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The Will to Power
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Sommer 1878 30 [101-192]

30 [101]

Vergleich mit der Symphonie III Act Tristan, “Geburt der Tragödie”—undeutlich und hochtrabend, wie ich damals nach Wagner’s Vorbilde mich auszudrücken liebte —

30 [102]

Im vierten Jahrhundert wird die Welt der inneren Erregung entdeckt—Scopas, Praxiteles, Ausdruck. (Noch nicht Phidias. Gesetze der Strenge.)

30 [103]

Emerson p. 331 Essays “das Leben der Wahrheit ist kalt und insofern traurig, aber es ist nicht der Sklave usw.” [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858:331.]

30 [104]

“Gross sein ist missverstanden werden.” [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858:43.]

30 [105]

Schillers Idealität zu characterisiren (aus Körner’s Briefen am besten).

30 [106]

Fries in Phigalia von höchster Leidenschaftlichkeit.

30 [107]

Die selbe Summe von Talent und Fleiss, die den Classiker macht, macht, eine Spanne Zeit zu spät, den Barockkünstler.

30 [108]

Man verlangt von ihm dass er zum guten Spiele eine böse Miene mache.

30 [109]

Wagner hat den Gang unterbrochen, unheilvoll, nicht wieder die Bahn zu gewinnen.

Mir schwebte eine sich mit dem Drama deckende Symphonie vor. Vom Liede aus sich erweiternd.

Aber die Oper, der Effekt, das Undeutsche zog Wagner anderswohin. Alle nur denkbaren Kunstmittel in der höchsten Steigerung.

30 [110]

Völlige Abwesenheit der Moral bei Wagner’s Helden. Er hat jenen wundervollen Einfall, der einzig in der Kunst ist: der Vorwurf des Sünders an den Schuldlosen gerichtet: “o König”—Tristan an Marke.

30 [111]

Man höre den zweiten Akt der Götterdämmerung ohne Drama: es ist verworrene Musik, wild wie ein schlechter Traum und so entsetzlich deutlich, als ob sie vor Tauben noch deutlich werden wollte. Dies Reden, ohne etwas zu sagen: ist beängstigend. Das Drama ist die reine Erlösung.— Ist das ein Lob, daß diese Musik allein unerträglich ist (von einzelnen, absichtlich isolirten Stellen abgesehen) als Ganzes?— Genug, diese Musik ist ohne Drama eine fortwährende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik: wer sich völlig an sie gewöhnt, verliert das Gefühl für diese Gesetze. Hat aber das Drama durch diesen Zusatz gewonnen? Es ist eine symbolische Interpretation hinzugetreten, eine Art philologischen Commentars, welcher die immer freie Phantasie des Verstehens mit Bann belegt—tyrannisch! Musik ist die Sprache des Erklärers, der aber fortwährend redet und uns keine Zeit läßt; überdies in einer schweren Sprache, die wieder eine Erklärung fordert. Wer einzeln sich erst die Dichtung (Sprache!) eingelernt hat, dann sie mit dem Auge in Aktion verwandelt hat, dann die Musik-Symbolik herausgesucht und verstanden hat und ganz sich hineinlebt, ja in alles Dreies sich verliebt hat—der hat dann einen ungemeinen Genuß. Aber wie anspruchsvoll! Aber es ist unmöglich, außer für kurze Augenblicke—weil zu angreifend, diese zehnfache Gesammtaufmerksamkeit von Auge Ohr Verstand Gefühl, höchste Thätigkeit des Aufnehmens, ohne jede produktive Gegenwirkung!— Dies thun die Wenigsten: woher doch die Wirkung auf so viele? Weil man intermittirt mit der Aufmerksamkeit, ganze Strecken stumpf ist, weil man bald auf die Musik, bald auf das Drama, bald auf die Scene allein Acht giebt—also das Werk zerlegt.— Damit ist über die Gattung der Stab gebrochen: nicht das Drama, sondern ein Augenblick ist das Resultat oder eine willkürliche Auswahl. Der Schöpfer einer neuen Gattung hat Acht hier zu geben! Nicht die Künste immer nebeneinander—sondern die Mäßigung der Alten, welche der menschlichen Natur gemäß ist.

