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Frühjahr-Sommer 1875 5 [1-100]
5 [1]
Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung:
selbst das was uns zu diesem angeblichen
Anfang trieb, ist Wirkung und Resultat des
Vorhergehenden. Aber ein so starkes und entscheidendes
Abbrechen wird ein Zeichen sein von einem starken und
übermässigen ehemaligen Fördern. Der Radikalismus
unserer Meinungen und unsrer Wahrheit ist die Folge vom
Radikalismus unsrer Irrthümer und Fehler. Das grosse
Gesetz der Umsetzungdarin liegt aller
sogenannte Fortschritt. Die moralische
Beurtheilung müsste im Grund immer dieselbe sein. Nun
nimmt aber der Verstand und die Erfahrung zu, die
moralische Qualität setzt sich immer nur um. Zuletzt
schätzen wir eine Lehre doch nach ihren Wirkungen,
ob sie z. B. viel Menschen getödtet oder verdreht
gemacht; das ist nicht gerecht.
5 [2]
Das Alterthum in Schriften aufbauneine noch ganz
ungelöste Aufgabe.
5 [3]
Der Glaube an die Individualitätob man ihn wohl
wegdenken könnte! Jedenfalls gehn wir Zeiten entgegen,
in denen die menschlichen Meinungen sehr uniformirt
werden möchten; aber damit werden die Individuen
ähnlicher, doch immer getrennter. Die Feindseligkeit
zeigt sich dann bei kleinen Differenzen um so schärfer.
5 [4]
Es ist genau neben einander zu stellen, weshalb
Griechen und Philologen sich schwer verstehen müssen:
dabei ist die Characteristik der Griechen mit zu geben.
5 [5]
Alle Religionen beruhen zuletzt doch auf gewissen
physikalischen Annahmen, die vorher da sind und
sich die Religion anpassen. Z. B. im Christenthum
Gegensatz von Leib und Seele, unbedingte Wichtigkeit der
Erde als der Welt, wunderhaftes Geschehen in
der Natur. Sind erst die entgegengesetzten Anschauungen
zur Herrschaft gekommen, z. B. strenges Naturgesetz,
Hülflosigkeit und Überflüssigkeit aller Götter,
engste Auffassung des Seelischen als eines leiblichen
Prozessesso ist es vorbei. Nun ruht das
ganze Griechenthum auf solchen Anschauungen.
5 [6]
Bei Thukydides die angenehme Empfindung mit der man
ein Schloss durch den Schlüssel bewegt: allmählich
schwieriges Nachgeben, aber geordnet und sein Ziel immer
mehr erreichend.
Bei Aristoteles sieht man die weissen Knochen.
5 [7]
Auch die Tyrannen des Geistes sind fast immer ermordet
worden und haben nur spärliche Nachkommenschaft.
5 [8]
Übertragung der Bewegung ist Vererbung: das
sage man sich bei der Wirkung der Griechen auf
Philologen.
5 [9]
Wie man nur ein ganzes Volk verherrlichen und preisen
kann! Die Einzelnen sind es, auch bei den Griechen.
5 [10]
Es ist sehr viel Carikatur auch bei den
Griechen, z. B. die Sorge ums eigne Glück bei den
Cynikern.
5 [11]
Mich interessirt allein das Verhältniss des Volkes
zur Erziehung des Einzelnen; und da ist allerdings bei
den Griechen Einiges sehr günstig für die Entwicklung
des Einzelnen, doch nicht aus Güte des Volkes,
sondern aus dem Kampf der bösen Triebe.
Man kann durch glückliche Erfindungen das grosse
Individuum noch ganz anders und höher erziehen, als
es bis jetzt durch die Zufälle erzogen wurde. Da
liegen meine Hoffnungen: Züchtung der bedeutenden
Menschen.
5 [12]
Die griechische Geschichte ist immer bisher
optimistisch geschrieben worden.
5 [13]
Der Wunsch, irgend etwas Sicheres in der Aesthetik zu
haben, verführte zur Anbetung des Aristoteles; ich
glaube, es lässt sich allmählich beweisen, dass er
nichts von der Kunst versteht, und dass nur die klugen
Gespräche der Athener es sind, deren Wiederhall wir so
bei ihm bewundern.
5 [14]
Die Griechen sind interessant, und ganz toll wichtig,
weil sie eine solche Menge von grossen Einzelnen haben.
Wie war das möglich? Das muss man studiren.
5 [15]
Mit dem Verschwinden des Christenthums ist auch ein
guter Theil des Alterthums unverständlicher geworden,
zumal die ganze religiöse Basis des Lebens. Schon
deshalb ist eine Nachahmung des Alterthums eine falsche
Tendenz; Betrüger oder Betrogene sind die Philologen,
welche noch daran denken. Wir leben in der Periode, wo
verschiedene Lebensauffassungen neben einander stehen:
deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine,
deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen
zugleich leidet. Zukunftsmensch: der europäische Mensch.
5 [16]
Geschichte kennen heisst jetzt: zu erkennen, wie es
alle Menschen sich zu leicht gemacht haben, welche an
eine Vorsehung glauben. Es giebt keine. Wenn die
menschlichen Dinge wild und unordentlich gehen, so glaube
nicht, dass ein Gott damit etwas bezweckt oder dass er
sie zulässt. Wir können ungefähr übersehn, dass die
Geschichte des Christenthums auf Erden einer der
schrecklichsten Theile der Geschichte ist und dass es
damit einmal vorbei sein muss. Freilich ragte im
Christenthum gerade auch das Alterthum in unsre Zeit
hinein; und wenn es schwindet, schwindet das
Verständniss des Alterthums noch mehr. Jetzt ist die
beste Zeit es zu erkennen; uns leitet kein Vorurtheil zu
Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es
noch und in ihm auch noch das Alterthum, soweit es auf
einer Linie steht.
