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Sommer 1878 29 [1-56] 29 [1] Was Goethe bei H. Kleist empfand, war sein Gefühl des Tragischen, von dem er sich abwandte: es war die unheilbare Seite der Natur. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Ludwig Tieck's dramaturgische Blätter. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 35. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1858:427.] Er selbst war conciliant und heilbar. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Goethe's Briefe in den Jahren 1768 bis 1832, herausgegeben von Dr. Heinrich Döring. Ein Supplementband zu des Dichters sämmtlichen Werken. Leipzig: Wunder, 1837:494.] Das Tragische hat mit unheilbaren, die Kom[ödie] mit heilbaren Leiden zu thun. 29 [2] Seine Fehler als Tugenden auszudeuten versteht niemand besser als Wagner. Eine tiefe Verschlagenheit seines Künstler-Sinnes zeigt sich hier. Alle Künstler haben etwas davon, die Frauen auch. 29 [3] Man muss von einer Phase des Lebens zu scheiden verstehen, wie die Sonne mit grösstem Glanze, auch wenn man nicht wieder aufgehen will 29 [4] Die Wahrheit soll wie die Sonne nicht zu hell sein: sonst flüchten die Menschen in die Nacht und machen es dunkel. 29 [5] Getränke und Luxus sind für die Gedanken-Armen, welche Empfindungen haben wollen. Deshalb entarten die Künstler so leicht. 29 [6] Wer einen falschen Weg einschlägt, merkt es, w[ird] misstrauisch, die Kehle wird fast erdrosselt. 29 [7] Wenn man nicht das Leben für eine gute Sache hält, die erhalten werden muss, so fehlt all unseren Bestrebungen der Wissenschaft der Sinn (der Nutzen) selbst, wozu Wahrheit? 29 [8] Dühring, um positiv zu werden, wird unwissenschaftlich (Ethik). 29 [9] Den grössten Unterschied macht es, ob man für das Minuten-Glück oder das Zeiten-Glück von seinem Temperamente vorgerichtet ist. Leicht verwechselt man und strebt nach falschen Zielen (in Kunst und Philosophie). Es verdirbt das Temperament und die Begabung auch. 29 [10] Vom Standpunkt des intellectualen Gewissens zerfallen die Menschen in gute, solche welche den guten Willen haben, sich belehren zu lassenund solche welche diesen Willen nicht habendie bösen. 29 [11] Ich glaubte mich Wunder wie fern vom Philosophen und gieng in Nebel und Sehnsucht vorwärts. Plötzlich 29 [12] Kontur-Phantom. Zu jeder Krümmung den vollendenden Kreis ziehen. 29 [13] Wer Huldigungen annimmt ist ein Lügner oder ganz über sich blind. 29 [14] Metaph[ysik] macht das Denken unnatürlich, unfruchtbar (es wächst nicht zusammen) endlich gedankenleer. 29 [15] Motive einer tragischen Weltbetrachtung: der Kampf der Nichtsiegenden verherrlicht. Die Misslingenden sind in der Mehrzahl. Das Schreckliche erschüttert stärker. Lust an der Paradoxie, die Nacht dem Tage, den Tod dem Leben vorzuziehen. Trag[ödie] und Kom[ödie] geben eine Carikatur des Lebens, nicht ein Abbild. Pathologisch. Goethe gegen das Tragischewarum es aufsuchen? Conciliante Natur. 29 [16] So begabte Wesen, wie ich sie mir als Genies vorstellte, haben nie existirt. 29 [17] Der ungeheure Eindruck, den die Lehre von der Vergänglichkeit auf die Alten macht! (Horaz und Antonin) 29 [18] Die Griechen haben das Bedeutende gross, das Unbedeutende (z. B. Panta Attribut) klein. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.] 