchstes Urtheil über das Leben nur aus der höchsten Energie des Lebens, der Geist muß am weitesten von der Mattheit entfernt sein.

In der mittleren Weltgeschichte wird das Urtheil am richtigsten sein, weil da die größten Genien existiren.

Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann.

5 [181]

Walter Scott liebte die Gesellschaft, weil er erzählen wollte; er übte sich, wie ein Virtuose sieben Stunden Klavier übt.

5 [182]

Rettet euren Genius! soll den Leuten zugerufen werden, befreit ihn! Thut alles, um ihn zu entfesseln!

5 [183]

Die Matten, geistig Armen dürfen über das Leben nicht urtheilen.

5 [184]

Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen.— Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.

5 [185]

Man muß von der Zukunft der Menschheit nicht erwarten, was bestimmte Vergangenheiten erzeugten z. B. die Wirkungen des religiösen Gefühls. Vielleicht ist der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellekts möglich, mit der es vorbei ist. Selbst die Höhe der Intelligenz ist vielleicht einem Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen. Ungeheure Energie des Willens, auf geistige Bestrebungen übertragen (aberration)—nur möglich, so lange jene Wildheit und Energie groß gezüchtet war. Dem Ziel der Menschheit kommt sie vielleicht auf der Mitte ihres Weges näher als am Ende.— Es könnten Kräfte, von denen die Kunst bedingt ist, aussterben z. B. die Lust am Lügen, am Undeutlichen Symbolischen usw., auch der Rausch könnte in Mißachtung kommen. Und im Grunde: ist das Leben im idealen Staate geordnet, dann ist keine Dichtung der Gegenwart mehr möglich: besten Falls blickt sie mit Sehnsucht zurück, nach den Zeiten des unidealen Staates.

5 [186]

Kindheit und Knabenalter hat sein Ziel in sich, ist nicht Stufe.

5 [187]

Ich wünsche ein Buch über die Lebensweise der Gelehrten.

5 [188]

Ziele.

Der Werth des Lebens kann nur durch den höchsten Intellekt und das wärmste Herz gemessen werden.

Wie sind die höchsten Intelligenzen zu erzeugen? —

Die Ziele der menschlichen Wohlfahrt im Groben sind ganz andre: als die höchste Intelligenz zu erzeugen. Das Wohlleben gilt viel zu hoch und ist ganz äußerlich genommen, auch die Schule und die Erziehung.

Der ideale Staat, den die Socialisten träumen, zerstört das Fundament der großen Intelligenzen, die starke Energie.

Wir müssen wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte, daß wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist das höchste Resultat der kräftigsten Spannung im Chaos.

Nun will das wärmste Herz Beseitigung jenes gewaltsamen, wilden Charakters; während es doch selbst aus ihm hervorgieng! Es will Beseitigung seines Fundaments! Das heißt, es ist nicht intelligent.

Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person zusammen sein. Die höchste Intelligenz ist höher als alle Güte, auch diese ist nur etwas bei der Gesammtrechnung des Lebens Abzuschätzendes, der Weise steht darüber.

Der Weise muß den Gedanken der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an der Wiedererzeugung seines Typus liegt. Mindestens kann er nicht den idealen Staat fördern.— Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts auf. Consequent! Sein Gegenbild würde vielleicht der Erzeugung von Christus’ hinderlich sein.— Fatum tristissimum generis humani!

5 [189]

Proœmium

Wäre ich schon frei, so würde ich das ganze Ringen nicht nöthig haben, sondern mich zu einem Werke oder Thun wenden, an dem ich meine ganze Kraft erproben könnte.— Jetzt darf ich nur hoffen, allmählich frei zu werden; und ich spüre bis jetzt, daß ich es immer mehr werde. So kommt auch wohl mein Tag der eigentlichen Arbeit noch, und die Vorbereitung zu den olympischen Spielen ist vorüber.—

5 [190]

Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als schmählich für den gelten, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr. —

5 [191]

Wer zum Bewußtsein über die Erzeugung des Genies käme und die Art, wie die Natur verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde so böse und so rücksichtslos wie die Natur selbst sein müssen.

5 [192]

Ich finde Xenophons Memorabilien sehr interessant. Man muß Sokrates’ Vorbild noch anerkennen: es ist sofort noch nachahmbar. Die andrapodistai eautwn stechen mich. [Vgl. Xenophon, [Memorabilia, I 2, 6]. Lipsiae: Sumtibus librariae Hahnianae, 1829:9.]

5 [193]

Platon’s Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatura, eine Überladung.

5 [194]

Mißhandelt die Menschen, treibt sie zum Äußersten, und das durch Jahrtausende—da springt, durch eine Verirrung der Natur, durch einen abspringenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal der Genius hervor.— So redet die Geschichte zu mir. Schreckliches Gesicht! Weh! Ich ertrag’ dich nicht! — [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. 1. V. 485. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 11. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1854:23.]

5 [195]

Die Griechen der Kaiserzeit sind matt und nehmen sich ganz gut als Typen der zukünftigen Menschheit aus. Sie erscheinen menschenfreundlich, namentlich gegen Rom, verabscheuen Gladiatorenkämpfe usw.— Es ist ganz falsch, von da aus Schlüsse auf ihre Jugendzeit zu machen.

5 [196]

Homer ist in der vermenschlichten Götterwelt so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen, daß er tief unreligiös gewesen sein muß. Er verkehrt wie der Bildhauer mit seinem Thon und Marmor.

5 [197]

Die griechische Polis ist ausschließend gegen die Bildung, ihr politischer Trieb war auf dieser Seite höchst lähmend und stabilisirend. Es sollte keine Geschichte kein Werden in der Bildung sein, sie sollte ein für allemal fest sein. So wollte es später auch Plato. Trotz der Polis entstand die höhere Bildung: indirekt sogar durch sie, weil der Ehrgeiz des Individuums durch sie aufs Höchste gehoben wurde. Gerieth ein Grieche auf die geistige Auszeichnung, so ging er bis in’s letzte Extrem.

5 [198]

Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). Die dorische Wanderung ist ein Nachstoß, nachdem schon früher alles allmählich überfluthet war. Was sind “Rassegriechen”? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind?

5 [199]

Denkt man an die ungeheure Masse von Sklaven auf dem Festlande, so waren Griechen immer nur sporadisch zu finden. Eine höhere Kaste von Nichtthuern Politikern usw. Ihre Feindschaften hielten sie in leiblicher und geistiger Spannung. Sie mußten ihre Superiorität an Qualität festhalten—das war ihr Zauber über die Massen. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

5 [200]

Die Rede des Perikles ein großes optimistisches Trugbild, die Abendröthe, bei der man den schlimmen Tag vergißt—die Nacht kommt hinterdrein. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

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