5 [17]
Der Untergang der Philologen-Poeten liegt zu gutem
Theile in ihrer persönlichen Verderbniss; ihre Art
wächst später weiter, wie z. B. Goethe und Leopardi
solche Erscheinungen sind. Hinter ihnen pflügen die
reinen Philologen-Gelehrten nach. Die ganze Art hebt an
mit der Sophistik des zweiten Jahrhunderts.
5 [18]
Am Ausgange des Alterthums stehen noch ganz
unchristliche Gestalten, die schöner reiner und
harmonischer sind als alle christlichen, z. B. Proklos;
die Mystik sein Synkretismos sind Dinge, die ihm gerade
das Christenthum nicht vorwerfen darf. Jedenfalls wäre
es mein Wunsch, mit denen zusammenzuleben. Denen
gegenüber erscheint das Christenthum nur wie die roheste
Vergröberung für den Haufen und die Ruchlosen
hergerichtet.
5 [19]
Alle Richtungen der Historie haben am Alterthum sich
versucht; die kritische Betrachtung ist
allein noch übrig. Nur muss man darunter nicht
Conjectural- und litterarhistorische Kritik verstehen.
5 [20]
Die Unvernunft in den menschlichen Dingen ans Licht
zu bringen, ohne jede Verschämtheitdas
ist das Ziel unserer Brüder und Genossen. Dann
wird man zu unterscheiden haben, was davon fundamental
und unverbesserlich ist, was noch verbessert werden kann.
Aber jede Vorsehung ist fernzuhalten: denn
das ist ein Begriff, wodurch man es sich zu leicht macht.
Den Athem dieser Absicht wünsche ich der
Wissenschaft einzuflössen. Die Kenntniss des Menschen
vorwärts zu bringen! Das Gute und Vernünftige im
Menschen ist zufällig oder scheinbar oder die Gegenseite
von etwas sehr Unvernünftigem. Es wird irgendwann einmal
gar keinen Gedanken geben als Erziehung.
5 [21]
Ergebung in die Nothwendigkeit lehre ich
nichtdenn man müsste sie erst als nothwendig
kennen. Vielleicht giebt es vielfache Nothwendigkeiten;
aber so im Allgemeinen ist es doch auch ein Faulbett.
5 [22]
Zeichen und Wunder werden nicht
geglaubt; nur eine Vorsehung braucht so
etwas. Es giebt keine Hülfe weder im Gebet, noch in der
Askese, noch in der Vision. Wenn dies alles Religion ist,
so giebt es keine Religion mehr für mich.
Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen
darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius;
Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst
Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten,
ein Überschuss von Liebe über die Selbstliebe hinaus.
Religion ist Lieben über uns hinaus. Das
Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe über sich
hinaus und ein volkommnes.
5 [23]
Die Dummheit des Willens ist der grösste
Gedanke Schopenhauers, wenn man Gedanken nach der
Macht beurtheilt. Man kann an Hartmann sehen, wie er
sofort diesen Gedanken wieder eskamotirt. Etwas Dummes
wird niemand Gott nennen.
5 [24]
Also das ist das Neue alles zukünftigen Welttreibens:
man darf die Menschen nicht mehr mit religiösen
Vorstellungen beherrschen. Ob sie sich schlechter
zeigen werden? Ich finde nicht, dass sie sich unter dem
Joche der Religionen gut und sittlich ausnehmen; ich
stehe nicht auf Seite von Demopheles. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:347ff.] Die Furcht vor dem
Jenseits und dann überhaupt die religiöse Furcht vor
göttlichen Strafen werden die Menschen schwerlich besser
gemacht haben.
5 [25]
Wo etwas Grosses erscheint, mit etwas längerer Dauer,
da können wir vorher eine sorgfältige Züchtung
wahrnehmen z. B. bei den Griechen. Wie erlangten so viele
Menschen bei ihnen Freiheit?
Erzieher erziehn! Aber die ersten müssen sich
selbst erziehn! Und für diese schreibe ich.
5 [26]
Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so
leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch
seinwas ist da verneint! Dieser Begriff wird jetzt
tiefer: es ist vor allem erkennende Verneinung, gerecht
sein wollende Verneinung, nicht mehr in Bausch und
Bogen.
Wer heute gut und heilig sein wollte, hätte es
schwerer: er dürfte, um gut zu sein, nicht so ungerecht
gegen das Wissen sein, wie es die frühern
Heiligen waren. Es müsste ein Wissender-Heiliger sein:
Liebe und Weisheit verbindend; und mit einem Glauben an
Götter oder Halbgötter oder Vorsehungen dürfte er
nichts mehr zu schaffen haben; wie damit auch die
indischen Heiligen nichts zu thun hatten. Auch müsste er
gesund sein und sich gesund erhalten; sonst würde er
gegen sich misstrauisch werden müssen. Und vielleicht
würde er gar nicht einem asketisch Heiligen ähnlich
sehen, vielleicht gar einem Lebemanne.
5 [27]
Alle Arten die Geschichte zu behandeln sind schon am
Alterthum versucht. Vor allem aber hat man genug
erfahren, um nun die Geschichte des Alterthums sich zu
nutze zu machenohne am Alterthum zu Grunde zu
gehen.