30 [112]

Mehrere Wege der Musik stehen noch offen (oder standen noch offen, ohne Wagner’s Einfluss). Organische Gebilde als Symphonie mit einem Gegenstück als Drama (oder Mimus ohne Worte?) und dann absolute Musik, welche die Gesetze des organischen Bildens wiedergewinnt und Wagner nur benützt als Vorbereitung. Oder Wagner überbieten: dramatische Chormusik.— Dithyrambus. Wirkung des Unisono.

Musik aus geschlossenen Räumen in’s Gebirge und Waldgehege.

30 [113]

Allmähliches Aufgeben vom

Verband der Nation

Verband der Partei

Verband der Freundschaft

der Consistenz der Handlungen.

30 [114]

Einsicht in die Ungerechtigkeit des Idealismus, darin dass ich mich für meine getäuschten Erwartungen an Wagner rächte.

30 [115]

Wagner, der in seinen Prosaschriften mehr bewundert als verstanden werden will.

30 [116]

Im Frühling grasbewachsener Weg im Walde—Unterholz und Gebüsch, dann höhere Bäume—Gefühl der wonnigen Freiheit.

30 [117]

Wagners’s Natur macht zum Dichter, man erfindet eine noch höhere Natur. Eine seiner herrlichsten Wirkungen, welche gegen ihn zuletzt sich wendet. So muss jeder Mensch sich über sich erheben, die Einsicht über sein Können sich erheben: der Mensch wird zu einer Stufenfolge von Alpenthälern, immer höher hinauf.

30 [118]

Es entschlüpfen ihm kurze Stellen guter Musik: fast immer im Widerspruch zum Drama.

30 [119]

Fürsten und Adlige, deren äusserliche Stellung zum Gedanken der Feste sehr hübsch durch eine kleine Fabel bezeichnet wird. Der höchstgestellte Gast usw.

30 [120]

Betäubung oder Rausch-Wirkung gerade aller Wagnerischen Kunst. Dagegen will ich die Stellen nennen, wo Wagner höher steht, wo reines Glück ihm entströmt.

30 [121]

Einzelne Töne von einer unglaubwürdigen Natürlichkeit wünsche ich nie wieder zu hören; ja sie auch nur vergessen zu können—Materna.

30 [122]

Wagner’s Musik interessirt immer durch irgend etwas: und so kann bald die Empfindung, bald der Verstand ausruhen. Diese gesammte Ausspannung und Erregung unseres Wesens ist es, wofür wir so dankbar sind. Man ist schliesslich geneigt, ihm seine Fehler und Mängel zum Lobe zu rechnen, weil sie uns selber productiv machen.

30 [123]

Wagner, dessen Ehrgeiz noch grösser ist als seine Begabung, hat in zahllosen Fällen gewagt, was über seine Kraft geht—aber es erweckt fast Schauer, jemanden so unablässig gegen das Unbesiegbare—das Fatum in ihm selber—anstürmen zu sehen.

30 [124]

Eine Kunst, welche die Harmonie des Daseins verleugnet, und sie hinter die Welt verlegt. Alle diese Hinterweltler und Metaphysiker.

30 [125]

Die Kritik der Moralität ist eine hohe Stufe der Moralität—aber verschmolzen sind Eitelkeit Ehrgeiz Lust am Siege damit, wie bei aller Kritik.

30 [126]

Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an Sommer-Abenden.

30 [127]

Goldstaub abblasen.

30 [128]

Über Wagner wie über Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei ihren Lebzeiten—ihre Größe wird, was man auch gezwungen ist, in die andere Wagschale zu legen, immer siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefährlichkeit in der Wirkung zu warnen.

30 [129]

Das Wogende Wallende Schwankende im Ganzen der Wagnerischen Musik.

30 [130]

Ich rathe jedem, sich vor gleichen Pfaden (Wagner und Schopenhauer) nicht zu fürchten. Das ganz eigentlich unphilosophische Gefühl, die Reue, ist mir ganz fremd geworden.

30 [131]

Mir ist zu Muthe, als ob ich von einer Krankheit genesen; ich denke mit unaussprechlicher Süssigkeit an Mozart’s Requiem. Einfache Speisen schmecken mir wieder.

30 [132]

Dionysus erster Gott der Thraker, ihr Zeus, wie Wotan.

30 [133]

Mendelssohn, an dem sie die Kraft des element[aren] Erschütterns (beiläufig gesagt: das Talent des Juden des alten Testaments) vermissen, ohne an dem, was er hat, Freiheit im Gesetz und edle Affecte unter der Schranke der Schönheit, einen Ersatz zu finden.