29 [19] Es ist nichts um ein Genie, wenn es uns nicht so hoch hebt und so weit frei macht, daß wir seiner nicht mehr bedürfen. Befreien und sich vom Befreiten verachten lassenist das Loos der Führer der Menschheit, kein traurigessie jubeln darüber, daß ihr Weg fortgesetzt wird. 29 [20] Die schlichte und blasse Rose, die auf den Berghängen wächst, rührt uns mehr als der vollste Farbenglanz der Gartenblumen. 29 [21] Warum fehlten die Gelehrten in Bayreuth? Sie hatten es nicht nöthig. Das hätte ich ihnen früher zum Vorwurf gemacht. Jetzt 29 [22] Wir brauchen unsere Feinde noch gar nicht zu lieben, wir brauchen es nur zu glauben, dass wir sie liebendas ist die Feinheit des Christenthums, und erklärt seinen populären Erfolg. Selbst glauben ist nicht recht nöthig, es aber recht oft sagen und bekennen. 29 [23] Wiederschöpfung des Porträts aus Ahnung, Angesichts der Werke. (Richard Wagner: wie das Werk das Bild des Lebenden verzaubertes giebt Idealbildung.) 29 [24] Am Abend abwärts, wenn die Gluth der Sonne durch die fetten Blätter der Kastanien blickt. 29 [25] Das der Natur Folgen irrthümlich bei Montaigne III 354. [Vgl. Michel Eyquem de Montaigne, Michaels Herrn von Montagne: Versuche, nebst des Verfassers Leben. Nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt [von Johann Daniel Titius]. Th. 3. Leipzig: F. Lankischens Erben, 1754:354.]
29 [26] Liv. 41, c. 20: Persei nulli fortunae adhaerebat animus, per omnia genera vitae errans, uti nec sibi nec aliis qui homo esset satis constaret. Montaigne III 362. [Vgl. Michel Eyquem de Montaigne, Michaels Herrn von Montagne: Versuche, nebst des Verfassers Leben. Nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt [von Johann Daniel Titius]. Th. 3. Leipzig: F. Lankischens Erben, 1754:362.] 29 [27] In Jung-Stilling die Stelle über das Vergnügen in der christlichen Moral. [Vgl. Johann Heinrich Jung (genannt Stilling), Lebensgeschichte, oder dessen Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft, Lehrjahre, häusliches Leben und Alter: eine wahrhafte Geschichte. 3. Aufl. Mit einer einleitenden Vorrede von Prälat von Kapff. Stuttgart: Rieger, 1857:746f.] 29 [28] Der Mensch will nicht nur, daß seine Art zu leben angenehm oder nützlich sei: sie soll auch ein Verdienst sein und zwar um so mehr ihm klar ist, daß die Annehmlichkeit nicht groß ist. Er will sich durch die Ehre schadlos halten. 29 [29] Mein Kind, lebe so dass du dich vor dir selber nicht zu schämen brauchst; sage dein Wort so, dass jeder dir nachsagen muss, man könne sich auf dich verlassen; und vergiss nicht, dass Freude machen selber Freude macht. Lerne bei Zeiten, dass in allen Stücken der Hunger die Speisen würzt und fliehe die Bequemlichkeit weil sie das Leben fade macht. Du sollst etwas Grosses einst thun: dazu musst du erst etwas Grosses werden. 29 [30] Jener Geruch aus Weizenfeldern, der dem Honig nahe kommt. 29 [31] Titel: der neue Umblick von F. N. 29 [32] Die Barockkunst trägt die Kunst der Höhe mit sich herum und verbreitet sieein Verdienst! 29 [33] Wagners Kunst für Gelehrte, die nicht Philosophen zu werden wagenMissbehagen über sich, gewöhnlich dumpfe Betäubungvon Zeit zu Zeit im Gegentheile baden. 29 [34] Meine moralischen Beobachtungen gehen über die Mitte hinausein Phänomen der noch nicht hergestellten Gesundheit. 29 [35] Erziehung. 2 Haupt-Epochen. 1) Schleier zuziehen. 2) Schleier-Aufheben. Fühlt man sich hinterdrein wohl, so war es die rechte Zeit. 29 [36] Anscheinende Kunst für Alle (bei Wagner) weil gröbere und feinere Mittel zugleich. Doch sehr an bestimmte musikalisch-aesthetische Erziehung gebundennamentlich moralische Gleichgültigkeit. 