5 [28]
Die deutsche Reformation entfernte uns vom Alterthum:
musste sie das? Sie entdeckte den alten Widerspruch
Heidenthum, Christenthum von neuem; sie war
zugleich ein Protest gegen die dekorative Cultur der
Renaissance; es war ein Sieg über dieselbe Cultur, die
beim Beginn des Christenthums besiegt wurde.
5 [29]
Das Christenthum hat in Betreff der weltlichen
Dinge gerade die gröberen Ansichten der Alten
conservirt. Alles Edlere in Ehe, Sklaverei Staat ist
unchristlich. Es brauchte die entstellenden Züge
der Weltlichkeit, um sich zu beweisen.
5 [30]
Ich träume eine Genossenschaft von Menschen, welche
unbedingt sind, keine Schonung kennen und
Vernichter heissen wollen: sie
halten an alles den Maassstab ihrer Kritik und opfern
sich der Wahrheit. Das Schlimme und Falsche soll
ans Licht! Wir wollen nicht vorzeitig bauen,
wir wissen nicht, ob wir je bauen können und
ob es nicht das Beste ist, nicht zu bauen. Es
giebt faule Pessimisten, Resignistenzu denen
wollen wir nicht gehören.
5 [31]
Eigenthümlich bedeutende Stellung der Philologen: ein
ganzer Stand, dem die Jugend anvertraut ist und der ein
spezielles Alterthum zu erforschen hat. Offenbar legt man
den höchsten Werth auf dies Alterthum. Wenn man das
Alterthum aber falsch abgeschätzt hätte, so fehlte
plötzlich das Fundament für die erhabene Stellung der
Philologen. Jedenfalls hat man das Alterthum sehr verschieden
abgeschätzt: und darnach hat sich jedesmal die
Würdigung der Philologen gerichtet. Dieser Stand hat
seine Kraft aus starken Vorurtheilen zu Gunsten des
Alterthums geschöpft. Dies ist zu schildern.
Jetzt fühlt er, daß wenn endlich diesen Vorurtheilen
gründlich widersprochen würde und das Alterthum rein
geschildert würde, sofort jenes günstige Vorurtheil
für die Philologen schwände. Es ist also ein
Standesinteresse, reinere Einsichten über das
Alterthum nicht aufkommen zu lassen: zumal die
Einsicht, daß das Alterthum im tiefsten Sinne
unzeitgemäß macht.
Es ist zweitens ein Standesinteresse der Philologen,
keine höhere Anschauung über den Lehrerberuf
aufkommen zu lassen als die, welcher sie
entsprechen können.
5 [32]
Hoffentlich giebt es einige, die es als Problem
empfinden, warum gerade die Philologen die Erzieher der
edleren Jugend sein sollen. Es wird vielleicht nicht
immer so sein. An sich wäre es ja viel
natürlicher,daß man der Jugend geographische
naturwissenschaftliche national-ökonomische gesellige
Grundsätze beibrächte, daß man sie allmählich zur
Betrachtung des Lebens führte und endlich, spät, die
merkwürdigsten Vergangenheiten vorführte. So daß Kenntniß
des Alterthums zum letzten gehörte, was einer
erwürbe; ist diese Stellung des Alterthums
in der Erziehung die für das Alterthum ehrenvollere
oder die gewöhnliche? Jetzt wird es als
Propädeutik benutzt, für Denken, Sprechen und
Schreiben; es gab eine Zeit, wo es der
Inbegriff der weltlichen Kenntnisse war und wo man eben
das durch seine Erlernung erreichen wollte, was
man jetzt durch jenen eben beschriebenen Studienplan
erreichen würde (der sich eben den vorgerückten
Kenntnissen der Zeit entsprechend verwandelt hat).
Also hat sich die innere Absicht im philologischen
Lehrerthum ganz umgeändert, einst war dies die materiale
Belehrung, jetzt nur noch die formale.
5 [33]
Die Verbindung von Humanismus und religiösem
Rationalismus ist als sächsisch gut von Köchly
hervorgehoben: der Typus dieses Philologen ist G. Hermann. [Vgl. Hermann Koechly, Gottfried Hermann. Zu seinem hundertjährigen Geburtstage. Heidelberg: Winter, 1874.]
5 [34]
Ist es wahr, daß der Philolog, insofern er das
Alterthum zur formalen Bildung verwendet, selber formal
gebildet ist?
Aber was für ein Gegensatz! formal und material! Hier
ist Material Kenntnisse, Fakta. Formal die Art, wie man
denkt spricht schreibt, also wie man Kenntnisse
sich verschafft und sie verbreitet.
5 [35]
Wäre die Aufgabe des Philologen formal zu erziehen,
so müßte er gehen, tanzen, sprechen, singen, sich
gebaren, sich unterreden lehren: und das lernte man auch
ungefähr bei den formalen Erziehern des zweiten und
dritten Jahrhunderts. Aber so denkt man immer nur an die
Erziehung des wissenschaftlichen Menschen und da
heißt formal: denken und schreiben, kaum
reden.
5 [36]
Ausgewählte Punkte aus dem Alterthum: z.B. die Macht
das Feuer der Schwung in der antiken Musikempfindung
(durch die erste pythische Ode), die Reinheit in der
historischen Empfindung und die Dankbarkeit für die
Segnungen der Cultur, Feuer-Feste, Getreidefeste. Die
Veredelung der Eifersucht, die Griechen das
eifersüchtigste Volk. Der Selbstmord, Haß gegen das
Alter z. B. gegen die Armut. Empedokles über die
Geschlechtsliebe.