30 [134]

Schopenhauer verherrlicht im Grunde doch den Willen (das Allmächtige, dem alles dient). Wagner verklärt die Leidenschaft als Mutter alles Grossen und selbst Weisen.

Wirkung auf die Jugend.

30 [135]

Dies alles hat sich Wagner oft genug im heimlichen Zwiegespräch selber eingestanden: ich wollte er thäte es auch öffentlich. Denn worin besteht die Grösse eines Characters, als darin dass er, zu Gunsten der Wahrheit, im Stande ist, auch gegen sich Partei zu ergreifen?

30 [136]

Tiefsinn an eine unklare aber hochtrabende Wendung Wagner’s (“zum Raum wird hier die Zeit”) verwendet.

“Auge Wotans” rührend, Mundwinkel des Philologen zucken—aber Unwille über feinere Köpfe, aus denen nur der Parteisinn redet und welche die Nachlässigkeit wohl merken.

30 [137]

Die Naturgesetze der Kunst-Entwicklung sind eigentlich die Folgen psychologischer Dinge, Eitelkeit Ehrgeiz usw.

30 [138]

Barockstil—es muß gesagt werden.

Den Gang der inneren Entwicklung Wagner’s zu finden sehr schwer—auf seine eigene Beschreibung innerer Erlebnisse ist nichts zu geben. Er schreibt Parteischriften für Anhänger.

30 [139]

Untergang der letzten Kunst erleben wir—Bayreuth überzeugte mich davon —

30 [140]

Die Verhäßlichung der menschlichen Seele erfolgt ebenso nothwendig wie der Barockstil auf den klassischen—in ganzen Zeitaltem. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [141]

Die Wagnerischen Götter, von denen keiner “etwas taugt.”

30 [142]

Man muß nur etwas Gutes und Neues vollbringen: dann erlebt man an seinen Freunden, was es heißt: zum guten Spiele eine böse Miene machen.

30 [143]

Schiller’s Satz “gegen das Vortreffliche keine Rettung als Liebe” recht wagnerisch. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, 45. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 3. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853.] Tiefe Eifersucht gegen alles Große, dem er eine Seite abgewinnen kann—Haß gegen das, wo er nicht heran kann (Renaissance, französische und griechische Kunst des Stils).

30 [144]

Der Irrthum hat die Dichter zu Dichtern gemacht. Der Irrthum hat die Schätzung der Dichter so hoch gemacht. Der Irrthum liess dann wieder die Philosophen sich höher erheben.

30 [145]

Bei Wagner blinde Verleugnung des Guten (wie Brahms), bei der Partei (Fr[au] (W[agner]) sehende Verleugnung (Lipiner Rée).

30 [146]

Was ist Partei, was Frivolität? Von letzterer aus verstand ich Wagner nicht.

30 [147]

Anwandlungen der Schönheit: Rheintöchterscene, gebrochene Lichter, Farbenüberschwang wie bei der Herbstsonne, Buntheit der Natur; glühendes Roth Purpur, melancholisches Gelb und Grün fliessen durcheinander.

30 [148]

Vernunft- und Welt-flüchtige Bestrebungen.

30 [149]

Wer wollte Wagner auf den Gipfel seiner Eitelkeit folgen, den er immer dort erreicht, wenn er vom “deutschen Wesen” redet—übrigens der Gipfel seiner Unklugheit: denn wenn Friedrich’s des Grossen Gerechtigkeit, Goethe’s Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven’s edle Resignation, Bach’s dürftig verklärtes Innenleben, wenn Schaffen ohne Rücksicht auf Glanz und Erfolg, ohne Neid die eigentlich deutschen Eigenschaften sind, sollte Wagner nicht fast beweisen wollen, dass er kein Deutscher sei?

30 [150]

“C’est la rage de vouloir penser et sentir au delà de sa force.” Doudan.— Die Wagnerianer. [Vgl. Ximénès Doudan, Mélanges et lettres. Avec une introduction par M. le comte d' Haussonville et de notices par MM. de Sacy, Cuvillier-Fleury. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1878:408. "C'est la rage ce temps-ci des dernières cinquante années de vouloir penser et sentir au delà de sa force."]

