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The Will to Power
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Sommer 1878 30 [1-100]

30 [1]

Mein Fehler war der, dass ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam: so musste ich denn die bitterste Enttäuschung erleben. Die Überfülle des Hässlichen Verzerrten Überwürzten stiess mich heftig zurück.

30 [2]

Über die Ursachen der Dichtkunst
Vorurtheile über die Dichter
.
Aphorismen.

30 [3]

Ich sah den Sinn für social[istische] Gedankenkreise in den höheren Ständen sich verbreitend: und ich mußte sagen, mit Goethe, “man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgend einer Art zweideutigen Gewinns zu gelangen.” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 25. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1857:164.]

30 [4]

Goethe: “das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Zeiten vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen, und er suchte deshalb die volle endliche Befriedigung.” Schluß? [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 25. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1857:152.]

30 [5]

Goethe: “das Schöne ist, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduktion gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Thätigkeit versetzt fühlen.” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 25. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1857:190.]

30 [6]

Die  Mitte  das  Beste  (in Wahl der Probleme, des Ausdrucks, in der Kunst). Kräftige Äst[hetik]. Kein Barockstil.

30 [7]

Montaigne: “wer einmal ein rechter Thor gewesen, wird niemals wieder recht weise werden.” Das ist, um sich hinter den Ohren zu krauen.

30 [8]

Milton bei Taine I, 656. “Die Wahrheit, die zuerst Schande bringt.” [Vgl. Hippolyte Taine, Geschichte der englischen Literatur. Deutsche Ausgabe bearbeitet von L. Katscher und G. Gerth. Bd. 1: Die Anfänge und die Renaissance-Zeit der englischen Literatur. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Leopold Katscher. Leipzig: Ernst Julius Günther, 1878:656.]

30 [9]

Schopenhauer’s Wirkung

1) in den Händen der Ultramontanen—protestantischen und katholischen;
2) reinlichste Wissenschaft mit Spiritismus beschmutzt;
3) Geistergeschichten;
4) Wundergläubige wie Fr[au] W[agner];
5) Philosophie des Unbewussten;
6) Genius und Inspiration bei Wagner, sodaß alles Erkannte abgelehnt wird; die “Intuition” und der “Instinkt”;
7) Ausbeutung des “Willens” praktisch als unbezwinglich, durch Dichter als Effektmittel;
8) der grobe Irrthum, daß das Mitleid den Intellekt vertrete, auf die Bühne mit einer wahrhaft spanischen Gläubigkeit gebracht;
9) Königthum als überweltlich;
10) die Wissenschaft über die Achsel angesehen: in ihr selbst greift die Metaphysik um sich;
11) Gwinner’s Biographie, Schopenhauer als Vorhalle zum Christenthum.

Allgemeines Frommwerden, der leibhafte Voltärianisch gesinnte Schopenhauer, dem sein viertes Buch [Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.] unverständlich würde, wird bei Seite geschoben.

Mein Mißtrauen gegen das System von Anfang an. Die Person trat hervor, er typisch als Philosoph und Förderer der Kultur. Am Vergänglichen seiner Lehre, an dem, was sein Leben nicht ausprägte, knüpfte aber die allgemeine Verehrung an—im Gegensatz zu mir. Die Erzeugung des Philosophen galt mir als einzige Nachwirkung—aber mich selbst hemmte der Aberglaube vom Genius. Augenschließen.

30 [10]

Nach Demosthenes muß die Rede sculpta “ausgemeißelt” sein. [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:72.]

Demosthenes studirte den Thukydides hinsichtlich Stils. [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:18-19.]

30 [11]

Enthaltsamkeit der alten Schriftsteller in der Anwendung der staunenerregenden Mittel des Ausdrucks, die ihnen zu Gebote standen.” [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:92.]

30 [12]

Die Anhäufung von mehr als 2 kurzen Sylben möglichst vermieden—das rhythmische Gesetz des Demosthenes. [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:100.]

30 [13]

Schluß einer Rede wie einer Tragödie möglichst ruhig und würdevoll—ist athenisch. [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:118f.]

Wir lieben die finales anders.

30 [14]

Nutz-Bildung
Zier-Bildung
.

[Vielleicht nach Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877.]