5 [37]
Ich beklage eine Erziehung, bei der es
nicht erreicht ist, Wagner zu verstehen, bei der
Schopenhauer rauh und mißtönend klingt; diese Erziehung
ist verfehlt.
5 [38]
Es giebt einen alten Kampf der Deutschen gegen das
Alterthum d. h. gegen die alte Cultur: es ist gewiß,
daß gerade das Beste und Tiefste am Deutschen sich mit
sträubt. Aber der Hauptpunkt ist doch der: jenes
Sträuben ist nur im Recht, wenn man die romanisirte
Cultur meint: diese ist aber bereits der Abfall einer
viel tieferen und edleren. Gegen diese sträubt sich der
Deutsche mit Unrecht.
5 [39]
Ich sehe in den Philologen eine verschworene
Gesellschaft, welche die Jugend an der antiken
Cultur erziehn will; ich würde es verstehen, wenn
man diese Gesellschaft und ihre Absichten von allen
Seiten kritisirte. Da käme nun viel darauf an, zu
wissen, was diese Philologen unter antiker Cultur verstehen.
Sähe ich z. B. daß sie gegen die deutsche Philosophie
und Musik erzögen, so würde ich sie bekämpfen
oder auch die antike Cultur bekämpfen, ersteres
vielleicht, indem ich zeigte, daß die Philologen die
antike Cultur nicht verstanden haben. Nun sehe ich 1)
großen Wechsel in der Schätzung der antiken Cultur bei
den Philologen 2) etwas tief Unantikes in ihnen selbst,
Unfreies 3) Unklarheit darüber, welche antike
Cultur sie meinen 4) in den Mitteln vieles Verkehrte z.
B. Gelehrsamkeit 5) Verquickung mit Christenthum.
5 [40]
Gesunder gewandter Körper, reiner und tiefer Sinn in
der Betrachtung des Allernächsten, freie Männlichkeit,
Glaube an gute Rasse und gute Erziehung, kriegerische
Tüchtigkeit, Eifersucht im aristeuein,
Lust an den Künsten, Ehre der freien Muße, Sinn für
freie Individuen, für das Symbolische.
5 [41]
Ein Colleg über System der
Cultur.
1. Das endlich klar erkannte Ziel der Cultur.
2. Geschichte der Ziele und ihrer Irrthümer.
3. Mittel der Cultur.
5 [42]
Pläne für das Leben.
Unzeitgemässe Betrachtungen. Für die
dreissiger Jahre meines Lebens.
Die Griechen. Für die vierziger Jahre meines
Lebens.
Reden an die Menschheit. Für die fünfziger Jahre
meines Lebens.
5 [43]
Wenn das Gymnasium zur Wissenschaft erziehn soll, so
sagt man jetzt: es kann die Vorbereitung zu keiner
Wissenschaft mehr geben, so umfassend sind die
Wissenschaften geworden. Folglich muß man allgemein d.
h. für alle Wissenschaften d. h. für die Wissenschaftlichkeit
vorbereitenund dazu dienen die klassischen
Studien! Wunderlicher Sprung! Eine sehr
verzweifelte Rechtfertigung! Das Bestehende soll Recht
behalten, auch nachdem klar eingesehn ist, daß das
bisherige Recht, auf dem es ruhte, zum Unrecht geworden
ist.
5 [44]
In Betreff der Einfachheit des Alterthums steht es wie
bei der Einfachheit des Stils; es ist das Höchste, was
man erkennt und nachzuahmen hat, aber auch das Letzte.
Man denke daß die klassische Prosa der Griechen auch ein
spätes Resultat ist.
5 [45]
Das Fundament, auf dem noch die allgemeine Schätzung
des Alterthums ruht, sind Vorurtheile: werden diese
beseitigt, so dürfte sich die Schätzung in einen
gründlichen Haß verwandeln. Hegen nun die Philologen
auch diese Vorurtheile? Dann kennen sie das Alterthum
nicht. Hegen sie dieselben nichtwie steht es dann
mit ihrer Redlichkeit! Wo zeigt sich aber, daß sie
dieselben absichtlich zerstörten?
5 [46]
Kennen die Philologen die Gegenwart? Ihre Urtheile
über dieselbe als perikleische, ihre Verirrungen des
Urtheils, wenn sie von einem Homer congenialen Geiste
Freitags reden usw., ihr Nachlaufen, wenn die Litteraten
voranlaufen. Ihr Verzichtleisten auf den heidnischen
Sinn, den gerade Goethe als den alterthümlichen bei
Winckelmann entdeckt hatte.
5 [47]
Unsre Stellung zum klassischen Alterthum ist im
Grunde die tiefe Ursache der Unproduktivität der
modernen Cultur: denn diesen ganzen modernen
Culturbegriff haben wir von den hellenisirten Römern.
Wir müssen im Alterthum selbst scheiden: indem
wir seine einzig produktive Zeit kennen lernen, verurtheilen
wir auch die ganze alexandrinisch-romanische Cultur. Aber
zugleich verurtheilen wir unsre ganze Stellung zum
Alterthum und unsre Philologie zugleich!
5 [48]
Es giebt eine Art, sich philologisch zu beschäftigen,
und sie ist häufig: man wirft sich besinnungslos auf
irgend ein Gebiet oder wird geworfen: von da aus sucht
man rechts und links, findet manches Gute und
Neueaber in einer unbewachten Stunde sagt man sich
doch: was Teufel geht mich gerade das alles an?
Inzwischen ist man alt geworden, hat sich gewöhnt und
läuft so weiter, so wie in der Ehe.