30 [151]

Die griechischen Künstler verwandten ihre Kraft auf die Bändigung, jetzt auf die Entfesselung—stärkster Gegensatz!

Willens-Bändiger, Willens-Entfesseler. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [152]

Milton: “es ist fast einerlei, ob man einen Menschen oder ein gutes Buch tödtet.” Gegen die Partei. [Vgl. Hippolyte Taine, Geschichte der englischen Literatur. Deutsche Ausgabe bearbeitet von L. Katscher und G. Gerth. Bd. 1: Die Anfänge und die Renaissance-Zeit der englischen Literatur. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Leopold Katscher. Leipzig: Ernst Julius Günther, 1878:662.]

30 [153]

Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen—ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische.

30 [154]

Zur Vorrede. Ich möchte meinen Lesern den Rath geben: das Kennzeichen, dass sie in die Empfindung des Verfassers eingedrungen sind — — — aber hier lässt sich nichts erzwingen. Eine Reise begünstigt.

30 [155]

Das creatürliche Leben, das wild geniesst, an sich reisst, an seinem Übermaasse satt wird und nach Verwandlung begehrt—gleich bei Schopenhauer und Wagner.

Zeit entsprechend bei Beiden: keine Lüge und Convention, keine Sitte und Sittlichkeit mehr thatsächlich—ungeheures Eingeständniss, dass der wildeste Egoismus da ist—Ehrlichkeit—Berauschung, nicht Milderung.

30 [156]

Ein Zeichen von der Gesundheit der Alten, dass auch ihre Moral-Philosophie diesseits der Grenze des Glücks blieb. Unsere Wahrheits-Forschung ist ein Excess: diess muss man einsehen.

30 [157]

Weder so heftig am Leben leiden, noch so matt und emotionsbedürftig, dass uns Wagner’s Kunst nothwendig als Medicin wäre.— Dies ist der Hauptgrund der Gegnerschaft, nicht unlautere Motive: man kann etwas, wozu uns kein Bedürfniss treibt, was wir nicht brauchen, nicht so hoch schätzen.

30 [158]

Zeit—elementarische, nicht durch Schönheit verklärte Sinnlichkeit (wie die der Renaissance und der Griechen), Wüstheit und Kaltsinn sind die Voraussetzungen gegen welche Wagner und Schopenhauer kämpfen, auf welche sie wirken—der Boden ihrer Kunst. Brand der Begierde, Kälte des Herzens—Wagner will Brand des Herzens, neben dem Brand der Begierde, Schopenhauer will Kühle der Begierde neben der Kühle des Herzens (der Schopenhauer des Lebens, nicht der der Philosophie).

30 [159]

Goethe—“Byron’s Kühnheit Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.” [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Zweiter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:35.]

Dies auf Wagner’s Kunst anzuwenden.

30 [160]

Voltaire, nach Goethe “die allgemeine Quelle des Lichts.” [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Zweiter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:34.]

30 [161]

Keller, Burckhardt zu erwähnen: vieles Deutsche erhält sich jetzt besser in der Schweiz, man findet es hier deutlicher erhalten.

30 [162]

Aberglaube vom Besitz—er macht nicht freier, sondern sklavischer, braucht viel Zeit, Nachdenken, macht Sorge, verbindet mit Andern, denen man nicht gleichstehen mag, weil man sie braucht; bindet fester an den Ort, an den Staat.— Der Bettler ist freilich abhängiger,—aber wenig Bedürfnisse, ein kleiner dazu ausreichender Erwerb und viel freie Zeit. Für die welche freilich keinen Gebrauch von der freien Zeit machen können, ist das Streben nach Besitz, wie das nach Ehren Orden usw., eine Unterhaltung. Der Reichthum ist oft das Resultat geistiger Inferiorität: er aber erregt Neid, weil durch ihn die Inferiorität [sich] mit Bildung maskiren kann. Insofern ist die geistige Ohnmacht der Menschen die indirekte Quelle von der unmoralischen Begehrlichkeit der Andern.— Dies, eine Betrachtung nach dem Kriege. Die Bildung als Maske, der Reichthum als Folge der innerlichen wirklichen Unbildung und Roheit.

30 [163]

Nichts ist schädlicher einer guten Einsicht in die Cultur, als den Genius und sonst nichts gelten zu lassen. Das ist eine subversive Denkart, bei der alles Arbeiten für die Cultur aufhören muss.