30 [15]

Da ich Wagner mit Demosthenes verglichen habe, muß ich auch den Gegensatz hervorheben. Brougham bei Blass, 188, 196—p.173. [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:188; 196.]

30 [16]

Den größten rednerischen Improvisator Demades schätzte man über Demosthenes. Nach Theophrast ist jener “Athens würdig,” dieser “über Athen hinaus.” [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:64.]

30 [17]

“Ein Mensch, der aus Worten und zwar aus bitteren und künstlichen besteht,” sagte Aeschines von Demosthenes. [Vgl. Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877:64.]

30 [18]

Pallas Athene
Über Nutz- und Zierwirkungen der Urtheilskraft.
[Vielleicht nach Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877.]

30 [19]

Wagner, dessen schriftstellerische Vorbilder und Versuche (Anfänge) in jene Zeit gehören, deren allgemeinen Fehler ein Franzose so bezeichnet—au delà [de] sa force. [Vgl. Ximénès Doudan, Mélanges et lettres. Avec une introduction par M. le comte d' Haussonville et de notices par MM. de Sacy, Cuvillier-Fleury. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1878:408. "C'est la rage ce temps-ci des dernières cinquante années de vouloir penser et sentir au delà de sa force."]

30 [20]

Zier-Künste
Zier
- und Lust-Bildung
der gesteigerte Prachtsinn.
[Vielleicht nach Friedrich Blass, Die attische Beredsamkeit. Abt. 3. Demosthenes. Leipzig: Teubner, 1877.]

30 [21]

Ewige Baukunst der Römer.
Brücke im spanischen Alcantara.

30 [22]

“Gedankenbild” für Phantasieb[ild].

30 [23]

Ein, Dramatiker spielt, wenn er von sich redet, eine Rolle; es ist unvermeidlich. Wagner, der von Bach und Beethoven redet, redet als der, als welcher er gelten möchte. Aber er überredet nur die überzeugten, seine Mimik und sein eigentliches Wesen streiten gar zu ingrimmig gegen einander.

30 [24]

Nachtheil der Metaphysik: sie macht gegen die richtige Ordnung dieses Lebens gleichgültig—insofern gegen Moralität. Ist pessimistisch immer, weil sie kein hiesiges Glück erstrebt.

30 [25]

In Betreff der griechischen Dichter wurden wir angeleitet, uns selber zu betrügen. Wollte doch jeder sagen: dies mag ich nicht, jenes gilt mir nichts, dort empfinde ich wider die herkömmliche Abschätzung—so hätte man mehr Achtung vor Philologen als ehrlichen Leuten, selbst wenn sie in Gefahr kämen dass ihr klassischer Geschmack angezweifelt würde.

30 [26]

Griechischer Dithyrambus ist Barockstil der Dichtkunst.

30 [27]

Gegen unsere Freude am Übermaß der Metaphern, seltenen Worten usw.— Euripides-Lob.

30 [28]

Was wird aus einer Kunst, die an ihr Ende gekommen ist? Sie selbst stirbt ab—die von ihr gegebene Wirkung kommt anderen Gebieten zu Gute, ebenso die nunmehr, bei ihrem Ende, freiwerdende nicht verwendete Energie. Wo also z. B.?

30 [29]

Weg zur Weisheit

Kräftigung
Mässigung (Schön als Proportion)
Befreiung.

30 [30]

Auf dieselbe Weise, auf die jetzt bewusst wir uns stärken mit Hülfe des Geistes, so durch Analogie der Schluss nach rückwärts.

30 [31]

Wellen—an ruhigem Sommertage am Ufer schlürfen—Epicur’s Garten-Glück.

30 [32]

Dramata die religiöse Thatsache, Ursprung im Tempelkult. Falscher Begriff vom Mythus—die Griechen halten ihn für Historie. Dagegen erfinden die Dichter sehr ungenirt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [33]

Goethe: “man darf oft dem Irrthum nicht schaden, um der Wahrheit nicht zu schaden.” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, 149. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 3. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853.]

30 [34]

Goethe definirt die Pflicht “wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.” [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, 829. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 3. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1853.]

Gewöhnlich “wo man sich befiehlt, was man liebt.”

30 [35]

Der rhythmische Sinn zeigt sich zuerst im Grossen:

Gegenüberstellung von Kola (Hexameter und Hexameter). Hebräische Rhythmik darauf stehen geblieben. Ebenso die Periodik der Prosa. Allmählich wird das Zeitgefühl feiner, am Schlusse zuerst.