5 [49]
Im Ganzen hat die heutige Philologie den leitenden
Faden verloren: die welche sie früher leiteten, werden
verneint; aber im Ganzen beruht die ganze Wirkung und
Schätzung noch auf dem Ruhm jener frühern Leitung, z.
B. dem der Humanität.
5 [50]
Es giebt Dinge, über die das Alterthum belehrt, über
welche ich nicht leicht mich öffentlich aussprechen
möchte.
5 [51]
Es ist fast lächerlich zu sehen, wie fast alle
Wissenschaften und Künste in der neueren Zeit wieder aus
dem Samen aufwachsen, der aus dem Alterthum zugeweht
wird, und wie das Christenthum hier nur als ein böser
Frost einer langen Nacht erscheint, bei dem man glauben
sollte, es sei für alle Zeit mit der Vernunft und der
Ehrlichkeit der Menschen vorbei. Der Kampf gegen den
natürlichen Menschen hat den unnatürlichen Menschen
gemacht.
5 [52]
Wie man die jungen Leute mit den Alten bekannt macht,
hat was Respektwidriges: noch schlimmer, es ist
unpädagogisch; denn was soll die Bekanntschaft mit
Dingen, die der Jüngling unmöglich mit Bewußtsein
verehren kann! Vielleicht soll er lernen zu glauben;
und desshalb wünsche ich es nicht.
5 [53]
Denen, welche sagen: aber immer bleibt doch noch
das Alterthum übrig als Objekt reiner Wissenschaft, wenn
auch alle seine erziehenden Absichten geleugnet
werden, ist zu antworten: was ist hier reine
Wissenschaft! Es sollen Handlungen und Eigenschaften beurtheilt
werden, und der Urtheilende muß darüber stehen: also
hättet ihr erst dafür zu sorgen, das Alterthum zu
überwinden. Bevor ihr das nicht thut, ist eure
Wissenschaft nicht rein, sondern unrein und beschränkt:
wie es zu spüren ist.
5 [54]
Wie es mit den Philologen steht, zeigt ihre
Gleichgültigkeit beim Erscheinen Wagners. Sie
hätten noch mehr lernen können als durch
Goetheund sie haben noch keinen Blick hingeworfen.
Das zeigt: es führt sie kein starkes Bedürfniß: sonst
hätten sie ein Gefühl, wo ihre Nahrung zu finden ist.
5 [55]
Plan zu Capitel 1.
Philologie von allen Wissenschaften bis jetzt
die begünstigtste: grösste Zahl, seit Jahrhunderten,
bei allen Völkern gefördert, die Obhut der edlern
Jugend und somit den schönsten Anlass sich
fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken.
Wodurch hat sie diese Macht erlangt?
Aufzählung der verschiedenen Vorurtheile zu ihren
Gunsten.
Wie nun, wenn diese als Vorurtheile erkannt
würden? Bliebe wohl Philologie noch übrig, wenn
man das Interesse eines Standes, eines Broterwerbes
abrechnete? Wenn man über das Alterthum und seine
Befähigung für die Gegenwart zu erziehn die Wahrheit
sagte?
Cap. 2.
Um darauf zu antworten, sehe man die Erziehung zum
Philologen, seine Genesis an: er entsteht gar nicht mehr,
wenn jenes Interesse wegfällt.
Cap. 3.
Wenn unsre öffentliche Welt dahinter käme, was das
Alterthum eigentlich für ein unzeitgemässes Ding ist,
so würden die Philologen nicht mehr zu Erziehern
bestellt.
Cap. 4.
Nur das Bündniss zwischen den Philologen, die das
Alterthum nicht verstehen wollen oder nicht können,
und der öffentlichen Meinung, die von Vorurtheilen über
dasselbe geleitet ist, giebt der Philologie jetzt noch
ihre Kraft.
Cap. 5.
Der zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre
ganze Cultur und damit auch als Vernichter des
Philologen-Standes.
5 [56]
Würde die Philologie noch als Wissenschaft existiren,
wenn ihre Diener nicht Erzieher, mit Besoldungen wären?
In Italien gab es solche. Wer stellt einen Deutschen
neben Leopardi z. B.?
5 [57]
Wirkung auf Nicht-Philologen gleich Null. Würden sie
imperativisch und verneinend, o wie würden sie
angefeindet! Aber sie ducken sich.
Die Griechen wirklich und ihre Abschwächung durch die
Philologen.
5 [58]
Alle Geschichte ist bis jetzt vom Standpuncte des
Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im
Erfolge geschrieben. Auch die griechische Geschichte: wir
besitzen noch keine. Aber so steht es überhaupt: wo sind
Historiker, die nicht von allgemeinen Flausen beherrscht
die Dinge ansehn? Ich sehe nur einenBurckhardt.
Überall der breite Optimismus in der Wissenschaft. Die
Frage: was wäre geschehn, wenn das und das nicht
eingetreten wäre wird fast einstimmig abgelehnt,
und doch ist sie gerade die kardinale Frage, wodurch
alles zu einem ironischen Dinge wird. Man sehe nur sein
Leben an. Wenn man nach Plan in der Geschichte sucht, so
suche man ihn in den Absichten eines gewaltigen Menschen,
vielleicht in denen eines Geschlechtes, einer Partei.
Alles übrige ist ein Wirrsal. Auch in der
Naturwissenschaft ist diese Vergötterung des Nothwendigen.
Deutschland ist die Brutstätte für den historischen
Optimismus geworden: daran mag Hegel mit Schuld sein.