30 [164]

Nach dem Kriege missfiel mir der Luxus, die Franzosenverachtung, das Nationale—so wie Wagner an die Franzosen, Goethe an Franzosen und Griechen. Wie weit zurück gegen Goethe—ekelhafte Sinnlichkeit.

30 [165]

Die Dichtkunst ist älter bei den Griechen als die anderen Künste: sie also muss das Volk an den Sinn für Maass gewöhnt haben; ihnen mussten dann die anderen Künstler folgen. Aber was mässigte die Dichter? [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [166]

Plan.

Einsicht in die Gefährdung der Cultur.
Krieg. Tiefster Schmerz, Brand des Louvre.
Schwächung des Culturbegriffs (das Nationale), Bildungsphilister.
Historische Krankheit.
Wie bekommt der Einzelne gegen die Epidemie Halt?
1) Schopenhauer’s Metaphysik, überhistorisch; heldenhafter Denker. Standpunct fast religiös.
2) Wagner’s Vertheidigung seiner Kunst gegen den Zeitgeschmack.
Daraus neue Gefahren das Metaphysische treibt zur Verachtung des Wirklichen: insofern zuletzt culturfeindlich und fast gefährlicher.
Überschätzung des Genius.
Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles Beschränkte aus Wagner’s Wesen kommt hinzu. Roheit neben überreizter Sensibilität.
Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern.
Ich entfremdete mich der Kunst, Dichtung (lernte das Alterthum mißverstehen) und der Natur, verlor fast mein gutes Temperament. Dabei das schlechte Gewissen des Metaphysikers.
Bedeutung von Bayreuth für mich.
Flucht.
Kaltwasser-Bad.
Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder.

Zweck der Mittheilung
Freunde.

30 [167]

Das Undeutsche an Wagner:

es fehlt die deutsche Anmuth und Grazie eines Beethoven Mozart Weber, das flüssige heitere Feuer (allegro con brio) Beethovens Webers, der ausgelassene Humor ohne Verzerrung.

Mangel an Bescheidenheit, die lärmende Glocke. Hang zum Luxus.

Kein guter Beamter wie Bach. Gegen Nebenbuhler nicht Goethisch ruhig.

30 [168]

Neben einer Moral der Gnade steht eine Kunst der Gnade (Inspiration). Beschreibung!

30 [169]

Damals glaubte ich das Christenthum im Verschwinden zu sehen, Wagner sandte ihm auch einige böse Worte nach—dumpfer Aberglaube—jetzt—jenseits der Berge.

30 [170]

Die grosse Oper aus französischen und italiänischen Anfängen. Spontini, als er die Vestalin schuf, hatte wohl noch keine Note eig[entlich] deutscher Musik gehört. Tannhäuser und Lohengrin—für sie hat es noch keinen Beethoven, allerdings einen Weber gegeben. Bellini Spontini Auber gaben den dramatischen Effect von Berlioz lernte er die Orchestersprache; von Weber das romantische Colorit. —

30 [171]

Was sich alles als Kraft, Inspiration, Gefühls-Überfluss geben möchte—Kunstmittel der Schwäche (der überreizten Künstler) um zu täuschen.

30 [172]

Der Luxus der Mittel der Farben der Ansprüche des Symbolischen. Das Erhabne als das Unbegreifliche Unausschöpfliche in Bezug auf Grösse. Appell an alles andere Grosse.

30 [173]

Ich zweifle nicht dass dieselben Dinge, in einen dicken süssen Brei eingehüllt, williger geschluckt werden.— Wahrheiten über Wagner.

30 [174]

Diese wilden Thiere mit Anwandelungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns—haben nichts mit uns zu thun. Dagegen z. B. Philoctet.

30 [175]

Wotan—die Welt vernichten, weil man Verdruss hat.

Brünnhilde—die Welt vernichten lassen, weil man liebt.

30 [176]

Wotan, wüthender Ekel—mag die Welt zu Grunde gehen.

Brünnhilde liebt—mag die Welt zu Grunde gehen.

Siegfried liebt—was schiert ihn das Mittel des Betrugs. Ebenso Wotan. Wie ist mir dies alles zuwider!

30 [177]

Wie Meister Erwin von Steinbach von seinen französischen Mustern und Meistern abhängig ist, frei und sie überragend, so Wagner von den Franzosen und Italiänern.