30 [36]

“Ipsum viventem quidem relictum, sed sola posteritatis cura et abruptis vitae blandimentis.” Tac. hist. II 54.

30 [37]

Der weiss noch nichts von der Bosheit, der nicht erlebt hat, wie die niederträchtigste Verleumdung und der giftigste Neid sich als Mitleid geberden.

30 [38]

Da alle Glück wollen, die Eigenschaften Affecte sehr verschieden und kaum veränderlich [sind]: so muss man alle Anfänge geistreich benutzen. Ethik für Geistreiche.

30 [39]

Wahrscheinlich: die Herrschaft der Sachverständigen und die Einbildung der Masse, durch jene selber zu herrschen.

30 [40]

Wer etwas vollbringt, das über den Gesichts- und Gefühlskreis der Bekannten hinausliegt:—Neid und Hass als Mitleid—Partei betrachtet das Werk als Entartung Erkrankung Verführung. Lange Gesichter.

30 [41]

Statt ins Leben überzuströmen, fördert die Wagnerische Kunst bei den Wagnerianern nur die Tendenzen (z. B. religiöse nationale).

30 [42]

Wir  gleichen  den  lebenden  Tieren  auf  dem  Schild  des  Hephäst—aesthet[ische] Phänom[ene] aber grausam! [Vgl. Homer, Ilias: XVIII, 478-608.]

30 [43]

Man muss den Muth haben, in der Kunst zu lieben, was uns wirklich zusagt und es sich eingestehen, selbst wenn es ein schlechter Geschmack ist. So kann man vorwärts kommen.

30 [44]

Umgekehrte Moral, z.B. im Tristan, wo der Ehebrecher den Vorwurf macht: ganz anders bei den Griechen.

30 [45]

Viel zu viel Musik zum Wagnerischen Drama.

30 [46]

Novelle: des Todes wegen moriendi perdere causas. Ein Selbstmörder, der beim Suchen nach dem Tode — — —

30 [47]

Man bildet sich ein bei einem Buche, der Grundton sei das Erste, was man aus ihm heraushöre—aber es hört einer gewöhnlich etwas hinein, was er so nennt.

30 [48]

Cap. VII. Erziehung.
Deutschland in seiner Action-Reaction zeigt sich barbarisch.

30 [49]

Auf moralisches “Verdienst” dringt am meisten der seinen Erfolg nicht sichtbar machen kann—der Unfreie Gedrückte.

30 [50]

Wagner’s Kunst auf Kurzsichtige berechnet—allzugrosse Nähe nöthig (Miniatur), zugleich aber fernsichtig. Aber kein normales Auge.

30 [51]

Damals glaubte ich daß die Welt vom aesthetischen Standpunkt aus ein Schauspiel und als solches von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schlusse kam, daß nur als aesthetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse.

30 [52]

Wenn ich auf den Gesammtklang der älteren griechischen Philosophen hinhorchte, so meinte ich Töne zu vernehmen, welche ich von der griechischen Kunst, und namentlich von der Tragödie gewohnt war zu hören. In wie weit dies an den Griechen, in wie weit aber auch nur an meinen Ohren, den Ohren eines sehr kunstbedürftigen Menschen, lag—das kann ich auch jetzt noch nicht mit Bestimmheit aussprechen.

30 [53]

1 Der Einzelne und die Vielen
2 Fortleben der Kunst
3 Neu-Alterthum
4 Quellen der Kraft
5 Bild einer nahen Zukunft
6 Besitz
7 Erziehung.

30 [54]

Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus—adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.

30 [55]

Die Griechen waren fertig, als ein Homer ihnen Kunstwerke zeigte—er konnte auf das Verstehen langer überschaulicher Compositionen rechnen—da muß ein Volk weit sein! Man denke an die Germanen mit ihren Augenblicks-Effekten der Edda!