Aber durch nichts hat die deutsche Cultur
verhängnissvoller gewirkt. Alles durch den Erfolg
Unterdrückte bäumt sich allmählich auf; die Geschichte
als der Hohn der Sieger; servile Gesinnung und Devotion
vor dem FaktumSinn für den Staat nennt
mans jetzt: als ob der noch hätte gepflanzt werden
müssen! Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die
Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht
verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen. Nun sehe man,
wie selten eine solche sinnvolle Erkenntniss des eignen
Lebens ist wie die Goethes: was soll nun aus allen diesen
verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges
geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch
wirken.
Besonders naiv ist es nun, wenn Hellwald, der
Verfasser einer Cultur-Geschichte, von allen
Idealen abwinkt, weil die Geschichte immer
eins nach dem andern abgethan habe. [Vgl. Friedrich Anton Heller von Hellwald, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung von der ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Augsburg: Lampart, 1874.]
5 [59]
Griechen und Philologen.
Die Griechen huldigen der Schönheit
sie entwickeln den Leib
sie sprechen gut
religiöse Verklärer des Alltäglichen
Hörer und Schauer
für das Symbolische
freie Männlichkeit
reiner Blick in die Welt
Pessimisten des Gedankens |
Philologen sind Schwätzer und Tändler.
hässliche Gehege.
Stammler.
schmutzige Pedanten.
Wortklauber und Nachteulen.
Unfähigkeit zur Symbolik
Staatssclaven mit Inbrunst
verzwickte Christen
Philister |
5 [60]
Es ist wahr, der Humanismus und die Aufklärung haben
das Alterthum als Bundesgenossen ins Feld geführt:
und so ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus
das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des
Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes:
reiner gesehn ist es ein Beweis gegen den
Humanismus, gegen die grundgütige Menschen-Natur usw.
Die Bekämpfer des Humanismus sind im Irrthum, wenn sie
das Alterthum mit bekämpfen: sie haben da einen starken
Bundesgenossen. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [61]
Religionen verstehe ich als Narkosen: aber
werden sie solchen Völkern gegeben wie den Germanen, so
sind es reine Gifte.
5 [62]
Welchen Zustand nahmen nur die Griechen als Vorbild
für ihr Leben im Hades? Blutlos, traumhaft, schwach: es
ist die nochmalige Steigerung des Greisenalters:
wo das Gedächtniß noch mehr schwindet und der Leib auch
noch mehr. Das Greisenalter des Greisenaltersso
leben wir in den Augen des Hellenen.
5 [63]
Wie wirklich die Griechen selbst in reinen
Erfindungen waren, wie sie an der Wirklichkeit
fortdichteten, nicht sich aus ihr hinaus sehnten.
5 [64]
Erziehung ist erst Lehre vom Nothwendigen, dann
vom Wechselnden und Veränderlichen. Man führt
den Jüngling in die Natur, zeigt ihm überall das Walten
von Gesetzen; dann die Gesetze der bürgerlichen
Gesellschaft: hier wird schon die Frage rege: mußte
dies so sein? Allmählich braucht er Geschichte, um zu
hören, wie das so geworden ist. Aber damit lernt er,
daß es auch anders werden kann. Wie viel Macht über die
Dinge hat der Mensch? dies ist die Frage bei aller
Erziehung. Um nun zu zeigen, wie ganz anders es sein
kann, zeige man z. B. die Griechen. Die Römer braucht
man, um zu zeigen wie es so wurde.
5 [65]
Die Griechen als das einzig geniale Volk der
Weltgeschichte; auch als Lernende sind sie dies, sie
verstehen dies am besten und wissen nicht bloß zu
schmücken und zu putzen mit dem Entlehnten: wie es die
Römer thun.
Die Constitution der Polis ist eine phönizische
Erfindung: selbst dies haben die Hellenen nachgemacht.
Sie haben lange Zeit wie freudige Dilettanten an allem
herum gelernt; wie auch die Aphrodite phönizisch ist.
Sie leugnen auch gar nicht das Eingewanderte und
Nicht-Ursprüngliche ab. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [66]
Die Aegypter sind vielmehr ein litterarisches
Volk als die Griechen. Dies gegen Wolf. [Vgl. Friedrich August Wolf, Kleine Schriften in Lateinischer und Deutscher Sprache. Von Fr. Aug. Wolf. Hrsg. durch G. Bernhardy. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1869:818. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [67]
Das erste Korn in Eleusis, die erste Rebe in Theben,
der erste Ölbaum, Feigenbaum. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [68]
Aegypten hatte seinen Mythus wesentlich verloren. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [69]
Das leibhafte Erscheinen von Göttern, wie bei
Sapphos Anrufung der Aphrodite, ist nicht
als poetische Lizenz zu verstehen, es sind häufige
Hallucinationen. Vieles, wie auch den Wunsch zu
sterben, fassen wir flach auf, als rhetorisch. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [70]
Griechen das Genie unter den Völkern.
Kindes-Natur. Leichtgläubig.
Leidenschaftlich. Unbewußt leben sie der Erzeugung
des Genius. Feinde der Befangenheit und Dumpfheit.
Schmerz. Unverständiges Handeln. Ihre Art von intuitiver
Einsicht in das Elend, bei goldenem genial-frohem
Temperament. Tiefsinn im Erfassen und Verherrlichen des
Nächsten (Feuer Ackerbau). Lügnerisch. Unhistorisch.