29 [37] Die Zeit wo Bücher und Gespräche von Gedanken überladen sind, ist nicht die des Gedankenreichthums. Wenn letzterer da ist, zwingt er zur Ordnung und Schlichtheit im Haushalt. Junge Leute lieben das überladene, weil es den Schein bei den Armen (die die Mehrzahl sind) erweckt. 29 [38] Da Meister nicht geboren werdennicht einmal Stümper. 29 [39] Wer auf Kunst der Inspiration rechnet, muss aus verwandten Gebieten viel zu Hülfe nehmen, um seine Kunst durchzusetzen, ewig ergreifen, erschüttern, der Besinnung und [des] Urtheils berauben, an die tiefsten Nöthe und Erfahrungen erinnern. 29 [40] Wer dem Verstand nicht zu trauen wagt, sucht ihn zu verdächtigen. Die Gefühls-Menschen. 29 [41] IronieLüge über das was man weiss, als ob man es nicht wüsste. Zum Wohl Anderer (Stellung der Metaphysik in der Erziehung?). 29 [42] Drei Typen der göttlichen Jugend Apollo Hermes Dionysoserstaunlich das auszubilden, welcher Muth! [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.] 29 [43] Jung werden der Götter in der anschauenden Phantasie der Künstler. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.] 29 [44] Schönheit zweiter Classe sinnliche Lustigkeit neben dem hoch Idealen. Schade wenns nicht dargestellt worden wäre. Neue Gebiete, nicht hochedel, doch noch ideal. Nicht göttlich. [Vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Culturgeschichte. Handschriftliche Nachschrift des Kollegs durch Dr. jur. Louis Kelterborn (1875). HAAB Exemplar.] 29 [45] Warum sollte man nicht metaphysisch spielen dürfen? und ganz enorme Kraft des Schaffens darauf verwenden? 29 [46] Wagnerianer wollen nichts an sich ändern, leben im Verdruss über Fades Conventionelles Brutalesdie Kunst soll zeitweilig magisch sie darüber hinausheben. Willensschwäche. 29 [47] Wagners Kunst nicht mehr nöthig haben oder noch nöthig haben 29 [48] Ungeheure Antriebe sind in ihrsie treibt über sich hinaus. 29 [49] Warum lässt man Metaphysik und Religion nicht als Spiel der Erwachsenen gelten? 29 [50] Dadurch dass man den Ernst weggiebt für Metaphysik und Religion, hat man ihn nicht mehr fürs Leben und seine Aufgabe. 29 [51] Wagners Kunst für solche welche sich eines wesentlichen Fehlers in ihrer Lebens-Führung bewusst sind: entweder eine grosse Natur durch niedrige Thätigkeit eingeklemmt zu haben oder durch Müssiggang vergeudet oder durch Conventions-Ehen usw. Weltflüchtig ist hier = Ich-flüchtig. 29 [52] Die Götter Griechenlands eine Etappe auf dem Wege der Enttäuschung: zuletzt Freiheit von Metaphysik. 29 [53] An Gott glauben ist so wie ehemals an Gespenster glauben. (Lichtenberg?) [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Georg Christoph Lichtenberg's Vermischte Schriften, mit dem Portrait, Facsimile und einer Ansicht des Geburtshauses des Verf. Bd. 1. Göttingen: Dieterich, 1867:58.] 29 [54] Das Kind will sein Mährchen nicht aufgeben. 29 [55] Wenn das Leben nicht den höchsten Werth hat (Metaphysik), ist es darum gleich zum niedrigsten Preise loszuschlagen? Warum sagen dies die Menschen? Kindlicher Trotz? Als ob wir nicht immer ein Stück Schätzung von Kindheit an verlernen müssten! 29 [56] Es ist nicht auszurechnen, wie schwer es ist, über das litterarische Empfinden hinaus zu kommen. Man kann sich täuschen bei Andern, weil deren litterarische Bildung nur zu gering oder eine andere ist.
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