Was Homer konnte, componiren, sieht man an dem Wetteifer Hesiods, der auch componirt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [56]

Ich wünsche dass billig denkende Menschen dieses Buch als eine Art Sühne dafür gelten lassen, dass ich früher einer gefährlichen Aesthetik Vorschub leistete: deren Bemühen war, alle aesthetischen Phänomene zu “Wundern” zu machen— —ich habe dadurch Schaden angestiftet, unter den Anhängern Wagner’s und vielleicht bei Wagner selbst, der alles gelten lässt, was seiner Kunst höhern Rang verleiht, wie begründet und wie unbegründet es auch sein mag. Vielleicht habe ich ihn durch meine Zustimmung seit seiner Schrift über “die Bestimmung der Oper” zu grösserer Bestimmtheit verleitet und in seine Schriften und Wirken Unhaltbares hineingebracht. Dies bedaure ich sehr.

30 [57]

Die Dichter-Erfindung kann zum Mythus werden, wenn sie verbreitet Glauben findet:—wie usus und abusus eines Wortes schwankend ist.

30 [58]

Mit der Harmonie der Lust, in der das menschliche Wesen schwimmt, steht es wirklich wie mit der Harmonie der Sphären: wir hören sie nicht mehr, wenn wir darin leben.

30 [59]

Analysis des Erhabnen.

30 [60]

Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich, eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen. Nichts Zusammenhängendes—einzelnes ist mir aufgegangen, anderes nicht. Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen, auch wo sie nichts erlebt haben.

30 [61]

Was wirkt noch? Princip der Maler und Musiker und Dichter: sie fragen sich selber zuerst, aus der Zeit wo sie nicht productiv waren.

30 [62]

Die Angst dass man den Wagnerischen Figuren nicht glaubt, dass sie leben: sie gebärden sich deshalb so toll.

30 [63]

Man macht Fehler gegen eine vorgenommene Lebensweise, weil unsere Stimmung im Augenblick des Vorsatzes und dem der Ausführung eine ganz verschiedene ist.

30 [64]

Mit dem Zerrbild hebt die Kunst an. Daß etwas bedeutet, erfreut. Daß das Bedeutende verspottet belacht wird, erfreut mehr. Das Belachen als erstes Zeichen des höheren seelischen Lebens (wie in der bildenden Kunst).

30 [65]

“Wo die Kunst aber sich in ihren Mitteln einschränkt, muss sie in ihrem Wesen mächtig sein.” Jacob Burckhardt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [66]

Die griechische Prosa—absichtliche Beschränkung der Mittel. Warum? Das Einfache am Ende des Höhenwegs. Complicirtes zuerst und zuletzt.

30 [67]

Ich habe dabei das Loos der Idealisten gezogen, welchen der Gegenstand, aus dem sie so viel gemacht haben, dadurch verleidet wird—ideales Monstrum: der wirkliche Wagner schrumpft zusammen.

30 [68]

Wie wurmstichig und durchlöchert das Menschenleben sei, wie ganz und gar auf Betrug und Verstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrthum verdankt werden—und wie in so fern der Ursprung einer solchen Welt nicht in einem moralischen Wesen, vielleicht aber in einem Künstler-Schöpfer zu suchen sei, wobei ich meinte daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt) gebühre, und sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese Vorstellung, wie sie gewaltsam inokulirt, auch gewaltsam wieder entrissen werden konnte. Dabei meinte ich in Wagner’s Kunst den Weg zu einem deutschen Heidenthum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu einer spezifisch unchristlichen Welt- und Menschenbetrachtung. “Die Götter sind schlecht und wissend: sie verdienen den Untergang, der Mensch ist gut und dumm—er hat eine schönere Zukunft und erreicht sie, wenn jene erst in ihre endliche Dämmerung eingegangen sind,”—so werde ich damals mein Glaubensbekenntniß formulirt haben, während ich jetzt — — —

30 [69]

Das was erst herkömmlich ist, wird nicht nur mit Pietät, sondern auch mit Vernunft und Gründen nachträglich überhäuft und gleichsam durchsickert. So sieht zuletzt eine Sache sehr vernünftig aus (vieles an ihr ist zurechtgeschoben und verschönt). Dies täuscht über ihre Herkunft.

30 [70]

National ist das Nachwirken einer vergangenen Cultur in einer ganz veränderten, auf anderen Grundlagen gestützten Cultur. Also das logisch Widerspruchsvolle im Leben eines Volkes.