Die Kulturbedeutung der Polis instinktiv erkannt; Centrum
und Peripherie für den großen Menschen günstig. (Die
Übersichtlichkeit einer Stadtgemeinde, auch die
Möglichkeit sie als Ganzes anzureden.) Das Individuum
zur höchsten Kraft durch die Polis gesteigert. Neid,
Eifersucht wie bei genialen Leuten. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [71]
Die Erholungen der Spartaner bestanden in Festen, Jagd
und Krieg: ihr alltägliches Leben war zu hart. Im Ganzen
ist ihr Staat doch eine Karikatur der Polis und ein
Verderben von Hellas. Die Erzeugung des vollkommnen
Spartanersaber was ist er Großes, daß seine
Erzeugung einen so brutalen Staat brauchte! [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [72]
Die griechische Cultur ruht auf dem
Herrschafts-Verhältniß einer wenig zahlreichen Classe
gegen 4-5mal so viel Unfreie. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.] Der Masse nach war
Griechenland ein von Barbaren bewohntes Land. Wie kann
man die Alten nur human finden! Gegensatz des
Genies gegen den Broderwerber, das halbe Zug- und
Lastthier. Die Griechen glaubten an eine Verschiedenheit
der Rasse: Schopenhauer wundert sich, daß es der Natur
nicht beliebt habe, zwei getrennte Species zu erfinden. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:365; 681. Arthur Schopenhauer, Aus Arthur Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß: Abhandlungen, Anmerkungen, Aphorismen und Fragmente. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Leipzig: Brockhaus, 1864:352.]
5 [73]
Zum Griechen verhält sich der Barbar, wie zum
freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren
Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der
Zufall ihr zuführt. Schopenhauersches Bild. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:433.]
5 [74]
Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen ist
gerade der Grundzug des Genies Schopenhauer.
Man denke an Pindar, an die Promhqeia
usw. Die Besonnenheit, nach Schopenhauer, hat
zunächst ihre Wurzel in der Deutlichkeit, mit
welcher die Griechen der Welt und ihrer selbst inne
werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:434; 437.]
5 [75]
Das weite Auseinandertreten des Willens und
des Intellektes bezeichnet die Genies, und auch
die Griechen. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:438.]
5 [76]
Die dem Genie beigegebene Melancholie
beruht darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem
Intellekte er sich beleuchtet findet, desto
deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt.
Schopenhauer. Cf. die Griechen! [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:438.]
5 [77]
Wie stechen die Römer durch ihren trockenen Ernst
gegen die genialen Griechen ab! Schopenhauer: der
feste praktische Lebensernst, welchen die Römer als
gravitas bezeichneten, setzt voraus, daß der Intellekt nicht
den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen zu
dem, was diesen nicht angeht. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:442.]
5 [78]
Die Mäßigkeit der Griechen in ihrem
sinnlichen Aufwand, Essen und Trinken und ihre Lust
daran: die olympischen Spiele und ihre
Vergötterungdas zeigt, was sie waren.
5 [79]
Beim Genie wird der Intellekt die Fehler zeigen,
die bei jedem Werkzeuge, welches zu dem, wozu es nicht
gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben
pflegen. Er läßt den Willen oft sehr zur
Unzeit im Stich: so wird das Genie für das Leben mehr
oder weniger unbrauchbar, ja erinnert in seinem Betragen
mitunter an den Wahnsinn. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:445.]
5 [80]
Wenn die abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich
plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die
Angelegenheiten und Miseren des Willens richtetda
wo alles zu lebhaft, in zu grellen Farben, zu hellem
Lichte, ins Ungeheure vergrößert; dann verfällt das
Individuum auf lauter Extreme. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:445.]
5 [81]
Es fehlt den Griechen die Nüchternheit. Übergroße
Sensibilität, abnorm erhöhtes Nerven- und
Cerebralleben, Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des
Wollens. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:446.]
5 [82]
Das glücklichste Loos, welches dem Genie werden kann,
ist Entbindung vom Thun und Lassen und freie Muße: und
so wußten die Griechen zu schätzen. Segen der Arbeit!
nugari nannten die Römer alles Tichten und Trachten der
Hellenen. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:447. Friedrich August Wolf, Kleine Schriften in Lateinischer und Deutscher Sprache. Von Fr. Aug. Wolf. Hrsg. durch G. Bernhardy. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1869:820.]
Es hat keinen glücklichen Lebenslauf, es steht im
Widerspruch und Kampf mit seiner Zeit. So die Griechen:
sie bemühten sich ungeheuer, instinktiv, sich ein
sicheres Gehäuse (in der Polis) zu schaffen. Endlich
gieng alles in der Politik zu Grunde.
Sie waren gezwungen nach außen hin Stand zu halten:
das wurde immer schwieriger, endlich unmöglich.
5 [83]
Mit einer Veränderung eines Wortes von Bako von
Verulam kann man sagen: infimarum Graecorum virtutum,
apud philologos, laus est, mediarum admiratio, supremarum
sensus nullus. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:448.]
5 [84]
Der kindliche Charakter der Griechen von den
Aegyptern empfunden. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:451.]
5 [85]
Das Steigern des Gegenwärtigen ins Ungeheure
und Ewige z.B. bei Pindar.
5 [86]
Die unmathematische Schwingung der Säule in Pästum
z. B. ist ein Analogon zur Modifikation des Tempos:
Belebtheit an Stelle eines maschinenhaften Bewegtseins.