30 [178]

Der Gewölbebau wahrscheinlich von den Diadochen auf die Römer übergegangen, wahrscheinlich.

30 [179]

Macht und Pracht, Wille der Römer.

30 [180]

Gegensatz—Horaz unter lauter ewigen festgewordenen Dingen—wir unter lauter ganz kurzen: jedes Geschlecht soll sein eignes Feld bestellen.

30 [181]

Römer Schöpfer aller Rundformen, nicht nur Ausbildner mit Genialität.

30 [182]

Bei Goethe ist der grösste Theil der Kunst in sein Wesen übergegangen. Anders unsere Theaterkünstler, die im Leben unkünstlerisch und nur Theater-Mitleiden — — — Theater Tasso’s.

30 [183]

Die Wirkungen der Wagnerischen Rhetorik sind so heftig, dass unser Verstand hinterdrein Rache übt—es ist wie beim Taschenspieler. Man kritisirt Wagner’s Mittel der Wirkung strenger. Im Grunde ist es ein Verdruss darüber, dass Wagner nicht feinere Mittel nöthig fand um uns zu fangen.

30 [184]

Wie Musik im Freien bei windigem kaltem Wetter.

30 [185]

Die Freude über Rée’s psychologische Beobachtungen eine der allergrössten. Woher? so empfand ich, die Motive der Menschen sind nicht viel werth. Wie Socrates von den weisen Menschen, so ich von den moralischen. Damals machte ich Ausnahmen; um diese recht hoch zu stellen, stellte ich jene so tief (und missverstand dabei gewiss den Autor).

30 [186]

Das vorige Jahrhundert hatte weniger Historie, wußte aber mehr damit anzufangen.

30 [187]

Wie kann man nur solchen Genuß an der Trivialität haben, daß Selbstliebe die Motive aller unserer Handlungen abgiebt! 1) Weil ich lange nichts davon wußte (metaphysische Periode) 2) weil der Satz sehr oft erprobt werden kann und unseren Scharfsinn anregt und so uns Freude macht 3) weil man sich in Gemeinschaft mit allen Erfahrenen und Weisen aller Zeiten fühlt: es ist eine Sprache der Ehrlichen, selbst unter den Schlechten 4) weil es die Sprache von Männern und nicht von schwärmerischen Jünglingen ist (Schopenhauer fand seine Jugendphilosophie namentlich das 4te Buch [Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.] sich ganz fremd—) 5) weil es antreibt, es auf unsere Art mit dem Leben aufzunehmen, und falsche Maßstäbe abweist; es ermuthigt.

30 [188]

Rückschritt gegen das vorige Jahrhundert in Ethik—Helvetius. Von da abwärts Rousseau Kant Schopenhauer Hegel.

30 [189]

Die Heftigkeit der erregten Empfindung und die Länge der Zeitdauer stehen im Widerspruch. Dies ist ein Punct, worin der Autor selber keine entscheidende Stimme hat: er hat sich langsam an sein Werk gewöhnt und es in langer Zeit geschaffen: er kann sich gar nicht unbefangen auf den Standpunct des Aufnehmenden versetzen. Schiller machte denselben Fehler. Auch im Alterthum wurde viel zurecht geschnitten.

30 [190]

Dies sah ich ein, mit Betrübniss, manches sogar mit plötzlichem Erschrecken. Endlich aber fühlte ich dass ich, gegen mich und meine Vorliebe Partei ergreifend, den Zuspruch und Trost der Wahrheit vernehme—ein viel grösseres Glück kam dadurch über mich, als das war, welchem ich jetzt freiwillig den Rücken wandte.

30 [191]

Wagner’s Nibelungen-Ring sind strengste Lesedramen, auf die innere Phantasie rechnend. Hohes Kunstgenre, auch bei den Griechen.

30 [192]

Widerspruch im vorausgesetzten Zuhörer. Höchst künstlerisch als Empfänger und völlig unproductiv! Die Musik tyrannisirt die Empfindung durch allzupeinliche Ausführung des Symbolischen, die Bühne tyrannisirt das Auge. Etwas Sclavenhaft-Unterthäniges und doch ganz Feuer und Flamme zugleich bei dieser Kunst—deshalb eine Parteizucht sonder Gleichen nöthig. Deshalb Judenthum usw. als Hetzpeitsche.

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