30 [71]

Wir müssen der falschen Nachahmung Wagner’s widerstreben. Wenn er, um den Parcival schaffen zu können, genöthigt ist, aus der religiösen Quelle her neue Kräfte zu pumpen, so ist dies kein Vorbild sondern eine Gefahr.

30 [72]

Es giebt Leser, welche den etwas hochtrabenden und unsicheren Gang und Klang meiner früheren Schriften dem vorziehen, was ich gegenwärtig anstrebe—möglichste Bestimmtheit der Bezeichnung und Geschmeidigkeit aller Bewegung, vorsichtigste Mäßigung im Gebrauch aller pathetischen und ironischen Kunstmittel. Mögen jene Leser, welche sich ihren Geschmack nicht verkümmern lassen wollen, an diesen hier mitgetheilten Arbeiten etwas Willkommenes zum Ersatz dafür erhalten, daß ich ihnen den Verdruß machte, meinen Geschmack in diesen Dingen zu verändern. Sind wir uns doch allmählich in so vielen und großen Bestrebungen so unähnlich, so fremd geworden, daß ich bei dieser Gelegenheit, wo ich noch einmal zu ihnen reden muß, nur von der harmlosesten aller Differenzen, der Stil-Differenz, reden möchte.

30 [73]

Wagner hat kein rechtes Vertrauen zur Musik: er zieht verwandte Empfindungen heran, um ihr den Character des Grossen zu geben. Er stimmt sich selber an Anderen, er lässt seinen Zuhörern erst berauschende Getränke geben, um sie glauben zu machen, die Musik habe sie berauscht.

30 [74]

“Die kindliche Kunst frevelt am Schwersten.” Gruppe vor der Statue, Statue vor der Herme usw. “Man kennt eben die Schwierigkeiten noch nicht.” Jacob Burckhardt. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [75]

Teppich—Heimat des unendlich viel sich Wiederholenden. Auf Vasen und ehernen Geräten finden wir ihn wieder. Da alles klein ist und zahllos, konnte nicht auf Seelenausdruck, sondern nur auf Gebärde gesehen werden. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [76]

Heilsamste Erscheinung ist Brahms, in dessen Musik mehr deutsches Blut fliesst als in der Wagners—womit ich viel Gutes, jedoch keineswegs allein Gutes gesagt haben möchte.

30 [77]

Ich will es nur gestehen: ich hatte gehofft, durch die Kunst könne den Deutschen das abgestandene Christenthum völlig verleidet werden—deutsche Mythologie als abschwächend, gewöhnend an Polytheismus usw.

Welcher Schrecken über restaurative Strömungen!!

30 [78]

Wie einer, der auf immer Abschied nimmt, auch den weniger beachteten Bekannten mit wärmerem Gefühle entgegentritt und die Hand reicht, so fühle ich mich gewissen Arbeiten früherer Jahre gerade jetzt gewogener, wo ich mich von den Ufern, an die ich damals mein Schiff lenkte, unaufhaltsam entferne.

30 [79]

Uralt Porträt-Ähnlichkeit in Mycenä—später diese Spur verlassen.

Thierwelt besser als Mensch—nicht symbolisch gebunden. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [80]

Es ist schwer, im Einzelnen Wagner angreifen und nicht Recht zu behalten; seine Kunstart Leben Character, seine Meinungen, seine Neigungen und Abneigungen, alles hat wunde Stellen. Aber als Ganzes ist die Erscheinung jedem Angriff gewachsen.

30 [81]

Plato’s Abwendung von der Kunst symbolisch-typisch am Schluss.

30 [82]

Wenn Wagner hierüber anders denken sollte: nun, so wollen wir bessere Wagnerianer sein als Wagner.

30 [83]

Entwicklung des Sophocles verstehe ich durch und durch—der Widerwille gegen den Pomp und Prunkeffect. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.]

30 [84]

Das Lächeln der Ausdruck des Lebens, des Momentanen (selbst wenn sie sterben, Aegineten).

30 [85]

Die höchste Aufgabe am Schluss, Wagner und Schopenhauer öffentlich zu danken und sie gleichsam gegen sich Partei nehmen zu machen.

30 [86]

Der thrazische Pessimismus v[ide] Herodot, der Geborene wird bewehklagt. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauer's sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 3, 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig: Brockhaus, 1873:672.]