5 [87]
Es ist das Werk aller Erziehung, bewußte
Thätigkeiten in mehr oder weniger unbewußte umzubilden:
und die Geschichte der Menschheit ist in diesem Sinne
ihre Erziehung. Der Philologe nun übt eine Menge
Thätigkeiten so unbewußt: das will ich einmal
untersuchen, wie seine Kraft, d. h. sein instinktives
Handeln, das Resultat von ehemals bewußten Thätigkeiten
ist, die er allmählich als solche kaum mehr fühlt: aber
jenes Bewußtsein bestand in Vorurtheilen. Seine
jetzige Kraft beruht auf jenen Vorurtheilen,
z. B. die Schätzung der ratio wie bei Bentley, Hermann.
Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen. [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Nachtrag zu den Beobachtungen über den Menschen. In: Vermischte Schriften: mit dem Portrait, Facsimile und einer Ansicht des Geburtshauses des Verfassers. Bd. 1. Göttingen: Dieterich, 1867:186.]
5 [88]
Fertigkeiten erwartet man von der
Beschäftigung mit den Alten: früher z. B. Schreiben und
Sprechen können. Aber welche erwartet man jetzt!
Denken und Schließen: aber dies erlernt man nicht von
den Alten, sondern höchstens an den Alten,
vermittelst der Wissenschaft. Zudem ist aber alles
historische Schließen sehr bedingt und unsicher: man
sollte das naturwissenschaftliche vorziehn.
5 [89]
Proklos, der den aufgehenden Mond in
feierlicher Weise anbetet.
5 [90]
Die ererbte Abrichtung der jetzigen Philologen: eine
gewisse Unfruchtbarkeit der Grundeinsichten hat sich
ergeben; denn sie bringen die Wissenschaft, aber nicht
die Philologen vorwärts.
5 [91]
Das politische Unterliegen Griechenlands ist der
größte Mißerfolg der Cultur: denn es hat die
gräßliche Theorie aufgebracht, daß man die Cultur nur
pflegen könne, wenn man zugleich bis an die Zähne
bewaffnet und mit Fausthandschuhen angethan sei. Das
Aufkommen des Christenthums war der zweite große
Mißerfolg: die rohe Macht dort, der dumpfe Intellekt
hier kamen zum Siege über das aristokratische Genie
unter den Völkern. Philhellene sein heißt Feind der
rohen Macht und der dumpfen Intellekte sein. Insofern war
Sparta das Verderben von Hellas, insofern es Athen zwang
bundesstaatlich zu wirken und sich ganz auf Politik zu
werfen.
5 [92]
Sicher steht im Ganzen Großen das Wachsen der militärischen
Kraft der Menschheit. Der Sieg der kräftigeren
Nation: allmählich ist es nicht nur der Maaßstab des
körperlicher, sondern noch mehr des geistigen
Kräftiger-seins.
5 [93]
In Sokrates haben wir einen Vorgang des
Bewußtseins gleichsam vor uns offen liegen,
aus dem später die Instinkte des theoretischen
Menschen entstanden sind. Daß jemand lieber sterben
will als alt und schwach im Geiste werden. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
5 [94]
Mit dem Christenthum erlangte eine Religion das
Obergewicht, welche einem vorgriechischen Zustand des
Menschen entsprach: Glaube an Zaubervorgänge in allem
und jedem, blutige Opfer, abergläubische Angst vor
dämonischen Strafgerichten, Verzagen an sich selbst,
ekstatisches Brüten und Halluciniren, der Mensch sich
selber zum Tummelplatz guter und böser Geister und ihrer
Kämpfe geworden.
5 [95]
Es wäre viel glücklicher noch gewesen, daß
die Perser als daß gerade die Römer über
die Griechen Herr wurden.
5 [96]
Der herrliche Sinn für Ordnung und Gliederung
hat den Staat der Athener unsterblich gemacht. Die
zehn Strategen in Athen! toll! gar zu sehr ein Opfer auf
dem Altar der Eifersucht.
5 [97]
Statut der Gesellschaft der
Unzeitgemässen.
Jeder hat vierteljährlich einen schriftlichen Bericht
über seine Thätigkeit einzusenden.
O. R. G. B. N. [O(verbeck).
R(ohde). G(ersdorff). B(aumgartner). N(ietzsche).]
5 [98]
Zur Einleitung der Gesammtherausgabe der
Unzeitgemässen.
Die Entstehung zu schildern: meine Desperation wegen
Bayreuth, ich sehe nichts mehr, was ich nicht voll Schuld
weiss, ich entdecke bei tieferem Nachdenken, auf das
fundamentalste Problem aller Cultur gestossen zu sein.
Mitunter fehlt mir alle Lust fortzuleben. Aber dann
wieder sage ich mir: wenn einmal gelebt sein soll, dann
jetzt. Straussen hielt ich eigentlich für mich
für zu gering: bekämpfen mochte ich ihn nicht. Ein paar
Worte Wagners in Strassburg.
5 [99]
Wenn nun die Römer die griechische Cultur verschmäht
hätten: sie wäre vielleicht radikal zu Grunde gegangen.
Woran hätte sie wieder erwachen sollen? Christenthum und
Römer und Barbarendas wäre ein Ansturm gewesen.
Völlig verwischt. Wir sehen die Gefahr, unter der das
Genie lebt. Cicero ist so schon einer der größten
Wohlthäter der Menschheit. Es giebt für das Genie
keine Vorsehung: nur für die gewöhnlichen massenhaften
Menschen und ihre Nöthe giebt es so etwas; sie finden
ihre Befriedigung, später ihre Rechtfertigung.
5 [100]
Aus der gegenseitigen Todtfeindschaft erwächst die
griechische poliV,
und das aien aristeueln. [Vgl. Homer, Ilias: VI, 208; XI, 704. Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]
Hellenisch und philantropisch waren Gegensätze, obschon
die Alten genug sich geschmeichelt haben.
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