30 [87]

Diejenigen Schriftsteller, welche mit Vernunft wider die Vernunft schreiben, mögen zusehen, dass sie sich nicht selbst zum Ekel werden.

30 [88]

Der reiche Stil folgt auf den grossen.

Städte Künstler und Schulen wetteifern.

Körper lange vor Seelenausdruck ausgebildet.

Schenkel viel früher als Brust.

30 [89]

Das Nützliche steht höher als das Angenehme (Schöne), weil es indirekt und auf die Dauer Angenehmes erstrebt, und nicht Augenblickliches, oder auch die Basis für das Angenehme (z. B. als Gesundheit) zu schaffen sucht. Die Kunst des Schönen ist entweder nur auf den Augenblick berechnet oder fällt mit dem Nützlichem zusammen; das Nützliche ist nie sich selber Zweck, sondern das Wohlgefühl des Angenehmen ist es.

30 [90]

Man wird es Wagner nie vergessen dürfen dass er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Weise—die freilich nicht gerade die Weise guter und einsichtiger Menschen ist—die Kunst als eine wichtige und grossartige Sache ins Gedächtniss brachte.

30 [91]

Schreck, bis zu welchem Grade ich selbst an Wagner’s Stil Vergnügen haben konnte, der so nachlässig ist, dass er eines solchen Künstlers nicht würdig ist.

Wagner’s Stil. Die allzuzeitige Gewöhnung über die wichtigsten Gegenstände ohne genügende Kenntnisse mitzureden hat ihn so unbestimmt und unfassbar gemacht: dazu der Ehrgeiz, es den witzigen Feuilletonisten gleich zu thun—und zuletzt die Anmaassung, die sich gern mit Nachlässigkeit paart: “siehe, alles war sehr gut.”

30 [92]

Das Schönste am Hunger ist, dass er einem Appetit macht.

30 [93]

Vorrede. Stellung des Weisen zur Kunst. Die Griechen feiner als wir: der Weise, der Mann des Geschmacks.

Nicht nur Hunger thut noth (vielmehr darf dieser nicht zu arg sein)—“Liebe” sagen die Schwärmer:—sondern Geschmack. Ja Geschmack setzt schon Appetit voraus—sonst schmeckt uns nichts. Kritik ist die Lust am Guten, mit Vermehrung der Lust durch Erkenntniss des Missrathenen. Woher die zahllosen Kritiker, wenn nicht Vergnügen dabei? Insofern nützt selbst das Schlechte, indem es zur Vernichtung auffordert und Lust dabei erweckt. Auch Lust zum Bessermachen.

30 [94]

Emerson, p. 328 (Essays) “das Auge des abrundenden Geistes.” [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858:328.]

30 [95]

Vorrede. Dieses Buch hätte ich überschreiben können: aus der Seele der Künstler und Schriftsteller; in der That ist es eine Forsetzung des fünften Hauptstücks, welches jenen Titel trägt.

30 [96]

Vorrede. Ich kenne kein Mittel, um etwas Gutes zu erkennen, als selber etwas Gutes zu machen. Dies giebt uns Flügel, mit denen sich zu manchem entlegenen Neste, in dem Gutes sitzt, fliegen lässt.

30 [97]

Schopenhauer Optimist, wenn er sagt (Parerga, II p. 598) “Es giebt 2 Geschichten: die politische und die der Litteratur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend, ja schrecklich— —die andre dagegen ist überall erfreulich und heiter. ” [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:598.] Oho! Ho!

30 [98]

Wie sehr wir auch die Moralität zersetzen—unsre eigene, im ganzen Wesen eingenistet, kann dabei nicht zersetzt werden. Unsre Art, wahr und unwahr zu sein, bleibt undiskutirbar. “Der Ton des Suchens ist einer und der Ton des Habens ist ein anderer.” [Vgl. Ralph Waldo Emerson, Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover: Carl Meyer, 1858:211.]

30 [99]

Ich habe die Besorgniss dass Wagner’s Wirkungen zuletzt in den Strom einmünden, der jenseits der Berge entspringt und der auch über Berge zu fliessen versteht.

30 [100]

Schopenhauer, Parerga II 630: “[daß] mancher Mensch einen wenigstens 10fach höhern Grad von Dasein hat, als der andere—zehn Mal so sehr da ist”—der Weise ist dann das allerrealste Wesen. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:630.]

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